Saturnischer Tanz - Brian Moore - E-Book

Saturnischer Tanz E-Book

Brian Moore

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Beschreibung

Der katholische Ire Diarmuid Devine hat Frauen immer nur in der Phantasie geliebt. Er ist Lehrer in einer Knabenschule in Belfast, wo eine klösterliche Atmosphäre herrscht. Für die Schüler ist es ein gefundenes Fressen, als Geschichten über Devine zu kursieren beginnen ... Tatsächlich bahnt sich etwas an zwischen Devine und der zwanzigjährigen Una Clarke, der protestantischen Nichte eines Lehrerkollegen ...

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Seitenzahl: 356

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Brian Moore

Saturnischer Tanz

Roman

Aus dem Englischen von Malte Krutzsch

Diogenes

{4}Für meine Mutter

{5}Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen,

seien sie lebend oder tot, ist rein zufällig.

{7}1

Diarmuid Devine, Englischlehrer für die Unter- und Oberstufe, stand am Katheder und ordnete seine Bücher der Größe nach zu einem Stapel. Er klemmte den Rohrstock unter den Ärmel seines Talars und ging zur Tür. In zehn Jahren als Lehrer hatte er gelernt, die jeweils vierzig Minuten einer Unterrichtsstunde abzuschätzen, ohne auf die Uhr zu sehen. Es war soweit. Gleich würde es klingeln. Mit einem letzten Blick ermahnte er die Jungen zur Ruhe. Dann verließ er den Raum.

Im gleichen Moment steckte der Pförtner in seinem kleinen Kabuff an der Seite der Eingangshalle des St. Michan’s College einen Schlüssel in den Schaltkasten und drehte ihn um. Eine elektrische Klingel gellte ohrenbetäubend laut durch die Gänge, schellte ungehört in leeren Schlafsälen und echote über nasse Sportplätze hin, um sich in den fernen Nebeln über Belfast Lough zu verlieren.

In der darauffolgenden Stille schien die lange graue Fassade vom St. Michan’s zu erbeben. Jungen jeden Alters stürmten auf die Gänge und auf die Treppen, als stünde das Gebäude in Flammen. Priester in schwarzen Soutanen erschienen an Türen und Quergängen, ließen ihre Stöcke sausen, um die Ordnung wiederherzustellen, und trieben Nachzügler auf dem Weg ins nächste Schulzimmer zur Eile an. Es war zehn vor drei. Alle brannten darauf, den Tag zu beenden.

Mr. Devine war diesem Ansturm ausgewichen. Er {8}nahm die Hintertreppe nach unten zum Hauptkorridor. Schnell auf die Lehrertoilette, Wasser lassen … dann zur letzten Stunde hinüber in die Oberstufe. Macbeth, genau. Und ihre Aufsätze einsammeln.

Als er die Toilette betrat, inspizierte Mr. Devine die Türreihe. Nirgends schauten Füße hervor. Er nahm die zweite Kabine und schloß sich ein, froh, einen Augenblick Ruhe zu finden. Aber er hatte kein Glück. Rumms öffnete sich die Flurtür, und jemand ging zu den Waschbecken. Ein Priester? Er hörte den Jemand ein paar Takte aus Rose von Tralee pfeifen. Das war ein Lieblingssong von Frank Turley, der Geographie unterrichtete.

Rumms flog die Tür wieder auf. Eine Stimme sagte etwas. Diesmal erkannte er ohne Mühe Connolly, einen der jüngeren Mathematiklehrer.

»Sind Sie das, Frank?«

»Ach, hallo.«

»Dachte doch, ich hätte Sie reingehen sehen«, sagte Connolly. »Sie sind genau der Mann, den ich suche.«

Mr. Devine, eingeschlossen in seiner Kabine, starrte die Wand an. Er fragte sich, ob er husten sollte oder so etwas. Aber dann würde er mit ihnen reden müssen. Und er konnte es überhaupt nicht ausstehen, wenn er gezwungen war, sich beim Wasserlassen zu unterhalten.

Er hörte, wie Turley den Wasserhahn aufdrehte.

»Sagen Sie, Frank«, fragte der junge Connolly in vertraulichem Ton, »haben Sie was von einer Party heute abend bei Heron gehört?«

»Ich? Nein«, sagte Turley.

Mr. Devine nickte mit dem Kopf. Er wußte Bescheid. Tim Heron, einer der älteren Laienlehrer, gab am Abend eine Party, um die Verlobung seiner Tochter mit einem {9}jungen Arzt namens Carty bekanntzugeben. Mr. Devine wußte auch, weshalb Connolly nicht eingeladen worden war. Connolly hatte selbst ein Auge auf das Mädchen gehabt. Es wäre nicht eben taktvoll gewesen, ihn zu einem solchen Anlaß einzuladen.

»Sie haben also auch keine Einladung gekriegt?« fragte Connolly.

»Weshalb sollte ich? Heron und ich waren noch nie dick befreundet«, erwiderte Turley.

»Mich hätten sie aber schon einladen können.« Connollys Stimme war empört. »Immerhin gehe ich doch praktisch mit Mary.«

Mr. Devine war bestürzt in seiner Kabine. Der arme Connolly wußte also noch gar nichts. Ach, der Ärmste. Wahrscheinlich hatte Tim Heron es nicht übers Herz gebracht, Connolly zu sagen, daß die Tochter sich mit jemand anderem verlobte. Verdammt leid tat er ihm, der gute Connolly.

»Na ja, wer ist denn überhaupt eingeladen worden?« fragte Turley.

»Devine zum Beispiel.«

»Dann fragen Sie Devine doch mal.«

»Ach, das alte Weib!« sagte Connolly.

Mr. Devine preßte die Lippen zusammen und starrte auf die Klosettschüssel. Altes Weib? Was in aller Welt …? Zu seiner Erleichterung hörte er, daß Frank Turley sich für ihn einsetzte.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Turley. »Ich habe immer wieder festgestellt, daß Dev eine sehr anständige Haut ist. Warum fragen Sie ihn nicht?«

»Wie könnte ich denn?« sagte Connolly in entrüstetem Ton. »Der würde bestimmt denken, ich sei auf eine {10}Einladung aus. Am Ende würde er noch Heron erzählen, daß ich mich erkundigt habe. Und das ist das letzte, was ich will.«

»Sie brauchen doch nur zu erklären, warum Sie fragen«, meinte Turley. »Dev ist sehr diskret.«

»Erklären? Der wüßte doch gar nicht, wovon ich rede. Wie soll jemand wie Dev verstehen, was einer für ein Mädchen empfinden kann?«

Mr. Devine hörte Turley lachen: ein kurzes belustigtes Glucksen. Mit glühendem Gesicht starrte er auf die Klosettschüssel und knöpfte seine Hose zu. Er stand still, damit sie ihn nicht hörten, und betete, sie möchten weggehen. Wenn sie ihn jetzt bemerkten, würde er ihnen nicht in die Augen sehen können. Noch nie im Leben hatte er sich so beschämt gefühlt.

»Na, dann fragen Sie Tony Moloney, wenn Sie Dev nicht fragen wollen«, sagte Turley. »Tony weiß Bescheid, der kriegt alles mit.«

»Bei Gott, daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte Connolly. »Wo unterrichtet Tony jetzt?«

»Drüben in der Unterstufe«, sagte Turley.

»Ich lauf gleich mal hin.«

»Dann verspäten Sie sich«, sagte Turley.

»Ach, zum Teufel, ich bin doch kein Roboter. Die sollen gefälligst warten!«

Mr. Devine hörte die Tür schlagen. Einen Augenblick später kamen Turleys Füße an seiner Kabine vorbei. Er hoffte, daß Turley nicht …

Aber die Tür schlug ein zweites Mal. Jetzt konnte er raus. Es war alles in Ordnung. Er wartete noch, um völlig sicherzugehen, daß Frank Turley fort war, bevor er aus der Kabine trat. Sein Gesicht war immer noch rot. Er hatte sich sehr aufgeregt.

{11}Er war groß, ohne groß zu erscheinen; nicht jugendlich, und doch irgendwie jung; ein Mann, dessen Äußeres auf eine schmerzliche Unsicherheit hindeutete. Er trug das Jackett und die Weste eines Straßenanzugs, dazu aber eine Flanellhose mit ausgebeulten Knien. Seine schwarzen Golfschuhe bissen sich mit grell glänzenden Socken. Der dicke, militärisch verwegene Schnurrbart stand im Widerspruch zu schwachen, von einer schlechtsitzenden Brille eingerahmten Augen. Ebensowenig vertrugen sich die sandfarbenen Haare – hinter den Ohren lang und zottlig, über der sommersprossigen Stirn gelichtet – mit der viktorianischen Achtbarkeit von Weste, goldener Uhrkette und Siegelring.

Er ging geradewegs zum Waschbecken, um sich in einem beschleunigten Ritual die Hände zu waschen, sie abzuschütteln und zu trocknen, während er schamrot immerzu sein Bild im Spiegel anstarrte. Der junge Connolly war natürlich sauer gewesen. Wahrscheinlich krank vor Argwohn, daß Mary ihn abserviert haben könnte. Von daher war seine unfreundliche Bemerkung vielleicht zu entschuldigen. Aber Frank Turley hatte darüber gelacht, als wäre es allgemein bekannt, daß Devine – komisch war.

Trotzdem hatte er jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er kam zu spät in die Stunde. Er stieß die Tür auf und lief, in der Seite einen stechenden Schmerz, mit lauten Schritten über den Terrazzoboden. Höchste, allerhöchste Zeit. Und hör dir das da oben an. Wie sie auf den Putz hauen.

Er kam zur Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal. Ein Aufpasser rief warnend: »Dev!« Füße trappten über blanke Dielen, als die Jungen zu ihren Plätzen stürzten. Pultdeckel klappten zu. Der Lärm erstarb zu einem {12}Flüstern, als Mr. Devine das Klassenzimmer betrat. Er legte Stock und Bücher auf sein Pult, nestelte mit der rechten Hand wie ein Staatsanwalt am Kragen seines Talars und überblickte dann mit der vertrauten Miene des streitbaren Lehrers die Klasse. Das Flüstern hörte auf. Er drehte ihnen verächtlich den Rücken zu und schaute auf die Tafel. Er wartete. Als es vollkommen still war, sagte er:

»Daly. Wischen Sie die Tafel ab.«

Ein Schüler aus der letzten Bank, schmutzig im Gesicht und störrisch, ging zur Tafel und wischte sie unter einer Wolke von Kreidestaub sauber. Mr. Devine setzte sich.

»McAvitty. Sammeln Sie die Aufsätze ein.«

Am Abend vorher geschriebene Aufsätze wurden ihm ans Pult gebracht.

Vier externe Schüler hatten keine Arbeit abgegeben. Zwei wiesen eine schriftliche Entschuldigung von ihren Eltern vor. Das genügte Mr. Devine. Er fragte die beiden anderen Schüler nach ihren Gründen.

»Bitte, Sir, ich hatte so viel auf, das konnte ich nicht alles schaffen.«

»Ich auch nicht, Sir.«

Die Klasse wog die Chancen ab. Gestern erst hatte ein Schüler der Unterstufe diese alte und wahre Entschuldigung vorgebracht. Mr. Devine hatte den Jungen nach jeder einzelnen Hausaufgabe gefragt und angemerkt, daß diesmal wirklich extrem viel zusammengekommen sei. Er war selbst ein St.-Michan’s-Schüler gewesen und wußte, daß die Arbeit manchmal überhandnahm. Aber als er einen Tag später jetzt die gleiche Entschuldigung in einer höheren Klasse hörte, wurde ihm klar, daß sie in Umlauf kam. Akzeptierte er sie noch einmal, würde das ausgenutzt werden.

{13}Er stieg von seinem Podest herunter und ergriff den langen, dünnen Rohrstock. Mit geübter Sanftheit hob er Frankie Deegans Arm auf Schulterhöhe. Dann zielte er über die Stocklänge hinweg wie ein zum Todesstoß ansetzender Matador, holte nach hinten aus und ließ den Stock pfeifend auf die Handfläche des Jungen niedergehen. Deegan krümmte sich vor Schmerz. Im St. Michan’s galt Stoizismus als Dummheit. Bei Stoikern nahm der Lehrer an, er habe vorbeigeschlagen.

»Die andere Hand«, befahl Mr. Devine.

Die Schüler sahen zu, wie Deegan den linken Arm ausstreckte. Alles in allem waren sie froh, daß Dev die Entschuldigung nicht angenommen hatte. Sonst hätten sie ja mit dem Aufsatzschreiben gestern abend ihre Zeit vergeudet.

Noch einmal zielte Mr. Devine und schlug zu. Deegan steckte beide Hände unter die Achselhöhlen und ging flügellahm zu seinem Platz. McAleer, der zweite Missetäter, trat aus der Bank. Mr. Devine strafte, McAleer zeigte, daß er litt, und die Klasse schlug ihre blau eingebundenen Macbeths bei der ersten Szene des zweiten Akts auf.

»Also«, sagte Mr. Devine. »Sullivan ist Banquo, O’Hare ist Fleance, und wenn Deegan sich von seiner Folterqual erholt hat, liest er den Macbeth.«

Zufrieden lockerte die Klasse ihre Wachsamkeit. In einer halben Stunde war die Schule aus. Die Externen würden nach Hause fahren und die Internen zwei Stunden frei haben vor dem Abendbrot und der langen Lernzeit.

Aber Mr. Devine konnte sich nicht entspannen … Das alte Weib! Seit wann war siebenunddreißig denn alt? Der junge Connolly wollte damit doch wohl nicht sagen, er sei {14}ein Homo oder etwas dergleichen? Nein, daß Connolly das so gemeint hatte, glaubte er nicht. Es sollte wohl eher heißen, daß er ein Trottel sei, unfähig, ein Mädchen zu kriegen. Und dabei hat er mir leid getan, dachte Mr. Devine empört. Und Frank Turley hat gelacht, als ob jeder wüßte, daß ich ein Dummkopf sei. Frank ist älter als ich und verheiratet, rief sich Mr. Devine in Erinnerung. Ich hätte nie geglaubt, daß Frank so über mich denkt.

Er starrte auf die hölzerne Trennwand hinter der letzten Bankreihe. Es war verdammt noch mal ein Schock, festzustellen, daß man ausgelacht wurde. Und unfair, dachte Mr. Devine. Unfair. Was ist denn so Tolles dran am Heiraten, wenn ich fragen darf? Seht euch meine Schwester Josie an, die hat sich verheiratet, und jetzt ist sie unglücklich. Gestrandet in Dungannon, mit einem Dutzend angeheirateter Verwandter auf dem Buckel. Wer von uns beiden ist denn da besser dran, bitte schön?

Sein Vater war vor vierzehn Jahren gestorben. Seine arme Mutter war ihm ein Jahr später ins Grab gefolgt. Er und Josie hatten ganz allein dagestanden. Josie hatte geheiratet, und er war in eine Mietwohnung gezogen. Man konnte ihm also schlecht nachsagen, er sei einer von denen, die ewig an Mutters Schürzenzipfel hängen, oder? Er wohnte seit nunmehr dreizehn Jahren zur Miete, davon zehn an seiner jetzigen Adresse. Und er fühlte sich ganz wohl so, besten Dank.

Was Mädchen anging, nun, so war er nie ein Frauenheld gewesen. Er war nicht häßlich, nein, auch nicht zu schüchtern, nein, aber er hatte bei Mädchen noch nie viel Glück gehabt. Das lag an der irischen Erziehung, verdammt, er hatte es schon so oft gesagt. Er war Internatsschüler an eben dieser Schule gewesen, von Mädchen abgeschottet bis {15}fast ins Erwachsenenalter. Und wenn er sich den Haufen schmutziger, ungepflegter Jungen ansah, die jetzt hier vor ihm saßen, fiel es schwer zu glauben, daß sie zu einem großen Teil die Söhne von Akademikern, wohlhabenden Gastwirten und Farmern waren. Sie sahen aus wie Armeleutekinder, ohne auch nur eine verflixte Ausnahme. St. Michan’s kümmerte sich wenig um Aussehen und gute Umgangsformen. Kein Wunder, daß die Jungen nicht zum Ausgehen mit Mädchen gerüstet waren, wenn sie die Schule verließen. Dahinter stand schlicht und einfach Unwissenheit.

Sie hatten plötzlich aufgehört, vorzulesen. Er wurde sich der Augen bewußt, die ihn beobachteten.

»Na, was gibt’s?«

»Lady Macbeth, Sir, wer liest die Lady Macbeth?«

»So schuldig wie ihr Herr und Gebieter war sie«, sagte Mr. Devine. »Noch schuldiger, den meisten Fachleuten zufolge. Wer also wäre besser für den Part geeignet als Deegans Spießgeselle? McAleer, Sie sind Lady Macbeth.«

McAleer, der noch seine schmerzenden Handflächen pflegte, hatte aufgehört, am Unterricht Anteil zu nehmen. Schließlich hatte er Prügel bezogen, das reichte ja wohl für ein Stündchen. Jetzt suchte er in großer Verwirrung den Anschluß im Text. Jemand flüsterte ein Stichwort. Er begann mit leiernder Stimme:

»Was sie betäubte, hat mich stark gemacht …

Und was sie dämpft’ … hat mich entflammt …«

Was aber die Phantasien über Frauen betrifft, überlegte Mr. Devine, so wahr mir Gott helfe, da bin ich völlig normal. Aber wie soll ich denen das beibringen, ohne mich komplett lächerlich zu machen, lächerlich wie Connolly, der sich ausgerechnet auf dem Lokus über meine {16}Privatangelegenheiten ausläßt. Ich habe so viel sündige Gedanken wie jeder andere Kerl hier, da wette ich mein Hemd drauf. Trotzdem Blödsinn, sich von denen ärgern zu lassen. Vergiß es.

Er setzte sich aufrecht ans Pult und wandte seine Aufmerksamkeit dem Text zu. Aha, da hab ich eine Lieblingsstelle der Prüfer übersprungen.

»Einen Augenblick, meine Herren. Auf der gerade gelesenen Seite oben steht der Absatz: ›Ist das ein Dolch, was ich vor mir erblicke?‹ Lernen Sie den auswendig. Er wird bei Prüfungen zum Thema Macbeth oft verlangt. Ich bitte Deegan, ihn noch einmal vorzulesen, und gehe dann auf die Bedeutung ein.«

»Ist das ein Dolch, was ich vor mir erblicke?« fragte Deegan-Macbeth.

Als der Monolog endete, ergriff Mr. Devine das Wort. Er entsann sich, daß die Stelle im Jahre ’36, ’39 und dann wieder ’49 und ’53 geprüft worden war. Er stimmte seine Erläuterung auf die gängigen Fragen ab. Die Klasse hörte aufmerksam zu. Dev war bekanntlich ein Fuchs in Sachen Amateurtheater. Außerdem hatte er ein gutes Gespür für Prüfungsfragen. Seine Klasse bekam immer gute Noten. Aber nicht deswegen hörten die Jungen zu. Sie hörten zu, weil im St. Michan’s kein Lehrer etwas zweimal sagte. In einer Woche wollte er die Erläuterung vielleicht von ihnen hören.

Und schließlich läutete die Schlußglocke. Mr. Devine war wie immer als erster Lehrer an dem Bus, der sie vom Vorort Glengormley zum Zentrum von Belfast brachte. Er lebte auf halbem Weg zwischen Schule und Innenstadt in einer einst sehr ansehnlichen, jetzt aber heruntergekommenen ruhigen Allee. Die kleinen Vorgärten dort {17}wirkten nackt und schäbig ohne die eisernen Gitterzäune, die man während des Krieges entfernt und zur Panzerherstellung verwendet hatte. Die Zäune waren nicht ersetzt worden, die Allee hatte sich nicht erholt. Staubige Rasenvierecke lagen, flach in Stein gefaßt, wie verwahrloste leere Schwimmbassins vor den Häusern. Die einstigen Bewohner der Straße waren in andere Gegenden gezogen und hatten von der Rente lebenden Witwen, auf Provision arbeitenden Vertretern und pensionierten Polizeibeamten Platz gemacht. Die meisten Häuser nahmen Pensionsgäste an, und in einigen war das Kellergeschoß in Wohnungen für alleinstehende Herren umgebaut worden.

Mr. Devine lebte in so einer Wohnung. Er schloß jetzt die Tür auf und betrat einen dunklen Flur, an dem sein Wohnzimmer, sein Schlafzimmer und eine kleine Toilette nebst Besenkammer lagen. Am Ende des Flurs führte eine mit einem Läufer belegte Treppe zur Küche der Wirtin hinauf. Diese Treppe erstieg er wenigstens dreimal am Tag, zum Rasieren, zum Frühstück und zum Abendbrot. Er nahm seine Mahlzeiten im Eßzimmer der Wirtin ein, benutzte aber nicht ihr Wohnzimmer. Mrs. Dempsey hielt auf gebotenen Abstand.

Mr. Devine nahm Hut und Regenmantel ab und betrat seine Höhle. Der Kamin zog, und es war noch nicht dunkel. Eine späte Nachmittagssonne schien durch die eisenvergitterten Souterrainfenster, durch die er den Hintergarten und eine lange Leine mit Wäsche sah. Er hing sehr an diesem Zimmer. Die improvisierten Bücherregale, die staubig zur Decke hochragten, waren sein eigenes Werk. Er selbst hatte den Sessel durch langen Gebrauch zu treuer Nachgiebigkeit erzogen; sein sorgloser Umgang mit Pfeifen und Teegeschirr war verantwortlich für das {18}Mosaik aus dunklen Ringen, das den runden Mahagonitisch schmückte. Ein Stapel alter Zeitschriften an der hinteren Wand war zusammen mit der Tapete zu einem allgemeinen Braun-in-Braun vergilbt. Die schwere Anrichte und der tragbare Plattenspieler waren alt und vertraut. Sie stammten noch von seinen Eltern.

An der Wand über dem Kamin waren wie im Schaufenster eines Fotografen seine Erinnerungsfotos angeordnet, alle hinter regelmäßig entstaubtem Glas, in glänzenden schwarzen Rahmen. Reihenweise Jungen auf Klassenfotos, die Lehrer mit in die Seite gestemmten Armen in der Mitte. Schnappschüsse aus seiner Studentenzeit an der guten alten National; einige der jungen Männer auf den Fotos waren inzwischen tot, andere weit weg in der Äußeren Mission tätig. Auf dem Ehrenplatz genau über dem Kamin hing ein großes Hochzeitsfoto. Bärtiger Mann, die Schnurrbarthälften geschwungen wie Büffelhörner, die Hände flach auf das steife weiße Hemd gepreßt; Dame in weißem Seidenbrokat, das Gesicht zu einem lang durchgehaltenen scheuen Lächeln erstarrt. Sie zeigten sich von ihrer besten Seite, sein ihm unbekannt junger Vater, seine lächelnde Mutter. Steif dastehend harrten sie in unnatürlicher Pose geduldig ihres Fotografen, als hätten sie die eigenartige Unsterblichkeit des Augenblicks geahnt. Als Huldigung an seine Eltern hatte Mr. Devine einen kleinen silbernen Wappenschild über das Hochzeitsfoto gehängt. Den hatte erstmals vor zehn Jahren eine Laienspielgruppe gewonnen, der er als Inspizient angehörte, die aber immer wieder seinen Namen im Programm abzudrucken vergaß. Fünf Jahre hintereinander hatte die Gruppe den Preis gewonnen. Jedesmal wurde er zwar um Entschuldigung gebeten, und dennoch blieb sein Name unerwähnt. Zum {19}Ausgleich für das Versehen hatten die anderen ihm den Schild geschenkt. In perpetua.

Er setzte sich, zog das Gitter am Kamin auf und schürte das Kohlenfeuer. Dann las er seine Post. Eine Abonnementverlängerung für den Spectator, ein Zug in einer Schachpartie, die er mit einem Mann in Manchester austrug, der Kalender einer Lebensversicherung. Sonst nichts. Als er den Schachzug in seine Westentasche steckte, rief eine Stimme aus der Küche im Erdgeschoß: »Sind Sie’s, Mr. Devine?«

»Ja, Mrs. Dempsey.«

»Das Wasser ist heiß, soll ich das Bad schon einlassen?«

»In Ordnung.«

Die Küchentür schloß sich. Wieder einmal gereizt, daß sie ihn mit seinem zweimal wöchentlichen Bad zur Eile trieb, ging Mr. Devine ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Es war ein kleiner Raum. In dem Bett hatte er schon als Junge geschlafen. Auch die Kommode und der Sessel stammten aus dem Haushalt seiner Eltern. Über dem Bett hing eine Kindheitserinnerung, eine große farbige Irlandkarte, auf der mit Rotstift seine Wandertouren eingetragen waren. Er schlüpfte aus seiner schlecht zusammenpassenden Hose und Jacke, zog den warmen wattierten Morgenmantel über das lange weiße Unterzeug, schlappte in Pantoffeln die Kellertreppe hinauf und klopfte an der Küchentür kurz an, bevor er Mrs. Dempseys Terrain betrat. Wie gewohnt begegnete er auf dem Weg zum Bad niemandem. Mrs. Dempsey hatte zwei heranwachsende Töchter. Sie sorgte dafür, daß die Bahn frei war.

Im ersten Stock des Hauses tauchte Mr. Devine in die Dampfschwaden eines altmodischen Badezimmers ein. Er {20}schloß die Tür ab, prüfte das Wasser und überlegte, ob er sich die Haare waschen sollte. War am Ende etwas dran an dem Gerede, daß man von zu häufigem Haarewaschen eine Glatze bekam? Das mußte erblich sein. Sein Vater war mit fünfzig kahl wie ein Ei gewesen.

Er dachte an seinen Vater. Erinnerte sich, daß sein Vater beim Schwimmen nicht gern den Kopf untertauchte. Erinnerte sich an Portstewart; er war damals ein Junge von zehn Jahren gewesen; sein Vater war mit langsamen, kräftigen Zügen aufs Meer hinaus geschwommen und hatte ihn am Strand zurückgelassen. Er hatte geweint – sein Papi schwamm für immer fort! Nach Schottland …

Betrübt dachte Mr. Devine daran, wie er seinen Vater zum letztenmal gesehen hatte. In einem Leichentuch aus braunem Kaschmir lag er auf dem großen Doppelbett, die wächsernen Hände um einen Rosenkranz geklammert, die Füße geschlossen in weißen Kaschmirsocken … Und die häßlichen kleinen Einzelheiten, die ihm nach all den Jahren noch in Erinnerung waren … Die Bänder hinten am Leichentuch waren nicht verschnürt worden, weil sein Vater so schwer zu heben war. Der unsichtbare Rücken war nackt. Die Füße blieben zusammen, weil der Mann vom Bestattungsinstitut sie festgebunden hatte. Ein kleines, unter sein Kinn gelegtes Meßbuch sollte der Totenstarre helfen, den Mund für immer zu schließen. Meßkarten fielen wie Laub auf das Bett, denn viele Leute kannten seinen Vater, Devine senior war Rektor einer großen staatlichen Grundschule gewesen, in einer überschaubaren Stadt, in der noch alle den Schulleiter kannten. Ja, Papa haben mehr Leute gekannt, als mich je kennen werden, dachte Mr. Devine traurig. Und sie vergessen ihn so wenig wie ich. Der Sturm heute in der Unterstufe hat ihn mir {21}wieder in Erinnerung gebracht. Fünf Faden tief liegt Vater dein, sein Gebein ward zu Korallen. Schön, das mit dem bleichen Skelett unter Wasser. Nichts an ihm, das soll verfallen … In Rom hat Trelawney diese Zeile auf Shelleys Grabstein meißeln lassen. Ich muß sehen, wieweit die Jungs mit Shelleys Leben vertraut sind. Danach ist ein- oder zweimal gefragt worden.

Langsam knöpfte Mr. Devine seine Hemdhose auf. Sein Körper war abgeschottetes Land. Die nie gesonnte Haut war blaß, und an Hals und Handgelenken hatten sich scharfe Demarkationslinien gebildet. Es war, als gehörten Kopf und Hände, die Wind und Wetter ausgesetzt waren, nicht zu diesem verborgenen Körper, weiß wie der Bauch eines Bauern. Als er sich jetzt vorsichtig ins Wasser sinken ließ, überzog sich die helle Haut schmerzhaft mit Rot. Er hielt den Atem an und saß still in der dampfenden, siedenden Hitze.

Aber auch sein Vater war den Leuten hier nicht mehr richtig in Erinnerung. Wer dachte dieser Tage denn überhaupt noch an seinen Vater? Selbst Josie und ich denken selten an ihn, überlegte Mr. Devine. Ja, man wird schnell vergessen, wenn man über den Jordan geht. Kinder helfen schon; der alte Tim Heron z.B., zu dem ich heute abend will: Jeden Penny muß er umdrehen, kommt immer grad so mit dem Geld hin, aber er ist ein Paterfamilias, verdammt! Sein Sohn Eamon gibt den Namen weiter, und seine Töchter verbinden sein Blut mit dem anderer Familien. Moses und das Schilf. Mich hätten sie ertränkt. Männlich.

In der Wanne stehend, seifte er sich das Hinterteil ein und neigte sein Kinn, um hinunterzuschauen. Deo gratias, er konnte ihn noch sehen; es hing noch keine Wampe {22}drüber. Auch wenn er nichts damit anfing. Aber verdammt, schalt er sich, es hat keinen Sinn, morbid zu werden, keinen Sinn, solche Sachen zu denken. Das mit dem Fortbestand des eigenen Geschlechts war ja doch alles Quatsch. Genialität etwa ließ sich nicht übertragen. Siehe zum Beispiel …

Aber aus dem Stegreif fiel ihm kein Beispiel ein. Er stieg hinaus auf die Gummimatte, wischte den beschlagenen Spiegel ab und setzte seine Brille auf, um sein Gesicht wieder einmal zu mustern. Sein Haar dünnte oben ein ganz klein wenig aus. Er entsann sich an Zeiten, da hatte es hochgestanden wie Stechginster. Er zauste es in dem Bemühen, den Ginsterbusch wieder herzustellen. Aber ohne Erfolg. Sie transit die Krone des Ruhmes. Nun ja, er sah gar nicht so übel aus; er hatte schon Schlimmere gesehen. Er verneigte sich vor seinem Spiegelbild und zwirbelte die Schnurrbartspitzen forsch nach oben. Schließlich wollte er zu einer Party heute abend. Da waren sicher eine Menge Mädels, sollte man meinen.

Präsentabel und beruhigt sperrte er die Tür auf. Hatte er den Stöpsel rausgezogen? Er horchte. Ja, er hörte, wie ein Rest Wasser noch in den Ablauf gurgelte. Er blickte auf die Wanne, und irgend etwas an ihr – lang, weiß, ruhend – ließ ihn an eine Säulenplatte auf dem Friedhof denken. Verdammt, er war ja wirklich in einer morbiden Verfassung heute! Das Wasser war jetzt fast ganz weg. Als der letzte Rest ablief, gab es ein seltsam keuchendes, fast menschliches Geräusch. Er schloß die Badezimmertür und ging nach unten in seine Wohnung.

{23}2

Ein feuchter Abendwind wehte durch die Cavehill Road und riß Mr. Devine beinahe seinen Hut vom Kopf, als er in die Straße einbog, in der Tim Heron wohnte. Es war eine Straße mit kleinen roten Ziegelhäusern und vorspringenden, den Fremden abweisenden Erkerfenstern; eine Straße, über deren Bewohner die Hinterhöfe mit ihren Wäscheleinen sehr genau Aufschluß gaben. Die jetzt im Bett liegenden Kinder waren den ganzen Tag auf den Gehsteigen herumgetollt und hatten die winzigen Vorgärten mit ihren Spuren übersät: kreidebeschmierte Wände, umgeworfene Dreiräder, klapprige, stehengelassene Puppenwagen. Jetzt war es still, das Geschrei, die Kampfansagen, das Geschimpfe der Erwachsenen waren verstummt. Hier gingen die Leute früh schlafen, standen früh auf und hatten einen anstrengenden Tag.

Aber in Haus Nummer 6 war alles anders. In dem Haus wurde gefeiert. Ein heller orangefarbener Lichtschein fiel von der Lampe im schmalen Hausflur auf die Straße. Und an der offenstehenden Haustür begrüßte Magister Timothy Stanislaus Heron, die Lippen zu einem ungewohnten Lächeln verzogen, immer neue Gäste und half ihnen aus den Mänteln.

»Dev! Immer hereinspaziert. Häng deinen Mantel irgendwo da drüben hin, sei so gut. Und dann komm noch mal, ich will kurz mit dir reden.«

Heute abend war Tim Heron in seinem besten Staat und {24}bemühte sich nach Kräften, gesellig zu sein. Aber es war ein schwacher Auftritt in einer von ihm nicht einstudierten Rolle. Sein Leben lang hatte er immer nur gefürchtet, übersehen zu werden, und sich immer nur damit beschäftigt, eingebildeten Kränkungen nachzugehen. Mit sechzig merkte man ihm das an; er konnte kein fröhliches Gesicht machen. Sein knochiger Körper war verborgen von den Ticks und Zuckungen unterdrückter Wut, seine stahlblauen Augen flackerten wild, heimliche Angriffe aufspürend. Ständig legte er sich beruhigend die Hand auf die Stirn und strich seine gewellten grauen Haare glatt, die einzeln, jedes für sich an seinem Schädel anlagen, als wären sie mit Bleistift aufgemalt.

»Hast du die Freudenbotschaft schon gehört?« sagte er.

»Nein, Tim, was denn?«

»Der junge Gerry hat sich gerade ein Haus in der Somerton Road gekauft.«

»Oho!« sagte Mr. Devine. »Na, da muß er ja ein begüterter Mann sein, Tim, das neue Mitglied eurer Familie. Die Somerton Road, sieh an.«

»Ach, er ist ein prima Kerl«, sagte Tim Heron. »Ein prima Kerl.«

»Dafür kriegt er auch ein prima Mädchen«, sagte Mr. Devine.

»Das stimmt. Das stimmt. Ach, die jungen Leute haben’s gut heutzutage. Die Zeiten haben sich geändert, was, Dev? Wo hätte es das zu unserer Zeit gegeben, daß ein junger Bursche, der gerade mit dem Medizinstudium fertig geworden ist, sich so etwas anschafft?«

Zu unserer Zeit? Mr. Devine sah seinen Gastgeber fragend an. Tim Heron hatte ihm vor Jahren zu der Stelle am St. Michan’s verholfen. Und ihn oft zu sich eingeladen. Sie {25}waren alte Freunde, gar keine Frage. Aber was zum Teufel meinte er mit zu unserer Zeit? Er ist doch fast doppelt so alt wie ich, überlegte Mr. Devine.

Zu kränken brauchte man ihn trotzdem nicht. Schwamm drüber.

»Allerdings«, sagte er. »Das stimmt.«

»Na ja, meinen Segen haben die zwei«, sagte Tim Heron. »Und du, Dev, willst du jetzt vielleicht was trinken? Drinnen ist es warm, und ich laß dich hier an der Tür stehen.«

»Das macht nichts, Tim. Überhaupt nichts.«

»Jaja, nicht alle sind so rücksichtsvoll wie du«, sagte Tim Heron, die Winkel seines blassen Mundes nach unten ziehend, als ihn der Jähzorn wieder überkam. Er schob sein Gesicht näher heran, und Mr. Devine sah den großen Adamsapfel in Tims dürrer Kehle hüpfen. »Der Direktor ist nicht gekommen, Dev. Er kommt nicht.«

»Ach, daran würde ich mich nicht stoßen, Tim«, sagte Mr. Devine hastig. »Der war noch nie gesellig.«

»Aber ich habe ihn extra eingeladen«, sagte Tim und blinzelte bös mit dem rechten Auge. »Man sollte doch meinen, wenn der dienstälteste Laienlehrer ihn herzlich darum bittet, daß er dann höflicherweise auch erscheint.«

»Er schickt sicher Pater McSwiney. Wird ja langsam zu wacklig, der Ärmste, um selber zu kommen.«

»Meinst du?« Tim Heron dachte schweigend über diese Möglichkeit nach. »Ja, da könntest du recht haben, Dev.«

»Und mit Pater Mac bist du doch auch besser bedient«, sagte Mr. Devine. »Er ist viel umgänglicher.«

»Ja.« Tim Heron nickte mit dem Kopf und strich erneut über sein dünnes Haar. »Pater Mac wird bald selbst Direktor sein, paß nur auf.«

{26}»Bestimmt«, meinte Mr. Devine lächelnd. Er sah, daß seine Äußerung Tim gefallen und den alten Wüterich wieder besänftigt hatte.

»Ja.« Aufgemuntert klopfte Tim Heron Mr. Devine auf die Schulter und komplimentierte ihn ins Haus. »Und jetzt rein mit dir, Dev, die Party wartet.«

»Danke, Tim.«

Als er ins Wohnzimmer kam, blieb Mr. Devine erst einmal kurz stehen, um dem jungen Eamon gute Nacht zu sagen, Tims Sohn, der im St. Michan’s in der Oberstufe war. Dann grüßte er Mrs. Sullivan, eine Freundin seiner Schwester aus der Zeit, bevor sie nach Dungannon gegangen war. Auf der anderen Seite des Raumes schirmten Männerrücken einen Tisch mit Getränken ab. Ist da einer, den ich kenne? fragte sich Mr. Devine. Einer, mit dem ich plaudern, einen Whisky kippen, ein bißchen zusammensitzen kann? Wer?

Aber er besann sich. Wenn er jetzt in einer Männerrunde hängenblieb, würde er den Abend doch wieder unter Gleichgeschlechtlichen verbringen. Mit Unbehagen dachte er an Connollys Bemerkung auf der Toilette. Wie wär’s, wenn er zur Abwechslung mal eine Frau ansprach?

Drei Frauen saßen im Erker. Die eine war alt, eine um die Vierzig, und eine war ein sympathisch aussehendes junges Mädchen. Wer sie wohl sein mag? Nervös, auf äußerste Unauffälligkeit bedacht, pirschte er sich an den Erker heran. Das Mädchen schaute hoch. Sofort sichtete Mr. Devine einen imaginären Bekannten am anderen Ende des Raumes. Er winkte und lächelte dieser imaginären Gestalt zu. Das Mädchen schaute weg, und die Frauen nahmen ihre Unterhaltung wieder auf.

Tja, wenn ich jetzt einen Teller mit Keksen hätte, {27}könnte ich hingehen und ihnen was anbieten. Aber Kekse waren nirgends zu sehen. Ich könnte ihnen was zu trinken anbieten. Was möchten die Damen gern trinken? Oder: Darf ich jemand was zu trinken bringen? Ja, das hörte sich gut an. Entschieden trat er auf die Frauen zu.

»Und dann sagte sie, Peggy hätte gesagt, sie kriegen das Haus überhaupt nicht.«

»Ach komm! Aber das erklärt wenigstens, warum Meta am Sonntag nicht mit Peg und mir gesprochen hat, als wir ihr nach der 11-Uhr-Messe begegnet sind.«

Und das gutaussehende Mädchen sagte: »Ach, habt ihr das noch nicht gehört, sie und Peg haben sich doch furchtbar verkracht! Ihr wißt ja, wie sie immer alles anfaßt und nach dem Preis fragt. Da kommt sie also eines Tages zu Peg und ist noch kaum zur Tür rein …«

Sie hatten keine Notiz von ihm genommen. Rufmörderinnen waren sie, die ganze verflixte Bande. Das fiel ihm bei Frauen wirklich auf, sie zogen dauernd übereinander her. Männer waren da viel vernünftiger, sie hielten wenigstens den Mund, wenn sie jemand nicht mochten. Und überhaupt, dachte Mr. Devine, welcher Mann, der bei klarem Verstand ist, hört auf Weibergeschwätz? Zum Beispiel in diesem Raum hier. Jeder Mann hier sprach mit einem anderen Mann, und die Frauen waren sich selbst überlassen. Kein Wunder. Da konnte er ebensogut zu den Jungs gehen und was trinken.

Aber genau in dem Moment kam eine Frau vorbei, eine hochgewachsene Person, die er nicht kannte. Gutaussehend. Er lächelte ungefähr in ihre Richtung, und sofort drehte sie sich um und kam zu ihm.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie, »aber sind Sie ein Bekannter von dem jungen Mann?«

{28}»Wie bitte?«

»Dem jungen – na, wie heißt er doch gleich? Ich habe ein furchtbares Namensgedächtnis. Sie wissen schon. Der frischgebackene Verlobte von Mary Heron.«

»Oh, den meinen Sie.« Mr. Devine versuchte ein zweites Mal zu lächeln. Hübsch gebaut war sie auch. »Ja«, sagte er. »Er heißt Carty. Dr. Gerry Carty.«

»Wo ist er jetzt? Können Sie ihn mir zeigen?«

»Ach so, ehm, im Augenblick sehe ich ihn leider nicht. Ich bin ihm erst einmal begegnet. Es kann sein, daß ich ihn nicht wiedererkenne.«

»Ich dachte, Sie seien befreundet mit ihm«, sagte sie und sah Mr. Devine an, als hätte sie ihn bei einer Lüge ertappt. »Aber trotzdem vielen Dank.«

Und sie ging davon. Er wollte ihr gerade folgen – schließlich mußte auch er den Verlobten seine Aufwartung machen –, da kam eine ältere Dame zur Wohnzimmertür herein und sagte zu der Hochgewachsenen:

»Ach, Mrs. Reddin, haben Sie einen Augenblick Zeit?«

Mrs  … Hätte man sich denken können. Nun, damit war das ein für allemal erledigt. Sie war sowieso zu groß. Er peilte wieder den Tisch mit den Getränken an. Harry Sharkey und Dan Cavanaugh sah er dort stehen. Aber das Gesicht, das sich ihm zuwandte, um ihn willkommen zu heißen, war ihm nicht sehr willkommen.

»Devine, mein Sohn, wie geht’s?«

»Kann nicht klagen«, sagte Mr. Devine und versuchte, über die Schulter des Dazwischengetretenen den Blick von Harry Sharkey auf sich zu ziehen. Aber Moloney nahm ihn in Beschlag und bugsierte ihn zu den Getränken. »Ich stehe an der Quelle«, sagte er. »Scotch gefällig?«

»Ein Schluck Whisky wäre ausgezeichnet«, stimmte {29}Mr. Devine zu. Eigentlich hatte er für Tony Moloney nichts übrig, den er für einen aufgeblasenen Dubliner Gockel hielt, einen Ausbund an Gewöhnlichkeit. Aber Moloney war ein Kollege am St. Michan’s; als Kollege mußte man mit ihm leben. Wozu gleich jemand schneiden, bloß weil man sein Benehmen nicht gut fand?

»Haben Sie den Bräutigam schon kennengelernt?« fragte Tony Moloney.

»Marys Zukünftigen? Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen.«

Moloney blickte sich um, wobei ihm die Stirnlocke über das rechte Auge fiel. »Junger Medikus«, sagte er. »Der Herr Vater hat ein Geschäft irgendwo im Antrimtal. Geld wie Heu und dumm wie Bohnenstroh.«

Du bist mir der Richtige, dachte Mr. Devine. Aber er sprach es nicht aus.

»Wohlgemerkt, der alte Heron kann heilfroh sein«, sagte Moloney. »Seine Tochter ist doch eine fürchterliche Schreckschraube.«

Mr. Devine blickte erschrocken zu den anderen Gästen und hoffte, daß niemand es mit angehört hatte. »Aber sie sieht doch nicht übel aus, Tony«, murmelte er verlegen.

»Nicht übel? Bei Gott, ist sie in Ihren Augen eine Diva, Devine? Diva-Devine – Spaß muß sein.« Moloney lachte laut. »Haben Sie denn ihre Beine nicht gesehen, Mann?« redete er weiter. »Ein Paar Keulen wie ein Mastrind.«

»So?«

»Wollen Sie sagen, Sie haben noch nie die Beine bemerkt?« Moloney lachte wieder und gab Mr. Devine einen Klaps zwischen die Schulterblätter. »Sie und der junge Ray Connolly brauchen wirklich eine Brille. Ich habe Ray {30}gesagt, er soll sich mal ihre Beine ansehen, und ich dachte, er schlägt mich k.o.«

»Kein Wunder. Er hat sich ja auch um sie bemüht«, sagte Mr. Devine empört.

»Dann muß er blind sein. Mann, die hat doch ein Heck wie die Queen Mary.« Moloney hustete über seinem Glas, rot im Gesicht vor Belustigung über den eigenen Witz. »Frauen und Pferde«, sagte er, »beurteilt man von den Hufen aufwärts.«

»Es könnte Sie jemand hören«, flüsterte Mr. Devine. Gott steh uns bei, dachte er, der alte Tim ist keine zwanzig Meter weg. Aber mußte man bei Moloney nicht damit rechnen, daß er solche Reden führte? War es nicht bezeichnend? Es war nicht gut, sich mit dem Burschen abzugeben.

»Warten Sie, Alter, ich bin gleich wieder da«, sagte er, stellte sein Glas ab und verzog sich, ehe Moloney ihn zu fassen bekam. Er eilte auf den Flur hinaus, aber dort stand eine Schar schwatzender Frauen herum. Er sah einen Mann die Treppe hinaufgehen und entschloß sich, ihm zu folgen. Alles war besser, als wieder bei Leuten wie Moloney zu landen. Und wenn er sich’s überlegte, hatte Moloneys Äußerung auch einen Hieb auf ihn enthalten – als wäre er zu brav, um einer Frau auf die Beine zu sehen.

Nichts als Beleidigungen kriege ich heute ab, dachte Mr. Devine. Connolly läßt durchblicken, daß ich mich nicht für Frauen interessiere, Moloney meint, ich sei zu brav, um auf Ideen zu kommen, und der alte Heron redet, als ob ich zu seiner Generation gehörte. Das alles an einem Tag!

Aber der Mann, dem er nach oben folgte, war nur zum Pinkeln hinaufgegangen. Mr. Devine blieb unentschlossen stehen, als der Mann das Bad betrat. Sich umblickend, {31}sah er, daß er vor dem oberen Wohnzimmer stand. Das war ein Raum, in dem die Kinder nicht spielen durften, ein Raum nur für besondere Gelegenheiten. Die besten Stücke aus Mrs. Herons Hausrat schmückten ihn; Plüschsofas, wacklige Kommoden, messingne Kaminvorsetzer, silberne Tabletts. Sobald er über die Schwelle getreten war, erkannte Mr. Devine seinen Fehler. Verhärmte, gelangweilte Gesichter wandten sich in seine Richtung und begrüßten die Ablenkung. Jetzt gab es kein Zurück. Er mußte hineingehen.

Hier waren die Alten. Tim Herons Mutter und sein Schwiegervater, ein betagter Onkel, eine einsame Tante. Fünf oder sechs unverheiratete Frauen, dümmlich, ältlich, abgemeldet. Alle waren in ihrem besten Sonntagsstaat und wußten nichts mit sich anzufangen. Sie hatten sich auf den Abend gefreut, und jetzt fanden sie wie üblich doch kein Vergnügen daran. In einem steifen Oval saßen sie auf den Sofas und Sesseln und brüteten unnütze kleine Bemerkungen aus. Sie waren, auch füreinander, die leidigen Verwandten, die man zu jeder Feier einladen mußte, weil sie am wenigsten beachtet wurden und daher am schnellsten beleidigt waren. Jemand hatte ihnen Sherry ausgeschenkt, und auch ein Teller mit ein paar kleinen Keksen war da. Alle warteten aufs Abendessen wie Kinder auf den Geburtstagskuchen.

Sie waren entzückt, Mr. Devine zu sehen … Ja, wirklich erfreut. Sie kannten ihn alle oder wußten, wer er war; er gab Unterricht am St. Michan’s wie Tim, und seine Mutter war doch eine Henry mütterlicherseits – sein Vater war vor einigen Jahren gestorben; alle miteinander hatten sie damals die Traueranzeige gelesen. Sie waren große Leser von Todesanzeigen. Mit ihrem unerschöpflichen {32}genealogischen Wissen hätten sie Mr. Devines Familie über drei Generationen zurückverfolgen können; und als sie ihn hereinkommen sahen, stellten die meisten von ihnen auch die Eröffnungszüge dieses ihres Lieblingsspiels zusammen. Sie lächelten ihn an; er war nicht jung genug, um ihnen unhöflich zu begegnen, nicht alt genug, um einer von ihnen zu sein. Ein stattliches Mannsbild; er hätte einen wunderbaren Priester abgegeben; sehr gebildet war er und auch redegewandt. Ja, hm, ja … Die alten Damen tuschelten untereinander wie die Mäuslein, erinnerten sich, woher sie ihn kannten, schauten ihn sich noch einmal an, lächelten scheu mit blutleeren Lippen, strahlend weißen falschen Zähnen … Ach, guten Tag, Mr. Devine, wie geht es Ihnen? Sie werden mich nicht kennen, mich und meine Schwester – das ist meine Schwester Minnie –, aber wir haben Ihren Vater gekannt, Gott hab ihn selig, und auch Ihre Mutter. Sie war eine Heilige, die Frau Mutter. Ach ja. Und kennen Sie Mrs. Clery? Mrs. Kane und Mr. McGurk? … Jawohl, sagte Mr. McGurk und hustete den Tabakrest aus seinem Hals. Sie unterrichten zusammen mit Tim am St. Michan’s, wie? Ja, die Zeiten haben sich geändert, ich bin als Junge noch auf die alte Schule gegangen. Das war nur ein Haus damals, das sogenannte Priesterhaus, und es war noch mitten auf dem Land. Rings um das Schloß nichts als Felder. Jaja, hm … Und das ist Miss Lacy … O ja, ich kenne Mr. Devine, aber er kennt mich bestimmt nicht mehr, wir sind uns mal bei Mr. McAlister begegnet. O ja, Sie kennen mich nicht, aber ich, du meine Güte, ha, ha, ich habe das Gefühl, ich kenne Sie ganz gut, mein kleiner Neffe redet immer von Ihnen. Mangan heißt er, ein wunderbares Kerlchen. Er geht in die erste Klasse im St. Michan’s … Ach, und Mr. Devine, das ist Tims Mutter – {33}Sie kennen sich schon? … Allerdings, und wie geht’s, Mr. Devine? Gut schauen Sie aus. Ich muß feststellen, ihr Junggesellen werdet mit jedem Tag jünger, mhm …

Und nachdem das gesagt war, gab es nichts mehr zu sagen. Sie saßen und warteten darauf, daß er etwas sagte – und nach einigen Augenblicken der Stille wandten sich die alten Damen einander zu; das Tuscheln der Mäuse begann, leise, winzige Stimmen gegenüber dem Gelächter und der Lebhaftigkeit im unteren Stockwerk. Die ausgesperrten Greise und alten Jungfern hier erwarteten, daß Mr. Devine ihnen die Party näherbrachte, und als er das nicht tat, wünschten sie, er würde gehen, denn dann könnten sie über ihn reden, ihn zum Ausgangspunkt nehmen für die vertraute verbale Pilgerfahrt vom unbefriedigenden Jetzt in die allen bekannte Vergangenheit. Und bald würde es Abendbrot geben. Ein gutes Abendessen. Auch darüber könnten sie reden. Also warteten sie, beobachteten ihn, wollten ihn weghaben. Und da er das spürte, trank Mr. Devine seinen Sherry aus und sagte, er müsse einmal das glückliche Paar suchen und ihm gratulieren, haha. Sie seien unten, sagte man ihm. Ja, Miss Lacy hatte sie gesehen, das Inbild junger Liebe, im hinteren Flur. Mr. Devine dankte Miss Lacy und sagte, das müsse er mit eigenen Augen sehen. Haha. Ja, wirklich.

Nun, das war ein Patzer gewesen! Genau ins Fettnäpfchen war er getreten. All diese armen Fossilien. Er entsann sich, daß auch seine Mutter zuletzt so gewesen war. Einsam und alt. Alt und unnütz. Leute, mit denen niemand reden wollte.

Betroffen über diesen Blick in die eigene Zukunft, blieb er im Halbdunkel des Ganges stehen. Das war das Los aller Menschen, zu altern, zu sterben. Tempus fugit, {34}irreparabile tempus. Er wünschte, er wäre heute abend nie da hineingegangen. Nahm man es zu all den anderen kleinen Hieben heute hinzu, war es doch ein Omen, oder? Die ganze Verlobungsfeier war ein Omen. Er konnte sich an Tim Herons Tochter noch als kleines Mädchen im Schulkleid erinnern. Und im nächsten Jahr würde sie wahrscheinlich Mutter sein. Da schluckte doch jeder erst mal.

Er beugte sich über das Geländer und sah auf die Köpfe in der Diele hinunter. Ein eingeöltes rotes Haupt, das adrett auf schwarzen Schultern saß, strebte, vom beifälligen Nicken anderer Köpfe begleitet, im Triumphzug dem Salon zu. Mr. Devine erkannte Pater Alphonsus McSwiney, St. Michan’s Dekan für Disziplin. Tim Heron wird sich freuen, dachte er, daß nun auch ein offizieller Vertreter des College die Gesellschaft mit seiner Anwesenheit beehrt. Waren manche Leute nicht leicht zufriedenzustellen? Und Parties waren sowieso immer ein Witz, eine Ansammlung von Leuten, die sich bemühten, nett zueinander zu sein. Behandle deinen Nächsten so, hat Christus gesagt, wie du von ihm behandelt werden möchtest. Ob Er dabei an Parties gedacht hat? sinnierte Mr. Devine.

Eine Tür öffnete sich: Licht fiel auf den Gang und blendete ihn mit seiner Helligkeit. Ein junges Mädchen kam aus dem Zimmer, drehte das Licht aus und schrak zusammen, als sie ihn plötzlich sah.

»Oh!«

»Entschuldigen Sie«, sagte er und trat zur Seite.

»Nein, nein, ich war nur nicht darauf gefaßt, daß jemand vor der Tür steht. Beinah wäre ich mit Ihnen zusammengestoßen.«

Er konnte sie jetzt besser sehen, da ihn das Licht nicht mehr blendete. Sie trug ein blaues Partykleid und {35}hochhackige Lackschuhe. Ihre Haare waren braun und kurz geschnitten, und sie hatte einen rebellischen und jungenhaften Zug im Gesicht. Sie war blaß, sie trug kein Rouge, und ihre Augen waren groß und dunkel. Wer war sie?

»Habe ich Sie erschreckt?« fragte er.

»Nein, nein. Das geht in Ordnung.«