Das Verschwinden des Dr. Mühe - Oliver Hilmes - E-Book
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Das Verschwinden des Dr. Mühe E-Book

Oliver Hilmes

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Beschreibung

Ein spektakulärer Cold Case aus dem Berlin der 30er Jahre – mitreißend erzählt von Bestsellerautor Oliver Hilmes

Ein angesehener Arzt verschwindet über Nacht. Sein Sportwagen wird verlassen am Ufer eines Sees bei Berlin gefunden. Die Mordkommission ermittelt und stößt hinter der sorgsam gepflegten Fassade des ehrenwerten Doktors auf die Spuren eines kriminellen Doppellebens, das von Berlin nach Barcelona führt. Oliver Hilmes hat die Akten dieses aufsehenerregenden Kriminalfalls aus der Spätzeit der Weimarer Republik im Berliner Landesarchiv entdeckt. Auf der Basis dieser Dokumente und angereichert mit fiktionalen Elementen, setzt er das mysteriöse Puzzle zusammen. Auf packende Weise und höchst raffiniert erzählt er von der Suche nach Wahrheit und von den Abgründen der bürgerlichen Existenz am Vorabend der Diktatur.

  • »Historiker Hilmes rekonstruierte einen realen Fall, verbindet Ermittlungsakten mit Fiktion. Düster, sachlich, mitreißend.« (HÖRZU)
  • »Oliver Hilmes ist ein rasanter Krimi gelungen, der zugleich ein Stück Zeitgeschichte aus der späten Weimarer Republik erzählt.« (stern Crime)

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Oliver Hilmes, 1971 geboren, wurde in Zeitgeschichte promoviert und arbeitet als Kurator für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Seine Bücher über widersprüchliche und faszinierende Frauen Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel (2004) und Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner (2007) wurden zu großen Verkaufserfolgen. Zuletzt erschienen Liszt. Biographie eines Superstars (2011), Ludwig II. Der unzeitgemäße König (2013) und Berlin 1936. Sechzehn Tage im August (2016), das in viele Sprachen übersetzt und zum gefeierten Bestseller wurde.

Das Verschwinden des Dr. Mühe in der Presse:

»Oliver Hilmes ist ein rasanter Krimi gelungen, der zugleich ein Stück Zeitgeschichte aus der späten Weimarer Republik erzählt.«stern Crime

»Spannender als Fiction, fantastischer als die nüchterne Realität: ein Rückblick in eine Zeit, die Hilmes mit Akribie wiederauferstehen lässt und dabei für ein unerwartetes Finale sorgt.«WDR5 »Scala«

OLIVER HILMES

Das Verschwinden des Dr. Mühe

EINE KRIMINALGESCHICHTE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Copyright © der Originalausgabe 2020 by Penguin Verlag, München Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: Mauritius Images / Rosseforp / imageBROKERv: Shutterstock / new person / janniwet Karten: Peter Palm, Berlin Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-641-24512-2V003www.penguin-verlag.de

Für meine Eltern

Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Zahlreiche Ereignisse konnten anhand historischer Dokumente rekonstruiert werden, anderes wurde aus dramaturgischen Gründen erdacht.

Alle Verbrechen sind auch vor dem Erfolg der Tat, soweit genug Schuld besteht, ausgeführt.

Lucius Annaeus Seneca (um 4 v. Chr. – 65 n. Chr.)

DER SEE

Ernst Keller steht am Ufer des Sacrower Sees und schaut auf das Wasser. Es ist nahezu windstill, und die Wasseroberfläche bildet einen Spiegel, in dem sich das gleißende Sonnenlicht bricht. Keller kneift die Augen zusammen, zusätzlich zieht er seinen Hut tief ins Gesicht, damit die Krempe einen Schatten wirft. Jetzt erst erkennt er auf dem See ein kleines Ruderboot, das seine Runden zieht.

Der hundertsieben Hektar große Sacrower See ist eiszeitlichen Ursprungs und misst an seiner tiefsten Stelle sechsunddreißig Meter. Das Wasser gilt als außergewöhnlich sauber, weshalb der See insbesondere in den warmen Monaten ein beliebtes Ausflugsziel darstellt. An der nördlichen Spitze, wo sich Ernst Keller gerade befindet, öffnet sich das von einem dichten Schilfgürtel umgebene Ufer zu einer Badestelle. Ein paar Meter oberhalb der Bucht ist das Lokal Waldfrieden ansässig, nicht weit entfernt liegt ein Zeltplatz. Ein idyllischer Ort, denkt Keller. Was hat Erich Mühe hier mitten in der Nacht nur gewollt?

DR. MED. ERICH MÜHE,PRAKTISCHER ARZT IN BERLIN-KREUZBERG

MONTAG, 13. JUNI 1932

»Öffnen Sie bitte den Mund, und sagen Sie ›Hiiiihh‹. Noch etwas weiter. Ja, so ist es gut. Und jetzt bitte: ›Hiiiihh.‹« Bertha Kornrumpf ist einundsiebzig Jahre alt und die Besitzerin eines Bandagen- und Trikotagengeschäfts. Sie trägt heute einen langen Faltenrock, eine weiße Bluse und eine leichte Strickjacke. Die grauen Haare sind zu einem Dutt gesteckt. Vor etwa fünf Jahren ist ihr Mann Paul gestorben. Diesen Schicksalsschlag hat Frau Kornrumpf nie überwunden. Sie denkt jeden Tag an ihn.

Ihr gegenüber sitzt Dr. med. Erich Mühe, praktischer Arzt im Berliner Bezirk Kreuzberg. Dr. Mühe hat Paul Kornrumpf nie kennengelernt. Er war noch gestorben, bevor Erich Mühe die Praxis von seinem Vorgänger übernommen hat. Und doch hat Mühe das Gefühl, alles über Paul Kornrumpf zu wissen. Über sein Leben, seine Ehe mit Frau Bertha, über sein Leiden und auch über seinen Tod. Dr. Mühe unterbricht die Prozedur und klappt den an seinem Kopf befestigten kreisrunden Spiegel nach unten. Der Spiegel hat in der Mitte ein Loch, das sich nun direkt vor sein rechtes Auge schiebt. »So geht es besser. Darf ich noch einmal bitten?« Während Frau Kornrumpf den Mund erneut öffnet und »Hiiiihh« sagt, drückt Dr. Mühe mit einem Holzstab die Zunge nach unten und schaut tief in den Rachen der Patientin. Durch das Loch im Spiegel erkennt er eine Pharyngitis wie aus dem Lehrbuch. Frau Kornrumpf blickt derweil in die wasserblauen Augen ihres Arztes.

»Na, darauf müssen Sie aber nicht stolz sein«, stellt der Arzt fest. »Alles rot und geschwollen. Sie haben eine akute Halsentzündung. Das ist bei dem feuchten und kühlen Wetter der vergangenen Tage aber auch kein Wunder. Sie haben sich wohl etwas eingefangen. Ich verschreibe Ihnen eine Lösung zum Gurgeln.« Er greift zu seinem Rezeptblock. »Doch mit der Medizin alleine ist es nicht getan. Sie gehören ins Bett und müssen sich schonen. Mindestens eine Woche. Haben Sie das verstanden, Frau Kornrumpf?«

Frau Kornrumpf nickt, doch was sie verstanden hat, bereitet ihr große Sorgen. »Wie soll das gehen, Herr Doktor? Das Geschäft läuft nicht mehr so gut, seitdem Wertheim Bandagen in das Sortiment aufgenommen hat. Bei den Preisen am Moritzplatz kann ich nicht mithalten. Und überhaupt: Ich kann doch nicht den Laden für eine Woche zusperren. Unmöglich! Ach herrje, es ist ein Jammer. Wenn doch nur der Paul noch leben würde!«

»Aber, aber. Nur nicht den Kopf hängen lassen, Gnädigste. Es wird sich schon fügen.« Erich Mühe erhebt sich von seinem Stuhl und reicht Frau Kornrumpf das Rezept. »Stellen Sie sich vor«, sagt er, während er sie zur Tür begleitet, »in den nächsten Tagen schließe ich die Praxis, meine Frau und ich wollen ein paar Urlaubstage an der Ostsee verbringen. Ich dachte immer, dass das nicht gehe, dass ich doch nicht mal eben die Praxis zumachen könne. Doch glauben Sie mir – es ist ganz einfach.« Erich Mühe lächelt. Dann bittet er den Nächsten in das Behandlungszimmer.

Es ist Montag, der 13. Juni 1932. Bertha Kornrumpf war heute seine erste Patientin.

*

Jeden Morgen beginnt Erich Mühe um acht mit der Arbeit. So steht es auf dem Emailleschild an der Fassade des Hauses Oranienstraße 185: »Dr. med. Erich Mühe, Sprechstunde täglich von 8 bis 10 Uhr und 16 bis 18 Uhr, außer mittwochnachmittags«. Der Weg zu seiner Praxis ist für den Arzt denkbar kurz, denn die Behandlungsräume befinden sich in seiner Wohnung. Das gibt es oft in Berlin, wo herrschaftliche Wohnungen mitunter eine gesamte Etage einnehmen. Von den neun Zimmern, die Erich Mühe mietet, nutzt er drei beruflich und die verbleibenden fünf privat. Ein Zimmer hat er an eine Freundin seiner Frau untervermietet.

Die Wohnung der Mühes liegt im ersten Stock eines Hauses aus dem Jahre 1850. Die Fassaden der meisten Gebäude in der Oranienstraße sind mit spätklassizistischen Formen dezent dekoriert: hier ein Spitzgiebel und ein Ornament, dort ein Erker, eine Rosette oder eine Säule. Im Vergleich zu der Gegend rund um den Kurfürstendamm, wo der üppige Stuck wie Zuckerguss an den Häusern zu kleben scheint, wirkt die Architektur in dieser Nachbarschaft bescheiden.

Das Haus, in dem das Ehepaar wohnt, gehört dem Architekten Paul Renner, der dank seiner prachtvollen Villen zu Berlins bekanntesten Baumeistern zählt. Wer über das nötige Kleingeld verfügt, lässt sein Eigenheim von Renner errichten.

Paul Renner und sein Mieter Erich Mühe sind sich bislang noch nicht begegnet. Der Architekt kommt selten nach Kreuzberg, residiert er doch selbst im noblen Westend. Um die Vermietungsangelegenheiten kümmert sich ein Hausverwalter. Der hat alle Hände voll zu tun, denn neben den Eheleuten sind zweiunddreißig weitere Parteien in der Oranienstraße 185 gemeldet. Man vermutet kaum, dass sich hinter der unscheinbaren Toreinfahrt nacheinander vier Gewerbehöfe erstrecken. Die Buchdruckerei Fraundorf & Zehnpfundt hat dort ebenso ihre Werkstatt wie Tischlermeister Siebert oder Metallhändler Wiedemann. In den vergangenen zwei Jahren gab es als Folge der schlechten Konjunktur eine gewisse Fluktuation: Handwerksbetriebe gaben auf, andere zogen neu hinzu. Wirtschaftliche Probleme hat neuerdings auch die Gamaschenfabrik Angerer, Koch & Co. AG, die erst vor zwei Jahren ihren Firmensitz aus dem rheinischen Mettmann in einen der Hinterhöfe verlegt hat. Doch Gamaschen sind irgendwie aus der Mode gekommen, und die Geschäfte laufen schlecht. Wenn kein Wunder geschieht, wird man in Kürze ein Vergleichsverfahren eröffnen müssen.

Im Seitenflügel wohnen die Damen Klimpel und Schade, beide früh verwitwet und beide Erich Mühes Patientinnen. Frau Klimpel, die gerne in die Oper geht und besonders die Musikdramen Richard Wagners schätzt, hat einen kleinen Hund namens Wotan, der allerdings weniger an eine germanische Gottheit, sondern eher an eine Mischung aus einem Hund und einem Reh erinnert. Wotan ist spindeldürr und kompensiert diese körperliche Unzulänglichkeit mit unentwegtem Bellen.

Zu Mühes Patienten gehört auch der Kaufmann Cäsar Frahm, der im dritten Stock wohnt. Herr Frahm ist in seinen Dreißigern und stets sehr modisch gekleidet. Und er ist alleinstehend, was die beiden Damen merkwürdig finden. Trifft man sich im Treppenhaus oder im Hof, grüßen Frau Klimpel und Frau Schade ihren Nachbarn, doch hinter vorgehaltener Hand tratschen sie darüber, ob er vielleicht ein »175er« sei. Ihre juristischen Kenntnisse sind im Allgemeinen nicht sonderlich ausgeprägt, doch der Paragraf 175 des Reichsstrafgesetzbuchs, der die »widernatürliche Unzucht« zwischen Männern unter Strafe stellt, ist ihnen durchaus ein Begriff.

Wenn Herr Frahm zu Dr. Mühe in die Sprechstunde kommt, macht der Arzt immer kleine Späße. Welche Schlacht er zuletzt gewonnen habe, frotzelt er dann. Und ob er mit »dem anderen Cäsar« verwandt sei. Frahm lächelt verlegen. Doch von den Kontakten in der Praxis abgesehen, pflegt Erich Mühe keinen Umgang mit seinen Nachbarn. Gerade weil er ständig von Patienten umgeben ist, bedeutet ihm Geselligkeit nicht viel. Am liebsten ist er alleine – zum Leidwesen seiner Frau.

*

Während der Arzt an diesem Vormittag die Rachen seiner Patienten inspiziert, ihnen den Puls misst, sie abtastet und so manches Rezept ausstellt, sitzt Charlotte Mühe im Wohnzimmer und blättert in einer Illustrierten. Nur wenige Meter trennen sie von ihrem Gatten, doch in Wirklichkeit ist es ein ganzes Leben. Hier die Hinfälligen und Kranken, dort die Prominenten und Reichen. Zwar hilft sie gelegentlich in der Praxis, aber Erichs Beruf ist ihr im Grunde zuwider. Manchmal fragt sie sich, warum sie einen Arzt geheiratet hat. Ja, warum eigentlich? Sie hat keine Antwort. Ihr Leben dreht sich jedenfalls nicht um die Gebrechen und Leiden der anderen. Charlotte Mühe liebt das Schöne und Gesunde. Ganz besonders haben es ihr Schauspielerinnen angetan. So veröffentlicht die Boulevardzeitung Tempo gerade eine Porträtserie mit dem Titel »Ist das Ihr Film-Typ?«, die sie atemlos verschlingt. In die kurzen Artikel kann sie sich versenken wie in einen Roman. Da dreht sich alles um Berühmtheiten wie Gitta Alpár, Lilian Harvey, Marta Eggerth oder Charlotte Ander. Heute hat Camilla Horn ihren Auftritt. »Ihre Entdeckung klingt wie ein Filmmärchen«, beginnt der Text. »Es war einmal ein großer Regisseur namens Murnau, der suchte für seinen Faust-Film ein Gretchen.« Ein paar Zeilen genügen, und Charlotte Mühe träumt sich in eine andere Welt. Sie wäre für ihr Leben gern eine gefeierte Sängerin. Eine zweite Lilli Lehmann! Wie ihr Vorbild würde sie dann die großen Rollen singen: Gluck und Mozart, Bizet, Verdi und Wagner. Sie wäre zu Gast an allen bedeutenden Opernhäusern von New York bis Berlin, sie würde um die Welt reisen und in eleganten Hotels residieren. Man würde ihr nach jeder Aufführung Blumen auf die Bühne werfen und sie feiern. Und dann würden die Journale und Zeitschriften über sie berichten – über das wunderbare, aufregende und mondäne Leben der Charlotte Mühe. Zwar nimmt sie seit zwei Jahren sogar Unterricht, wobei sie eine schöne Stimme habe, wie ihr Lehrer sagt, doch einstweilen bleibt das alles wohl nur ein Traum. Ach, wenn sie doch nur jemand entdeckte!

*

Mittlerweile ist es zwölf Uhr, und Erich Mühe verlässt das Behandlungszimmer. Nach der Vormittagssprechstunde hat er noch einige Briefe und Berichte geschrieben, seine Abrechnungen erledigt und Telefonate geführt. Zeit für eine kurze Pause. Aus dem Wohnzimmer erklingt Musik, Charlotte nimmt ihre Gesangsstunde wie jeden Montag. Normalerweise findet der Unterricht in der Wohnung des Lehrers statt, doch wenn das aus irgendwelchen Gründen einmal nicht geht, trifft man sich in der Oranienstraße. Heute ist so ein Tag.

Auf dem Programm steht ein Lied von Johannes Brahms. »O liebliche Wangen, ihr macht mir Verlangen«, singt Charlotte Mühe, bis das Klavier nach ein paar Takten abbricht und eine Männerstimme, offensichtlich der Lehrer Hugo Rasch, verzückt ruft: »Wunderbar, meine Liebe! Aber immer schön auf die Wortenden achten. Es heißt Ver-lan-gen.« Dann geht es weiter.

Zu schauen, zu grüßen,

Zu rühren, zu küssen,

Ihr macht mir Verlangen,

O liebliche Wangen!

An dieser Stelle hebt sie ihre Stimme in höchste Höhen, was man auf der gesamten Etage hört. »Schnell weg«, murmelt Mühe und zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Dabei ist er kein Musikbanause, keineswegs, gelegentlich begleitet er seine Frau sogar in ein Konzert. Vor ein paar Monaten besuchten sie ein Konzert in der Philharmonie. Das Berliner Philharmonische Orchester wurde von dem berühmten Dirigenten Bruno Walter geleitet. Dieser Abend hat ihm gut gefallen. Nach dem Konzert gingen seine Frau und er zu Fuß von der Bernburger Straße, wo sich die Philharmonie befindet, durch die Köthener Straße zum Haus Vaterland. Eigentlich mag er dieses Etablissement mit den vielen Restaurants, Cafés und Bars nicht. Zu laut. Zu viele Menschen. Zu viele Berlin-Besucher. Das Haus Vaterland, sagt er immer, sei nur für die zahllosen Gäste der Stadt erfunden worden. Als Berliner, zu denen sich der im Anhaltinischen geborene Erich Mühe mittlerweile zählt, gehe man nicht ins Vaterland.

Mit einer Ausnahme: Genau in der Mitte des riesigen Gebäudes liegt unterhalb der Csarda-Bar und zwischen dem türkischen Café und dem Löwenbräu die kleine Bodega. Eine spanische Weinbar, in der ein guter Tropfen serviert wird. Dort kehrt er ab und zu ein, so auch an jenem Abend nach dem Konzert. Charlotte und er nahmen auf zwei Hockern Platz, als Tisch diente ein altes Weinfass. Erich Mühe war noch nie in Spanien, und doch hegt er eine heimliche Liebe für dieses Land. Irgendwann einmal will er nach Madrid oder, noch besser, nach Barcelona reisen. Ein jeder Mensch hat Träume.

Während seine Frau Charlotte also das deutsche Liedgut pflegt, nimmt Erich Mühe Reißaus. Er will dem Gesangslehrer nicht begegnen. Ihm fällt es schwer zu sagen, warum er Hugo Rasch nicht mag. Ist es der spöttische Gesichtsausdruck? Der einschmeichelnde Ton, in dem er mit seiner Frau redet? Oder Raschs politische Einstellung, die dieser wie eine Monstranz zur Schau trägt? Das Parteiabzeichen am Revers ist nicht zu übersehen. Vermutlich von allem etwas. Wenn ein Treffen unvermeidlich ist, setzt Mühe seiner Frau zuliebe ein Lächeln auf, doch im Grunde kann er Rasch nicht ausstehen.

Er macht sich auf den Weg zum Moritzplatz. Kommt ihm ein Bekannter oder ein Patient entgegen, zieht er seinen Hut und grüßt freundlich. Normalerweise braucht er für die kurze Strecke etwa zehn Minuten, doch heute dauert es länger. Als er vor dem Haus Oranienstraße 27 stehen bleibt und durch das Schaufenster in das altertümliche Ladenlokal schaut, erblickt er dort Bertha Kornrumpf bei der Arbeit. Er schüttelt den Kopf und bewegt seinen rechten Zeigefinger, als wollte er sagen: »Na, was sehe ich da? Sie gehören ins Bett!«

Ein paar Meter weiter, an der Kreuzung Oranien-/Ecke Adalbertstraße, steht ein Zeitungsjunge und preist die Schlagzeilen der aktuellen Blätter an. Mit spürbarer Anstrengung versucht er, hochdeutsch zu sprechen: »Die neue Reichsregierung kippt das SA-Verbot!« – »Hat Greta Garbo ihr ganzes Geld verloren?« – »Reichskanzler von Papen will SA wieder zulassen!« – »Sechs Berliner Schüler auf Segeljacht entflohen!« – »Selbstmord im Sacrower Forst!« – »Groener warnt vor der SA!«

Mühe bleibt abrupt stehen. »Was hast du gerade gesagt?«, fragt er den Jungen, der Knickerbocker und eine Schiebermütze trägt und dessen Gesicht mit Sommersprossen übersät ist.

»Wat meenense denn? Die SA oder die Jarbo? Ick hab ja mehr als eene Schlachzeile im Anjebot. Da müssense Ihnen schon jenauer ausdrücken.«

»Ich meine die Sache mit dem Sacrower Forst. Wo steht das?«

»Na, sajense dit doch jleich … dit findense hier drin.« Der Junge, höchstens zehn Jahre alt, reicht ihm eine Zeitung, die er sofort hastig durchblättert. Rasch entdeckt er den gesuchten Artikel: »Selbstmord eines Berliner Arztes«, steht da geschrieben. Im Sacrower Forst sei eine Leiche gefunden worden: »Die daraufhin alarmierte Polizei untersuchte den Körper und fand in den Taschen der Kleidung die Ausweispapiere, aus denen hervorging, dass es sich bei dem Toten um den 33-jährigen Arzt Dr. Karl Fustding aus Berlin handelte.«

»Wat issen? Sie sehn ja aus, als ob Se den Allmächtijen jesehen haben.« Geschäftstüchtig wie Zeitungsjungen zu sein pflegen, fügt der Knirps hinzu: »Kieken is nüscht. Koofen!«

Mühe nuschelt ein paar Worte. Als ob er mit sich selbst redete, murmelt er zweimal »Sacrower Forst«. Dann gibt Mühe dem Jungen einen Groschen und setzt seinen Weg fort.

*

Vor einem großen Geschäftshaus an der Kreuzung Oranienstraße/Ecke Oranienplatz stehen Passanten und betrachten die neueste Damenmode in den Schaufenstern des Kaufhauses C&A. Die Schaufensterpuppen aus Gips und mit modellierten Frisuren tragen wadenlange Röcke, Blusen mit niedrig angesetzten Puffärmeln und breit geschnittenen Schultern sowie kleine Velourhüte, die seitlich tief ins Gesicht gezogen sind. Die Taillen der meisten Modelle sind eng und sitzen hoch, wodurch der Oberkörper kurz und schmal erscheint. Einige Damen diskutieren lebhaft die Vor- und Nachteile der aktuellen Entwürfe.

»Was sagt man dazu?«, echauffiert sich eine Passantin. »Wer soll das denn tragen? Da muss man ja Mannequin sein, um da reinzupassen.«

Eine andere Frau lacht: »Reinpassen tue ich auch nicht. Und leisten kann ich mir das erst recht nicht.« Zu ihrem Mann gewandt, sagt sie: »Nicht wahr, Hermann … Muttern bleibt bei ihre Kittelschürze.«

In den Obergeschossen des Hauses befinden sich das Hotel Ahlbecker Hof sowie die Räumlichkeiten des Zentralverbands der Angestellten. Mühe wirft im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick auf das Treiben, dann überquert er den Oranienplatz.

Als er vor knapp vier Jahren von Schöneberg nach Kreuzberg zog, war die Umgestaltung des Oranienplatzes gerade abgeschlossen. Bis dahin hatte der Luisenstädtische Kanal den Platz in zwei Hälften geteilt. Da das Gewässer allerdings die meiste Zeit stand und nicht abfloss, was gerade in heißen Sommern mit großem Gestank verbunden war, beschloss man, den Kanal zuzuschütten. Die alte Oranienbrücke, die die beiden Platzhälften verbunden hatte, wurde abgetragen. Auch die vier mächtigen Kandelaber, die das Areal einst prägten, passten nicht mehr in die Zeit und mussten weichen.

Mühe geht die Oranienstraße etwa dreihundert Meter weiter und erreicht nun den Moritzplatz. Dort herrscht der übliche Trubel. Zahllose Passanten drängeln sich auf den Bürgersteigen und vor den Geschäften. Er kauft in der Tabakwarenhandlung Loeser & Wolff ein Päckchen Zigaretten und stattet dann Ernst Kobligk, dem Besitzer der Apotheke Zum Schwan, einen kurzen Besuch ab.

Neben der Apotheke steht das Kaufhaus Wertheim. 1913 errichtet, nimmt der mächtige Bau mit den siebenundzwanzig breiten Fensterachsen und den vier großen Eingangsportalen den gesamten südöstlichen Rand des Platzes ein. Bei Wertheim gibt es alles für den täglichen Bedarf. Im Souterrain werden Haushaltswaren und Porzellan angeboten, im Erdgeschoss Kurzwaren und – zum Leidweisen von Frau Kornrumpf – neuerdings auch Trikotagen. In den oberen Stockwerken findet man die aktuelle Damen- und Herrenmode und vieles andere mehr. Ein großer Lichthof verbindet alle Etagen miteinander.

Zehn Straßenbahnlinien überqueren den Moritzplatz im Minutentakt. Vor vier Jahren erhielt er zudem einen Anschluss an die Untergrundbahn. Eigentlich war der neue Halt auf der Strecke von Gesundbrunnen nach Neukölln am benachbarten Oranienplatz vorgesehen, doch merkwürdigerweise entschieden sich die Verkehrsplaner dann doch für den Moritzplatz, wodurch die Bahn allerdings eine scharfe Kurve fahren muss. Bis heute halten sich die Gerüchte, dass sich Firmeninhaber Georg Wertheim den Anschluss seines Hauses an das Verkehrsnetz fünf Millionen Mark kosten ließ. Mühe kennt das Gerede, es ist ihm gleichgültig. Im Gegensatz zu seiner Frau besucht er nur selten das Wertheim-Kaufhaus, und die Untergrundbahn nutzt er, nachdem er sich vor Kurzem ein Auto zugelegt hat, ohnehin nicht mehr.

*

Das Statistische Reichsamt in der Alexanderstraße weiß alles: wie hoch die Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Verwaltung sind, über wie viele Binnenschiffe das Reich verfügt und welche Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft erzielt werden. Es gliedert die deutschen Volksbüchereien nach Ländern, Gemeinden und Provinzen, berechnet den Personalstand der Behörden und gibt den Gebrechlichen und Invaliden ein statistisches Antlitz. Es zählt Obstbäume, Wohnungen, Rindviecher und Schafe, Eisenbahnzüge, Kraftwagen, Lichtspieltheater, Ehepaare und Kinder, unverheiratete Damen und alleinstehende Herren, Juden, Christen und Atheisten sowie Ausländer und Staatenlose. Für die Beamten des Statistischen Reichsamts besteht Deutschland nur aus Zahlen und Prozenten.

Eine Ziffer lautet: 49 971. Genauer gesagt: Im Deutschen Reich leben 49 971 Ärztinnen und Ärzte. Auf 10 000 Einwohner kommen 7,9 Mediziner. In Berlin ist die Versorgung noch besser: 6653 Ärzte kümmern sich um die Gesundheit in der Reichshauptstadt, das sind 16 pro 10 000 Bürger. Darüber hinaus sind 1222 Zahnärzte, 2386 Zahntechniker, 879 Hebammen sowie 1384 Heilgehilfen und Masseure verzeichnet. In Berlin gibt es 51 711 Krankenhausbetten, 494 Apotheken und 501 Tierärzte.

Dr. med. Erich Mühe ist einer von den 6653 Berliner Ärzten. Geboren am 17. Mai 1898 im anhaltinischen Wulfen, einem verschlafenen Nest auf halber Strecke zwischen Halle und Magdeburg, Vater Christoph Bahnhofsvorsteher, Mutter Luise Hausfrau. Abitur am Karlsgymnasium in Bernburg, Anfang 1917 Einberufung zum Heeresdienst nach Frankreich. Nach Kriegsende Studium der Medizin in München, Jena und Berlin. Dissertation über »Ein Fall von Angioma arteriale racemosum«, Zulassung als Arzt im Mai 1923. Die Praxis in der Oranienstraße betreibt er seit 1928; zuvor war er zwei Jahre in der Eisenacher Straße niedergelassen.

Er ist vierunddreißig Jahre alt, eins siebzig groß, schmächtig und hat dunkelblondes, in der Mitte gescheiteltes Haar; bartlos. Da er Schmisse im Gesicht hat, lässt das vermuten, dass er als Student Mitglied in einer schlagenden Verbindung war. Gegen seine Kurzsichtigkeit trägt er eine modische Brille mit schwarzer Fassung. Weiterhin besitzt er ein Auto, einen Hund und zwei Lebensversicherungen. Vor Kurzem hat er sein Postscheckkonto aufgelöst und sich mehrere Tausend Mark auszahlen lassen.

Geheiratet hat er im Juli 1924 in Magdeburg. Seine Frau Charlotte ist zwei Jahre jünger als er und stammt aus Berlin.

Ob Erich Mühe glücklich ist, weiß das Statistische Reichsamt nicht.

*

Erich Mühe betritt durch eine Drehtür das Restaurant Aschinger am Moritzplatz. Die Tür dreht sich so schnell, dass Mühe aufpassen muss, nicht eingeklemmt zu werden. Gilt das Restaurant Horcher in der Lutherstraße als das kulinarische Eldorado der Hautevolee, ist Aschinger die Adresse der Leute wie du und ich. Etwa 40 000 Gäste besuchen täglich die Aschinger-Lokale, zu denen Gaststätten – »Bierquellen« genannt –, Konditoreien, Restaurants sowie Straßenverkaufsstellen gehören. Bei Aschinger gibt es Hausmannskost zu günstigen Preisen, überdies erhält jeder Gast gratis einen Brotkorb. Mancher Student bestellt eine Tasse Kaffee oder ein Glas Bier und tut sich an den kostenlosen Brötchen gütlich.

Mühe schätzt die ungezwungene Atmosphäre und dass man einen schnellen Happen im Stehen essen kann, wenn die Zeit knapp ist. Charlotte kocht weder gern noch gut, so geht ihr Gatte mehrmals die Woche zu Aschinger.

»Was darf’s denn heute sein, Herr Doktor?«, begrüßt ihn der Ober.

Mühe studiert die Speisekarte: Berliner Bratwurst mit Rotkohl für 75 Pfennige? Gedämpfte Nieren »pikant« mit Kartoffelbrei für 90 Pfennige? Kalbskotelett mit Schwenkkartoffeln für 1,50 Mark? Oder doch lieber Lachs mit Remouladensauce?

»Gustav, jetzt besuche ich euch so oft, dass ich die Speisekarte eigentlich in- und auswendig kennen müsste. Doch heute frage ich mich, was das ›Spezial-Sahnegulasch‹ von einem ›normalen‹ Sahnegulasch unterscheidet.«

Gustav – Ende vierzig, untersetzte Figur, schütteres Haar – sieht in seinem schwarzen Anzug, dem blütenweißen Hemd und mit der Fliege aus, als käme er soeben von einer Beerdigung oder einer Konfirmation. »Das hat mich noch nie jemand gefragt«, stammelt er. »Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, wenn man Sahnegulasch mit dem Prädikat ›Spezial‹ versieht, muss das ja eine Berechtigung haben. Oder ist das nur ein Werbeetikett?«

Gustav schaut den Gast ungläubig an, als ob dieser ihn gerade gebeten hätte, etwas Unrechtes zu tun. »Bedaure, ich habe keinen blassen Schimmer, aber ich werde mich erkundigen«, antwortet der Kellner und verschwindet in der Küche. Nach kurzer Zeit kehrt er zurück. Ein Schluck Cognac bringe den besonderen Pfiff. Aber man solle das nicht an die große Glocke hängen, lasse der Koch ausrichten, die Konkurrenz schlafe ja nicht.

»Ich kann schweigen«, sagt Mühe und lacht, »das ist meine Berufskrankheit. Und was ist mit dem ›Spezial-Suppentopf‹?«

»Wie bitte?«

»Was ist der Unterschied zwischen einem ›Spezial-Suppentopf‹ und einem ganz normalen, geradezu gewöhnlichen Suppentopf?«

Das Spiel wiederholt sich.

»Koriander! Der Zusatz von Koriander macht aus jedem herkömmlichen Suppentopf eine Spezialität«, lautet die Botschaft aus der Küche. Der Kellner legt seinen rechten Zeigefinger auf den Mund.

»Ihr könnt euch auf mich verlassen«, flüstert Mühe.

Merkwürdig genug, bestellt er weder das »Spezial-Sahnegulasch« mit Spätzle noch den »Spezial-Suppentopf«. Er ordert Fisch mit Remouladensauce.

Dann holt er die Zeitung hervor, die er unterwegs gekauft hat, breitet sie vor sich aus und überfliegt die Schlagzeilen: »Hindenburg zieht um« – »Theaterdirektor Aufricht wegen Devisenvergehen festgenommen« – »Brüning spricht in Mainz« – »Fünf Todesopfer eines Familiendramas« – »Großfeuer im Lunapark« – »Nationalsozialistischer Überfall auf Passanten« – »Verbrecherjagd in der Potsdamer Straße«. Als Mühe in der Rubrik »Vermischtes« erneut auf den Artikel über den Selbstmord im Sacrower Forst stößt, hält er inne. Er starrt auf das Papier. Dann nimmt er die Zeitungsseite zwischen beide Hände, legt sie über die Tischkante, trennt den Artikel vorsichtig heraus und steckt ihn in die Innentasche seines Sakkos.

»Nichts passiert in der Welt«, sagt Mühe, als Gustav den Fisch serviert. Er faltet die Zeitung zusammen und legt sie beiseite. Nach dem Essen gibt er dem Kellner ein außergewöhnlich gutes Trinkgeld und verabschiedet sich per Handschlag. Beides hat er noch nie getan.

*

Dr. med. Erich Mühe ist ein wohlhabender Mann. Seine Arztpraxis läuft so gut, dass er im vergangenen Jahr ein Einkommen von 31 000 Mark zu versteuern hatte. Die Eheleute können es sich leisten, auf großem Fuß zu leben. Man beschäftigt ein Hausmädchen, das den Haushalt führt, die Einkäufe erledigt und die Praxis in Ordnung hält, sowie eine Wäschefrau. Das Personal wird stets pünktlich und in bar bezahlt. Vom Elend der Arbeitslosen, vom Schicksal der Hungerlöhner, vom tristen Dasein der Masse der Bevölkerung, der es zunehmend schlechter geht – von alledem wissen die Mühes nur aus den Zeitungen.

Dabei genügt ein Blick aus dem Wohnzimmerfenster. Mancher Nachbar in der Oranienstraße kann seine Miete nicht mehr zahlen und wird von der Polizei kurzerhand vor die Tür gesetzt. Kürzlich ging ein Mieterstreik durch die Presse – die Bewohner eines Hauses in der nahen Manteuffelstraße forderten lautstark: »Erst Essen – dann Miete!«

Deutschland ist tief gespalten. Bei den Landtagswahlen in Preußen, Hessen, Oldenburg und Anhalt ging Adolf Hitlers NSDAP zuletzt als Siegerpartei hervor – in Anhalt wurde der nationalsozialistische Politiker Alfred Freyberg sogar zum Ministerpräsidenten gewählt. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse ließ der fünfundachtzigjährige Reichspräsident Paul von Hindenburg Reichskanzler Heinrich Brüning von der Zentrumspartei vor gut zwei Wochen fallen und beauftragte Franz von Papen mit der Regierungsbildung. Die liberalen Zeitungen machen sich seither über Papens erzkonservatives »Kabinett der Barone« lustig, das zudem ohne jeden parlamentarischen Rückhalt agiert. Die Sozialdemokraten, die Kommunisten und das Zentrum lehnen seine Regierung strikt ab, nur die NSDAP verspricht im Gegenzug für die Aufhebung des Verbots der SA und SS eine Tolerierung.

Die Mühes leben in einer Gegend, die von Kommunisten und Nationalsozialisten hart umkämpft wird. Während die Roten einen Stützpunkt in der Naunynstraße haben, treffen sich die Hitler-Anhänger im Restaurant Heyms in der Skalitzer Straße oder im Wiener Garten in der Wiener Straße. Immer wieder kommt es zu Straßenschlachten, bei denen nicht selten Blut fließt.

Im Februar 1932 waren rund sechs Millionen Menschen arbeitslos. Und Erich Mühe erfüllte sich einen besonderen Wunsch. Er stieg in ein Taxi und fuhr zur Belle-Alliance-Straße, die sich, wie Mühes Wohnung, in Kreuzberg befindet. Der Wagen hielt vor einem Gebäude, das wie eine Raubritterburg aussieht. Im vorderen Teil ist das Finanzamt beheimatet, im hinteren Teil der weitläufigen Anlage ein Gewerbehof mit der Berliner Filiale der Adlerwerke. Der Händler konnte zunächst nicht glauben, dass Mühe die Summe von gut 7000 Mark für den Kauf einer Limousine der Marke Adler ohne Weiteres bezahlen wollte. Man habe günstige Finanzierungsangebote, man könne in seinem Fall über einen Ratenkredit sprechen, als Arzt sei er ja ein solventer Kunde. Doch davon wollte Mühe nichts wissen und beglich die Rechnung in bar. Seither ist die rotbraune Limousine mit dem Kennzeichen IA 12458, den schwarzen Kotflügeln und den dunklen Scheibenrädern sein ganzer Stolz. Mit ihr fährt der Arzt zu Hausbesuchen und unternimmt Ausflüge in die Umgebung von Berlin.

Doch der Wohlstand hat seinen Preis. In der letzten Zeit wirkte Erich Mühe öfter überarbeitet und erschöpft. Seiner Patientin Bertha Kornrumpf hat er erzählt, dass er bald einen Erholungsurlaub an der Ostsee antreten wolle. Auch Charlotte Mühe findet, dass ihr Erich zu viel arbeitet. Fast jeden Abend macht ihr Mann noch Hausbesuche und kommt selten vor acht nach Hause. Klagt sie über sein langes Fortbleiben, reagiert er gereizt. Woher denn das Geld für den Gesangsunterricht stamme, fuhr Erich sie einmal an. Ein anderes Mal fragte er, ob sie eigentlich eine Vorstellung habe, wie teuer so ein sorgenfreies Leben sei. Und überhaupt: seine Patienten brauchten ihn.

Anstatt auf die Heimkehr ihres Mannes zu warten, würde Charlotte Mühe lieber häufiger ausgehen. So steht in der Staatsoper Unter den Linden heute Abend beispielsweise Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Così fan tutte auf dem Programm. Die musikalische Leitung hat kein Geringerer als Otto Klemperer, der seit seiner Berufung nach Berlin vor fünf Jahren regelmäßig mit spektakulären Aufführungen von sich reden macht. Doch der Dirigent hat auch Gegner. Für Charlottes Gesangslehrer Hugo Rasch ist Klemperer ein gefährlicher »Volksfeind«, der sich vorgenommen habe, die deutsche Kultur zu zerstören. »Kulturbolschewismus« lautet das Schlagwort, das momentan in der Musik, Malerei und Literatur Hochkonjunktur hat. Kulturbolschewistisch sei alles, was einem missfalle, lästerte der Schriftsteller Carl von Ossietzky im vergangenen Jahr: »Wenn der Kapellmeister Klemperer die Tempi anders nimmt als der Kollege Furtwängler, wenn ein Maler in eine Abendröte einen Farbton bringt, den man in Hinterpommern selbst am hellen Tag nicht wahrnehmen kann, wenn man für Geburtenregelung ist, wenn man ein Haus mit flachem Dach baut, so bedeutet das ebenso Kulturbolschewismus wie die Darstellung eines Kaiserschnitts im Film.«

In der Städtischen Oper an der Bismarckstraße, dem anderen großen Berliner Musiktheater, wird Giacomo Puccinis La Bohème gegeben. »Puccini!«, seufzt Charlotte Mühe, als sie den Veranstaltungshinweis in der B.Z. am Mittag entdeckt. Sie hat eine Schwäche für romantische Liebesgeschichten und für leidenschaftliche Menschen, die sich einander hingeben. Und so rührt sie das Schicksal der jungen Mimì, die in den Armen ihres Geliebten Rodolfo stirbt, jedes Mal zu Tränen.

Sollte ihr allerdings der Sinn nach leichter Muse stehen, könnte Frau Mühe die Scala besuchen. In Berlins berühmtem Varieté-Theater in der Lutherstraße beginnt um 20:30 Uhr Willy Rosens neue Schlager-Revue. Die Konkurrenz vom Wintergarten schläft nicht. Der Amüsiertempel am Bahnhof Friedrichstraße wurde erst vor wenigen Jahren grundlegend umgebaut und hat nun Platz für 3000 Besucher. Direktor Ludwig Schuch muss schon etwas Besonderes aufbieten, um die Ränge zu füllen. Doch Schuch besitzt einen guten Riecher und setzt auf ein gemischtes Programm aus Artistik und Komik. Etwas später am Abend wird der beliebte Kabarettist Paul Graetz erwartet.

Im Kino läuft seit Kurzem die Komödie Frau Lehmanns Töchter. Die Portiersfrau Ottilie Lehmann will ihre drei Töchter endlich an den Mann bringen, was zu allerlei komischen Verwicklungen führt. Der Film ist harmlos, entpuppt sich aber vielleicht gerade deshalb als Kassenschlager. Vor dem Primus-Palast an der Potsdamer Straße, nicht weit vom Potsdamer Platz entfernt, stehen die Leute mehrfach täglich Schlange. Die Spätvorstellung beginnt um 21:15 Uhr. Charlotte Mühe will ihren Mann beim Abendessen fragen, ob er sie heute ins Kino begleitet.

*

Mittlerweile ist es kurz nach sechs, und Dr. Mühe hat die Nachmittagssprechstunde beendet. Gertrud Zillich, das Hausmädchen, räumt die Praxis auf. Gertrud ist Anfang zwanzig, schlank und trägt brünette Haare, die zu einem Knoten geflochten sind. Auf der rechten Schläfe hat sie einen Schönheitsfehler in Form eines Leberflecks. Gertruds Mutter sagt immer, der Herrgott habe sie dort gezeichnet. Doch von dem Fleck abgesehen, ist die junge Frau auffallend hübsch. Oder vielleicht gerade deshalb? Einmal hat sie ein wildfremder Mann auf der Straße angesprochen und gefragt, ob sie Mannequin sei. Da musste Gertrud verlegen kichern. Nicht so ihre Mutter. »Schuster, bleib bei deinen Leisten«, sagte sie, als sie davon erfuhr. »Der Herrgott hat dich für etwas anderes vorgesehen!« Und so findet sich Gertrud statt auf dem schicken Ku’damm in einer Kreuzberger Arztpraxis wieder, sterilisiert die medizinischen Bestecke und bereitet alles für den nächsten Tag vor, wenn um kurz vor acht die ersten Patienten erwartet werden.

Mühe sitzt am Schreibtisch und ist in Abrechnungen vertieft, als plötzlich das Telefon klingelt. Gertrud will den Anruf entgegennehmen, doch er geht dazwischen. »Das ist für mich«, zischt er und gibt ihr einen Wink, den Gertrud so deutet, sie solle den Raum verlassen. Vielleicht hat ihr Chef es nicht so gemeint, doch Gertrud will keinen Ärger und folgt der vermeintlichen Aufforderung. Während sie die Tür hinter sich schließt, hört sie, dass der Doktor plötzlich sehr aufgebracht ist. Noch auf dem Flur ist sein Schimpfen zu vernehmen: wie er sich das vorstelle und ob er wisse, in welche Lage ihn das bringe. Mehrfach ruft Mühe »später!« in das Telefon. Mit wem der Doktor spricht, bleibt für Gertrud unklar.

In der Küche trifft Gertrud auf Charlotte Mühe. Gertrud mag die Frau ihres Arbeitgebers nicht besonders. Frau Mühe neigt nämlich dazu, ihre Hausangestellten von oben herab zu behandeln. Fast nie fragt sie Gertrud mal was Persönliches. Wie es ihr gehe und ob sie einen Freund habe. Stattdessen besteht sie darauf, mit »gnädige Frau« oder »Frau Doktor« angeredet zu werden.

»Wo ist mein Mann?«, will Frau Mühe wissen.

»Der Herr Doktor ist im Behandlungszimmer und telefoniert, gnädige Frau.«

»Frag ihn, wann er mit seiner Arbeit fertig ist und das Abendessen wünscht.«

»Gewiss, gnädige Frau.«

Gertrud verlässt die Küche und geht zurück in den vorderen Teil der Wohnung, wo sich die Praxisräume befinden. Erich Mühe hat mittlerweile das Telefongespräch beendet und packt hastig seinen Arztkoffer.

»Herr Doktor, die gnädige Frau möchte wissen, wann Sie das Abendbrot wünschen.«