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Ein neuer Fall führt Raben ins besetzte Polen, während sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zieht.
Es ist der 1. September 1939. Hitler überfällt Polen. Kommissar Karl Raben wird in eine der Einsatzgruppen eingezogen, die hinter der Front Juden ermorden sollen. Doch als er sich weigert, an einer Massenerschießung teilzunehmen, wird er zur Kripo in Berlin zurückversetzt. Dort beschäftigt ihn der Mordfall eines Abteilungsleiters in Joseph Goebbels‘ Propagandaministerium. Einer der Verdächtigen steht bereits auf der Liste des Kommissars: Fred Wetterau, der Filme für die Nazi-Wochenschau dreht, ist auch einer der Mörder des Kommunisten Kurt Esser, die Raben seit 1932 verfolgt. Da Wetterau gerade in Posen dreht, muss Raben zurück ins besetzte Polen, um zu ermitteln. Währenddessen zählt SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich in Berlin eins und eins zusammen: Kann es Zufall sein, dass Essers Mörder einer nach dem anderen unter ungewöhnlichen Umständen sterben?
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Seitenzahl: 583
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Berlin, September 1939: Hitler startet seinen Polenfeldzug, der Zweite Weltkrieg beginnt. Die Welt hält den Atem an, doch für Kommissar Karl Raben und seinen Kollegen Georg Lichtigkeit geht der Alltag weiter. Ein Mordfall in Joseph Goebbels‘ Propagandaministerium beschäftigt die beiden Polizisten – haben die Nazis etwa einen Mann aus ihren Reihen umgebracht?
Nach wie vor jagt Raben die Mörder des 1932 getöteten KPD-Redakteurs Kurt Esser, die von Hitler höchstpersönlich begnadigt wurden. Als er eine Möglichkeit sieht, beide Fälle gleichzeitig zu lösen, überschreitet Raben bewusst die Grenze zwischen Gut und Böse. Ist er dieses Mal zu weit gegangen? Sein Vorgesetzter Reinhard Heydrich schöpft Verdacht. Und spätestens als Raben sich weigert, an einer Massenerschießung in Polen teilzunehmen, wird es für ihn und seine jüdische Frau Lena lebensgefährlich ...
Der Autor
Christian v. Ditfurth, geboren 1953, ist Historiker und lebt als freier Autor in Berlin und in der Bretagne. Neben Sachbüchern und Thrillern wie Der 21. Juli und Das Moskau-Spiel hat er u. a. die Krimiserie um den Historiker Josef Maria Stachelmann und die Eugen-de-Bodt-Serie veröffentlicht. Rabens Rache ist der vierte Band seiner historischen Krimiserie um den Kommissar Karl Raben, die in der Weimarer Republik beginnt und in der Bundesrepublik endet.
»Christian v. Ditfurth (zeichnet) ein erschreckend real wirkendes Bild der Nazi-Zeit.« literatur-blog.at
»Kein anderer deutscher Autor knallt politische Ereignisse so packend pointiert und lakonisch zwischen zwei Buchdeckel. (…) Historisch korrekt, formal brillant.« Ego.fm Buchhaltung, Günter Keil
www.cbertelsmann.de
Christian v. Ditfurth
Rabens Rache
Der vierte Fall für Karl Raben
Kriminalroman
Weitere Informationen über dieses Buch:
www.cditfurth.de
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Redaktion: Claudia Alt
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Umschlagabbildung: © akg-images
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32745-3V001
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Für Chantal
Der Tag des Zornes, jener Tag wird die Welt in Asche auflösen.
Thomas von Celano
Prolog
Er sah erst die Staubfahne, dann den Laster, der sie aufwirbelte. Raben blickte sich um. Anspannung las er in den Gesichtern, vielleicht auch Angst. Die Straße kurvte, jetzt konnte er den Lastwagen sehen. Der Magen krampfte, der Darm rumorte.
Sie waren bei Sonnenaufgang hergebracht worden. Fast alle hatten getrunken in der Nacht, die Chefs hatten Wodka ausgegeben. Beim Frühstück war es still, bis auf einen Idioten, der Judenwitze erzählen wollte.
»Halt’s Maul!«, hatte ihn ein Unterführer angeschissen. Es war keine Zeit für Witze, es war die Zeit für Mord.
Raben war am Abend zuvor angekommen, zuerst mit der Bahn vom Einsatzgruppen-Ausbildungslager in Ravensbrück nach Warschau, von dort in einem Militärlaster in ein Dorf, dessen Namen er nicht entziffern konnte. Irgendwo bei Posen. Die Bewohner waren teils geflohen, teils saßen sie in ihren Hütten und Häusern, von denen die meisten verrottet waren. Reichtum glänzte, Armut stumpfte.
Das Kommando hatte sich in einer Baracke eingerichtet und wurde von Standartenführer Damzog befehligt. Raben sollte sich hier bewähren, dann wollte Heydrich ihm ein eigenes Kommando geben. »Jetzt können Sie zeigen, was Sie draufhaben. Unsere SS führt einen eigenen Krieg, wir bekämpfen unseren Feind nicht, wir rotten ihn aus. Spätere Generationen werden uns dankbar sein, dass wir die Rassenfrage für sie gelöst haben. Ein SS-Offizier drückt sich nicht. Verstanden, Sturmbannführer?«
»Jawohl, Gruppenführer!« Er hatte alles verstanden und nichts.
Dann bremste der Lastwagen. Schweigen. Sogar der Wind hörte auf zu wehen, die Erde stand still. Rabens Blick war festgenagelt auf die Ladefläche des Lastwagens, die sich nun leerte. Es geschah, als hätten die SS-Männer das schon tausendmal gemacht. Alten reichten sie die Hand, um ihnen hinunterzuhelfen. Dann sah Raben einige Opfer weinen. Sie saßen auf dem Boden, manche hielten die Hände vors Gesicht, andere zogen ihre Kinder, Eltern, Großeltern fest an sich. Ein Mann mit grauem Bart hockte reglos und starrte ins Leere.
»Ausziehen bis auf die Unterwäsche!« Ein Befehl wie ein Schuss. Die Menschen erstarrten, begannen an ihrer Kleidung zu nesteln. Die brauchten andere. Wäre dumm, sie zu begraben. Bald lag alle Kleidung auf einem Haufen. Aus dem Wald erschien ein Trupp SS. Die Uniformierten zählten ihre Opfer ab. »Los, los!« Schreie der Täter, Schreie der Opfer.
Damzog gab Raben einen Fingerzeig, ihnen zu folgen. Er nahm das Gewehr, das ihm ein SS-Mann zugeteilt hatte, und ging los. Sie standen in Reihe vor dem Graben. Einige weinten, andere waren erstarrt.
»Sturmbannführer, bitte hier!« Bitte!
Raben stellte sich zu den Schützen hinter den Opfern. Er zielte auf den Hinterkopf. O ja, er wollte wissen, wie das ist.
»Feuer!«
Schüsse ertönten, die Männer fielen in die Grube. Nur der Mann vor Raben nicht.
»Sturmbannführer, haben Sie vorbeigeschossen?« Welch Einladung!
»Nein. Ich habe nicht geschossen«, sagte Raben, ließ das Gewehr fallen und verließ das Blutbad Richtung Sammelplatz. Ihm begegneten die nächsten Opfer, vorangetrieben von ihren Schlächtern. Raben wurde überholt von einem Oberscharführer, das Käppi auf roten Haaren. Auf dem Sammelplatz machte er Meldung bei Damzog und verschwand wieder, um weiterzutöten.
Raben stellte sich vor Damzog, grüßte militärisch. »Ich habe Ihren Schießbefehl verweigert, Standartenführer.«
I. Si vis bellum
1.
»Wir hätten nicht in Deutschland bleiben dürfen«, sagte Lena. »Deine Einberufung zu dieser Einsatzgruppe, um Gottes willen. Ich weiß nicht, was diese Gruppen machen, aber vorstellen kann ich es mir doch.«
Raben sagte nichts. Er hatte Lust, sich den Pistolenlauf in den Mund zu stecken und abzudrücken. Warum, verdammt, tat er es nicht?
»Es musste so kommen, wie es kam«, sagte sie.
Es kommt immer, wie es kommen muss, dachte Raben und nickte. In seiner Brust stach die Angst.
Sie blickte ihn an. »Was ist?« Dumme Frage, ja. Aber wie sollte sie an ihn herankommen?
»Wir schaffen es nicht mehr raus«, sagte er.
»Das ist nicht deine Schuld. Du hast es uns vorgeschlagen, mehrfach. Dein Fehler ist es nicht.«
Im Kinderzimmer lachte Karl der Kleine vor Freude. Oma kitzelte ihn, und sie verschwanden in ihrer Welt, wo es keinen Krieg gab und keine Lebensmittelmarken.
»Warum hat niemand den Mumm, den Kerl über den Haufen zu schießen? Auch ich hatte die Gelegenheit, als Hitler mir für seine Rettung dankte. Was bin ich für ein Feigling.«
»Red kein Blech. Du bist der mutigste Mann, den ich kenne.«
»Ich bin ein Mitläufer, diese Obernazis meckern auch mal gern. Sie werden alles besser gewusst haben, wenn das Schwein endlich tot ist.«
Klingeln an der Tür.
»So spät noch?«, sagte Lena.
Raben öffnete die Haustür. Lichtigkeit, den Hut in der Hand, Nachtfrische strömte in den Flur. Ihm hing eine Zigarette im Mundwinkel. »Zu spät?«
»Ja, komm rein.«
Lichtigkeit setzte sich an den Küchentisch, während Lena eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holte, dieser Errungenschaft der Zivilisation. Sie stellte die Flasche samt einem Glas auf den Tisch.
»Wie geht’s dir in deiner Junggesellenbude?«, fragte sie.
»Ich gewöhn mich dran. Die Kinder fehlen mir, aber mir geht’s besser ohne den Terror, glaube ich. Wer will schon jeden Abend angemault werden oder einen Parteitag ertragen? Hätte nie gedacht, dass sie zur Obernazisse verkommen würde.«
»Karl wird zur Einsatzgruppenausbildung nach Ravensbrück abkommandiert.«
»So eine Scheiße«, sagte Lichtigkeit und trank einen Schluck. »Was ist das? Einsatzgruppe?«
Raben blickte ihn an. »Das sind Verbände der Sicherheitspolizei, also Gestapo und Polizei, und des Sicherheitsdienstes, die hinter der Front, im besetzten Gebiet, Feinde des Reichs bekämpfen sollen.«
Lichtigkeit hob die Brauen. »Feinde des Reichs? Stammt das von Heydrich?«
Raben nickte.
Lichtigkeit schüttelte den Kopf. »Das kann nur furchtbar werden. Kommunisten sind Reichsfeinde, Juden sowieso …«
»Die wollen auch die Intelligenz vernichten, also jeden Lehrer, Professor, Studenten, Priester und so weiter. Wen die für dumm halten, darf für die Arier malochen«, sagte Raben, während Lichtigkeit ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte. »Kinder sollen ein bisschen rechnen, lesen und schreiben lernen, außer Juden natürlich, fertig.«
»Sklaverei«, sagte Lichtigkeit.
»Bei den Römern hatten Sklaven Aussicht auf Befreiung und Aufstieg, Gebildete genossen Vorzüge«, sagte Lena. »Die SS-Sklaverei ist aussichtslos für die Opfer.«
Sie schwiegen, tranken.
»Was treibst du zurzeit, Herr Kriminalrat?«, fragte Raben.
Lichtigkeit lächelte. »Wir suchen den Mörder von Regierungsrat Werner Dreysen im Propagandaministerium. Er wurde erstochen, ein Stich ins Herz, zwei in die Lunge.«
»Manchmal meldet sich die Gerechtigkeit«, sagte Raben. »Wer war’s?«
»Keine Ahnung«, sagte Lichtigkeit, »aber ich habe einen finsteren Verdacht.«
»Und?«, fragte Lena.
»Da spielt womöglich der Paragraf 175 rein.«
»Ach, du lieber Gott«, erwiderte sie.
»Der hilft da auch nicht«, sagte Lichtigkeit. »Wir haben Dreysens Wohnung durchsucht und Fotos, alte Magazine … das Übliche gefunden.«
»Er wurde in seiner Wohnung ermordet?«
»Ja, Karl. Wir haben Fingerabdrücke gefunden, aber keine Entsprechungen in der Kartei. Der Mörder hat auch Haare verloren, nehme ich an, aber Dreysen hatte viel Besuch, wie seine Nachbarin sagt. Herrenbesuch.«
»Davon habe ich gar nichts mitgekommen«, sagte Lena. »Es ist nicht mal verboten, darüber zu berichten, weil es den Fall nicht gibt.«
»So weit sind wir schon«, sagte Lichtigkeit.
»Quatsch, wir sind viel weiter«, sagte Raben leise.
»Miesmacher. Wann musst du los?«, fragte Lichtigkeit.
»Weiß ich noch nicht«, sagte Raben. »Die haben das Ausbildungslager noch nicht fertig, das KZ auch noch nicht. Das wird eine Riesenanlage, vor allem für Frauen. Wahrscheinlich haben sie zu viel Zwangsarbeiter aus Sachsenhausen totgeprügelt oder sonst wie verrecken lassen, das kostet Zeit. Die Überlebenden haben die Ehre, das KZ Ravensbrück aufzubauen. Für die gibt es keine Unterkünfte, keine Hygiene, nur dünne Suppe, dazu Schnee und Regen im Winter. Kann man in SD-Berichten lesen.«
Schweigen.
»Das wird also noch dauern«, sagte Lichtigkeit. »Wenn ich unseren eitlen Reichskriminaldirektor Nebe frage, ob du in der Zwischenzeit …«
Raben nickte. »Wenn der Führer mich nicht mehr für die Erledigung der Rest-Tschechei braucht.«
»War ja klar«, sagte Lichtigkeit deprimiert. »Kein halbes Jahr nach dem Münchener Abkommen hat er sich damit den Arsch abgewischt. Die Westmächte werden von Idioten regiert. Wenn man Leuten wie Hitler den Finger hinstreckt, nehmen die den Körper. Zurückweichen ist für unseren Führer die Einladung, noch mehr zu fordern. So war es mit solchen Leuten immer, und so wird es immer sein.«
»Gerade wenn man hofft, dass der Wahnsinn gebremst wird, nimmt er Fahrt auf«, sagte Lena.
Sie war seit ihrer Fehlgeburt unterirdisch gestimmt, sah nur noch schwarz und keine Rettung. Überbelastung, Angst könnten eine Fehlgeburt fördern, hatte der Arzt gesagt. Sie hatte nichts erwidert und auch Karl verschont, weil er sich schuldig gefühlt hätte. Vielleicht war er es.
Der Einmarsch in die Tschechei im März war glatt gelaufen. Der greise Prager Präsident hatte sich Hitler ausgeliefert und war beiseitegeschoben worden. Im Gegensatz zu den Sudetendeutschen hassten die Tschechen den Besatzer, der sie angeblich beschützen wollte.
»Niemals waren die Lügen dreister«, hatte Lena gesagt.
Und Raben hatte sich gefragt, was er ausrichten könne gegen eine Bewegung, die alles erreichte.
2.
Der Pförtner im Polizeipräsidium freute sich wie immer, als Raben die Eingangshalle betrat. Lichtigkeit saß auf seinem Schreibtischstuhl, seine Sekretärin Steinkopf alias Köpfchen lehnte an der Tischkante.
»Herr Kriminaldirektor, welch Ehre«, sagte Köpfchen.
»Reden Sie keinen Quark«, sagte Lichtigkeit. »Befreien Sie uns von Ihrer Gegenwart und besorgen Sie zwei Tassen Kaffee und einen sauberen Aschenbecher.«
In der Tat stank das Büro wie eine Straßenbahn nach Schichtschluss.
»Wenn das der Führer wüsste«, sagte Raben.
»Er lebt uns ein gesundes Leben vor«, sagte Lichtigkeit. »Dafür sollten wir ihm dankbar sein.«
»Sein Leben ist für andere allerdings ungesund. Vielleicht sollte er mit dem Rauchen anfangen?« Raben zwinkerte dem Freund zu.
Der grinste. »Dein Chef hat dir also erlaubt, für uns zu arbeiten.«
»Paragraf 175 ist eigentlich Gestapo-Sache«, erwiderte Raben. »Ihr dürft mir helfen. Sagt Heydrich.«
Lichtigkeit lachte.
»Habt ihr Dreysens Umgebung abgeklappert?«
»Für wie blöd hältst du uns?«
»Was sagt Buddha?«
»Der Herr Kriminaldirektor im Ruhestand Ernst Gennat glaubt an ein Verbrechen«, erwiderte Lichtigkeit trocken. »Ihm geht’s nicht gut. Das Herz, Diabetes, was in seinem Fall natürlich nicht an der Torten-Dauerversorgung liegt.« Er lachte bitter. »Gennat hat uns beschützt, nicht mal Nebe konnte dem was hinbiegen. Sogar Heydrich hatte Respekt vor Buddha. Aber seit zwei Jahren ist er weg.«
Köpfchen stürmte mit einem Tablett herein, zwei Kaffeetassen und eine Kanne, Zucker und Milch. »Nehmen Sie reichlich, solang es das noch gibt. Hat der Konditor gesagt.«
»Ich hab Gennat zu Hause angerufen. Er freut sich immer, wenn er zu Ermittlungen beitragen kann. Seine Frau macht sich Sorgen um seine Gesundheit, die findet es nicht so gut.«
»Klar«, sagte Raben.
»Zurück zum Fall. Die Sache ist heikel, Goebbels hält Homosexuelle für die Pest, die er mit Stumpf und Stiel ausrotten will. Und jetzt soll ein Abteilungsleiter seines Propagandaministeriums ein 175er sein. Wär lustig …«, sagte Lichtigkeit.
»In dem Fall könnte es sein, dass alle auf uns einprügeln«, erwiderte Raben. Und dachte an Fred Wetterau, der auch im Propagandaministerium arbeitete und dem er jetzt ein wenig näher kam. Wenn man einen umbringen wollte, musste man ihm aber so nah sein, dass man ihn roch.
»Ich würde gern Dreysens Wohnung sehen. Danach sollten wir seine Kollegen vernehmen, dann die Familie. Wir müssen seine Freunde suchen, vielleicht gab es einen Beziehungsstreit?«
»Damit haben wir schon angefangen, nur die Kollegen im Ministerium haben wir noch nicht vernommen. Aber wenn du willst, können wir seine Wohnung gern noch einmal durchsuchen …«
»Das Büro auch«, sagte Raben.
»Da waren wir noch nicht«, sagte Lichtigkeit. »Goebbels ist des Führers Intimus, mit dir wird es leichter.«
Raben lachte trocken. »Wie schön, dass ich bei der Gestapo bin.«
In der Wohnung kein Hitlerbild, und das bei einem Regierungsrat des Propagandaministeriums. Lichtigkeit führte ihn durch die vier Zimmer und das Bad. Im Büro sahen sie die Hinterlassenschaft einer Blutpfütze auf dem Boden neben dem Schreibtisch. Raben schluckte und sah einen Mann liegen, dessen Herz das Blut in seinem Rhythmus aufs Parkett pumpte.
Im Flur hingen Mäntel und Jacken an einer Garderobe. Die würde er später untersuchen. Weiter. Das Bild der Leiche im Blut wollte nicht weichen, Raben fühlte sich unwohl. Schweiß auf der Stirn, ein besorgter Blick von Lichtigkeit.
Raben stellte sich in die Mitte des Wohnzimmers und blickte sich um. Der Raum war groß und hoch. An den Wänden hingen Holländer: Rembrandt bis van Gogh in Kopien. An einer Wand eine Kommode mit einem Schallplattenspieler, daneben eine Goebbelsschnauze, wie Leute den Volksempfänger nannten. Lichtigkeit schaltete ihn ein. Wie auf Befehl ertönte die Trommel, auf der das Morsezeichen für V wie Victory geschlagen wurde. Kurz: dum-dum-dum, und lang: dum. Wie zum Auftakt von Beethovens 5. Sinfonie.
»BBC. Interessant, was dieser Volksgenosse gehört hat«, sagte Lichtigkeit.
»Vielleicht musste er … für Goebbels’ Gegenpropaganda …«, erwiderte Raben. »Vielleicht hatte er sich im Ministerium verkrochen und hoffte, sich so der Verfolgung zu entziehen.«
»Das meinst du doch nicht ernst«, sagte Lichtigkeit, während Raben sich die Kommode vornahm. In der oberen Etage fand er Schminkzeug und Unterwäsche, die den Unterleib mehr enthüllte als verdeckte.
»Haben wir auch gefunden und im Ermittlungsprotokoll vermerkt.«
»Wo?« Raben hatte es überflogen und keinen Eintrag gefunden.
»Versteckt, hinten. Soweit man so was verstecken kann in einem Text. Ich finde die Jagd auf Schwule unerträglich. Die tun keinem was. Aber wenn man dem Chef unserer Leiche glaubt, sind das alles Kinderficker.«
Raben nickte. »Nicht nur Goebbels glaubt das.«
In den unteren Schubladen fand er Schallplatten – Oper, Operette – und Fotoalben. »Habt ihr euch die Alben angesehen?«
»Klar. Hältst du uns für blöd?«
Raben grinste.
»Danke«, sagte Lichtigkeit.
Raben setzte sich aufs Sofa und blätterte in den Alben. »Ob er so unvorsichtig war, Fotos seiner Freunde aufzubewahren?«
Alles pedantisch. Die Fotos exakt ausgerichtet, vier auf einer Seite. Wie mit der Schablone. Erst jetzt fiel Raben auf, wie aufgeräumt die Wohnung war. Auch das Badezimmer blitzte vor Sauberkeit.
»Hat die Putzfrau ihn gefunden?«
Lichtigkeit zog ein Buch nach dem anderen aus dem Regal, blätterte, schüttelte, suchte Inschriften. »In jedem stehen Name und Kaufdatum. Was für ein Pingel.«
Raben blätterte im Fotoalbum, hielt inne und sagte: »Blitzblank alles. Dieses Massengrab für Ungeziefer zeigt, dass er eine Putzfrau hatte.«
»Welch finsterer Humor. Es war sie, die ihn fand und uns gleich angerufen hat.«
»Apropos anrufen. Hatte er ein Adressbuch?«
»Liegt bei der Kriminaltechnik. Ich habe es überflogen, es ist so ordentlich wie der Rest.«
»Irgendwas Auffälliges?«
»Bisher nicht. Ich fürchte, wir müssen die Namen abklappern«, sagte Lichtigkeit.
»Kannst du nicht Wendig mit Kollegen losschicken?«
»Hab ich längst. Bisher hat er nichts gemeldet.«
»Ist die Liste lang?«
»Viel zu lang.«
Die Fotos zeigten Tante Emmy und OnkelWalter, die Oma und den Opa und Dreysens Schwester Wilhelmine samt ihren Eltern. Urlaubsfotos und Bilder von Familienfesten. »Ein bürgerliches Fotoalbum. Leben die Eltern noch?«
Lichtigkeit schüttelte den Kopf.
»Die Schwester?«
»Bei der hab ich mich für heute Abend angekündigt. Die wohnt in Wessel und hat nie Zeit. Sie arbeitet als Ärztin im Horst-Wessel-Krankenhaus.«
»Allein die Tatsache, dass die einen Stadtteil und ein Krankenhaus nach einem Gangster getauft haben …«
»Dessen SA-Lied an die Nationalhymne angekleistert wurde«, sagte Lichtigkeit. »Wir gewöhnen uns dran, aber wär ich ein Weltreisender, der nach Jahren zurück nach Deutschland käme, ich verstünde nichts. Verbrecher an der Macht.«
Raben betrachtete ein Porträt von Wilhelmine. Auf keinem Bild lachte sie, nicht mal auf Feiern. Sie war zwei Jahre jünger als ihr Bruder, der im Alter von dreiunddreißig Jahren ermordet worden war.
3.
Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch. Sein Blick richtete sich darauf, als wäre der Mann vor seinem Schreibtisch abwesend. Ruckartig erfassten die Augen das Gegenüber.
»Sie kannten Dreysen?«
»Als Kollegen«, sagte Wetterau. »Von Gesprächen auf dem Gang oder bei Konferenzen.«
Goebbels’ knochiger Schädel nickte, ohne den Blick von Wetterau zu lassen. »Die Kripo glaubt, er sei ein 175er gewesen. Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
»Nein«, sagte Wetterau, »man sieht es solchen Leuten ja nicht an.«
Wieder das Nicken, ohne den Blick zu lösen.
»Die Kripo hat Verstärkung bekommen«, sagte Goebbels. »Sturmbannführer Raben, Heydrichs Liebling.«
Wetterau verkrampfte innerlich. Um Gottes willen.
»Was ist mit Ihnen?« Goebbels lächelte. »Ach ja, der Raben hat im Fall dieses bolschewistischen Schmierfinken … wie hieß er noch? Esser? Karl Esser?«
»Kurt Esser«, sagte Wetterau. »Der war der Hetzer vom Dienst bei der Kommune.«
»Stimmt«, sagte Goebbels. Er hatte Esser nicht vergessen, zumal der ihm an die Wäsche gegangen war: Einen »Klumpfuß aus Rheydt« hatte er ihn genannt, einen gescheiterten Dichter, überhaupt in allem gescheiterter Muttersohn, der dem Maule nach erste Krieger des Nationalsozialismus, des Führers Wellenbrecher in Berlin, der Hochburg der roten Meute. »Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie zusammen mit Ihren Kameraden dieses Sudelschwein geschlachtet haben. Mutig und ein Verdienst für die Bewegung.«
»Danke, Herr Minister.«
Goebbels nickte. »Die Polizei wird uns auf den Hals rücken, bereiten Sie unsere Kameraden darauf vor. Dreysen war ein geschätzter Mitarbeiter, niemals wäre hier jemand auf die Idee gekommen, dass er homosexuell gewesen sei. Er hat seinen Dienst korrekt verrichtet.«
»Wenn ich etwas vorschlagen …?«, fragte Wetterau leise.
»Nur zu.« Goebbels nickte ihm zu.
»Kann der Führer diesen Fall nicht einfach begraben?«
»Ich könnte ihn darum bitten, aber warum sollte ich es tun? In die Presse kommt der Fall nicht, und ich möchte schon gern wissen, was Dreysen hinter meinem Rücken getrieben hat.«
»Natürlich, Herr Minister.«
»Seien Sie nicht so schüchtern, Wetterau. Mir können Sie alles sagen, aber nur mir. Verstanden?«
»Jawohl, Herr Minister.«
4.
Heydrich freute sich, wenn sein Chef ihn aufsuchte. Er hatte am langen Tisch in seinem Büro decken lassen, der Reichsführer würde pünktlich sein. Es gab nichts Nachlässiges an ihm. Gleich rief der Pförtner an, als Himmlers Wagen eintraf. Heydrich eilte zur Eingangstreppe, zeigte sein Heydrich-Lächeln und kam dem Chef entgegen.
»Reinhard, Sie sehen blass aus, Sie arbeiten zu viel.«
»Sie doch auch, Reichsführer, allerdings sieht man es Ihnen nicht an. Sie werden mir bestimmt Ihr Rezept dafür verraten.«
Himmler lachte, hielt Heydrichs Hand, die vom Deutschen Gruß heruntergeklappt war. »Das bleibt mein Geheimnis«, sagte er.
Sie setzten sich an den Tisch in Heydrichs Büro. Der servierte Kaffee und bot Schnittchen an.
»Reinhard, ich soll Ihnen vom Führer danken. Sie und Ihre Leute haben in der Tschechei blitzschnell aufgeräumt, und wenn einer aufmucken wollte, haben Sie dem das Maul gestopft. Dafür auch meinen Dank. Was täte ich ohne Sie und Ihre Kameraden? Und jetzt sagen Sie nicht, Sie hätten Ihre Pflicht getan. Das tun wir alle, aber von Ihnen erwarten der Führer und ich mehr.«
»Jawohl, Reichsführer.« Heydrich trank einen Schluck Kaffee und nahm sich ein Schinkenbrot.
»Die Besetzung der Rest-Tschechei war nur der Auftakt für die kommenden Maßnahmen des Führers. Er verfolgt seine Pläne genau, ihm ist es immer gelungen, die Feinde zu überlisten. Er hat Engländer und Franzosen eingeschläfert mit dem Münchener Abkommen im September, um ihnen ein halbes Jahr später einen weiteren Streich zu spielen. Dass er den Prager Präsidenten Hácha im März dazu gebracht hat, ihm die Rest-Tschechei zu schenken, war ein Meisterstück. Er ist ein Zauberer und erreicht alles mit geringstem Aufwand. Jetzt tönen Franzosen und Engländer, dass es nun vorbei sei mit ihrer Geduld. Dass sie den Frieden wollen, aber bei einem Angriff auf Polen dem Reich den Krieg erklären würden. Der Führer fordert Danzig, jawohl, Danzig ist deutsch, und wir wollen es zurückhaben. Dicke Lippe im Westen, der Führer glaubt denen kein Wort. Die Demokratien sind verkommen, lahm, zerstören sich selbst, haben alle Kraft verloren.«
Heydrich nickte. Ja, sie hatten in Windeseile die Reichsfeinde in der Tschechei erledigt. »Dann werden wir uns mit Freude unserer Feinde in Polen annehmen.«
»Behalten Sie es für sich, Reinhard.« Himmler nahm eine Käseschnitte zwischen zwei Finger und betrachtete sie, als müsste er entscheiden, ob sie ins KZ kam oder nicht. »In Polen wird alles anders. Dort herrscht der Untermensch als Jude oder als Slawe in seiner dreckigsten Ausführung. Wir holen uns das zurück, was unsere Väter und Vorväter verloren haben. Und der elende Rest dieses verlorenen Volks darf uns dienen. Alles, was weiter als bis drei zählen kann, wird … entfernt. Wir züchten uns nicht den Widerstand von morgen heran.«
Heydrich fasste sich ans längste Kinn des Nationalsozialismus. »Das wird ein großer Aufwand, und wir müssen ihn organisieren.«
»Sie werden Einsatzgruppen bilden aus Kameraden der Sipo und des SD. Ich werde Daluege anweisen, Ihnen Personal zu überlassen. Wir werden die Einsatzgruppen Armeen zuweisen, in deren rückwärtigem Raum sie das Land von Juden, Polacken und sonstigem Geschmeiß befreien. Wenn auf unsere Truppen geschossen wird, wenn Franktireurs den Kopf aus dem Busch stecken, dann knallen wir sie ab samt ihren Familien. Das Einzige, was dieses Gesindel beeindruckt, ist Härte.« Himmler schob den Rest seines Brots in den Mund, wischte sich die Hände mit der Serviette ab. »Wenn jemand für diese Aufgabe geeignet ist, dann Sie, Reinhard. Sie sind unser Organisator, der diese gewaltige Aufgabe stemmen wird. Wenn wir das Gesocks weghaben, dann siedeln wir Deutsche dort an, und Sie werden sehen, Reinhard, in zehn Jahren ist das alles nicht wiederzuerkennen. Und keiner redet mehr davon, wie wir das gemacht haben.«
»Jawohl, Reichsführer.«
Himmler hob die Brauen und zog mit dem Finger einen Schinkenrand aus den Schneidezähnen. »Ich sehe Sie beunruhigt.«
»Nein, nein. Ich schreibe Ihnen eine Vorlage über die Organisation dieser Aufgabe. Wir müssen ja die polnischen Politiker ausschalten, die Armee, die Universitäten, die Geistlichkeit.«
»Sehr gut, das übernehmen Einsatzkommandos oder Sondereinheiten. Auch für unsere Polizei werden wir eine Aufgabe finden. Wir werden alle Umsiedlungen im besetzten Gebiet in der Hand haben. Der Osten wird deutsch, Reinhard.«
Heydrich nickte, trank.
»Was wird aus Raben, dem Retter unseres Führers?«, fragte Himmler.
»Der soll die Wirklichkeit des Volkskampfes erfahren. Mal sehen, ob er der standhält.«
5.
»Diesen Wetterau laden wir als Ersten vor«, sagte Raben.
»Und wenn Goebbels dazwischenfunkt?«, fragte Lichtigkeit.
»Der wird doch keine Schwulen beschützen wollen, Staatsschädlinge. Heydrich hat mir nichts gesagt, aber ich nehme an, dass er oder Himmler mit dem Minister gesprochen hat.«
»Wenn ich mich recht entsinne, steht Wetterau auf deiner Liste der Esser-Mörder.«
»Selbstverständlich«, sagte Raben. »Ich wünsche ihm ein furchtbares Ende.«
»Das du ihm bereiten wirst, der Nummer vier.«
Raben lächelte.
Am Morgen erschien Wetterau pünktlich in SA-Ausgehuniform, mit Mütze, Schulterriemen und schwarzen Stiefeln, die Hakenkreuzbinde am Arm. Raben war noch nicht aufgetaucht, sodass Lichtigkeit den Mann in ein Vernehmungszimmer bringen ließ.
Als Raben das Vernehmungszimmer betrat, hatte Lichtigkeit die Formalitäten erledigt, Name, Adresse und so weiter. Wetterau erschrak, Raben fixierte ihn mit einem Blick. Nach einer langen Sekunde setzte sich Raben, Wetterau schaute an ihm vorbei an die Wand.
»Sie haben also Werner Dreysen ermordet«, sagte Raben, kalt wie ein Kühlschrank. Als wäre das nur noch festzuhalten.
»So ein Blödsinn«, sagte Wetterau.
»Und wenn wir’s Ihnen beweisen?«
»Wie wollen Sie das tun? Das ist Unsinn!«
»Im Gestapo-Keller erinnern sich Verbrecher an Dinge, die es nicht gibt.«
Lichtigkeit warf ihm einen Seitenblick zu. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen.
»Wenn Sie es nicht gewesen sein wollen, wer dann?«, fragte Raben.
»Woher soll ich das wissen?«, fragte Wetterau, Wut in den Augen.
»Wenn wir Ihr Büro und Ihre Wohnung durchsuchen, finden wir dann Fotos nackter Männer?«
Wetterau schüttelte den Kopf. »Das lass ich mir nicht gefallen.«
»Was?«
»Dass Sie mich als Homo beleidigen.«
»Wären Sie denn einverstanden mit einer Hausdurchsuchung?«
»Natürlich nicht, das ist eine Unverschämtheit.«
»Sie wissen schon, dass wir dazu keinen Durchsuchungsbefehl brauchen, und wir können Sie in Untersuchungshaft halten, solang wir wollen. Wir sind außerdem befugt, Sie in ein Konzentrationslager einzuweisen.«
Wetterau schluckte, bestarrte die Wand und sagte: »Mit einer Hausdurchsuchung bin ich einverstanden.«
Er wohnte in Zehlendorf, ein kleines Haus, umgeben von einem Garten. Darin stand eine Frau in Gummistiefeln, den Spaten in der Hand. Ihr Blick folgte Lichtigkeits Dienstwagen, dem ein Auto mit Schutzpolizisten folgte.
Als sie ausstiegen, eilte sie herbei, mitsamt dem Spaten. »Fred, was ist?«
»Keine Ahnung, Irma. Die Herren von der Kripo und … der Gestapo wollen unser Haus durchsuchen.«
»Dürfen die das?«
Sie fingen im Wohnzimmer an. Der Führer an der Wand beobachtete sie. In einem Regal nur braune Bücher und ein Gedichtband von Heinrich Heine.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin,
flog Raben in den Sinn.
Da stand auch eine Kommode mit vier Schubfächern, breit und lang. Raben öffnete die obere. Darin hatte sich das Chaos versteckt. Raben erkannte Akten, Zettel, zwei Sparbücher, Briefumschläge, Schulhefte, auf einem stand Haushaltsgeld.
Wetterau stand in der Ecke zwischen zwei Schutzpolizisten.
Raben blätterte in den Heften und fand nichts Aufschlussreiches. Aber er war in Wetteraus Haus, das war doch ein Fortschritt. Er überlegte, wie er hier eindringen und unauffällig verschwinden konnte.
»Sie sind immer zu Hause?«, fragte er die Frau.
Sie nickte. »Außer freitags, da pass ich auf den Enkel auf.«
»Wann?«
»Das geht Sie nichts an«, schnauzte Wetterau.
»Sie halten den Mund.« An die Beamten gewandt: »Bringen Sie ihn raus.« Als seine Frau ihm folgen wollte: »Sie bleiben hier.«
Ein Schupo stellte sich in die Türöffnung.
»Wann genau und wo?«, fragte Raben.
»In Pankow, ich verlasse um fünfzehn Uhr das Haus und bin um halb acht zurück.«
Blieben ihm also viereinhalb Stunden, um Wetterau zu Hause abzupassen. Er nickte.
Lichtigkeit warf ihm einen strengen Blick zu.
Im unteren Schubfach fand Raben eine Luger 08. Er nahm sie in die Hand, zog das Magazin heraus. Es war leer. Gleich aber fand er eine Schachtel mit Munition.
»Holen Sie Wetterau herein«, befahl Raben den Schupos.
Der erschien und blickte auf die Waffe.
»Wofür brauchen Sie die?«, fragte Raben.
»Das ist meine Dienstwaffe«, erwiderte Wetterau.
»Schon einmal benutzt?«
»In der Systemzeit.«
»Da war Ihnen der Waffenbesitz verboten.«
Wetterau lachte auf. »Sie machen sich lächerlich.«
»Das werden wir sehen.«
Lichtigkeit war währenddessen im Schlafzimmer angekommen. Er hatte den Schrank geöffnet und eine SA-Uniform aufs Bett gelegt. Obenauf der Dolch mit der Inschrift auf der Klinge Alles für Deutschland. Auf dem Griff drängten sich die SA-Rune und das Hakenkreuz. Auf der Rückseite der Klinge hatte der Hersteller Ludwig Zeitler in Wien sein Zeichen eingraviert: RZM 7/104. Am Gürtel hing die Pistolentasche. Der Kragenspiegel wies Wetterau als Obersturmbannführer aus. Raben stellte sich ans Bett und betrachtete die Uniform.
Er betrat das Wohnzimmer, in der Hand Wetteraus Uniform. »Schicke Uniform, zu schick für einen Mörder«, sagte Raben.
»Wenn hier einer ein Mörder ist …«, erwiderte Wetterau. »Ich sag nur …«
»Halten Sie den Mund!«, befahl Lichtigkeit. »Hier geht es um den Fall Dreysen und nichts sonst.«
Raben verstand, dass der Rüffel ihn meinte. Georg hatte recht, aber Raben war nervös, er hatte einen weiteren Esser-Mörder vor sich, konnte aber nichts daraus machen.
Als sie mit leeren Händen abzogen, ließ Raben die Pistole zurück. Nazi-Mörder hatten das Recht, eine Waffe zu tragen, anderen Bürgern und erst recht Juden war es verboten, strenger noch als zu Weimarer Zeiten.
Wie so oft trafen sie sich zum Abendbrot bei Rabens, obwohl Lichtigkeit eine eigene Wohnung hatte. So blieben Karl, Lena und Elisabeth nicht allein mit ihrer Angst. Wenn Rabens Kollegen wüssten, wie es um sie stand, sie drei wären längst tot. Und wenn es nur aus Wut wegen der Täuschung war, Heydrich würde sie vernichten.
»Und dieser Wetterau, der steht doch auch auf deiner Liste«, sagte Lena, nachdem Elisabeth und Karlchen im Kinderzimmer verschwunden waren, um sich lautstark in ein Kitzelgerangel zu verwickeln.
Raben nickte.
»Dann kannst du ja froh sein.« Mit aller Verzweiflung im Flüstern.
»Nein, ich bin ihm zu nah. Er rechnet damit, dass ich ihn heimsuche, immer Freitagnachmittag, wenn seine Frau das Enkelkind behütet.«
»Lass die Finger von dem. Wenn er stirbt, bist du der Verdächtige Nummer eins. Dann kann ich dir auch nicht mehr helfen. Nebe wird dich Heydrich servieren wie eine Mastgans zu Weihnachten.«
Raben nickte. »Ich weiß.« Er hatte keine Ahnung, wie er Wetterau erwischen konnte, ohne den Verdacht auf sich zu lenken. Oder doch? Eine Idee blitzte in seinem Hirn. Wenn er es ausnutzte, dass Wetterau zum Kreis der Verdächtigen zählte. Wobei aber schon das nicht stimmte. Niemand verdächtigte Wetterau, erst recht nicht nach der Durchsuchung. Sie hatten nichts gefunden, Wetterau hatte keine Verbindung mit Dreysen gehabt. Auf keinem Papier aus seiner Wohnung hatte der Name gestanden. Unter normalen Umständen würde die Kripo ihn nicht mehr behelligen, schon gar nicht verdächtigen.
»Ein blöder Zufall«, sagte Lichtigkeit. Er musste es nicht ausführen.
Raben nickte, doch die Idee kreiste weiter in seinem Kopf. Je länger sie dies tat, desto mehr überzeugte sie Raben. Da ging etwas, aber er musste es für sich behalten. Er musste alle täuschen, Lena und Georg inbegriffen.
Die beiden unterhielten sich weiter, bis Lena fragte: »Karl, du brütest was aus. Gib’s zu!«
»Ich bin müde«, sagte er.
»Bleibst du hier?«, fragte Lena. »Du bist locker über der Promillegrenze.«
»Ich bin Bulle«, sagte Lichtigkeit und erhob sich. Er blickte auf die Armbanduhr. »Es ist spät geworden.« Er zeigte auf Raben. »Mach dir keine Sorgen, ich pass auf.«
»Wie …?« Aber sie beendete die Frage nicht.
6.
Standartenführer Ernst Damzog fuhr sich durch die aschblonden Haare und zündete sich eine Zigarette an. Er bückte sich zur unteren Schreibtischschublade und stellte die Schnapsflasche auf den Schreibtisch, dazu ein Glas. Er goss sich ein, prostete sich zu und trank. Flasche und Glas verschwanden in der Schublade, er zog an seiner Zigarette und lehnte sich zurück.
Er hatte gerade mit Heydrich gesprochen. Der Führer würde Polen angreifen, sobald die Lage günstig war. Heydrich würde Einsatzgruppen aufstellen. Er hatte ein Urlaubsverbot verhängt, und nun wussten die Kameraden, dass sie bald gebraucht würden. Wenn die Franzosen und Engländer Ernst machten, dann steckte man mittendrin im Krieg.
Wenn es so weit war, würde Heydrich die Chefs der Einsatzgruppen zusammenrufen und ihnen Befehle erteilen. »Wir müssen die Elite der Polen ausrotten, dazu die Juden verdrängen oder gleich töten. Bevor die Westalliierten aufwachen, schaffen wir Fakten.«
Großdeutschland würde größer werden. Lebensraum im Osten, der Führer hielt Wort. Die verfaulten Demokratien würden zusammenbrechen. »Ich habe sie in München gesehen«, hatte der Führer gesagt, Chamberlain und Daladier. Er hielt sie für Feiglinge.
Die SS würde in den Krieg ziehen, an der Front und dahinter. Jeden Widerstand ersticken.
7.
Als alle schliefen, erhob sich Raben aus dem Bett. Er zog sich an, steckte seine Walther PPK ein, fand die alte Motorradhaube und Handschuhe. Er schlich sich aus dem Haus. Er musste eine Weile warten, bis er ein Taxi sah.
»Ach, Sie sind es«, sagte der Chauffeur. »Herr Raben.«
»Herr Scholl, welch glücklicher Zufall.«
»Wohin soll ich Sie fahren?«
»Nur wenn ich diesmal bezahlen darf.«
»Gern, Herr Raben. Ich hoffe, Ihre Schützlinge sind davongekommen. Diese armen Leute.«
»Ja«, sagte Raben. »Nur weiß man nicht, was denen nun droht.« Er hatte Opfer der Krawalle in der Reichskristallnacht mit Scholls Hilfe gerettet. Viel zu wenige. »Nach Zehlendorf, bitte. Diese Fahrt hat nie stattgefunden.«
»Selbstverständlich, Herr Kommissar.«
Es gab wenige Leute, die anständig geblieben waren. Scholl gehörte dazu. Viele waren ins Ausland geflohen.
»Hitler redet nur noch von Danzig. Mal wieder seine letzte Forderung, danach sei er zufrieden. Weiß er nicht, dass er das schon mal versprochen hat?«, fragte Scholl.
»Ich fürchte, es ist ihm egal. Er hat seine Ziele in seinem Buch beschrieben. Bisher hat er sich daran gehalten. Den Nichtangriffspakt mit Polen hat er längst gekündigt, womit die Stoßrichtung klar war.«
»Warum einen Vertrag kündigen, wenn er sich sowieso nicht daran hält? Sogar das Münchener Abkommen hat er gebrochen.«
»Um Druck zu machen. In Wahrheit will er nicht Danzig oder den polnischen Korridor, der Ostpreußen vom Reich trennt, sondern ganz Polen.«
»Ich fürchte, Sie haben recht. Wenn man Hitler nachgibt, will er mehr.«
»Schöne Scheiße«, sagte Raben.
Ihm lag die Frage auf der Zunge, für welche Gruppe der Taxifahrer arbeitete. Vielleicht war Scholl Kommunist, obwohl die Gestapo die KPD fast vernichtet hatte. Vielleicht arbeitete er für die Sozialdemokraten, deren Vorstand in Prag gesessen hatte, bis die Wehrmacht einmarschierte, oder für die Sozialistische Arbeiterpartei, die sich von der SPD trennte, weil die sich als Gegner der Nazis fast aufgegeben hatte. Oder für eine Christenvereinigung, was es ja auch gab. Natürlich fragte Raben nicht.
»Wenn Sie mal Schwierigkeiten haben, kommen Sie zu uns, aber bitte ohne Gefolge meiner Kameraden. Sie kennen die Adresse.«
Er sah Scholls Augen glänzen im Rückspiegel.
»Danke!«
Raben ließ sich in Zehlendorf absetzen, weit entfernt vom Haus. Zum Abschied reichte Scholl ihm eine Karte. »Wenn Sie ein Taxi brauchen, einfach anrufen. Ich werde meiner Frau eintrichtern, dass Sie zu den Guten gehören. Sie wird’s mir nicht glauben, Gestapo und gut, das passt nicht zusammen.«
Raben erschrak. »Kennt sie meinen Namen?«
»Nein«, sagte Scholl. »Ich sage meiner Frau heute Morgen gleich, dass ich mich in Ihnen geirrt habe. Sie seien einer von der SS …«
Anfangs irrte Raben durch die Nacht. Die Laternen waren längst ausgeschaltet, in den wenigen Häusern brannte kein Licht. Der Arier schlief, um frisch ausgeruht die Werke des Führers zu vollbringen. Tag für Tag. Nur der Jude, der schlief nicht, der plante im Dunkeln die Zersetzung der Arier, Blutschande, Diebstahl, Unzucht und Mord. Aber die Gestapo, die den Arier beschützte vorm Juden, die gab es nicht, um Arier umzubringen. Raben zwang sich ein Grinsen ab. Er hatte was missverstanden. Raben stellte sich Heydrichs Gesicht vor, wenn er ihm erzählte, was er trieb. Es wäre ein Tiefschlag, ein Beweis, dass man auch den Gruppenführer austricksen konnte. Die Rabens waren zum Abendessen bei Heydrichs geladen gewesen, der Führer hatte Raben ausgezeichnet, und überall war Heydrich aufgetaucht, in Goebbels’ Zeitungen, in der Wochenschau und im Rundfunk. Der Gruppenführer müsste um seinen Posten bangen, hatte er doch geholfen, den Führer zu täuschen. Nicht einmal Himmler könnte ihn retten, wenn er nicht mit in den Abgrund rutschen wollte. Der Führer war gnadenlos in seinem Zorn, er hatte Röhm, seinen Duzfreund, in einem Wutanfall umbringen lassen, und Hunderte gleich mit.
Das hob Rabens Laune. Wenn die ihn fingen, würde er auspacken, nachdem er Lena, Karlchen und Elisabeth sicher im Ausland wusste. »Geht nach Amerika, dort kriegt er euch nicht«, hatte Raben gesagt.
Fast hätte er den Spaziergang genossen, seine Augen streiften über die in Frühnebelschwaden gehüllten Wiesen und Felder. Irgendwo bellte ein Hund. Wie gut, dass Wetterau keinen hatte.
Der Weg kam ihm kürzer vor als gedacht. Die Fenster waren dunkel, neben der Haustür gestapeltes Holz. Er umquerte das Haus, fand die Hintertür, die zum Abort führte, eine winzige Holzhütte, aus der es stank.
Die Hintertür war abgeschlossen. Daneben lag ein Fenster. Raben zog seine Jacke aus und wickelte sie sich um die Faust. Er drückte auf die Fensterscheibe, es splitterte und klirrte. Er zog die Motorradhaube über den Kopf. Er stieg durchs Fenster ein. Stand im Flur und horchte, aber es blieb still. Seine Augen passten sich an die Dunkelheit an. Er knipste die Taschenlampe an, prägte sich Flur, Türen und die Treppe ein und schaltete sie aus. Schritt für Schritt stieg er nach oben. Plötzlich erstarrte er. Was sollte er mit Wetteraus Frau machen? Auch erschießen? Er fühlte Übelkeit. Nein, er musste sie fesseln und Wetterau aus dem Haus bringen. Ein weiterer Schritt.
Ein Licht von oben traf ihn im Gesicht. Er legte die Hand über die Augen.
»Ich habe eine Schrotflinte in der Hand und schieße dich aus beiden Läufen zu Brei. Wenn du eine Waffe hast, zieh sie mit zwei Fingern heraus und wirf sie die Treppe hinunter.« Eine Frauenstimme, kräftig, bissig.
»Ich habe keine Waffe«, sagte er.
»Lügner. Wenn ich eine bei dir finde, bist du fällig. Zieh die Kappe ab, jetzt.«
Er überlegte, dann tat er es und ließ sie fallen.
»Welch Überraschung! Der famose Herr Raben, Staatsdiener beim Nachtbummel in Zehlendorf. Was tut man nicht alles für seine Gesundheit.«
Rabens Hirn raste. Dutzende Möglichkeiten fielen ihm ein, aber keine, die ihn retten würde. Die Frau würde ihn abknallen und dann der Polizei erzählen, dass dieser Herr Raben ihren Mann habe töten wollen. Der arbeite für den Minister Goebbels, und dieser Raben habe sich bei der Gestapo verkrochen, um ungestört Helden der Bewegung umbringen zu können, weil die einem Kommune-Sudler verpasst hätten, was er verdiente. So habe das auch der Führer gesehen. Am besten, man erschoss den Mann im Wald und ließ ihn verrotten. Die Füchse und Wildschweine hätten sich einen Extrahappen verdient.
»Gestapo! Legen Sie die Waffe weg!«, befahl Raben.
Gelächter brach aus. Wetterau hatte sich zu seiner Frau gestellt, die Luger 08 in der Hand. Er sah sie nur als Schattenriss zwischen seinen Fingern im Licht, das ihn blendete.
»Lass uns den Kerl abknallen wie einen Einbrecher. – Raben, setz die Kappe auf!«
Raben verstand alles. Sie würden ihn umbringen und behaupten, ihn wegen der Kappe nicht erkannt zu haben. Aber noch hatten sie ihn nicht durchsucht, noch hatte er seine Pistole.
Er beugte sich vor, nahm die Kappe und sprang. Er schrie vor Schmerz, als er auf die erste Stufe prallte. Noch im Fallen hatte er die Waffe gezogen und geschossen. Ein Schrei, während er sich wegrollte.
»Irma! Irma!«, rief Wetterau. Die Taschenlampe suchte Raben, aber der war zum Fenster gelaufen. Der Türschlüssel steckte, und er öffnete die Tür. Er versteckte sich hinter dem Toilettenhäuschen, die Pistole im Anschlag. Er verfolgte, wie die Taschenlampe im Inneren zuckte. Seine Hüfte schmerzte höllisch. Er bewegte sie, es tat weh, aber er würde laufen können. Er blickte sich um, bald würde Wetterau bemerken, dass Raben nicht mehr im Haus war. Der sah den Weg, den er gelaufen war und der direkt nach Zehlendorf-Mitte führte. Raben wollte diesen Weg nicht benutzen, also lief er erst in die Gegenrichtung, dann folgte er einem Bogen, der weit ums Haus herumführte. Als er endlich auf den Weg stieß, sah er das Blaulicht eines Polizeiwagens zucken. Es durchdrang die Tiefnebelschwaden. Raben warf sich auf den Boden, das Auto raste vorbei.
Warum hatte der das Blaulicht eingeschaltet? War wohl ein Anfänger. Raben erhob sich und eilte weiter. Die Hüfte schmerzte mörderisch. Bald hatte er das Zentrum von Zehlendorf erreicht. Der Tag brach an, Leute gingen zur Arbeit Richtung S-Bahn. Er mischte sich in den allmählich wachsenden Pulk. Die Leute rauchten, hatten eine Zeitung in der Hand und schwiegen. Grau waren die Gesichter, erschöpft, schon bevor sie zu arbeiten begannen. Das Nazi-Brimborium mit Auszeichnungen, Appellen, Versammlungen änderte nichts daran, dass die Aufrüstung und das Drei-Schichten-System die Kraft aus den Arbeitern saugte. Immer mehr, immer mehr. Graf Dracula war Nazi geworden.
Raben setzte sich in einen Waggon, blickte sich um, aber da gab es keine Polizei. Als der Zug ruckelte und losfuhr, musterte er seine Hose. Ein dunkler Fleck über der Hüfte, auf die er gefallen war. Er rutschte noch dichter an die Begrenzung der Sitzreihe. Aber die Leute interessierten sich nicht für ihn. Einige Männer rauchten mit geschlossenen Augen, andere blätterten in ihrer Zeitung. Parteiabzeichen erkannte Raben nicht.
Bei jedem Halt spürte er einen Krampf im Darm, aber es stiegen keine Polizisten ein. Noch suchte ihn niemand. Aber sie würden ihn suchen. Er kannte dieses Zittern, den Schmerz, wenn die Brust sich verengte. Diesmal war er verloren. Lena, Karlchen, Elisabeth waren auch verloren. Er verfluchte sich innerlich. Sein Hass auf Wetterau hatte ihn verführt, übereilt zu handeln. Er hatte nicht an Gefahren gedacht. Wie konnte er nur auf die Idee kommen, einfach bei Wetterau einzusteigen, um ihn im Bett zu erledigen? Er hatte durch seine Unüberlegtheit alles in die Grütze geritten. Er musste seine Familie wegschicken und sich dann mit dem abfinden, was kommen würde.
Am Potsdamer Platz stieg er aus und wählte in einer Telefonzelle Scholls Nummer.
»So schnell?«
»So schnell«, sagte Raben.
Scholl brauchte zwanzig Minuten. Er stieg aus und öffnete Raben die Tür. Der setzte sich mühsam auf die Rückbank.
Scholl stieg ein und fragte: »Brauchen Sie einen Arzt? Haben wir uns nicht geduzt?«
»Nein und ja«, erwiderte Raben. »Ich wäre dir dankbar, du könntest uns eine Verkehrskontrolle ersparen.«
Scholl lachte. »Das gehört zum Beruf.«
»Ich brauch dich als Zeugen. Die werden mich wegen Mordversuchs und Einbruchs verhaften.«
»Wo willst du gewesen sein?«
8.
Lichtigkeit erwartete ihn bei Rabens zu Hause, Lena, Elisabeth und Karlchen saßen mit ihm am Tisch.
»Mein Gott, was hast du angestellt?«, fragte Lena.
Die Sonne war aufgegangen, aber noch lag alles im Dunkeln.
Raben blickte Elisabeth an, die nickte und mit Karlchen im Kinderzimmer verschwand.
»Vielleicht ist es besser, ihr wisst nichts«, sagte Raben, müde und zerschlagen. Die Hüfte schmerzte.
»Du hast dich … und uns in die Scheiße geritten, und jetzt will ich wissen, was los ist.«
»Ich habe Wetterau besucht. Ich wollte ihn …«
»Mann, du bist des Wahnsinns!«, rief Lichtigkeit. »Bis gerade eben dachte ich, du seist ein schlauer Kollege.«
Raben stand auf und holte die Schnapsflasche aus dem Kühlschrank, drehte den Deckel ab und trank. Mit der Flasche in der Hand sagte er: »Ich bin besoffen nach Hause gekommen, erst am Morgen, gegen halb sieben. Ich habe gestern eine Kneipentour am Potsdamer Platz angefangen und sie heute früh am Bahnhof Friedrichstraße beendet. Dort hat mich ein Taxifahrer in den Wagen gepackt und nach Hause gefahren.«
»Ich hab mit dir am Potsdamer Platz begonnen und habe mich gegen fünf Uhr früh abgesetzt, während du um jeden Preis weitersaufen wolltest. Kommt das zeitlich hin?«, fragte Lichtigkeit.
Lena bestarrte die Tischplatte und schüttelte den Kopf, eine Träne tropfte auf den Tisch. »Ihr seid doch alle verrückt. Wisst ihr, wo wir leben?«
Raben dachte: Wie komme ich jetzt an Wetterau heran? Der Alkohol meldete sich und machte ihn müder als die Nacht ohne Schlaf. Einen Augenblick lang war ihm alles egal. Irgendwann musste sein Weg enden, nun also so. Ja, und?
Es klingelte, Wendig mit zwei Schupos. Sie standen verlegen in der Diele und warteten.
»Sie müssen dich festnehmen«, sagte Lichtigkeit.
»Der Haftbefehl stammt von Nebe«, sagte Wendig. »Tut mir leid. Wir erledigen das so schnell wie möglich. Morgen … in ein paar Tagen sind Sie wieder frei, Herr Kommissar.«
Raben wankte. Er wollte sich hinsetzen, hinlegen, schlafen.
Lena hielt die Hand vor den Mund. War es das Ende?
»Karl«, sagte sie. »Karl?«
Er blickte sie an, seine Wimpern zuckten. »Alles wird gut.«
»Karl!«, schrie sie.
»Ich bin unschuldig«, sagte er.
9.
Er hatte den Sturmbannführer Eckes in sein Büro zitiert, der wie immer den Stempelhalter bewunderte: rund, mehrere Etagen. Wofür brauchte Heydrich den? Symbolisierte er seine Macht? Er fragte nie, nach dem Motto des Soldaten: Nie eine Frage stellen, deren Antwort man nicht brauchte.
»Unser Kamerad Raben wurde festgenommen«, sagte Heydrich. »Nebe hat einen Haftbefehl ausgestellt. Angeblich wollte Raben diesen Wetterau umbringen, einen alten SA-Mann. Gehört zu jenen, die den Sudelbolschewisten Esser erschossen haben. Der Führer hat sie nach der Machtübernahme ausgezeichnet, die Verfahren wurden eingestellt, was unserem Helden offenbar gegen den Strich geht. Was meinen Sie, was sollen wir machen?«
Mir nicht immer diese Geschichte erzählen, die ich auswendig kenne, dachte Eckes. Er sagte: »Ist das bewiesen?«
»Nein. Dieser Wetterau hat ihn angezeigt.«
»Und wenn es stimmt, Gruppenführer?«
»Sie wissen, was ich von der SA halte. Aber Wetterau ist Abteilungsleiter bei Goebbels, und der will nicht, dass seine Leute erledigt werden. Wir können nur hoffen, dass es nicht stimmt. Der Reichsführer wird sich vielleicht beim Führer verwenden, schließlich hat Raben ihn dereinst gerettet. Aber Goebbels hat das Ohr des Führers. Ich fürchte, wir können nicht viel ausrichten. Vielleicht KL statt Rübe ab?«
»Das wäre doch schon was«, sagte Eckes.
Heydrich hob die Brauen. »Und wenn er mich verarscht hat? Wo auch immer der Kerl auftauchte, gab es Unruhe. Sie erinnern sich an diesen Russenspion, den Raben am Flughafen gefunden haben wollte?«
»Der arbeitet für uns, immer noch.«
»Und an diesen Kippenberger, den die Russen für uns erledigt haben?«
»Aber Raben hätte den doch fast erwischt.«
»Widersprechen Sie mir nicht, Eckes.«
»Jawohl, nicht widersprechen, Gruppenführer.«
»Und die Sache mit Schmidt-Woller, hat er uns da reingelegt?«
»Das würde er nie wagen, er schätzt Ihren Verstand.«
»Seinen aber auch … Dieser Mann wird mir ein Rätsel bleiben. Er ist nützlich, aber vielleicht auch gefährlich. Wenn das einen Prozess gibt, was wird er aussagen?«
»Wenn ich das vorschlagen darf, Gruppenführer. Es sollte keinen Prozess geben. Entweder er kann die Beweise seiner Schuld entkräften, oder er wird auf der Flucht erschossen.«
Heydrich nickte. Er musste mit dem Reichsführer sprechen. Am besten, sie erledigten Raben. Aber es musste echt aussehen, schließlich hatte der Mann den Führer gerettet.
10.
Sein Kopf wog eine Tonne. Er saß im Vernehmungszimmer, nur auf der falschen Seite. Arthur Nebe ließ es sich nicht nehmen, Raben zu verhören. Er hatte Lichtigkeit von der Vernehmung ausgeschlossen und wollte ihn im Anschluss als Zeugen hören.
»Tut mir leid, Herr Kommissar, aber Sie kennen das Prozedere so gut wie ich. Reißen Sie sich zusammen, dann bringen wir das schnell hinter uns. Gegen Sie liegt eine Anzeige vor, dazu eine Zeugenaussage, dass Sie den Parteigenossen Fred Wetterau ermorden wollten. Nur durch Glück sei Ihnen das misslungen, sagt Wetterau.«
»Das ist Unsinn«, sagte Raben. »Der Kriminalrat Lichtigkeit und ich haben Wetterau aufgesucht, um ihn im Fall Dreysen als Zeugen zu vernehmen. Danach habe ich den Herrn nicht mehr gesehen.«
»Aber er beschwört, dass Sie bei ihm eingebrochen sind.«
»Geht’s jetzt nur noch um Einbruch? Auch gut. Er lügt.«
»Seine Frau …«
»Herr Kriminaldirektor, erkennen Sie nicht dieses Spiel? Natürlich lügt sie für ihren Mann. Ich nehm’s ihr nicht krumm, sie weiß nicht, was ihr blüht.«
»Wo waren Sie in der Nacht?«
»Ich war mit dem Kriminalrat Lichtigkeit auf Kneipentour, erst am Potsdamer Platz, am Ende Bahnhof Friedrichstraße … von dort bin ich am Morgen mit einem Taxi nach Hause gefahren. Meine Frau und meine Schwiegermutter können es bezeugen. Zufällig kenne ich den Taxifahrer, Herrn Friedrich Scholl. Der kann es bestätigen. Als Kripokommissar sage ich: Die Beweise sprechen gegen den Zeugen der Anklage. Der hat sie fabriziert, weil er mich loswerden will. Das spricht dafür, dass er in den Fall Dreysen verstrickt ist.«
»Soll ich Ihnen einen Anwalt rufen? Schließlich sind Sie Kollege.«
»Die Sache ist doch erledigt«, erwiderte Raben.
Nebe blickte ihn an. Er war ein guter Kriminalist, er hatte Hunderte von Zeugen vernommen und viele Täter überführt. Seine Haupteigenschaften aber waren Angst und Misstrauen, die beiden Schwestern. »Sie können gehen, einstweilen. Ich suspendiere Sie bis auf Widerruf. Bleiben Sie in Berlin, verstanden?«
»Sie können mich nicht suspendieren«, sagte Raben. »Ich arbeite für die Stapo.«
»Ich habe mit Gruppenführer Heydrich gesprochen. Ich teile Ihnen nur seine Entscheidung mit.«
»Du schon hier?« Lena nahm Raben in den Arm.
»Bin suspendiert.«
»Schlimm?«
»Besser als U-Haft.«
»Kommst du aus der Sache raus?«
»Ich glaub schon«, sagte Raben. »Ich hab mehrere Zeugen, Wetterau nur seine Frau. Von der aber erwarten die Kollegen nichts als Lügen.«
»Warum hast du das gemacht? Das musste doch schiefgehen.«
Sie setzten sich an den Tisch.
»Keineswegs. Ich habe einen blöden Fehler gemacht.«
»Und ich, vertraust du mir nicht mehr?«, fragte Lena.
»Ich wollte, dass du schläfst und keine Angst hast.«
»Das ist dir ja gelungen, danke.«
»Tut mir leid. Nur das tut mir leid, sonst nichts.«
»Kannst du diesen Wahn nicht beenden? Das bringt nichts, es ändert nichts.«
»Für mich schon.«
»Du bringst uns in Gefahr.«
»Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ihr besser abhauen solltet. Ich komme nach, wenn ich alles erledigt habe.«
»Wenn du alle erledigt hast.«
Er nickte. »Ich bring euch in die Schweiz. Holland ist nicht mehr sicher.«
»Das überlebst du nicht. Heydrich macht dich fertig, der ist doch nicht blöd.«
»Ich finde eine Erklärung. Ehestreit, Scheidung. Er kapiert, dass du dann nicht bleiben kannst. Er hat dich zur Arierin gemacht und will sich nicht blamieren. Womöglich muss ich gar nichts tun, und er stellt euch höchstpersönlich Visa aus.«
Sie blickte ihn lange an. »Dich hält nichts zurück.«
»Ich muss mich waschen und schlafen. Davon hält mich nichts zurück.«
11.
Lichtigkeit sah sich schon auf dem Schafottbrett der Guillotine in Plötzensee liegen, die Klinge wartete über ihm, um sich auf seinen Hals zu stürzen. Er drehte sich auf den Rücken, hörte durchs offene Fenster jedes Geräusch. Autos, ein knatterndes Motorrad. Jemand schrie, angespornt von Vater Alkohol. Ein anderer antwortete: »Halt’s Maul, du Knilch!«
Lichtigkeit lächelte, aber das verringerte die Anspannung nicht. Er war zuerst wütend gewesen auf Raben, der besessen war, unrettbar. Irgendwann würde die Gestapo herausfinden, was er trieb. Ein Zufall reichte. Bestimmt war Heydrich schon misstrauisch, erst recht nach dem jüngsten Abenteuer. Raben würde sie alle mit hineinreißen in den Terror seiner Kollegen. Er mochte sich noch so gefallen als der Mann, der Heydrich überlistete. Aber am Ende …
Lichtigkeit erhob sich und blickte hinaus. Mit welchem Recht tat Raben, was er tat? Wusste er, dass er nicht nur sein Leben wegwarf? Stimmt, er hatte seiner Familie mehrfach vorgeschlagen, Deutschland zu verlassen. Aber dummerweise hoffte Lena, Raben beschützen, ihn von Dummheiten abhalten zu können. Dass es nicht klappte, hatte sie nun wieder erfahren. Inzwischen traute er Raben alles zu, bis der den letzten Mörder Essers erwischt hatte. Wetterau stand auf der Liste, klar. Aber das wusste nicht nur er, sondern bestimmt auch Heydrich. Ob es dem Spaß machte zu beobachten, wie Raben sich diese Typen vornahm? Ob er Raben damit erpressen würde? Der Gruppenführer ließ sich doch nicht ewig täuschen. Und wenn die Gestapo Raben folterte, würde er Lichtigkeit verraten?
Seine Augen folgten einer Radfahrerin mit einem weißen Schal, der bis zum Sitz herunterhing. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, spiegelte sich aber schon im Wolkenrot. Lichtigkeit beobachtete die Autos, Lastwagen, Motor- und Fahrräder. Der Strom wurde dichter, die Fabriken erwarteten die Frühschicht, damit die Nachtschicht ausgelaugt nach Hause fuhr, nur um in wenigen Stunden wieder in die Montagehallen und an die Fließbänder zurückzukehren, deren Rhythmus ihr Leben bestimmte. Der Führer verlangte Panzer, Flugzeuge, Kanonen.
Lichtigkeit zündete sich die erste Zigarette an. Nun meckerte niemand mehr, dass der Führer gegen das Rauchen sei und ein Vater seinen Kindern kein schlechtes Vorbild geben dürfe.
Er war wütend auf Raben. »Dieser Scheiß-Egoist«, murmelte er aus dem Fenster hinaus und schickte die Kippe hinterher. »Dieser Sturkopf.« Der setzte mit seinem Wahnsinnsfeldzug alles aufs Spiel. Warum musste er die Esser-Mörder verfolgen? Er hatte sie doch schon gehabt, bis Hitler sie zu Helden machte und begnadigte. Dafür konnte Raben nichts. Er hatte seine Arbeit gemacht. Lichtigkeit ahnte, was Raben noch so anstellte. Er rettete Juden und Regimefeinde. Diese Tour mit dem Dienstwagen durch halb Deutschland, dieser Unfall nahe Hamburg. Alles inszeniert, der Mann kannte keine Grenzen. Eher bald als spät kriegten sie ihn. Das ließen sich die Halbgötter des Blutbads nicht gefallen.
Während Lichtigkeit fluchte und überlegte, beruhigte er sich. Er hatte Raben gefördert, weil der Mann etwas Genialisches hatte. Er musste ihn beschützen, schließlich wäre Raben ohne ihn nicht geworden, was er nun war. Daraus erwuchs Verantwortung. Nur diese Rache, die verstand Lichtigkeit nicht. Aber er hatte Raben den Esser-Fall übertragen, weil er sich nicht die Hände verbrennen wollte. Keine Heldentat. War es nicht verständlich, dass der Freund es sich nicht gefallen ließ, dass Mörder frei umherliefen und getätschelt wurden, weil sie zu siebt einen Mann zusammengeschossen hatten, diese Feiglinge? Das verstand Lichtigkeit. Aber er verstand Rabens Besessenheit nicht und warum der nicht nur sein Leben aufs Spiel setzte. Raben konnte sich nicht mit dieser Kränkung abfinden, und er hasste das Pack, das Deutschland regierte.
So ging es nicht weiter. Raben musste aufhören mit seiner Geheimniskrämerei. Lichtigkeit wollte wenigstens wissen, was ihm drohte. Niemand würde ihm glauben, er wüsste nichts von Rabens Unternehmungen. Er wollte wissen, warum sie ihn köpfen würden.
12.
»Brigadeführer, setzen Sie sich.« Heydrich blickte den Reichskriminaldirektor nicht an, sondern las in einer Akte. Nach einigen Minuten legte er sie weg, überlegte, nickte und schaute Nebe an.
»Ihr Bericht kam ein wenig spät, Brigadeführer.« Heydrich bestarrte Nebe, der in seinem Stuhl zu einem Zwerg schrumpfte.
»Wir mussten noch Hinweise prüfen. Inzwischen habe ich eine Haltung zu diesem Vorfall.«
»Aha, das ist ja schon mal was.« Er dachte an Lina, die ihm beim Frühstück in den Ohren gelegen hatte. Raben sei unschuldig, das sei so ein intelligenter und freundlicher Mann. »Und noch jung, Reinhard. Er hat den Führer gerettet.«
»Gruppenführer, Raben ist unschuldig. Dieser Wetterau lügt. Er glaubt, Raben ausschalten zu müssen, weil er ihn fürchtet.«
»So, wie Fehrkamp, Ehrig und Kahle ihn fürchteten?«
»Ja, Gruppenführer.«
»Gut, was machen wir mit Wetterau? Was wird aus dem Fall Dreysen?«
»Wetterau wollte einen Zufall ausnutzen. Dass Raben ihn wegen der Ermittlung im Fall Dreysen aufsuchte, betrachtete er als Gelegenheit, seine Kameraden zu rächen …«
»Raben hat die doch nicht auf dem Gewissen! Die haben in der Systemzeit gemordet und sind Verbrecher geblieben.«
»Aber der Führer hat sie ausgezeichnet.«
»Der Führer hat manchmal ein großes Herz«, sagte Heydrich trocken. »Was machen wir mit dem Vogel?«
»Der ist in eine Falle geraten, Gruppenführer.«
13.
Raben aß sein Frühstück am Mittag. Er hatte geschlafen, wenn auch nicht gut, und die Gestapo hatte ihn bisher in Ruhe gelassen. Lena war in der Redaktion des Tageblatts, um die Holzprothese zu besuchen, wie sie sagte. Sie gehörte ihrem Chef Hermann Wagner, dem fast schon berühmten Kriminalreporter, dem ein Franzose im Krieg das Bein weggeschossen hatte.
Es klingelte. Vor der Tür stand Lichtigkeit. Sie setzten sich an den Küchentisch. Essen wollte Lichtigkeit nicht, aber einen Ersatzkaffee schon.
Sie schwiegen eine Weile.
»Nebe hat mich angerufen. Die Suspendierung ist aufgehoben, hat wohl Heydrich angeordnet.«
»Schade, ich hatte mich auf eine Woche Urlaub gefreut. Das heißt, die Ermittlungen sind eingestellt. Dann müsste ich den Wetterau ja anzeigen wegen falscher Verdächtigung, Paragraf 164 des Reichsstrafgesetzbuchs. Gibt Zuchthaus.«
»Willst du dir auch noch Goebbels zum Feind machen?«
Raben lachte, seine Hand warf einen Kubikmeter Luft weg. »Aber wir können Druck auf Wetterau machen im Fall Dreysen.«
Als sie am Haus in Zehlendorf eintrafen, öffnete die Frau. Sie zuckte zurück. »Was wollen Sie?«
»Zur Abwechslung die Wahrheit«, sagte Raben.
»Mein Mann ist nicht da.« Irma Wetterau stand in der Tür wie der Westwall in Menschengestalt.
»Wann kommt er?«, fragte Lichtigkeit.
»Weiß nicht, nachher …«
Lichtigkeit drängte sich an ihr vorbei, Raben folgte ihm.
»Ob Sie vielleicht einen Kaffee für uns haben?«, fragte Lichtigkeit.
»Bitten Sie Ihren Kollegen darum, der kennt sich hier aus.«
»Dann setzen Sie sich zu uns. Wir haben Fragen«, erwiderte Lichtigkeit mit einem Lächeln.
»Sie wissen, dass eine falsche Verdächtigung mit Zuchthaus bestraft wird?«, fragte Raben.
Keine Antwort außer einem glasigen Blick.
»Hat sich Ihr Mann zum Fall Dreysen geäußert?«, fragte Lichtigkeit.
Frau Wetterau schwieg.
»Gut, wir nehmen Sie nachher mit. Eine Nacht in einer Polizeizelle fördert die Aussagebereitschaft.«
Sie blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an, mit einem Hass, den sie sonst für Juden reserviert hatte.
»Mein Mann hat nichts damit zu tun«, sagte sie leise.
»Aber er kannte Dreysen«, sagte Lichtigkeit.
»Ja, sicher. Und?«
»Wusste er, dass Dreysen homosexuell war?«
»Fragen Sie ihn selbst. Mir hat er nichts gesagt.«
»Aber er wäre empört gewesen …«, sagte Raben.
Sie nickte.
»Und er hätte es Ihnen erzählt.«
»Vermutlich … wenn es kein Dienstgeheimnis war. Fred ist in solchen Sachen gewissenhaft.«
Raben nickte. Das mochte so sein. »Die beiden haben sich privat getroffen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Dreysen war sich zu fein dafür. Mein Mann und ich stammen aus der Arbeiterklasse.«
»Hatte Ihr Mann ihn eingeladen, und er hat abgelehnt?«, fragte Lichtigkeit.
Sie schüttelte den Kopf. »Fred hat mir gesagt, dass es unmöglich wäre, mehr als Dienstliches zu besprechen. Für ihn war Dreysen so eine Art Eminenz. Bei Dienstbesprechungen redete er wenig, sagt mein Mann.«
Es töffte draußen. Im Fenster sah Raben, wie das Auto heranrollte.
»Ich mach uns einen Kaffee«, sagte sie. »Und dann können Sie mit meinem Mann sprechen.« Sie erhob sich und verschwand. Dann sah Raben durchs Fenster, wie sie auf ihren Mann einredete. Die Wut stand ihm im Gesicht, seine Hand flog durch die Gegend. Unter ihrem Zureden beruhigte er sich. Stampfte auf und ging ins Haus, die Aktentasche zerdrückte er zur Strafe unterm Arm.
»Sie also wieder … Warum haben die Sie nicht vom Fall abgezogen?«, motzte er.
»Warum haben Sie über mich gelogen? Darauf steht Zuchthaus …«
Wetterau stellte die Aktentasche auf den Boden, gab den Mantel seiner Frau, die gleich zurückkehrte. »Ich guck nach dem Kaffee. Soll ich dir eine Stulle machen, Fred, Käse oder Wurst?«
»Nicht nötig, Irma.«
Die beiden Polizisten saßen auf der Couch. Sie servierte aber nur ihrem Gatten Kaffee.
»Nun stellen Sie Ihre Fragen, damit wir bald unsere Ruhe haben.«
»Ich beschuldige Sie, Werner Dreysen umgebracht zu haben. Motiv: Sie hassen Schwule, und Sie wollten einen Konkurrenten im Ministerium ausschalten.«
»Haben Sie nicht genug von der letzten Verhaftung? Wenn Sie mich wieder in Polizeihaft nehmen, bin ich eine halbe Stunde später frei. Ich habe den Minister in Ihre Machenschaften eingeweiht, er wird keine Sekunde zögern, sich bei Gruppenführer Heydrich zu melden. Haben Sie verstanden? Wenn Sie keine neuen Fragen haben, dürfen Sie gehen. Und Sie, Herr Kommissar Raben, wenn Sie sich mir oder meiner Frau noch einmal nähern, erschieße ich Sie. Dann habe ich den Beweis, den Sie weglügen wollen, Sie Mörder!«
»Haben Sie das gehört, Frau Wetterau?«, fragte Raben.
»Was?«
Raben erhob sich ohne ein weiteres Wort. Als er mit Lichtigkeit im Auto saß, sagte der: »Das war ein Schuss in den Ofen.«
»Keineswegs«, erwiderte Raben. »Der tönt zwar herum, aber es zwickt ihn im Bauch.«
»Aha, Herr Doktor …«
»Der hat Angst, weiß, dass ihm niemand helfen kann. Er fragt sich, wie ich diesen Kahle straflos erschießen konnte, obwohl der ein Mann Sepp Dietrichs war, Hitlers Duzfreundes.«
»Das würde ich mich allerdings auch fragen«, sagte Lichtigkeit. »Ich soll mich also nicht wundern, wenn ich Wetteraus Todesanzeige im Völkischen Beobachter lese.«
»Seit wann liest du den? Ich dachte, der Stürmer wär dein Blatt.«
Lichtigkeit lachte. »Du bist ein Idiot.«
»Ich weiß.«
14.
Wagners Holzbein lag auf Lenas Pult. Sie packte es und legte es auf Wagners Schreibtisch.
»Sie sind aber nachtragend, im buchstäblichen Sinn«, murrte Wagner, ohne den Kopf zu heben.
»Ihr Holzbein macht gern Ausflüge, hin und wieder muss ich es zur Ordnung rufen. Das verlangt der Führer.«
»Wann haben Sie ihn getroffen?«
»Ich spreche tagtäglich mit ihm, um mich zu erleuchten.«
»Dafür reicht eine Lampe. Die kann man auch ausschalten.«
Lena lachte. »Werner Dreysen, sagt Ihnen das was?«
»Ja, dass er tot ist.«
»Woher wissen Sie das schon wieder?«
»Ist Ihr Mann damit befasst?«
Sie nickte.
»Das kann lustig werden«, sagte Wagner. »Bloß keinen Ärger mit Goebbels.«
»Der hat das Ohr des Führers, ich weiß. Aber wer hat das andere?«
Wagner blickte sie an. »Vielleicht Dietrich, Himmler, Göring …? Wie konnte Goebbels übersehen, dass er einen 175er auf einen Führungsposten gesetzt hat? Der Führer wird es ungern hören.«