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Oliver Hilmes

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Beschreibung

SPIEGEL-Bestsellerautor Oliver Hilmes über Deutschland und die Deutschen im Jahr 1943 - zwischen Konzerten, Bombennächten und Staatsterror

Das Unheil nimmt seinen Lauf bei Kaffee und Kuchen. Der Krieg sei längst verloren, der »Führer« geisteskrank: Karlrobert Kreiten, 26 Jahre alt, ein hochbegabter Pianist mit goldener Zukunft, verliert im März 1943 ein unbedachtes Wort zu Gast bei einer Jugendfreundin seiner Mutter. Sechs Monate später stirbt er am Galgen.

Kreitens tragisches Schicksal steht im Mittelpunkt von Oliver Hilmes' grandios erzähltem Buch über Deutschland im Jahr 1943. Als bei Stalingrad eine ganze Armee vernichtet wird und Goebbels den totalen Krieg ausruft. Als die Kinder zur Sicherheit aufs Land gebracht werden und Millionen Deutsche ins Kino strömen, um Hans Albers als Münchhausen zu erleben. Als die Städte schon in Trümmern liegen, und noch immer getanzt wird. Als die NS-Vernichtungsmaschinerie auf Hochtouren läuft, die einen vom „Endsieg“ fantasieren und andere versuchen, sich der Diktatur entgegenzustellen. In einem Mosaik von Geschichten und Porträts, kunstvoll komponiert und glänzend recherchiert, lässt Hilmes das dramatische Jahr 1943 wieder lebendig werden.

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Das Unheil nimmt seinen Lauf bei Kaffee und Kuchen. Der Krieg sei längst verloren, der »Führer« geisteskrank: Karlrobert Kreiten, 26 Jahre alt, ein hochbegabter Pianist mit goldener Zukunft, verliert im März 1943 ein unbedachtes Wort zu Gast bei einer Jugendfreundin seiner Mutter. Sechs Monate später stirbt er am Galgen.

Kreitens tragisches Schicksal steht im Mittelpunkt von Oliver Hilmes’ grandios erzähltem Buch über Deutschland im Jahr 1943. Als bei Stalingrad eine ganze Armee vernichtet wird und Goebbels den totalen Krieg ausruft. Als die Kinder zur Sicherheit aufs Land gebracht werden und Millionen Deutsche ins Kino strömen, um Hans Albers als Münchhausen zu erleben. Als die Städte schon in Trümmern liegen und noch immer getanzt wird. Als die NS-Vernichtungsmaschinerie auf Hochtouren läuft, die einen vom »Endsieg« fantasieren und die Geschwister Scholl und andere versuchen, sich der Diktatur entgegenzustellen. In einem Mosaik von Geschichten und Porträts, kunstvoll komponiert und durch neue Quellenfunde dokumentiert, lässt Hilmes das dramatische Jahr 1943 lebendig werden.

Oliver Hilmes ist für seine glänzend recherchierten und ebenso elegant wie mitreißend geschriebenen Biografien bekannt. Seine Bücher über Alma Mahler-Werfel und Cosima Wagner waren große Verkaufserfolge. Sein Bestseller Berlin 1936. Sechzehn Tage im August wurde in viele Sprachen übersetzt und mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Oliver Hilmes, 1971 geboren, studierte Geschichte, Politik und Psychologie und hat in Zeitgeschichte promoviert. Seit 2002 arbeitet er für die Stiftung Berliner Philharmoniker.

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Schattenzeit

Deutschland 1943:

Alltag und Abgründe

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Copyright © 2023 by Siedler Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: Charlie Davis

Satz: KCFG–Medienagentur, Ness

ISBN 978-3-641-28654-5V003

www.siedler-verlag.de

Jemand musste Josef K. verleumdet haben,

denn ohne dass er etwas Böses getan hätte,

wurde er eines Morgens verhaftet.

Franz Kafka, Der Prozess

Inhalt

Stalingrad

Die Rede

Lützowufer

Trügerische Ruhe

Das ungespielte Konzert

Enttäuschte Hoffnungen

Tanz am Abgrund

Agonie

Plötzensee

Nachleben

Dank

Anmerkungen

Quellenverzeichnis

Literatur

imago images/Ronald Grant

Ende Januar 1943 kommt der Film Casablanca in die amerikanischen Kinos. In den Hauptrollen: Ingrid Bergman und Humphrey Bogart. »Spiel’s noch einmal, Sam!«

Stalingrad

Karlrobert Kreiten ist ein ungewöhnlich ruhiges Kind. Wenn andere Kinder auf dem Trottoir spielen oder im Garten herumtollen, hockt er am liebsten still und ruhig im elterlichen Musiksalon direkt unter dem großen Konzertflügel des Vaters. Oft stundenlang. Nicht, dass er dazu gezwungen würde, ganz im Gegenteil. Den Eltern wäre es vermutlich recht, wenn sich ihr Sohn lebhafter zeigte. Nein, der kleine Karlrobert tut dies freiwillig, denn die Musik ist für ihn die beste Geschichtenerzählerin, die er sich denken kann. Und Musik erklingt bei den Kreitens eigentlich immer: Entweder spielt Vater Theo Klavier, oder er komponiert, oder Mutter Emmy singt, oder Freunde sind zu Gast und musizieren auf ihren mitgebrachten Instrumenten. Oft passiert all das auch gleichzeitig – dann sind die Geschichten, denen Karlrobert unter dem Flügel hockend lauscht, besonders spannend, und er träumt sich in andere Welten.

Die Kreitens sind eine richtige Künstlerfamilie. Emmy stammt aus dem Eifeldorf Mayen in der Nähe von Koblenz und hat in Saarbrücken Gesang studiert. Dort lernt sie den sieben Jahre älteren Theo kennen und lieben; die beiden heiraten 1913 und lassen sich zunächst in Bonn nieder. Schon rein äußerlich erinnert Theo an einen zerstreuten Professor: schmales Gesicht, hohe Stirn, die leicht gelockten Haare stehen wie elektrisch geladen in alle Himmelsrichtungen ab. Ist Emmy von zupackender Natur und nahezu unerschöpflicher Vitalität, erscheint ihr Mann eher ruhig und in sich gekehrt. 1916 wird Karlrobert geboren, zwei Jahre später seine Schwester Rosemarie. In dieser Zeit zieht die Familie von Bonn nach Düsseldorf, wo Theo eine Anstellung als Klavierlehrer am Konservatorium findet.

Das emotionale Zentrum der Familie ist Emmys Mutter Sophie, die 1871 als Kind französischer Eltern in Spanien zur Welt kam. Sophie ist früh verwitwet und lebt seither bei Emmy und Theo. Sie spricht mit ihren Enkeln Französisch und bringt Weltläufigkeit und Eleganz nach Düsseldorf. Karlrobert und Rosemarie lieben Sophie und nennen sie zärtlich »Grand’maman«. Oft reist sie mit den Kleinen auch nach Frankreich, wo Verwandte leben. Überhaupt sind die Kreitens ein europäischer Clan, denn Vater Theo ist niederländischer Staatsbürger. Doch das spielt für sie keine Rolle. Man interessiert sich nicht sonderlich für Politik.

Zu Beginn des Jahres 1943 gibt es nicht wenige Musikfreunde, die in dem inzwischen sechsundzwanzigjährigen Karlrobert Kreiten einen der vielversprechendsten Musiker seiner Generation erblicken. Der kleine Junge unter dem Flügel ist wie sein Vater Pianist geworden und hat sich bereits einen Namen gemacht. Wenn Karlrobert seinen bisherigen Werdegang Revue passieren lässt, kann ihm schon etwas schwindelig werden. Mit sechzehn Jahren gewann er 1933 den vom preußischen Staat gestifteten Mendelssohn-Preis. Zwei Jahre später ging er nach Wien, um bei der berühmten Hedwig Kanner-Rosenthal zu studieren. Als seine Lehrerin wegen ihrer jüdischen Abstammung Wien verlassen musste und in die Vereinigten Staaten emigrierte, versuchte sie, Karlrobert zu überreden, ihr zu folgen. »Ich habe das Gefühl, dass Du in U.S.A. einschlagen würdest«, schrieb sie ihm. Doch Karlrobert winkte ab. Er wollte seine Karriere lieber in Europa fortsetzen, darüber hinaus hing er sehr an seiner Familie, die er nicht verlassen mochte. Und so kam er Ende 1937 schließlich nach Berlin, wo er seine Ausbildung bei dem weltbekannten chilenischen Pianisten Claudio Arrau fortsetzte. Für Arrau ist Karlrobert das größte Talent, das ihm jemals begegnet ist.

Schnell fasst Karlrobert im Berliner Musikleben Fuß, seine jährlichen Klavierabende in der Philharmonie sind stets ausverkauft. Wenn er sich an den Flügel setzt und mit atemberaubender Virtuosität Franz Liszts Klaviersonate h-Moll, akrobatische Stücke von Igor Strawinsky oder Sergej Prokofjews diabolische Toccata über die Tasten wuchtet, liegen ihm das Publikum und anderntags das Feuilleton zu Füßen. Neben seinem musikalischen Können kommt ihm dabei auch sein attraktives Äußeres zugute: Mit dem dezent gelockten Haar und der modischen Hornbrille sieht er aus wie ein Filmstar der Ufa. Nicht wenige junge Frauen himmeln ihn regelrecht an. Eine von ihnen ist Elisabeth Stützel, die von allen nur Anneli genannt wird. Die Achtzehnjährige ist die Tochter eines Düsseldorfer Freundes der Familie Kreiten und schwärmt sehr für den acht Jahre älteren Karlrobert. Doch der Funke scheint bislang noch nicht übergesprungen zu sein. Das liegt wohl auch daran, dass Karlrobert im Grunde nur Musik im Kopf hat. Für eine Freundin ist daneben – vorerst – kein Platz.

Rosemarie, Karlroberts zwei Jahre jüngere Schwester, ist hingegen seit knapp drei Jahren mit Bruno Musolf verheiratet. Das Paar hat auch schon einen kleinen Sohn, Edgar, der oft bei den Großeltern Emmy und Theo Kreiten ist. Rosemarie würde gerne einmal eine richtige Schauspielerin werden. Derzeit hält sie sich regelmäßig zur Truppenbetreuung an der Ostfront auf und hat wenig Zeit, sich um den Kleinen zu kümmern.

Anfang 1943 befindet sich das Deutsche Reich seit über drei Jahren im Krieg. Nach anfänglichen Erfolgen waren die Kämpfe mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 in eine neue Phase getreten. Das »Unternehmen Barbarossa« scheiterte allerdings bereits im Winter des Jahres, als der Angriff auf Moskau wegen arktischer Temperaturen von bis zu minus 50 Grad Celsius zum Erliegen kam. Damit endete die Serie der deutschen Blitzsiege, und die Wehrmacht verlor bis Ende Januar 1942 rund ein Drittel ihrer Soldaten. Hitlers bisher größte Niederlage zeichnet sich freilich nun, ein Jahr später, in der Stadt Stalingrad ab, wo seit November 1942 rund 230.000 Soldaten von der Roten Armee eingekesselt sind. Da Karlrobert dank seines Vaters ebenfalls die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, hat man ihn noch nicht eingezogen. So darf er weiterhin reisen und Konzerte spielen. Seine Karriere kennt nur eine Richtung – nach oben.

Manchmal kann er das alles selbst gar nicht glauben. Obwohl er noch so jung ist, wird sein Name bereits in einem Atemzug mit Walter Gieseking und Vladimir Horowitz genannt. Als Karlrobert und eine Freundin sich kürzlich darüber unterhielten, was die Zukunft wohl für sie bereithalte, nahm er nur zum Spaß ein Buch über die Kunst des Handlesens aus dem Bücherregal, das er dort zufällig entdeckt hatte. Lachend blätterten die beiden in dem Schmöker, verglichen ihre Handinnenseiten mit den Zeichnungen und lasen die entsprechenden Deutungen. Plötzlich stutzte Karlrobert: »Meine Lebenslinie bricht jäh ab, ich muss demnach jung sterben.«

Etwa 9000 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt liegt Pacific Palisades. Genau genommen ist Pacific Palisades ein Stadtteil von Los Angeles, doch wer hier lebt, bekommt vom Trubel der Westküstenmetropole nicht viel mit. Dieses wunderschöne Fleckchen Erde – ruhig, mit mildem Klima und immergrüner Vegetation – ist eine vornehme Gegend und geprägt durch ein Labyrinth kleiner, verwinkelter und kurvenreicher Straßen. Seitdem sich dort zahlreiche deutschsprachige Emigranten niedergelassen haben, erinnert »The Palisades« ein wenig an Schwabing unter Palmen. Am San Remo Drive Nummer 1550 leben seit gut einem Jahr die Eheleute Thomas und Katia Mann.

Der Literaturnobelpreisträger und seine Frau sind Liebhaber der ernsten Musik. Der Name Karlrobert Kreiten ist ihnen allerdings kein Begriff, was nicht verwunderlich ist: Als die Manns Deutschland im Februar 1933 verlassen mussten, war Karlrobert erst sechzehn Jahre alt. Mit Vorliebe legt Thomas Mann zu vorgerückter Stunde eine Schallplatte aus seiner umfangreichen Sammlung auf das Grammofon. Zu seinen bevorzugten Komponisten gehören Richard Wagner, Robert Schumann, Claude Debussy und Ludwig van Beethoven. Auch den gestrigen Nachmittag hätte der Schriftsteller wohl am liebsten mit Musikhören verbracht, doch bedauerlicherweise waren er und Katia in der Nachbarschaft auf einen Cocktail bei Mr und Mrs Thomas eingeladen: »er sehr dumm und unsympathisch; ein weiteres Ehepaar. Überflüssig.«

Heute nun, am Neujahrstag 1943, arbeitet Thomas Mann nach dem Frühstück am Schlusskapitel seines neuen Buches Joseph, der Ernährer, das die Romantrilogie Joseph und seine Brüder abschließen wird. Die Veröffentlichung ist im weiteren Verlauf des Jahres geplant. Nach dem Lunch liest er ausgiebig in der Wochenzeitschrift The Nation. In einem der vielen Artikel, die sich mit der Lage in Europa befassen, wird der deutsche Propagandaminister Joseph Goebbels zitiert: Wenn der Nationalsozialismus abtreten müsse, werde er die Tür hinter sich zuschlagen, dass der Welt Hören und Sehen vergehen werde. Thomas Mann schüttelt angewidert den Kopf und notiert in sein Tagebuch: »Wie dieser korrupte Schwindel sich wichtig nimmt.«

Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei, erlässt am 6. Januar 1943 neue »Durchführungsbestimmungen für Exekutionen«: »Die Exekutionen sind an einem geeigneten, von außen nicht einzusehenden Orte (Steinbruch, Waldstück usw.) vorzunehmen. Innerhalb von Dörfern, Gehöften usw. werden sie nur in besonders bestimmten Ausnahmefällen vollzogen. Bei der Auswahl des Exekutionsplatzes sind nach Möglichkeit die Anregungen des zuständigen Bürgermeisters und Ortsgruppenleiters sowie berechtigte Bedenken der Grundstückseigentümer zu berücksichtigen. Bei der Durchführung der Exekution ist die Öffentlichkeit auszuschließen, falls keine andere Weisung vorliegt. […] Die Erhängung ist durch Schutzhäftlinge, bei fremdvölkischen Arbeitern durch Angehörige möglichst der gleichen Volksgruppe zu vollziehen. Die Schutzhäftlinge erhalten für den Vollzug je 3 Zigaretten. […] Falls die Überführung der Leiche in das nächste Krematorium oder die nächste Anatomie nur unter großem Benzinverbrauch möglich ist, bestehen gegen die Beerdigung auf einem Judenfriedhof oder in der Selbstmörderecke eines großen Friedhofs keine Bedenken. Die entstehenden Kosten trägt die Geheime Staatspolizei.«

»In einer Bäckerei wurde mir Brot verweigert«, vertraut Victor Klemperer am 6. Januar 1943 seinem Tagebuch an, »obschon das Verbot sich nur auf Weißgebäck bezieht – offenbar aus Angst und Dummheit, nicht aus Böswilligkeit der Verkäuferin –, es war aber doch bitter für mich.« Klemperer war einmal ein angesehener Romanist, der seit 1920 in Dresden als Professor an der Technischen Hochschule lehrte, bis er 1935 wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen wurde und fortan nicht mehr publizieren durfte. Wurde er früher respektvoll mit »Herr Professor« angesprochen, behandelt man ihn heute wie einen Aussätzigen. Seit Ende 1938 darf Klemperer keine Bibliotheken mehr benutzen, und zwei Jahre später mussten er und seine Frau Eva – die Eheleute sind seit 1906 verheiratet – ihr Eigenheim in Dölzschen bei Dresden verlassen und in ein sogenanntes Judenhaus ziehen.

Dass Eva Klemperer nicht jüdischer Herkunft ist und die beiden nach den Gesetzen des »Dritten Reiches« in einer »Mischehe« leben, bedeutet für den einundsechzigjährigen Victor einen gewissen Schutz vor den Deportationen. Doch wie lange noch? Bereits beim Aufwachen fragt er sich: »Werden ›sie‹ heute kommen?« »Sie« – das ist die Geheime Staatspolizei, die Gestapo. Klemperer weiß aus Erfahrung, dass es gefährliche und weniger gefährliche Tage gibt. Freitag ist ein gefährlicher Tag, da Juden dann besonders streng kontrolliert werden. Die Gestapo glaubt, dass sie verbotene Besorgungen für das Wochenende erledigen. Klingelt es an der Türe, hält er den Atem an: Sind »sie« es? Oder ist es nur die Briefträgerin? Doch was bringt die Postbotin? Eine Vorladung? Autos rollen über das Kopfsteinpflaster. Sind »sie« es? Stürmen »sie« gleich die Treppe herauf, um ihn abzuholen? In jedem Auto, auf jedem Fahrrad und in jedem Passanten vermutet Klemperer die Gestapo. Immerwährende Angst: »Mir fällt ein, ich habe die Mappe eben unter dem linken Arm getragen – vielleicht war der Stern verdeckt, vielleicht hat mich einer denunziert.«

Der Vorfall in der Bäckerei ist für Klemperer ein weiteres Kapitel in der langen Geschichte der Entrechtung und Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten. Klemperer notiert diese Begebenheit in sein Tagebuch, wie er überhaupt nahezu alles aufschreibt, was er tagein, tagaus hört, erlebt und beobachtet. Die Zeitungslektüre, ein im Vorbeigehen aufgeschnapptes Gespräch auf der Straße, der fehlerhafte Umgang mit Fremdwörtern in der Rede eines führenden Nationalsozialisten – kein Detail ist ihm zu unbedeutend. Um das »Dritte Reich« zu verstehen, so Klemperers Überzeugung, müsse man seine Sprache begreifen: »Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewusst in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Das ist wohl auch der Sinn der Sentenz: le style c’est l’homme; die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen.«

Victor Klemperer hat einen Plan: Er will einmal ein Buch über die Sprache des »Dritten Reiches« schreiben, will die Monstrosität dieses Regimes anhand seiner Sprache entlarven: »Das ist mein Heldentum. Ich will Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis!« Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg – Klemperer muss zunächst den heutigen Tag überleben. Der Titel des neuen Buches steht indes bereits fest: LTI – Lingua Tertii Imperii.

Die Dame war einmal eine Zeitschrift für den verwöhnten Geschmack. Ihre Leserinnen galten als modern und mondän, emanzipiert und elegant, klug und extravagant. Manche hielten sich aber auch nur dafür, doch das tut nichts zur Sache. In den Zwanzigerjahren war Die Dame so etwas wie ein gedruckter Salon. Für das Journal arbeiteten damals Autoren und Künstler wie Kurt Tucholsky, Hannah Höch, Carl Zuckmayer, Tamara de Lempicka, Joachim Ringelnatz, Bertolt Brecht und Vicki Baum. Arthur Schnitzlers Traumnovelle wurde hier 1925 erstmals veröffentlicht. Doch das ist lange her. Nun, im Januar 1943, druckt Die Dame Kleidungsempfehlungen für die Frau im Krieg: »Jäckchen zu jeder Tageszeit sind eine hübsche, modische Ergänzung des Kleides, die viel Anklang finden wird, da sie sehr praktisch ist und fast stets aus gebrauchten Kleidungsstücken hergestellt werden kann. Diese Jäckchen geben dem Kleid etwas Fertiges, auch für die Straße ›Angezogenes‹ und sind zudem ein angenehmer Wärmespender. Aus jeglichem Material werden sie hergestellt; sie sind kurz und haben meist ein kleines abstehendes Schößchen.«

»An der Wolga ist es Scheiße«, schreibt August Eberl seiner Mutter Anfang Januar von der Ostfront. »Der dumme Russe, warum macht er nicht Schluss? Seit Kurzem rauch ich ein wenig und wenn es gibt, sauf ich viel Schnaps, alles, warum? Weil ich langsam dumm werd.« Der Fünfundzwanzigjährige gehört zu den über 200.000 deutschen Soldaten der 6. Armee und der 4. Panzerarmee, die Ende November von sowjetischen Streitkräften in der Stadt Stalingrad eingeschlossen worden sind. Seither sitzen Eberl und seine Kameraden in der Falle.

Kälteschutzkleidung, die die Soldaten vor dem strengen Frost geschützt hätte, ist Mangelware. Ebenso erweist sich die Versorgung mit Lebensmitteln als völlig unzureichend. Hermann Göring, Chef der deutschen Luftwaffe, will den Kessel mithilfe einer Luftbrücke versorgen. Doch an keinem Tag ist es bislang gelungen, die Mindestmenge von 500 Tonnen einfliegen zu lassen. Die Männer sind halb verhungert und entsprechend entmutigt. In ihrer Not schlachten sie massenhaft ihre eigenen Pferde, die sie eigentlich dringend bräuchten, und kochen selbst die Hufe der Tiere aus.

Beide Seiten kämpfen mit unerbittlicher Härte, da Stalingrad für Hitler wie für Stalin gleichermaßen von hoher strategischer Bedeutung ist. Nachdem Hitler im November den Fall der Stadt vorhergesagt hat, befürchtet er, bei einem Rückzug als Verlierer dazustehen. Stalin wiederum kann die Industriemetropole schon allein deshalb nicht aufgeben, weil sie seit 1925 seinen Namen trägt. Und so gehen die Scharmützel weiter – Straße für Straße, Haus für Haus, Mann für Mann. Stalingrad gleicht derweil einem apokalyptischen Schlachtfeld, das von Toten übersät ist. In den Straßen liegen gefallene Deutsche und Russen nebeneinander, dazwischen die Kadaver verendeter Tiere. Die Ruinen der zerbombten Häuser ragen wie flehende Hände in den Himmel. Auf der sowjetischen Seite sind die Verluste immens. Alle 20 Sekunden stirbt in der Stadt ein sowjetischer Kämpfer. Einfache Soldaten, die dort zum Einsatz kommen, überleben im Schnitt höchstens einen Tag, Unteroffiziere zwei und Offiziere drei Tage. Bataillonskommandeure überstehen in der Regel sieben, Regimentskommandeure etwa 20 Tage. Auch die Deutschen müssen gewaltige Verluste beklagen. Manche Einheiten haben während der Gefechte bis zu 90 Prozent ihrer Soldaten verloren. Insgesamt hat die 6. Armee 70.000 Mann, 1000 Panzer und 1400 Flugzeuge eingebüßt.

Am 10. Januar 1943 beginnen die sowjetischen Truppen mit einer Großoffensive gegen die im Kessel eingeschlossenen Truppen. Stalin hat die Vernichtung der 6. Armee befohlen. In den nächsten Tagen soll der Ring um den Stadtkern von Stalingrad immer enger gezogen werden. Damit ist das Schicksal der deutschen Soldaten besiegelt.

Und Hitler? »Eine Kapitulation der 6. Armee ist schon vom Standpunkt der Ehre aus nicht möglich«, lässt der Diktator seine Männer wissen. Manche Soldaten klammern sich an vage Heilsversprechen – »Drum haltet aus, der Führer haut uns raus!« –, doch die Mehrzahl der Kämpfer hat jeden Lebensmut verloren.

Anweisungen der Pressekonferenz der Reichsregierung, 10. Januar 1943: »Die Geburtstagsartikel für Göring und Rosenberg sollen in der vorgesehenen Form nicht vor dem 12.1. gebracht werden. Meldungen über die Geburtstagsfeierlichkeiten und den Verlauf des Tages sind nicht zu bringen. Es sei denn, dass eine amtliche Meldung über dnb [Deutsches Nachrichtenbüro] kommt, die dann nur im Innern der Blätter zu veröffentlichen ist. Bilder des Reichsmarschalls und Rosenbergs sollen auf der ersten Seite gebracht werden, wobei das Bild des Reichsmarschalls etwas in den Vordergrund zu stellen ist.«

Hermann Göring wird heute fünfzig Jahre alt. Als ob er sich selbst daran erinnern müsste, hat er mit dickem Federstrich unter dem Datum des 12. Januar 1943 in seinen Terminkalender das Wort »Geburtstag« notiert. Göring ist Stellvertreter Hitlers; sollte diesem etwas zustoßen, würde Göring an dessen Stelle treten. Darüber hinaus beansprucht Göring seit 1933 eine Vielzahl weiterer Ämter: Preußischer Minister des Innern, Preußischer Ministerpräsident, Präsident des Preußischen Staatsrates, Präsident des Reichstags, Reichsforstmeister, Reichsjägermeister, Präsident des Reichsforschungsrats, Reichsluftfahrtminister, Präsident des Reichsluftschutzverbandes, Generaloberst, Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Reichskommissar für Rohstoffe und Devisen, Vorsitzender des Zentralen Planungsamts, Beauftragter für den Vierjahresplan und ein paar andere mehr. Für jedes Amt bezieht Göring ein separates Gehalt, und für jede Tätigkeit besitzt er eigene Uniformen, die er persönlich entwirft. Mal erscheint er ganz in Weiß, mal in Hellblau. Als Reichsmarschall, wozu Hitler ihn im Sommer 1940 ernannt hat, trägt er einen Marschallstab aus Elfenbein, Gold und Brillanten.

Die Vielzahl der Ämter und der Prunk der Lebensführung stehen in einem krassen Gegensatz zu Görings tatsächlicher Macht. Seit der Luftschlacht um England ist sein Einfluss im Sinkflug begriffen. Als die britische Royal Air Force im März und April 1942 zunächst Lübeck und Rostock und dann Ende Mai mit über 1000 Bombern Köln angriff und dabei große Teile der Domstadt in Schutt und Asche legte, verschlechterte sich das ohnehin bereits angespannte Verhältnis von Hitler und Göring weiter. Hitler reagiert auf Görings »Versagen«, indem er ihn nach und nach entmachtet. Andere, wie Albert Speer, der Lieblingsarchitekt des »Führers«, treten an seine Stelle. Spätestens seit Mitte 1942 verfügt Hermann Göring über keinen nennenswerten Einfluss mehr auf die deutsche Politik und Kriegsführung. Dass der Reichsmarschall nun auch sein großspuriges Versprechen, die in Stalingrad eingeschlossenen Soldaten aus der Luft versorgen zu wollen, nicht halten kann, ist dann endgültig zu viel. Ganz auf Göring verzichten mag Hitler indes nicht. Göring ist im Volk beliebt, zudem befürchtet Hitler, dass die Amtsenthebung eines langjährigen Weggefährten von den deutschen Kriegsgegnern als Schwäche gedeutet werden könnte.

Der Reichsmarschall flüchtet ins Private, unternimmt monatelange Urlaubs- und Jagdreisen, lässt in halb Europa Kunstwerke rauben und gefällt sich in der Rolle eines Renaissancemenschen. In seiner pompösen Residenz Carinhall nördlich von Berlin führen er, Gattin Emmy und Töchterchen Edda ein Leben im Luxus. Alles in allem kümmern sich jeden Tag gut 150 Personen um das Wohl und die Sicherheit der Görings, darunter ein Haushofmeister, eine Hauswirtschafterin, drei Köche, zehn Putzfrauen, drei Küchenmädchen, eine Kinderschwester, zwei Zofen, eine Lehrerin, ein Tischler, ein Hausbursche, ein Maschinenmeister, ein eigener Postbeamter, zwei Heizer, vier Gärtner, ein gesonderter Gärtner, der jeden Tag frische Blumen aus Berlin bringt, ein Masseur, ein Elektriker, eine Bibliothekarin und zwei Sekretärinnen. Hinzu kommen zahllose Wachmänner, mehrere Kriminalbeamte sowie ein zehnköpfiger Löschzug der Berliner Feuerwehr.

Wochenlang hat sich Göring mit fast nichts anderem als seinen Geburtstagsvorbereitungen beschäftigt. Die Feierlichkeiten beginnen am Vorabend des 12. Januar mit einer Galavorstellung im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Gustaf Gründgens, seit Herbst 1934 Intendant des Preußischen Staatstheaters, hat zu Görings Ehren Teile aus Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg sowie den fünften Akt aus William Shakespeares Sommernachtstraum inszeniert. Zu den Künstlern, die er für diese einmalige Aufführung dienstverpflichtet hat, zählen neben Stars wie Heinz Rühmann, Theo Lingen, Gustav Knuth, Victor de Kowa, Bernhard Minetti und Werner Krauß auch Schauspielerinnen der jüngeren Generation: Lola Müthel, Antje Weisgerber, Käthe Gold sowie Gründgens Ehefrau Marianne Hoppe. In der Pause zwischen den beiden Werken bittet der Jubilar seine Gäste zum Souper in das Foyer des Hauses. Zum Roastbeef, das von Görings Lieblingsrestaurant Horcher stammt, lässt er Champagner servieren.

Am Geburtstag selbst setzt sich das Spektakel nahtlos fort. Göring hat gut 160 Gäste aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu einem festlichen Essen in sein Palais im Garten des Reichsluftfahrtministeriums eingeladen. Den vormaligen Dienstsitz des Preußischen Handelsministers hat Göring von Albert Speer zu Wohnzwecken pompös umgestalten lassen. Unter anderem wurden im Erdgeschoss zahlreiche Wände herausgerissen, um so vier große Säle zu erhalten. Görings Arbeitszimmer allein misst 140 Quadratmeter. Im weitläufigen Park um die Villa finden sich ein Tennisplatz, der allerdings ungenutzt bleibt – der Hausherr ist nicht sportlich –, ein Teehaus sowie ein Schwimmbad.

Zu den Gratulanten gehört der berühmte schwedische Entdecker und Forschungsreisende Sven Hedin. Der Siebenundsiebzigjährige hält sich nur für kurze Zeit in Berlin auf, denn eigentlich ist er auf dem Weg nach München, wo er in den nächsten Tagen mit der Goldmedaille der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie einer Ehrendoktorwürde der Universität München geehrt werden wird. Im Palais werden Hedin und die anderen Gäste Zeugen einer kuriosen Darbietung. Die zahllosen Geschenke, die Göring erhalten hat, liegen in dessen Arbeitszimmer auf einem gewaltigen Tisch, der sich unter dem Gewicht der Gaben förmlich zu biegen scheint. In Gegenwart der Anwesenden schreitet Göring nun das Möbel ab und schaut sich in aller Ruhe jedes einzelne Präsent an. Immer wieder hört man ein »Oh« oder »Ah«, gelegentlich ruft er nach seiner Frau Emmy, um ihr etwas Bestimmtes zu zeigen.

Große Überraschungen dürften sich unter den Geschenken nicht befinden, denn Göring hat die Angewohnheit, seine Gäste Wochen vorher mehr oder weniger dezent wissen zu lassen, was er gerne hätte: wertvolle Bilder und Plastiken, Diamanten, Gobelins, Möbel oder edle Weine und Zigarren. So erging es auch Kurt Schmitt, dem Vorstandsvorsitzenden der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft, der von Görings Adjutanten Erich Gritzbach auf eine mittelalterliche Statue hingewiesen wurde, die dem Chef besonders gut gefalle. Schmitt kaufte die Antiquität zum Preis von 18.000 Mark.

August Rosterg, der Generaldirektor des Wintershall-Konzerns, erfüllt Göring einen besonders kostbaren Wunsch. Der zweiundsiebzigjährige Industrielle pflegt seit vielen Jahren beste Kontakte zu führenden Nationalsozialisten. Bereits 1932 forderte er die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, mit Heinrich Himmler ist er sogar befreundet. Rostergs Unternehmen, das neben dem Bergbau auch im Gas- und Ölgeschäft aktiv ist, profitiert von dieser Nähe zur Macht. Die Wintershall AG gilt als »kriegswichtig« und erhält regelmäßig Zwangsarbeiter zugeteilt. Rosterg ist bislang der NSDAP nicht beigetreten. Wer weiß, wie sich der Krieg entwickeln wird?

Für Görings runden Geburtstag hat der Herr Generaldirektor bei der französischen Manufaktur Hermès einen luxuriösen Picknickkoffer erstanden. Das edle Stück ist mit hochwertigem hellbraunem Leder bespannt, wobei auf dem Deckel das Monogramm des neuen Besitzers prangt: »H.G.« An den Seiten befinden sich kräftige Trageringe sowie starke Ledergurte mit vernickelten Schlössern. Das Innere wurde mit gestepptem Wildleder versehen. Doch damit nicht genug, hat Rosterg den Koffer mit einem Porzellanservice für acht Personen der Manufaktur Sèvres ausstatten lassen. Auf den Tellern, Schüsseln und Platten dominieren Jagdmotive wie handgemalte Darstellungen von Rebhühnern und Wildenten. Die Tellerspiegel zeigen in goldener Aufglasurmalerei das Familienwappen Görings. Auf den Rückseiten der Geschirrteile steht: »Dem Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches Hermann Göring zu seinem 50. Geburtstag 12. Januar 1943«.

Adolf Hitler, der sich im Führerhauptquartier »Wolfsschanze« in Ostpreußen aufhält, lässt sich von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel vertreten. Im Auftrag des »Führers« übergibt Keitel dem Gastgeber eine mit Edelsteinen besetzte Kassette sowie einen handschriftlichen Brief. Göring öffnet mit feierlicher Geste den Umschlag und liest das Schreiben langsam durch. Dann geht er plötzlich hinter seinen Schreibtisch, setzt sich auf den ausladenden Sessel, dessen Rückenlehne ihn überragt, und studiert den Brief erneut. Auf einmal beginnt er vor aller Augen zu weinen. Tränen, die an große Perlen erinnern, kullern über sein wächsernes Gesicht. Doch es ist kein Schluchzen der Trauer, nein, Göring weint vor Ergriffenheit. Nachdem die sichtlich irritierten Gäste eine Zeit lang diesem Schauspiel beigewohnt haben, werden sie von einem Adjutanten taktvoll gebeten, kurz den Raum zu verlassen, bis der so Gerührte die Fassung wiedergewonnen habe. Es dauert nicht lange, und Göring hat sich so weit erholt, dass er zum Souper bitten kann. Die Festtafel ist reichhaltig gedeckt. Als Zugeständnis an die allgemein schlechten Zeiten, in denen man lebt, servieren Kellner in weißer Livree zunächst eine Kohlsuppe. Danach gibt es Fisch mit Hummermayonnaise sowie Champagner.

Alfred Rosenberg, der an diesem Tag ebenfalls fünfzig Jahre alt wird, ist der selbst ernannte Vordenker des Nationalsozialismus. Im Jahr 1930 war sein Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts erschienen – ein 670-Seiten-Wälzer, der in verquaster Sprache der »Religion des Blutes«, die das Christentum ersetzen soll, das Wort redet. Gut vier Wochen nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war Rosenberg zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ernannt worden. Hatte er bis dahin nur Ämter in der NSDAP innegehabt, verfügt er seitdem über Regierungsmacht. Als »Ostminister« ist er maßgeblich an der Entrechtung und Ermordung der europäischen Juden beteiligt.

Rosenbergs abendliche Geburtstagsfeier findet in seinem Ministerium in der einstigen sowjetischen Botschaft auf dem Boulevard Unter den Linden statt und verläuft bescheidener als die des Reichsmarschalls. Zwar erweisen ihm gut 200 Besucher die Reverenz, doch der Eintopf, den Rosenberg auftischen lässt, kann mit den Köstlichkeiten von Horcher, die bei Göring gereicht werden, nicht mithalten. Nachdem alle Gäste gegangen sind, öffnet Rosenberg das Handschreiben, das auch er von Hitler erhalten hat. In sein Tagebuch notiert er: »Wir beide wissen, wie verschieden wir sind, ihm ist bekannt, dass ich manche Menschen, die er wohl aus Gründen höherer Staatsraison im Vordergrunde wirken lässt, als Schädlinge ansehe.«

Hitler überlässt Rosenberg schließlich eine Dotation in Höhe von 250.000 Reichsmark – »zur Ausgestaltung Ihres persönlichen Lebens«, wie der Diktator schreibt.

In der marokkanischen Hafenstadt Casablanca beginnt am 14. Januar 1943 eine Konferenz des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und des britischen Premierministers Winston Churchill samt ihrer jeweiligen militärischen Führungsstäbe. Die Initiative dazu ging von Roosevelt aus, der auch Josef Stalin nach Casablanca einlud. Der sowjetische Staatschef lehnte die Offerte allerdings ab, da in der Schlacht um Stalingrad seine militärische Führung vonnöten sei und er das Land nicht verlassen könne.

In den folgenden zehn Tagen besprechen Roosevelt und Churchill unter strenger Geheimhaltung das weitere Vorgehen gegen Deutschland und seine Verbündeten. Man einigt sich darauf, im Sommer auf Sizilien und im folgenden Jahr in Frankreich landen zu wollen. Darüber hinaus wird eine kombinierte britisch-amerikanische Bomberoffensive vereinbart: amerikanische Präzisionsangriffe auf militärische und industrielle Ziele am Tag sowie Flächenbombardements der Städte durch die Royal Air Force bei Nacht. Das wohl wichtigste Ergebnis der Konferenz wird von Roosevelt als oberstes Kriegsziel bezeichnet: »unconditional surrender«. Man werde nichts anderes als die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches und seiner Achsenmächte Italien und Japan akzeptieren. Dabei wolle man dem einfachen Volk keinen Schaden zufügen, betont der Präsident im Anschluss an die Konferenz, »aber wir wollen ihren schuldigen, barbarischen Führern Strafe und Vergeltung auferlegen«.

Das ist eine handfeste Drohung, die sich auch an Joseph Goebbels richtet. Der Propagandaminister glaubte zunächst, das Treffen würde in Washington stattfinden – der deutsche Geheimdienst hatte Casablanca mit »Weißes Haus« dechiffriert –, doch als er die wahren Umstände erfährt, ist er außer sich vor Wut: »Unser Nachrichtendienst hat wieder einmal vollkommen versagt und nicht einmal den Ort der Besprechungen feststellen können.«

Goebbels hat den Ernst der Lage klar erkannt, »denn wenn den Engländern und Amerikanern jetzt noch eine Festsetzung auf dem europäischen Kontinent gelänge, dann wäre für uns eine ziemlich miserable Lage geschaffen«. Doch was der Propagandaminister seinem Tagebuch anvertraut und was er verlautbaren lässt, ist oft grundverschieden. Von der deutschen Presse lässt Goebbels die Bedeutung der Konferenz jedenfalls herunterspielen. Die Ergebnisse des Treffens stünden in einem Missverhältnis zu den zurückgelegten Kilometern, heißt es lapidar, das Ganze sei im Grunde nur ein Theatercoup gewesen. Derartige Beschwichtigungsformeln verfangen freilich immer seltener. In seinem »Geheimen Lagebericht« vom 1. Februar 1943 schlägt der Sicherheitsdienst der SS Alarm: »In der Bevölkerung glaube niemand, dass Churchill und Roosevelt so dumm und so uneinig seien, wie dies aus den Presseveröffentlichungen an sich geschlossen werden müsse. Die Bevölkerung sei durchweg der Meinung, dass das Treffen nicht so ergebnislos verlaufen sei, wie dies in den Kommentaren behauptet würde.«

Wie oft hat Margot das Vorhaben in Gedanken durchgespielt? Zehnmal? Zwanzigmal? Oder noch häufiger? Sie weiß es nicht. Und wie oft hat sie überlegt, ob der Entschluss richtig ist! Berlin ist ihre Heimat, hier wurde Margot Bendheim vor knapp zweiundzwanzig Jahren geboren. Sie wuchs in Kreuzberg in einer großbürgerlichen Elfzimmerwohnung auf und hatte zunächst eine schöne Kindheit. Dann kam Adolf Hitler. Im Jahr 1937 ließen sich ihre Eltern scheiden, seither leben Margot und ihr vier Jahre jüngerer Bruder Ralph bei der Mutter. Margot liebt die Stadt an der Spree. Sie könnte ein gutes Leben haben, könnte in der Damenkonfektion arbeiten, wofür sie sich sehr interessiert, könnte vielleicht sogar eigene Kleider entwerfen. Unter normalen Umständen hätte die zierliche junge Frau mit dem dunklen lockigen Haar und den großen braunen Augen vermutlich einen Freund, und vielleicht wäre sie sogar schon verheiratet. Doch Hitler hat das alles anders entschieden. Anstatt edle Stoffe schneidern und ein ganz normales Leben führen zu können, muss Margot den gelben Stern tragen und in einer Fabrik Zwangsarbeit leisten. Doch wenn alles gut geht, wird ihr, ihrem Bruder Ralph und ihrer Mutter Auguste heute, am 20. Januar, die Flucht aus Berlin gelingen.

Bislang läuft alles nach Plan. Nachdem Margot in der Nacht wie immer gearbeitet hat, hat sie am Vormittag einen Arzt aufgesucht, um sich unter einem Vorwand für ein paar Tage krankschreiben zu lassen. Das ist wichtig, denn sonst würde es ja sofort auffallen, wenn sie am Abend nicht zu ihrer Schicht erschiene. Der Doktor stellte ihr das Attest ohne Probleme aus. Magengrippe. Den Krankenschein warf sie daraufhin in den Hausbriefkasten ihrer Firma. So weit, so gut.

Als Nächstes macht sich Margot auf den Weg zur Wohnung von Rachela Meisner in der Skalitzer Straße 32, bei der die Bendheims seit knapp zwei Jahren zur Untermiete wohnen. Die dreiundfünfzigjährige Frau Meisner ist ebenfalls Jüdin. Rachelas Mann Arnold und der gemeinsame Sohn wurden bereits 1938 aus Deutschland ausgewiesen, seither fehlt von ihnen jede Spur. Der Tochter Kläre hingegen ist im Herbst 1941 die Flucht nach Portugal und von dort per Schiff in die Vereinigten Staaten gelungen.

Wer ist dieser Mann, der vor Margot hergeht? Zunächst ist er ihr gar nicht aufgefallen, so sehr war sie in Gedanken versunken, doch auf einmal beschleicht sie ein ungutes Gefühl. Obwohl Margot den Unbekannten nur von hinten sieht und kein Gesicht erkennt, macht er ihr Angst. Plötzlich bleibt er vor dem Haus mit der Nummer 32 stehen. Er wirft einen Blick auf das Klingelbrett, als suche er nach einem Namen: Amend, Sommerfeld, Berkholz, Börnicke, Wagner, Dumont, Faust, Lehmann … Meisner. Dann betritt er das Gebäude und geht durch das Treppenhaus zwei Etagen nach oben. Margot folgt ihm. Als sie feststellt, dass er vor der Wohnungstüre von Frau Meisner stehen bleibt, geht Margot geistesgegenwärtig an ihm vorbei. Es soll so aussehen, als besuche sie jemanden im dritten Stock. Dort angekommen, klingelt sie bei einer Nachbarin, die sie bislang nur ein paarmal gesehen hat. Die Frau bittet Margot herein und erzählt ihr, was geschehen ist: dass am Morgen im Treppenhaus Schritte, lautes Klopfen, Rufe und Türenschlagen zu hören gewesen seien und dass die Gestapo Frau Meisner und den kleinen Ralph abgeholt habe.

»Meine Mutter …?«, fragt Margot.

Die sei gekommen, »als alles wieder still gewesen war und die Wohnung versiegelt«, weiß die Nachbarin zu berichten. Sie sei daraufhin zu einer Bekannten in der Nähe gegangen und warte dort.

Margot und die Nachbarin sitzen einander stumm gegenüber. Wie betäubt realisiert Margot langsam, was geschehen sein muss. Die Mutter ist Gott sei Dank in Sicherheit. Doch Frau Meisner? Und Ralph? Ihre Gedanken kreisen um den kleinen Bruder. Ralph hat doch niemandem etwas getan, ist überall beliebt. Er, der doch so schön Geige spielen kann! Ralph liebt die Schule und das Lernen, ist sogar Klassenbester. Wenn die Zeiten andere wären, würde er gerne eine höhere Schule besuchen und studieren. Sein bester Freund heißt Hansi.

Nach einer Weile verabschiedet sich Margot von der Nachbarin und steigt langsam durch das Treppenhaus nach unten. Der Mann ist fort, die Tür zu Frau Meisners Wohnung versiegelt. Wie in Trance geht Margot zu der anderen Wohnung, wo ihre Mutter auf sie warten soll. Nein, die Mutter sei nicht mehr da, sagt dort eine Frau und drückt Margot etwas in die Hand. Margot erkennt sofort die Handtasche ihrer Mutter. Sie öffnet den Verschluss und findet das kleine Notizbuch, in das Auguste Bendheim immer alles Wichtige eingetragen hat, sowie eine Bernsteinkette. Das ist alles. Margot sucht nach einem Brief der Mutter oder wenigstens nach einem kleinen Zettel, einem Stück Papier, auf dem sich eine Botschaft befinden könnte. Doch sie findet nichts dergleichen.

»Sie ist gegangen«, sagt die Frau.

»Gegangen …?« Margot schaut sie fragend an.

Sie habe sich entschlossen, zur Polizei zu gehen, um Ralph nicht alleinzulassen, erwidert die Frau. Doch die Mutter habe sie gebeten, Margot etwas von ihr auszurichten: »Versuche, dein Leben zu machen.«

Am 23. Januar, einen Tag vor Abschluss der Verhandlungen in Casablanca, kommt in den Vereinigten Staaten ein Film in die Kinos, der wie ein Kommentar zu der Konferenz wirkt. Die Handlung ist schnell erzählt: Im von den Franzosen regierten Casablanca ist die Bar des Amerikaners Rick Blaine, gespielt von Humphrey Bogart, zu einem Sammelbecken für Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte aus aller Herren Länder geworden. Eines Tages taucht der tschechische Widerstandskämpfer Victor László in Begleitung einer Frau in der Stadt auf. Victor ist den Nazis schon mehrfach entwischt und soll nun vom deutschen Major Strasser und vom korrupten französischen Polizeipräfekten Louis Renault in Ricks Bar festgenommen werden. Als László und die Frau das Lokal betreten, will Rick seinen Augen nicht trauen. Hinter der Unbekannten verbirgt sich niemand anderes als Ilsa Lund (dargestellt von Ingrid Bergman), mit der er in Paris eine leidenschaftliche Affäre hatte und die ihn damals sitzen ließ. Nun soll ausgerechnet Rick ihr und Victor zur Flucht verhelfen. Ob das gut geht?

Die meisten der in Casablanca mitwirkenden Schauspieler sind selbst Emigranten aus Europa, darunter so bekannte Namen wie Conrad Veidt (als Major Strasser), Peter Lorre (als Signor Ugarte) und Curt Bois (als Taschendieb). Vordergründig eine Liebesgeschichte, schildert der Film das Leid der Emigration und das Leben in fremder Umgebung. Wenn die österreichischen Schauspieler Ilka Grüning und Ludwig Stössel das jüdische Emigrantenehepaar Leuchtag spielen, das in Ricks Bar auf die Ausreise in die Vereinigten Staaten wartet und mit dem Barkeeper Carl nebenbei Englisch lernt, stellen sie ihr eigenes Schicksal nach:

Mr Leuchtag: »Liebchen – sweetness heart, what watch?«

Mrs Leuchtag: »Ten watch.«

Mr Leuchtag: »Such much?«

Carl: »Hm. You will get along beautiful in America.«

»Bitte erschrecke nicht über diese Zeilen«, schreibt der 1901 geborene Feldwebel Otto Kirschner Ende Januar 1943 seiner Schwester Leni aus Stalingrad. »Nur Dir allein schreibe ich es, wir befinden uns hier in einer hoffnungslosen Lage. Jeden Augenblick können wir in den Händen der Russen sein. […] Solltest Du zwei Monate weiter gerechnet keine Post mehr von mir erhalten, so kannst Du mit Sicherheit annehmen, dass ich nicht mehr bin, in russische Gefangenschaft würde ich mich nicht begeben.« Sechs Tage später gelingt es den sowjetischen Soldaten, den Kessel in einen Nord- und einen Südteil zu spalten. Otto Kirschner wird die Kämpfe nicht überleben.