Cosimas Kinder - Oliver Hilmes - E-Book

Cosimas Kinder E-Book

Oliver Hilmes

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Beschreibung

Ganz große Oper: Die Geschichte der Familie Wagner

Oliver Hilmes entschlüsselt den Wagner-Kosmos, indem er die Nachkommen der schillernden Komponisten-Witwe porträtiert und ihren Kampf um die Macht auf dem Grünen Hügel in Bayreuth beschreibt. Das aufregende Epos einer deutschen Familie und ihres leidenschaftlichen Ringens um den Erhalt einer Dynastie, die uns bis heute beschäftigt.

Eine Mutter, zwei Väter und fünf Kinder – die Familie Richard und Cosima Wagners ist ein Kosmos, rätselhaft und sagenumwoben. Ähnlich wie die Kinder Thomas Manns trugen die Sprösslinge dieses faszinierenden Paars schwer an der Last ihrer Herkunft. Selbstverleugnung wurde zum Schicksal von Daniela, Blandine, Isolde, Eva und Siegfried – von Cosimas Kindern: Ihre Aufgabe war es, Richard Wagners »Werk« als Inbegriff »deutscher Kultur« zu pflegen und darüber zu wachen.

Da es dabei auch um viel Geld ging, schreckte der Clan nicht vor der Verstoßung eigener Familienangehöriger zurück, wenn die Vorherrschaft auf dem Grünen Hügel in Gefahr schien. Man zwang sogar den als Thronfolger vorgesehenen einzigen (homosexuellen) Sohn Richard Wagners, Siegfried, in eine Ehe – mit jener Winifred, die als enge Vertraute und wichtige Unterstützerin Adolf Hitlers in die Geschichtsbücher eingehen sollte.

Fesselnd erzählt Oliver Hilmes in seinem Buch anhand neuer Quellen diesen spannenden Stoff aus Kunst und Weltanschauung, aus Politik und eigennütziger Geschäftigkeit. Er spürt den seelischen Konflikten und dem Größenwahn von Cosimas Kindern nach und liefert eine faszinierende Familiensaga aus Triumph und Tragödie, Genie und Verfall.

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Seitenzahl: 480

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Oliver Hilmes

Cosimas Kinder

Triumph und Tragödieder Wagner-Dynastie

Siedler

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Copyright © 2009 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Lektorat: Hermann Gieselbusch, Wentorf bei Hamburg

Bildredaktion und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Reproduktionen: Mega-Satz-Service, Berlin

Prolog

Eine Dynastie ist eine Herrscherfamilie, der es über mehrere Generationen hinweg gelungen ist, höchste Ämter zu besetzen. Es gibt die klassischen politischen Dynastien, denkt man etwa an die Hohenzollern oder die Habsburger, Wirtschaftsdynastien wie die Krupps oder die Quandts und natürlich auch kriminelle Dynastien. Die Grenzen sollen in der Vergangenheit gelegentlich fließend gewesen sein. Darüber hinaus machten im Laufe der Jahrhunderte auch einige wenige Künstlerdynastien von sich reden. Johann Sebastian Bachs kinderreiche Sippe mag man dazu zählen, ebenso die Familien der Brüder Heinrich und Thomas Mann sowie die Wagners aus Bayreuth.

Richard Wagner rief mit den Bayreuther Festspielen ein Familienunternehmen ins Leben, das einzig dem Zweck dient, seine Opern aufzuführen. Darin steckt etwas Geniales wie auch etwas Größenwahnsinniges. Im Gründungsjahr 1876 kam der Ring des Nibelungen auf die Bühne, sechs Jahre später erfolgte die Uraufführung des Spätwerks Parsifal. Als der Komponist im Februar 1883 starb, stand der Betrieb vor dem Aus. Nun griff die Witwe Cosima Wagner ein, sie übernahm die Leitung. Im Laufe der Jahre machten sie und ihre Kinder aus dem Bayreuther Experiment – mehr ist es zu Wagners Lebzeiten nicht gewesen – eine Institution. Das Festspielhaus wurde zu einer anerkannten künstlerischen Einrichtung, und der »Grüne Hügel« entwickelte sich zu einem gesellschaftlichen Tummelplatz. Damals wie heute lassen sich die Schönen und Reichen, Stars und Sternchen sowie der internationale Jetset gerne in der oberfränkischen Provinz blicken. Sehen und gesehen werden. All das funktioniert bis in die Gegenwart erstaunlich gut. Auch wenn die Belange des jährlichen Festivals längst von einer »Richard-Wagner-Stiftung« geregelt werden, hat die Familie nach wie vor ein gewichtiges Wort mitzureden. Dies betrifft insbesondere die Leitung des Unternehmens. Man muss sich einmal die dynastischen Dimensionen vor Augen führen: Der im vergangenen Jahr zurückgetretene Festspielleiter Wolfgang Wagner ist der Enkel eines 1813 geborenen und 1883 verstorbenen Mannes. Im Sommer 2009 treten die 1945 geborene Eva Wagner-Pasquier und die 1978 geborene Katharina Wagner die Nachfolge ihres 90-jährigen Vaters an. Wenn im Jahre 2013 Richard Wagners 200. Geburtstag gefeiert werden wird, werden mit dessen Urenkelinnen immer noch zwei direkte Familienmitglieder in Bayreuth das Sagen haben.

Eine derartige Thronfolge ist einzigartig und konnte nur durch die Ausbildung eines »dynastischen Prinzips« erreicht werden. Abstrakt formuliert: Der aktuelle Machthaber bestimmt frei und unabhängig innerhalb der eigenen Sippe seinen Nachfolger. So übernahm Siegfried die Festspielleitung von seiner Mutter Cosima, und so trat auch Winifred Wagner 1930 die Nachfolge ihres Mannes Siegfried an. Dass wiederum Winifred Jahre später das Zepter in die Hände ihrer Söhne Wieland und Wolfgang legte, ist bekannt. Ein Erfolgsrezept? Ja und nein. Einerseits wurden so der große Erfolg und auch der elitäre Reiz des Familienunternehmens begründet. Andererseits gab es zahlreiche Clanmitglieder, die schlicht untergingen. Ob Isolde und Franz Beidler, Gilbert Gravina, Friedelind oder auch Nike Wagner – sie alle fühlten sich berufen und waren nicht auserwählt. Wer die Machtfrage stellte, wurde ein Opfer des dynastischen Prinzips.

Die Gründung der Wagner-Dynastie ist die Geschichte von Cosimas Kindern. Es geht um das aufregende Epos von Triumph und Tragödie, Genie und Verfall, Kunst und Ideologie sowie Politik und eigennütziger Geschäftigkeit. Frau Wagner hatte aus erster Ehe mit dem Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow zwei Töchter – Daniela und Blandine. Von Richard Wagner bekam sie drei weitere Kinder – Isolde, Eva und Siegfried. Richard, Cosima und die fünf Kinder bildeten die Keimzelle jener »Patchworkdynastie«. Die Familie war international vernetzt, man könnte von einer europäischen Dynastie sprechen: Cosima wuchs in Paris auf, ihre Tochter Blandine heiratete einen italienischen Grafen, Isolde ehelichte einen Musiker aus der Schweiz, Eva entschied sich für einen Schriftsteller mit halb englischer, halb französischer Herkunft, und der einzige Sohn Siegfried nahm schließlich ein englisches Waisenkind zur Frau. Bis heute gibt es eine italienische, eine französische sowie eine kleine eidgenössische Linie. Dabei erscheinen Cosimas Kinder trotz aller verwandtschaftlichen Internationalität mitunter erschreckend provinziell. Zwar wurden sie mehrsprachig erzogen und beherrschten das Französische und Englische ebenso gut wie ihre deutsche Muttersprache, sie bereisten seit frühester Kindheit halb Europa, sie stiegen stets in mondänen Hotels ab, sie verkehrten mit Künstlern aus aller Herren Länder – und dennoch wehte der Hauch der großen weiten Welt allenfalls als laues Lüftchen durch diese Familie. Warum? Das Schlüsselwort lautet: Selbstverleugnung.

Die Nachkommen der Cosima Wagner trugen schwer an der Last ihrer Herkunft. Anders als Thomas Manns Kindern Klaus, Erika und Golo gelang es den Wagners nicht, sich »einen Vornamen zu machen«. Daniela und Blandine sowie Isolde, Eva und Siegfried lebten nach Richard Wagners Tod in einem »von Weihrauch geschwängerten Frauenstift«, wie der Journalist Maximilian Harden ätzte, in einer Atmosphäre, in der es erheblicher Anstrengungen bedurfte, eigene Lebensentwürfe zu definieren. Denn Cosima hatte ihren toten Mann zum übermächtigen Gott erhoben, der nun auf seiner Familie lastete. Die einst so lebendige Künstlerresidenz Villa Wahnfried wurde zur Krypta eines bizarren Wagner-Kults, die Festspiele gerieten zur pseudoreligiösen Lebensaufgabe. Von den Verpflichtungen des Erbes bis zur Selbstverleugnung war nur ein kurzer Schritt. Die von den Kindern betriebene Wagner-Vergötterung erscheint heute bizarr, um nicht zu sagen: verrückt. Aber auch die Kleidung, die Sprache, die Art des Sichausdrückens, des Sichgebens, das Pathos – alles wirkt wie aus einer anderen Zeit. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Wagners im Wortsinn aus einem anderen Jahrhundert stammten. Es war der Stil des 19. Jahrhunderts, der sie geprägt hatte und der uns heute oftmals so fremd erscheint. Cosimas Kinder waren zweifellos keine Heiligen, ja, sie sind uns möglicherweise nicht immer sympathisch. Doch muss man bedenken, mit welch schwerer Hypothek die fünf ihr Leben meistern mussten. Es war wohl nicht immer leicht, so exzentrische Persönlichkeiten wie Franz Liszt, Marie d'Agoult, Hans von Bülow sowie Richard und Cosima Wagner zum engsten Verwandtenkreis zählen zu dürfen.

Wie im Fall eines jeden wirtschaftlich arbeitenden Unternehmens ging es auch bei der Firma Wagner um Geld, Macht und Einfluss. Diese goldglänzende Seite der Medaille zeigte man aber nur ungern der Öffentlichkeit. Man verbrämte das Diesseitige des Bayreuther Betriebs lieber mit patriotischen Appellen an das »deutsche Volk« – und meinte letztlich doch das eigene Portemonnaie. Bereits der Seniorchef Richard Wagner pflegte enge wie einträgliche Beziehungen zu König Ludwig II. von Bayern, wodurch die Festspiele erst möglich wurden. In späteren Jahren suchte Cosima die finanzielle Nähe zu den Hohenzollern. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, hätten die Wagners nicht auch politisch mitgemischt. Cosimas Kinder hatten einen wesentlichen Anteil daran, dass Richard Wagners Werk zum Inbegriff »deutscher Kultur« und zu einer Weltanschauung avancieren konnte. Prominente Mitglieder des Clans engagierten sich vor dem Ersten Weltkrieg in völkisch-nationalistischen Vereinen wie dem »Werdandi-Bund«, man trat 1917 der ultrarechten »Deutschen Vaterlandspartei« bei und öffnete sich 1923 freiwillig und ohne Not einem dahergelaufenen Österreicher namens Adolf Hitler. Die Geschichte vom Aufstieg Hitlers und der NSDAP ist auch die Geschichte vom Sündenfall der Wagner-Dynastie, vom moralischen Niedergang einer deutschen Familie.

Die Literatur über Richard Wagner ist nahezu unüberschaubar. Allein der Katalog der Berliner Staatsbibliothek verzeichnet über 540 Titel, die nur dem berühmten Komponisten gewidmet sind. Zur totalen Reizüberflutung gerät der Blick ins Internet. Die Stichworte »Richard Wagner Bayreuth« liefern Anfang April 2009 bei Google 344 000 Treffer, sucht man nach »Richard Wagner« und »Operas« findet man sogar 1 660 000 Ergebnisse. Die Wortfolge »Richard Wagner Familie« bringt es immerhin auf 162 000 Einträge – Tendenz steigend. Wagner und die Seinen sind ein kleiner Kosmos für sich. In jenem Wagner-Universum erblicken wir in Cosima und Richard zwei Fixsterne, die scheinbar unverrückbar am Himmel stehen, fünf kleinere Sterne (die Kinder) und – um bei dem Bild zu bleiben – eine ganze Reihe von eingeheirateten Familienmitgliedern, die als Trabanten und Satelliten vorbeiziehen. Was bis heute fehlt, ist so etwas wie eine »Sternkarte« - ein biographisches Verzeichnis, das die Familienmitglieder in das richtige Verhältnis zueinander setzt. Diese Lücke will das Buch Cosimas Kinder schließen. Es stellt die logische Fortsetzung meiner Cosima-Wagner-Biographie Herrin des Hügels dar, ohne deren Lektüre vorauszusetzen. Anders als bei der Mutter schien eine streng chronologische Darstellung »von der Wiege bis zur Bahre« bei den fünf Kindern nicht sinnvoll. Will man sich nicht im ereignisgeschichtlichen Dickicht verheddern, ist eine Konzentration auf die zentralen dynastischen Lebensfragen ratsam. Welchen Beitrag leisteten die fünf zum Aufstieg der Dynastie? Wie war das Verhältnis der Geschwister zueinander? Warum ließ der Clan sich so eng mit Adolf Hitler und den Nazis ein? Welche Rolle spielte dabei Cosimas Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain? Es ist mir aber auch wichtig, den bislang kaum bekannten Mitgliedern der Familie Wagner ein Gesicht zu geben. Wer war Franz Beidler? Und warum endete dessen Ehe mit Wagners Lieblingstochter Isolde so tragisch wie folgenschwer? Hier gibt es viel zu entdecken.

»The Making of …« nennt man im Englischen das, was die deutsche Sprache etwas spröde einen Arbeitsbericht nennt. Darin geht es um die Hochs und Tiefs, die vielen schönen und weniger schönen Erlebnisse, die sich im Verlauf der Beschäftigung mit einem Thema einstellen. Manches ist sogar amüsant und kurios. Bei meinen Vorarbeiten zur Biographie Alma Mahler-Werfels (Witwe im Wahn) lernte ich beispielsweise eine amerikanische Archivarin kennen, die sich tagein tagaus mit Almas schriftlichem Nachlass beschäftigt – und kein Wort Deutsch versteht. Auch im Fall der Kinder Cosima Wagners konnte ich merkwürdige Erfahrungen machen. Da ist beispielsweise die Geschichte des bereits erwähnten Franz Beidler. Ohne zu viel verraten zu wollen: Isoldes Gatte war ein Hallodri mit einer Vorliebe für außereheliche Affären samt unehelichen Kindern. Mit einer Berliner Opernsängerin zeugte er eine Tochter namens Eva, die Jahre später den Sänger Ernst Busch heiraten sollte. Und während Isolde eine schwere Tuberkuloseerkrankung in Davos kurierte, entdeckte Beidler die Reize seiner Hausangestellten Walburga Rass. Aus dieser Affäre gingen zwei weitere Kinder hervor: im September 1915 der Sohn Franz Walther und im Mai 1917 die Tochter Elsa Hildegard. Entsprechend verwirrend ist die Geschichte seines Nachlasses. Dass dieser in Teilen überhaupt noch existiert, war für mich eine Sensation. Nach mehrmonatigen Recherchen gelang es mir, die Erbin der Elsa Hildegard Beidler ausfindig zu machen. Diese Dame stellte mir freundlicherweise die Sammlung ihrer Schwiegermutter zur Verfügung. In den Kuverts und Schachteln fand ich manche Preziosen: Franz Beidlers Reisepass, Konzertprogramme, unbekannte Fotografien und anderes mehr. In einem unscheinbaren Schnellhefter hatte Elsa Hildegard ihren Schriftwechsel mit einem kanadischen »Forscher« abgelegt – nennen wir ihn Herrn W. Der erste Brief datiert vom Dezember 1992, der letzte vom November 1996; Frau Elsa starb einige Monate später im Oktober 1997. Herr W. behauptet in seinen Episteln, ein Buch über die Frauen der Wagner-Familie schreiben zu wollen. Ein lohnenswertes Unterfangen, dachte wohl Elsa, die ihrem Brieffreund daraufhin Dokumente überließ – darunter Franz Beidlers Tagebücher sowie die Korrespondenz der Eheleute Beidler. Als Elsa aber danach monatelang nichts von W. hörte, erkundigte sie sich nach den Gründen für sein Schweigen. Die Antwort entbehrt nicht einer gewissen Komik: »Ich schreibe ständig (am Buch) und es ist mir dann schwer Briefe zu schreiben. Ich muss immer ein Stapel von fünf zusammen haben, die nach Europa müssen, dann bekomme ich eine Preisbegünstigung bei der Post. Nur ich habe nie die Zeit 5 Briefe auf einmal nach Europa zu schreiben. Heute, hoffe ich, schaffe ich das.« Elsa erfuhr in jener Mitteilung vom Februar 1995 auch Details über W.s ungewöhnliche Arbeitsweise: »Ich habe immer gut in der U-Bahn gearbeitet. Als ich in Wien lebte, kaufte ich mir eine Tageskarte und ging stundenlang in der U-Bahn mit meiner Arbeit. In Luxembourg spazierte ich stundenlang damit durch die Landschaft mit einer Art Bauchladen.« Die Monate vergingen. Im November 1996 hakte Elsa erneut nach: »Ich wüsste so gerne, ob es Ihnen hoffentlich gut geht und ob der erste Band Ihres Werks schon erschienen ist und ob ich ein Exemplar bekommen kann – Sie wissen, ich lese auch in Englisch.«

Unnötig zu betonen: Herr W. hat bis heute weder einen ersten noch einen zweiten Band geschweige denn irgendetwas über die Wagner-Frauen veröffentlicht. Ist Elsa einem Hochstapler aufgesessen? In der Kladde befindet sich auch ein Foto des Herrn W. Der freundlich lächelnde Mann schwer bestimmbaren Alters gleicht mit Strohhut und Rucksack eher einem Wanderprediger denn einem Schwindler. Aber wer weiß?

Ich machte mich nun auf die Suche nach Herrn W., hoffend, dass er mir Kopien der seinerzeit von Elsa ausgehändigten Dokumente überlassen würde. Ein Blick in die kanadischen Telefonbücher führte zu keinem Ergebnis. Die Adresse, unter der er in den 1990er Jahren zu erreichen war, stimmte nicht mehr. Dann erfuhr ich über einige Umwege, dass Herr W. seinen Namen geändert habe; er führe nun einen wohlklingenden Doppelnamen. Doch auch diese Spur führte nicht weiter. Ich wandte mich an einen bekannten kanadischen Publizisten, der W. in der Danksagung eines Buches erwähnte. Keine Antwort. In meiner Ratlosigkeit durchforstete ich das Internet und tippte alle möglichen Schreibweisen seiner Namen ein. Aussichtslos. Ein Phantom? Je länger mich die leidige Angelegenheit beschäftigte, desto trauriger stimmte mich die schwere menschliche Enttäuschung, die Herr W. seiner Brieffreundin bereitet haben muss. Der Kanadier ist jedenfalls wie vom Erdboden verschluckt; von den Dokumenten fehlt jede Spur. Musste ich diese Quelle schweren Herzens abschreiben, wurde ich an anderen Stellen reichlich fündig. In der Berliner Staatsbibliothek konnte ich etwa den umfangreichen Nachlass Hans von Bülows und seiner zweiten Frau Marie auswerten. Wichtige Briefe aus dem Besitz von Cosimas Töchtern Blandine Gravina und Isolde Beidler sind in der Bayerischen Staatsbibliothek in München überliefert. Der Nachlass des Hausarztes der Familie Wagner, Ernst Schweninger, wird im Bundesarchiv Berlin aufbewahrt. Dort kamen Papiere ans Tageslicht, mit deren Hilfe die Entwicklung des großen Familienzwistes rund um die so genannte »Beidler-Affäre« detailliert rekonstruiert werden kann. Den mit Abstand umfangreichsten Quellenbestand konnte ich in Bayreuth ausheben. Im dortigen Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung werden die schriftlichen Hinterlassenschaften der Familie Wagner aufbewahrt. Neben vielen tausend Briefen, Manuskripten, Notizen und Fotografien birgt die Sammlung auch die wichtigen Nachlässe von Cosima Wagners Schwiegersöhnen Henry Thode und Houston Stewart Chamberlain. Hier fühlt man sich als Biograph im übertragenden Sinne wie ein Ölprinz in der texanischen Wüste: Man stochert im Sand, und schon sprudeln die Quellen.

Diese Trouvaillen erzählen die Geschichte eines streitbaren und umstrittenen Clans. Dabei gehört es zu den Besonderheiten der Wagner-Dynastie, dass selbst intime Details des Familienlebens auf die Bühne der großen Öffentlichkeit gezogen wurden. So war es zu Richard Wagners Lebzeiten, und so ist es bis heute der Fall. Cosima von Bülows Ehebruch, die spektakuläre »Beidler-Affäre«, Wolfgang Wagners Zerwürfnis mit seiner Tochter Eva und deren spätere Versöhnung, Nike Wagners Angriffe auf ihren Onkel Wolfgang und ihre Cousine Katharina – all das fand im Scheinwerferlicht eines sensationshungrigen Publikums statt. Die Wagners haben zweifellos ein großes Gespür für Theatralik und dramatische Inszenierungen. Selbst glühende Verehrer der Musik Richard Wagners sehen sich angesichts jener spannenden Familiensaga an populäre Seifenopern des amerikanischen Fernsehens erinnert. »Dynasty« hieß ein Straßenfeger, der auch Millionen Deutsche mit dem »Denver-Clan« zittern ließ. Eine andere Endlosserie flimmerte im Juni 1981 erstmals über deutsche Mattscheiben: »Dallas«. In beiden Erzählungen geht es um viel Geld, Macht, Intrigen, Liebe, Leidenschaft, Sex und Öl. Ersetzt man das schwarze Gold durch die hohe Kunst, nähern wir uns den Wagners. Cosima Wagner als »Miss Ellie« oder Houston Stewart Chamberlain als »J.R. Ewing«, als Larry Hagman Oberfrankens? Vielleicht wird die Geschichte des »Bayreuth-Clans« ja einmal verfilmt – es gäbe jedenfalls genug zu erzählen. Aber lesen Sie selbst.

Oliver Hilmes

Berlin, im April 2009

Fünf Kinder, eine Mutter und zwei Väter

Missverständnisse

Die Situation konnte delikater kaum sein. Eine junge Frau heiratet den Lieblingsschüler ihres Vaters. Sie führt einen großen und geselligen Haushalt, es mangelt an nichts. Im Laufe der Jahre bekommt sie zwei Töchter – doch die Ehe ist unglücklich. Auf einer Reise lernt sie den besten Freund ihres Mannes kennen. Die beiden verlieben sich ineinander und beginnen eine heimliche Affäre. Der betrogene Gatte ist arglos, doch als die junge Frau von ihrem Liebhaber schwanger wird, droht der Schwindel aufzufliegen. Sie gibt das Baby als ehelich aus, sie schiebt es ihrem Gatten gewissermaßen als Kuckucksei unter. Was an ein Schicksal aus einer nachmittäglichen Talkshow des deutschen Privatfernsehens erinnert, spielte sich Mitte der 1860er Jahre in München ab. Die Hauptfiguren: das Ehepaar Cosima und Hans von Bülow sowie der Komponist Richard Wagner. Wie kam es zu diesem Charivari? Cosima war die Tochter des berühmten Komponisten und Jahrhundertpianisten Franz Liszt und der französischen Schriftstellerin Marie d'Agoult. Die Eltern wussten mit der kleinen Cosima und ihren Geschwistern Blandine und Daniel nichts anzufangen. Die Kinder wurden umhergereicht: Zunächst wuchsen sie bei Liszts Mutter Anna in Paris auf, später kamen sie in die Obhut einer strengen Gouvernante. Im Herbst 1855 zogen die 17-jährige Cosima und ihre 19-jährige Schwester Blandine nach Berlin. Dort lebten Franziska von Bülow und ihr Sohn Hans, der bei Franz Liszt studiert hatte und seither als Lieblingsschüler des Maestros galt. Liszts Plan war: In absehbarer Zeit würden Cosima und Blandine heiraten. Bis dahin sollte Frau von Bülow die beiden jungen Damen unter ihre Fittiche nehmen und in die Berliner Gesellschaft einführen. Hans war derweil für die musikalische Ausbildung der Schwestern zuständig, schließlich erwartete man von Franz Liszts Töchtern nun einmal ein gewisses musikalisches Geschick. So weit, so gut. Was sich aber dann am Abend des 19. Oktober 1855 in Berlin ereignete, gehörte sicherlich kaum zu Liszts Plan.

An jenem Freitag dirigierte Hans von Bülow ein Orchesterkonzert, dessen Programm auch die Ouvertüre zu Richard Wagners Oper Tannhäuser umfasste. Franziska von Bülow sowie Cosima und Blandine saßen natürlich im Parkett, um Hans zu unterstützen. Das Publikum reagierte allerdings barsch: Es wurde heftig gezischt und gepfiffen. Damit hatte niemand gerechnet. Den 25-jährigen Dirigenten nahm dieser Zwischenfall so sehr mit, dass er im Künstlerzimmer einen Nervenzusammenbruch erlitt und kurzzeitig in Ohnmacht fiel. Mit Mühe und Not kutschierte man Hans später nach Hause, wo Cosima alleine – Frau Franziska und Blandine lagen bereits in ihren Betten – auf ihn wartete. Die beiden jungen Leute waren von dem Erlebten tief bewegt. Cosima tröstete ihren Lehrer, sie sprach ihm Mut zu, baute ihn auf. Im emotionalen Überschwang jener nächtlichen Stunden verlobten sie sich. Viele Jahre später hieß es in ihrem Tagebuch: »Ich gedenke meiner Verlobung vor 15 Jahren, unter den Auspicien der Tannhäuser-Ouvertüre in Berlin.«1

Als Franz Liszt von der Liebelei erfuhr, zuckte er mit den Schultern. Er nahm die Sache offensichtlich nicht sonderlich ernst, zumal er glaubte, dass Hans an einer Vermählung doch gar kein Interesse habe. »Und wenn er sich wirklich später dazu entschließt«, beruhigte er Hans' Mutter, »so wird es ihm nicht schwerfallen, weit vorteilhaftere Partien zu finden, als meine Töchter sind.«2 Seiner eigenen Lebensgefährtin versicherte er, »dass meine Töchter genug gesunden Menschenverstand besitzen, sich Überflüssiges zu ersparen …«3 Das sollte sich jedoch als krasse Fehleinschätzung erweisen. Überhaupt schien Franz Liszt seine Tochter Cosima und seinen Eleven Hans nicht gut genug zu kennen, denn die beiden waren fest entschlossen, das Gelübde jener Oktobernacht zu erfüllen. Hans hielt erfolgreich um Cosimas Hand an. Nach langem Hin und Her fand die Trauung von Cosima Liszt und Hans von Bülow am Morgen des 18. August 1857 in der Berliner Sankt Hedwigskirche statt. Viele Jahrzehnte später erklärtedie greise Cosima ihrer Schwiegertochter Winifred: »Herr von Bülow hätte nie heiraten sollen.«4 Das war allenfalls die halbe Wahrheit, zutreffender wäre gewesen: »Herr von Bülow hätte mich nie heiraten sollen.«

Die Verbindung erscheint rückblickend als ein folgenschwerer Irrtum, sie entwickelte sich für beide Ehepartner zur Mesalliance. Warum? Bereits die Verlobung beruhte auf einem Missverständnis. Hans fühlte sich zu Cosima hingezogen, weil er in ihr die Tochter des hochverehrten Lehrmeisters sah. In seinem Werbebrief an Liszt hatte er über seine Zukünftige geschrieben: »Es ist mehr als Liebe, die ich für sie empfinde; der Gedanke, mich Ihnen, den ich als hauptsächlichen Stifter und Beweger meines gegenwärtigen und zukünftigen Daseins betrachte, noch mehr zu nähern, faßt alles Glück zusammen, das ich hienieden erwarte. Cosima Liszt überragt für mich nicht nur als Trägerin Ihres Namens alle Frauen, sondern auch, weil sie Ihnen so gleicht, weil sie durch so viele Eigenschaften ein treuer Spiegel Ihrer Persönlichkeit ist.«5 Wen umwarb er eigentlich? Die Braut oder den Schwiegervater? Am Vorabend der Trauung gestand Bülow einem Freund: »Meine Frau ist mir so vollkommen Freundin, wie sich's fast nicht idealer vorstellen läßt.«6 Damit brachte er seinen Lebensirrtum auf den Punkt.

Aber auch Cosima wurde – pointiert formuliert – das Opfer einer Projektion. Hans von Bülow litt seit frühester Kindheit unter schlimmen Kopfschmerzattacken, die mit hypernervösen Beschwerden und verschiedenen anderen Unpässlichkeiten einhergingen. Er lebte unter Hochdruck und in einem Dauerzustand von Überreiztheit. Im Laufe der Jahre flüchtete er sich in den Zynismus. Bülow legte sich eine beißende und verletzende Attitüde zu, mit der er die Kraft und Männlichkeit vortäuschte, die sein verletzlicher Körper so gar nicht ausstrahlte. Cosima litt mit ihm. Sie wollte sich ihm hingeben, ihn pflegen und für ihn da sein. Auch sie verwechselte einträchtige Freundschaft mit echter Liebe. »Es war ein großes Mißverständnis, das uns ehelich verband«, notierte sie Jahre später, »das Gefühl, das ich für ihn damals vor 12 Jahren empfand, ich empfinde es noch, große Teilnahme für sein Schicksal, Freude an seinen Geistes- und Herzensgaben, wirkliche Achtung für seinen Charakter, bei vollständigstem Auseinandergehen der Anlagen.«7 Das wechselseitige Verlangen nach emotionalem Halt und Verständnis, Hans' Verehrung für Franz Liszt sowie Cosimas Mitleid gingen eine ungute Verbindung ein.

Zu Beginn des Jahres 1860 wurde Cosima schwanger. Wenige Wochen zuvor – am 13. Dezember 1859 – war Cosimas Bruder Daniel im Alter von nur zwanzig Jahren in Berlin gestorben. Die Stimmung im Hause Bülow war gedrückt. Hans konnte seiner Frau in der Folgezeit kaum beistehen, befand er sich doch auf einer mehrmonatigen Konzertreise, die ihn nach Paris, Karlsruhe und Wien führte. Die anderen Umstände lösten keine Freude aus, ganz im Gegenteil. Cosima hatte bezeichnenderweise Angst, ihrem Mann die frohe Botschaft zu überbringen. Jahre später gestand sie ihm: »Und, Du erinnerst Dich, als ich mit Loulou schwanger war, wagte ich nicht, es Dir zu sagen, als ob meine Schwangerschaft illegitim gewesen wäre, und ich brachte es Dir als Traum bei.«8 Am 12. Oktober 1860 um vier Uhr früh erblickte Cosima und Hans von Bülows erste Tochter mit einem lauten Schrei das Licht der Welt. Als Erinnerung an den toten Bruder erhielt das Mädchen den Namen Daniela (im Geburtenregister steht Daniella 9) und als Hommage an die Heldin aus Richard Wagners Oper Der fliegende Holländer den Zweitnamen Senta; zeitlebens wurde sie aber auch »Loulou«, »Lulu« oder »Lusch« genannt. Bülow an einen Freund: »Vorläufig schweigt nun das Piano, welches dem ›chant‹ Platz gemacht hat. Doch ich will die kaum sechzig Stunden alte Daniella-Senta nicht verläumden: sie macht von ihrer Stimme nicht im Geringsten indiscreten Gebrauch. Desto mehr ist es unser Wunsch, daß sie es später thue; wir wünschten lebhaft, sie könnte eine ordentliche dramatische Sängerin werden, und meine Freunde eine künstlerische Freude an ihr erleben.«10

Die Mutter erholte sich nach der Entbindung nur sehr langsam – bis Januar 1861 war sie auf medizinische Hilfe angewiesen. In diesen Monaten zeigte es sich, dass den Bülows ein ungezwungenes und vertrauensvolles Miteinander offensichtlich nicht möglich war. Aus Rücksicht auf ihren immer irgendwie kränkelnden Mann wagte Cosima es nicht, ein offenes Wort über ihren Zustand oder ihre Bedürfnisse zu sprechen. »Bülow ist selbst leidend«, ließ ihre Schwester Blandine Vater Franz Liszt wissen, »er wird sich wohl einen Moment lang Sorgen machen, aber Cosima wird ihm entgegnen, dass ihr nichts fehle, und das wird ihn beruhigen.«11 Hans schien das Dilemma seiner Ehe zumindest zu erahnen. »Cosima leistet ein bewundernswertes Kunststück, das Leben mit mir auszuhalten«, schrieb er seiner Schwester, »aber ich bin eine ins Weibliche hinüberstreifende Natur, meine Frau hat einen starken Geist, und bedarf leider so wenig meiner Beschützung, daß sie vielmehr mir dieselbe bietet.«12

Gut zwei Jahre nach Danielas Geburt wurde Cosima erneut schwanger. Auch im Herbst 1862 konnte von glückseliger Vorfreude keine Rede sein, da kurz zuvor ein weiteres Unglück die Familie heimgesucht hatte. Am 11. September war Cosimas ältere Schwester Blandine auf ihrem Landgut in Südfrankreich gestorben. »Wie öde, wie leer, wie innerlich gestört war damals mein Leben!«, erinnerte sie sich Jahre später an jene Zeit. Die Geburt der zweiten Tochter am 20. März 1863 verlief herzlos und gefühlskalt: »Wie stumpf und dumpf brachte ich ohne jeden Beistand das Kind zur Welt; wie gleichgiltig wurde es vom Vater empfangen!« Allem Anschein nach kümmerte sich niemand um die Hochschwangere: »So elend fühlte ich mich damals, daß ich keinem sagte, daß die Geburtswehen über mich kamen und daß das Kind bereits da war, als man die Hebamme rief. Die Schwiegermutter wohnte im Haus, Hans war anwesend, Bedienung war genügend da, und ich wanderte einsam im Salon und wand mich wie ein Wurm und winselte; ein unaufhaltsamer Schrei weckte das Haus, und sie trugen mich auf mein Bett, wo Boni denn auch herauskroch. In jedem Hause ist die Erwartung eines Kindes eine Freude, ich wagte es Hans kaum zu sagen, daß ich schwanger sei, so unfreundlich nahm er es auf, gleichsam wie eine Störung seines Behagens.«13

Das Baby erhielt als Reminiszenz an Cosimas verstorbene Schwester die Namen Blandina Elisabeth Veronica Theresia (genannt »Boni« oder auch »Ponsch«).Während die Mutter nach der Entbindung langsam wieder zu Kräften kam, kehrte der Vater schnell zur Tagesordnung zurück. Das klang in seinen Worten so: »Vor 14 Tagen neue Vaterfreuden – dann eine Masse zeitraubender sogenannter Berufsbeschäftigungen. Endlich kommen die 8 Tage Osterferien. Da falle ich zusammen, muß zu Bett liegen, rheumatisch-katarrhalische Zustände pflegen: und auch das kann ich nicht mit Seelenruhe abmachen. Ich bin gewohnt, Wort zu halten – ich gehe trotz Fieber in Emil Naumann's Concert, dasselbe durch Bach's chromatische Fantasie zu illustriren – erkälte mich selbstverständlich wiederum und suche mich von dieser Erkältung jetzt zu erholen, um am Donnerstag einen Collegen am Conservatorium durch Mitwirkung in Bach's Tripelconcert zu unterstützen.«14 Für eine Ehefrau und zwei kleine Kinder gab es in diesem gehetzten Leben offenkundig gar keinen Platz.

Ménage à trois

Wenige Monate später – im Herbst 1863 – stand das Leben der Eheleute von Bülow an einer Wegscheide. Und das kam so. Am 28. November traf Bülows Freund Richard Wagner auf der Durchreise in Berlin ein. Der hoch verschuldete Komponist hatte sich von seiner Frau Minna getrennt und lebte seit kurzem mit seiner Muse Friederike Meyer in Penzing bei Wien. Eigentlich wollte er nicht bleiben. Da aber an jenem Samstagabend in der Singakademie Bülows Orchesterballade Des Sängers Fluch auf dem Programm stand, ließ sich Wagner überreden, das Konzert zu besuchen und erst am nächsten Tag weiterzureisen. Cosima kannte den 50-jährigen Wagner seit einigen Jahren. Sie war ihm bereits als junges Mädchen in Paris kurz begegnet, später traf sie ihn auf ihrer Hochzeitsreise sowie bei anderen Gelegenheiten wieder. Das Verhältnis der beiden blieb in all der Zeit jedoch beiläufig und förmlich. Nun änderte sich die Situation. Während Bülow am Nachmittag sein Werk probte, unternahmen seine Frau und sein Freund eine Wagenfahrt durch Berlin. »Diesmal ging uns schweigend der Scherz aus«, schrieb Wagner Jahre später, »wir blickten uns stumm in die Augen, und ein heftiges Verlangen nach eingestandener Wahrheit übermannte uns zu dem keiner Worte bedürfenden Bekenntnisse eines grenzenlosen Unglückes, das uns belastete.« Den nun folgenden Satz ließ Cosima Jahre später in den ersten Ausgaben von Wagners Autobiographie kurzerhand streichen: »Unter Tränen und Schluchzen besiegelten wir das Bekenntnis, uns einzig gegenseitig anzugehören.« Und als ob nichts gewesen wäre, gingen sie abends in die Aufführung: »Uns war Erleichterung geworden. Eine tiefe Beruhigung gab uns die Heiterkeit, ohne Beklemmung dem Konzerte beizuwohnen […].«15

Wagner schrieb seine Memoiren mit einer zeitlichen Distanz von einigen Jahren. Man darf also nicht den Fehler machen und das Bekenntnis, »uns einzig gegenseitig anzugehören«, wortwörtlich nehmen. Jener Schwur greift vielmehr dem Lauf der Dinge vor. Ende 1863 konnten Cosima von Bülow und Richard Wagner noch keinen Weg zueinander finden. Erst ein politisches Ereignis sollte die Lage unverhofft ändern: Im März 1864 bestieg König Ludwig II. den bayerischen Thron. Der junge Monarch verehrte Richard Wagner, er war ihm schwärmerisch ergeben. Ludwig hatte sich entschlossen, für den Komponisten zu sorgen und ihn aller Alltagssorgen zu entledigen. Am Nachmittag des 4. Mai 1864 standen sie sich in der Münchener Residenz erstmals gegenüber. Der Wittelsbacher gewährte Wagner beispielsweise ein Jahresgehalt, hinzu kamen die Umzugskosten von Wien nach Bayern, Geldgeschenke sowie Kompositionshonorare. Kurzum: König Ludwig befreite sein Idol mit einem Schlag aus seiner völlig verfahrenen Lebenssituation. Mitte Mai bezog Wagner eine schicke Villa in Kempfenhausen am Ufer des Starnberger Sees. Zu seinem Glück fehlte nun noch die passende Herzensdame. Ob er dabei ausgerechnet an Cosima von Bülow dachte? Die Vermutung liegt nahe, zumal Wagner die Berliner Freunde mit charmanten Briefen nach Bayern zu locken versuchte. Er schlug ihnen vor, Hans möge seine Tätigkeit am Stern'schen Konservatorium aufgeben – er war ihrer ohnehin überdrüssig – und sich als König Ludwigs »Vorspieler« in München niederlassen. Der hohe Herr sei von dieser Idee begeistert, frohlockte Wagner, überdies zahle er gut. Die Bülows nahmen das Angebot an.

Da Hans noch in Berlin gebunden war, reisten Cosima und die Töchter Daniela und Blandine zunächst alleine zu Wagner an den See. Am 29. Juni 1864 trafen sie in Starnberg ein. In den nun folgenden acht Tagen – Bülow stieß erst am 7. Juli zu seiner Familie – nahm das Schicksal seinen Lauf. Was immer in jener Zeit geschehen sein mag – Richard und Cosima hatten in dem Dienerehepaar Franz und Anna Mrazek aufmerksame Zeugen. Frau Anna konnte sich noch fünfzig Jahre später – im Mai 1914 – ganz genau erinnern: »Daß Frau Cosima sich damals an Richard Wagner hingegeben hat, davon bin ich überzeugt.

 

Vater Nummer eins: Hans von Bülow. Die Ehe mit Cosima Liszt war unglücklich. »Herr von Bülow hätte nie heiraten sollen.« (Cosima Wagner)

 

Im allgemeinen konnte man damals in Starnberg unschwer merken, daß zwischen Frau Cosima und Richard Wagner sich etwas angesponnen habe. Die Beiden waren immer beisammen, gingen immer Arm in Arm im Park spazieren.«16 Cosima wurde von ihrem Liebhaber schwanger; neun Monate später brachte sie Wagners erste Tochter Isolde zur Welt.

Und Hans? Er tappte im Dunkeln, so Anna Mrazek: »Bülow schien sich, soweit er davon Wahrnehmungen machte, nichts besonderes daraus zu machen. Mir kam es damals so vor, als ob Bülow das Verhältnis für ein freundschaftliches hielt, ich selbst aber habe das Verhältnis schon für ein Liebesverhältnis gehalten.« Cosima und Richard fühlten sich allem Anschein nach sicher – zu sicher, denn sie wurden nun leichtsinnig und machten Fehler. Franz Mrazek hatte im Haus zu tun und wurde zum Augenzeugen: »Bülow habe soeben in das Schlafzimmer Richard Wagners eintreten wollen. Dieses Schlafzimmer sei versperrt gewesen, die Frau Bülow sei bei Richard Wagner drinnen gewesen. (Das wußte nämlich mein Mann, daß die Frau Bülow bei Wagner drinnen sei.) Mein Mann erzählte weiter: Bülow sei in sein Wohnzimmer gegangen, habe sich auf den Boden niedergeworfen, habe mit Händen und Füßen geschlagen wie ein Wahnsinniger und habe geschrieen, ja gebrüllt.« Und nun geschah das eigentlich Unerklärbare: Weder zwischen den Bülows noch zwischen Hans und Richard kam es zu einer Aussprache. Auch eine emotionale Szene, die man wohl erwartet hätte, blieb aus. Bülow schrie seinen Nebenbuhler nicht an – auch das wäre ja menschlich verständlich gewesen –, er brüllte seinen Kummer förmlich in den Teppich. Danach kehrten die Hauptakteure zur Tagesordnung zurück. »Aber man hat gar nichts gemerkt«, so die Haushälterin, »nicht ein Wort habe ich darüber gehört.« Die arme Anna Mrazek wurde fortan von Hans geschnitten, vermutete er doch, sie stecke mit seiner Gattin unter einer Decke. Einmal putzte er sie öffentlich herunter: »Die Frau Cosima stellte sich hinter ihren Mann und legte warnend den Zeigefinger auf den Mund. Ich sagte nichts mehr und ließ mich abkanzeln und wußte nicht warum.«17 Cosima wusste wohl warum.

Die Mutter: Cosima Wagner, geborene Liszt, geschiedene von Bülow, um1870.Vater Nummer zwei: Richard Wagner. Im August1870heirateten Richard Wagner und Cosima von Bülow. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits die drei gemeinsamen Kinder auf der Welt.

 

Wenige Monate später – Ende November 1864 – finden wir das Trio an der Isar wieder. Wagner hatte mittlerweile den Starnberger See verlassen und sich in der Stadt niedergelassen, auch das Ehepaar von Bülow wohnte nun in München. Dort brachte Cosima am 10. April 1865 um 8 Uhr 40 ihre dritte Tochter zur Welt: Isolde Josepha Ludovika. Obschon die Kleine Richard Wagners Sprössling war, wird sie im Taufregister der Pfarrei St. Bonifaz als »eheliche Tochter« von Hans und Cosima von Bülow geführt. Doch damit nicht genug: Bei der katholischen Taufe am 24. April in Bülows Wohnung in der Luitpoldstraße 15 fungierte neben der Malergattin Josephine von Kaulbach ausgerechnet Richard Wagner als Taufzeuge.18 Das setzte dem Versteckspiel und der Täuschung die Krone auf. Wie mag Wagner sich gefühlt haben, als sein leibliches Kind unter Bülows Namen in das Taufregister eingetragen wurde? Und war Hans wirklich so ahnungslos, dass er sich immer noch für den Vater des Babys hielt?

Die Ereignisse am Starnberger See konnte man eigentlich nicht missverstehen. Oder war das alles nur ein Irrtum? Wenige Tage nach der Entbindung schrieb Bülow an einen Freund, er sei »zum dritten Male ›Mutter‹ geworden […], wie die Berliner sagen, wenn sich – Töchter einstellen. Das Kind (vermuthlich ›Isolde‹ zu nennen) ist sehr kräftig.«19 Wenn er absolut an seine Vaterschaft glaubte, dann konnte dies nur eines bedeuten: Cosima von Bülow war während der so genannten »Empfängniszeit« mit zwei Männern – Richard und Hans – intim. Möglicherweise machte Bülow aber auch nur gute Miene zum bösen Spiel. Denn hätte er eingestanden, dass Isolde nicht seiner Lendenkraft entsprossen war, hätte dies einen gesellschaftlichen Skandal provoziert. Er handelte wohl aus reinem Selbstschutz, wenn er es vorzog, wohl oder übel ein Kuckucksei auszubrüten. Das wird für immer sein Geheimnis bleiben. Andere Zeitgenossen hegten an Wagners Erzeugerschaft jedenfalls keine Zweifel. So etwa Cosimas Hebamme: »Sie erzählte mir damals«, erinnerte sich Anna Mrazek, »daß immer, wenn sie zur Frau Cosima komme, um sie als Wöchnerin zu pflegen, Richard Wagner am Bette der Frau sitze.«20

Cosimas Verhältnis zu Hans glich derweil mehr einem Nebeneinander denn einem ehelichen Miteinander. Wenn er nicht gerade im Theater war – Bülow leitete am 10. Juni 1865 sogar die Premiere von Wagners Oper Tristan und Isolde – oder sich auf einer Konzertreise befand, herrschte in der Luitpoldstraße eine gereizte bis aggressive Stimmung. Die Nerven lagen blank. Bülow beging nicht nur einmal den unverzeihlichen Fehler und vergaß sich. Dann schlug er seine Frau. Jahre später notierte Cosima in ihr Tagebuch: »Er [Wagner] gedenkt der Scenen, denen er beigewohnt, wo Hans mich geschlagen, und sagt, er sei entsetzt gewesen über die gleichgültige Ruhe, mit welcher ich dies ertragen hätte.«21

Ein halbes Jahr nach Isoldes Geburt nahm die Dreiecksbeziehung ein vorläufiges Ende. Wagner hatte es sich mit Ludwigs Hofstaat verscherzt – immer neue Geldforderungen und politische Intrigen waren die Stichworte. Am 6. Dezember 1865 forderte ihn der König notgedrungen auf, Bayern zu verlassen. Vier Tage später reiste er samt Diener und Hund ab. Der Komponist Peter Cornelius schaute dem abfahrenden Zug nach: »Zwischen Wagner und Cosima besteht ein völliges Verhältnis. Es ist sogar zu vermuten, daß sie ihm mit den Kindern folgt. Sie ging, nachdem wir von Wagner Abschied genommen, nicht in ihr Haus, sondern in das seinige zurück.« Und weiter: »Aber was das mit Bülow wird? Ob er überhaupt Wagner seine Frau gänzlich überlassen hat in einem hochromantischen Einverständnis?«22

Die Bülows setzten ihre Scheinehe wie gehabt fort. Als Cosima Anfang März 1866 in Begleitung der kleinen Daniela zu Wagner nach Genf reiste, tat Hans dies als Gefälligkeitsbesuch ab, »um dem armen großen Einsamen ein wenig Gesellschaft zu leisten«.23 Ende des Monats war sie wieder in München, um Mitte Mai erneut zu ihrem Geliebten zu ziehen. Richard Wagner hatte inzwischen mit königlichem Geld in Tribschen am Vierwaldstätter See ein stattliches Anwesen gemietet. In dieser Zeit wurde Cosima erneut schwanger. Die Ereignisse überstürzten sich: Am 6. Juni bat Hans den König um seine Entlassung, die ihm gewährt wurde. Er fuhr nach Zürich, Cosima folgte ihm via München. Am 10. Juni trafen beide bei Wagner ein. »Nun, heute ist der bange Entscheidungstag in Luzern«, berichtete Peter Cornelius seiner Braut Bertha. »Ich weiß wie es ausfallen wird: Cosima wird bei Wagner bleiben, denn so muß es kommen, damit sich das Geschick an ihr vollziehe! Und an Wagner.«24

Cornelius sollte sich irren, denn eine wie auch immer geartete Entscheidung stand gar nicht auf der Tagesordnung. Hans und Cosima blieben vielmehr bis Anfang September 1866 in Tribschen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass diese merkwürdige Ménage à trois irgendwie funktionierte. Das volle Ausmaß des Betrugs wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Cosima zu dieser Zeit ja erneut von Wagner schwanger war. Wie auch immer: Man machte regelmäßig gemeinsam längere Spaziergänge und unternahm Bootsfahrten auf dem malerischen See. Vorerst kehrten die Eheleute Bülow nach München zurück.

Kurze Zeit später übersiedelte Hans nach Basel, während es Cosima wieder zu Wagner zog. In der Villa Tribschen brachte Cosima von Bülow am 17. Februar 1867 Richard Wagners zweites Kind zur Welt: Eva Maria. Es war ein Sonntagnachmittag, als Hans aus Basel kommend an das Bett seiner Frau trat. Sie hielt die Kleine bereits in ihren Armen. Hans setzte sich zu ihr und sagte: »Je pardonne«, worauf Cosima vielsagend geantwortet haben soll: »Il ne faut pas pardonner, il faut comprendre.« Auf gut Deutsch: Nicht verzeihen – verstehen!

Was nun folgte, war ein Stück aus dem Tollhaus: Wagner reiste Anfang März 1867 nach München, um mit König Ludwig über Hans von Bülows Rückberufung nach München zu verhandeln. Die Vollendung seiner neuen Oper Die Meistersinger von Nürnberg stand in absehbarer Zeit bevor, und der Komponist wünschte die Uraufführung durch den genialen Dirigenten Hans von Bülow. Nein, selbstlos war dieser Richard Wagner nicht. Es kam, wie es kommen musste: Bülow erhielt die Ernennung zum Hofkapellmeister und ließ sich Mitte April 1867 wieder in der Isarstadt nieder. Hans' exponierte Stellung verlangte aber ein untadeliges Privatleben – zumindest nach außen. Cosima zog also nicht ganz freiwillig zu ihrem Mann zurück. Das war der Preis, den Frau von Bülow und ihr Liebhaber zahlen mussten.

Im Laufe des Jahres 1868 wuchs insbesondere bei Wagner die Unzufriedenheit über die privaten Verhältnisse. Er war mehr denn je davon überzeugt, dass Hans und Cosima sich in aller Form trennen mussten. Mitte September brachen Cosima und Richard zu einer Italienreise auf. In jenen Wochen schliefen sie miteinander und zeugten ihr drittes Kind: Siegfried. Auf der Rückreise durch das Tessin fiel der Entschluss: Am 3. Oktober 1868 schrieb sie aus Faido den entscheidenden Brief an Hans, worin sie vermutlich erklärte, dass sie ihn verlassen und ganz zu Wagner ziehen werde. Mitte Oktober finden wir Cosima wieder in München. Es folgten vier traurige Wochen, in deren Verlauf sie und Hans ihre elfjährige Ehe begruben. Am 16. November nahmen sie Abschied. Aus Rücksicht auf Bülow blieben die Töchter Daniela und Blandine vorerst in München. Man kann aber auch sagen: Cosima ließ die Vergangenheit zurück. Sie fuhr daraufhin in die Schweiz – zu ihrem Richard, zu den gemeinsamen Kindern.

Der Thronfolger

Es war ganz still am frühen Morgen des 6. Juni 1869. Die Bewohner der Villa Tribschen schliefen. Um 1 Uhr stand Cosima von Bülow auf und weckte Richard Wagner – die Wehen hatten eingesetzt. Sie bat Wagner, ruhig zu bleiben und sich nicht aufzuregen. Dann legte sie sich wieder hin. Cosima: »R. am Bett in großer Sorge. Nach 3 Uhr kommt die Hebamme, um im Nebenzimmer zu warten, da ich niemand sprechen will. Es scheint etwas Ruhe einzutreten. R. will dies benutzen, um durch einige Stunden Schlaf sich für den bevorstehenden Tag zu stärken. Er geht hinab, legt sich zu Bett, wird aber von Unruhe gepeinigt, kleidet sich wieder an u. kommt herauf; er stürzt herein und findet mich bereits unter der Behandlung der Amme in den wütendsten Schmerzen. Ich erschrak, da ich ihn plötzlich vor mir stehen sah und ein Gespenst zu erblicken wähnte, wendete mich entsetzt ab und trieb ihn somit aus der Kammer in den offenen Salon daneben; als er von neuem mich jammern hört, stürzt er abermals herein, da die Amme mich für einen Augenblick verlassen hatte; ich faßte seinen Arm, wand mich krampfhaft daran, bedeutete ihm aber, nicht zu sprechen. Die Amme kam zurück, R. entfernte sich wieder in das Nebenzimmer; dort blieb er Ohrenzeuge des Entbindungsvorganges u. hörte den Jammer der gebärenden Mutter an.«25 An jenem Sonntag brachte Cosima ihr fünftes und letztes Kind zur Welt: Siegfried Helferich Richard. Dieses Ereignis stellte eine Zäsur dar. Cosima sprach bereits zwei Tage später von einer »bedeutenden Wende, welche durch ihn in unser Schicksal getreten ist«.26 Die glückliche Entbindung des einzigen Sohnes beförderte den Entschluss, ihren Mann Hans endgültig um die Scheidung zu bitten. Er willigte ein und überließ ihr auch die Erziehung der beiden gemeinsamen Kinder Daniela und Blandine. Doch das war nicht alles: Siegfrieds Geburt geriet für die Mutter zu einer Art Ostererlebnis, gewissermaßen zu einer Heilsoffenbarung. An Bülow schrieb sie: »Und doch, das gebe ich zu, hätte ich Dich niemals verlassen, wenn ich nicht dem Leben begegnet wäre, mit dem das meinige so absolut verschmolz,daß ich nicht mehr weiß, wie ich davon loskommen soll.«27 Damit meinte sie ihre Liebe für Richard Wagner – und das kleine Baby erschien ihr als Kronzeuge dieser Hingabe. In ihr Tagebuch notierte sie: »Mein Siegfried, Krone meines Lebens, zeige du, wie ich deinen Vater geliebt!«28 Da war der Sohnemann gerade eine Woche alt. Fortan richtete sie ihr gesamtes Sinnen auf zwei Menschen aus: Richard Wagner und Sohn Siegfried.

Cosima hatte ein gutes halbes Jahr zuvor mit der Führung eines Tagebuches begonnen. »Ihr sollt jede Stunde meines Lebens kennen«, hieß es am 1. Januar 1869, »damit ihr mich dereinst erkennen könnt, denn sterbe ich früh, so werden die anderen gar wenig über mich euch sagen können, sterbe ich alt, so werde ich wohl nur noch zu schweigen wissen. Ihr sollt mir so helfen meine Pflicht erfüllen – ja meine Kinder, meine Pflicht. Was ich damit meine, werdet ihr später erfahren. Alles will euch die Mutter von ihrem jetzigen Leben sagen, denn sie glaubt, daß sie dies kann.«29 Die letzte Notiz datiert vom 12. Februar 1883, einen Tag später starb Wagner, und Cosima beendete ihr »journal intime«. Das Tagebuch hat ein Grundthema, das in Variationen durchgeführt wird: Richard Wagner. In den gut vierzehn Jahren berichtet sie minutiös über Wagners Alltag – über seine Stimmungen und Launen, seine Ansichten und Arbeiten, seine vielen Unpässlichkeiten und Krankheiten und überhaupt über das Leben an der Seite eines Genies. Alles in allem füllte Cosima einundzwanzig Hefte mit über 5000 Seiten Umfang. Dabei führte sie keine streng geheimen Selbstgespräche, die ein Tagebuch normalerweise auszeichnen.

Cosimas Aufzeichnungen waren von Anfang an für Dritte bestimmt: »Ihr sollt jede Stunde meines Lebens kennen«, hatte sie in die erste Kladde geschrieben. »Ihr« – das waren die fünf Kinder, allen voran das Nesthäkchen Siegfried. Ihm wollte sie Rechenschaft ablegen. Dass der Widmungsträger diese Aufzeichnungen nie zu Gesicht bekam, war in späteren Jahren den Machenschaften seiner Schwester Eva geschuldet. Angeblich schenkte Cosima ihrer Tochter die Hefte als »Mitgift« zu deren Hochzeit – Zweifel scheinen hier angebracht. Die Tagebücher verschwanden jedenfalls für viele Jahrzehnte in einem Banktresor. Denn Eva bestimmte in ihrem Testament, dass die Diarien erst 30 Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht werden durften – sie starb 1942.

 

Cosimas Kinder, um1873: Isolde, Eva, Siegfried, Blandine und Daniela. Der einzige Sohn war der ganze Stolz der Mutter. »Sorgt für Siegfried, dies mein erstes und letztes; Euer erstes Erwachen am Tage sei für ihn, Euere erste Tätigkeit, Euere schönste Sorge.« (Cosima Wagner an ihre Töchter)

 

Doch zurück in das Schicksalsjahr 1869. Mit Cosimas endgültiger Entscheidung für Richard Wagner begann ein Prozess, der im Laufe der Zeit pseudoreligiöse Züge annahm. Wagner erschien in ihrer Diktion nicht mehr als Mensch unter Menschen, sondern als Halbgott. Wenn er zu ihr sprach, dann vernahm Cosima eine Predigt – »immer göttlich und einzig«.30 Sie verehrte ihn bis zum Niederknien: »Jedes Wort von ihm ist mir ein Glaubenssatz.«31 Richard Wagners Entmenschlichung hatte für Cosima eine psychologische Entlastungsfunktion. Sie litt unter schlimmen Schuldgefühlen gegenüber Hans, die sich in schweren Selbstvorwürfen ausdrückten. Immer wieder beklagte sie ihre »Schuld« und ihr »Versagen«: »Wie leide ich stets um Hans!«, notierte sie in das Tagebuch. »Vor ihm möchte ich sterben, damit er erführe, daß ich zu jeder Stunde mit ihm gelitten habe, durch alles Glück und allen Segen.«32 Sie kompensierte diese Komplexe mit der Suggestion, dass sie Hans nicht für einen »normalen Menschen« sondern für einen Halbgott verlassen hatte. Je stärker sie Wagner verehrte und je göttlicher er ihr erschien, desto eher konnte sie ihre »Schuld« rechtfertigen. Sie konnte nicht anders, so die innere Logik, es war ja göttliche Fügung. Jene Vergötterung drückte sich bereits sprachlich aus: Da sie vor dem Gesetz noch Frau von Bülow hieß, konnte sie Wagner ja schlecht als ihren »Mann« oder gar »Ehemann« bezeichnen. Sie sprach fortan vom »Meister«. In dieser Abstraktion steckte auch ein hierarchisches Ordnungsprinzip: Der »Meister« lebte mit der »Meisterin« – also Cosima – zusammen, und der Sohn des Meisters avancierte kurzerhand zum »Meistersohn«. Wo es einen »Meister« gibt, gibt es aber auch Subalterne, was, wie wir sehen werden, die anderen Familienmitglieder einschloss.

An dieser Stelle können wir einen Sprung machen und die weiteren Ereignisse stichwortartig anführen. Mitte Juli 1870 wurde die Ehe der Bülows geschieden, einige Wochen später heirateten Cosima und Richard Wagner in der evangelischen Kirche von Luzern. Der Tribschener Verhältnisse überdrüssig, suchte Wagner einen Ort, wo er seine »Festspiel-Idee« – die Zusammenfassung von Musik, Drama und Theater zu einem musikdramatischen Gesamtkunstwerk – in einem eigenen Theater verwirklichen konnte.

 

Die Wagners im Kreise von Freunden auf der Treppe der Villa Wahnfried, August1881. Oben: Blandine, Siegfrieds Hauslehrer Heinrich von Stein, Cosima und Richard Wagner, der Maler Paul von Joukowsky. Unten: Isolde, Daniela, Eva und das Nesthäkchen Siegfried.

 

Die Wahl fiel bekanntlich auf Bayreuth. Im Mai 1872 erfolgte die Grundsteinlegung des Festspielhauses, im August des folgenden Jahres feierte man Richtfest. Ende April 1874 bezogen die Wagners ihr privates Domizil – die Villa Wahnfried.

Die Wagners? Die auf den ersten Blick triviale Nachfrage ist berechtigt, denn vor dem Gesetz spielen Gefühle und emotionale Zugehörigkeiten keine Rolle. »Pater est, quem nuptiae demonstrant«, lautet der entscheidende Rechtsgrundsatz. Soll heißen: Die Kinder einer verheirateten Frau haben in den Augen des Gesetzes keinen anderen Vater als den Ehemann der Mutter. Daniela und Blandine waren zweifellos leibliche Kinder Hans von Bülows, sie galten natürlich auch vor Justitia als dessen Nachwuchs. Richard Wagner war zwar Isoldes und Evas Vater, die Mädchen wurden aber während der Bülow-Ehe geboren und nicht von ihm anerkannt. Daher galten sie als Nachkommen Hans von Bülows. Verwirrend genug, führte Isolde später den Namen von Bülow, während sich Eva als eine Wagner ausgab. Nur für den Sohn Siegfried hatte Richard die Vaterschaft beansprucht; durch die Hochzeit mit Cosima wurde der Junge legitimiert. Zwar wurden alle vier Töchter auf Lebenszeit mit üppigen Apanagen aus dem sich stetig füllenden Tantiementopf abgefunden, gleichwohl kam jene feine Unterscheidung einer Enterbung Isoldes und Evas gleich. Jahrzehnte später sollte das eine wichtige Rolle spielen.

Heute würde man bei den Wagners von einer »Patchworkfamilie« sprechen. Mutter Cosima besaß zwar das Sorgerecht für Daniela und Blandine, gleichwohl besprach sie mit ihrem geschiedenen Gatten alle wichtigen Entscheidungen hinsichtlich der gemeinsamen Kinder. Das tat sie schriftlich, in Französisch und »per Sie«. Dabei war sie peinlich darauf bedacht, Bülow ausnehmend höflich und zuvorkommend zu begegnen. Ihre Nachrichten an den Ex-Mann sind stilistische Meisterwerke. Zum Beispiel: »Wenn ich Ihnen mitteile, dass ich mich mit dem Gedanken trage, gemeinsam mit den Kindern zum Protestantismus überzutreten, um auch diesen Teil meiner Aufgabe gewissenhaft erfüllen zu können, würde dieser Gedanke dann Ihre Zustimmung finden? Selbstverständlich wird dies nicht ohne Ihre Einwilligung erfolgen.«33 Der Kontakt zwischen Hans und seinen Mädchen fandebenfalls größtenteils in Briefform statt. So gut es eben ging, nahm er Anteil an deren Leben. »Wie geht's mit dem Französischen? Habt Ihr Vergnügen an der Sprache und sprecht Ihr sie hübsch fließend, besser als die andern jungen Mädchen?«, schrieb er einmal an Daniela. »Doch die Mama versteht sich besser auf Eure Erziehung als ich und wird schon Alles mit Euch in gute Ordnung bringen. Folgt Ihr nur stets auf das Willigste und bleibt gut von Herzen!«34

Daniela und Blandine besuchten zunächst die Bayreuther »Höhere Töchterschule«. Aus dem Schuljahr 1873/74 sind zwei Zeugnisse erhalten geblieben. Daniela war offensichtlich eine hervorragende Schülerin – bis auf ein »gut« in Religion hatte sie nur »Einsen«.35 Blandine war weniger erfolgreich: Ihre Leistungen in Geschichte sowie Naturgeschichte wurden sogar mit »nicht befriedigend« bewertet.36 In Französisch erhielten die Schwestern jeweils ein sehr gutes Prädikat, was kaum verwundert, wurden sie doch von der gebürtigen Französin Cosima zweisprachig erzogen. Im Schuljahr 1875/76 wechselten Daniela und Blandine in das vornehme Luisenstift in Radebeul bei Dresden.37 Als Internatsschülerinnen verbrachten sie den größeren Teil des Jahres nicht in Bayreuth und kamen allenfalls am Wochenende oder in den Ferien nach Hause. Das gefiel den jungen Damen verständlicherweise nicht. »Ich bin mit dem Luisenstift zufrieden«, schrieb Cosima an ihren Freund Friedrich Nietzsche, »meine guten Kinder aber wenig!«38

Für die drei anderen – Isolde, Eva und Siegfried – wurde mit Susanne Weinert eine Erzieherin engagiert. Zwar ließ sich die »Prinzipalität«, wie Cosima von dem Fräulein genannt wurde, regelmäßig den Stundenplan vorlegen, mischte sich aber in der Regel in den Unterricht nicht ein. Susanne Weinert erinnerte sich, dass die Kinder aufstanden, wenn die gnädige Frau das Zimmer betrat, »und ihr die Hand küssten. Die Kinder sind so an diesen Beweis kindlicher Ehrerbietung gegen ihre Eltern gewöhnt, daß sie dies niemals unterlassen.«39 Auch sonst legte Cosima viel Wert auf vollendete Umgangsformen. Die Hausangestellten – im damaligen Sprachgebrauch »Domestiken« genannt – mussten die fünf Kinder mit »kleine Herrschaften« anreden. Der gerade sechsjährige Knirps Siegfried wurde sogar »Herr Siegfried« genannt. Überhaupt drehte sich alles um denkleinen »Fidi«, wie Cosima den Junior nannte, mit ihm betrieb sie einen wahren Kult. Bereits Mitte der 1870er Jahre wurde das »dynastische Prinzip« sichtbar: Der »Meistersohn« war der Thronfolger, auf ihn lief alles hinaus, er sollte dereinst das Erbe seines berühmten Vaters antreten und die Dynastie fortführen. Die vier Schwestern gehörten dabei zu den Subalternen – ihnen fielen dienende Funktionen zu. Selbstverständlich mangelte es an nichts. Die Mädchen erhielten eine gute Schulausbildung, irgendwann sollten sie einmal für das Familienunternehmen gewinnbringend heiraten und sonst ihrem Bruder zur Seite stehen. Daniela, Blandine, Isolde und Eva mussten verzichten, damit der Stern des Bruders umso heller leuchten konnte. Jene Fixierung auf den Stammhalter nahm nach Wagners Tod weiter zu. »Lebt nun für Siegfried«, appellierte Cosima im April 1883 an ihre Tochter Daniela. »Alle Eure Gedanken seien hierauf gerichtet.« Und weiter: »Sorgt für Siegfried, dies mein erstes und letztes; Euer erstes Erwachen am Tage sei für ihn, Euere erste Tätigkeit, Euere schönste Sorge.«40

Eine künstlerische Karriere, die bei den Wagners ja nahegelegen hätte, konnte sich Cosima für ihre Mädchen nicht vorstellen: »Ich halte es nicht für möglich für eine Frau, der Öffentlichkeit anzugehören und zugleich ihren weiblichen Beruf zu erfüllen.«41

 

Cosimas Töchter liebten Kostümfeste: Daniela, Blandine, Isolde und Eva bei einem Maienfestspiel.

 

Dieses Rollenbild war damals zweifellos weit verbreitet. Für eine Demoiselle am Ende des 19. Jahrhunderts war das Erwachsenwerden mit ganz anderen Problemen verbunden, als sie heutzutage erlebt werden. Eine mit dem Abitur abgeschlossene Schulbildung oder gar ein Studium an der Universität war für junge Frauen damals praktisch undenkbar. Das erste deutsche Lyzeum wurde 1893 in Karlsruhe eingerichtet. Gleichwohl darf man nicht vergessen, dass wir es bei den Bayreuthern nicht mit »einfachen Leuten«, sondern mit einer Künstlerfamilie zu tun haben. Daniela war beispielsweise wie ihre Mutter eine hervorragende Pianistin, doch blieb beiden eine musikalische Karriere verwehrt.

Bei Mädchen kam es in erster Linie auf feine Manieren und häusliche Tugenden an. Dieser »fraulichen« Dressur wurden auch Cosimas Töchter unterworfen. »Wiederhole mir solche Dinge nicht wie dass man sage der König sei verrückt«, ermahnte sie einmal ihre Älteste, »als Regel nimm an, dass alles, was peinlich den Andren berühren könnte, zu verschweigen sei.«42 Cosima erzog ihre Töchter im Stil der Zeit. Unauffälligkeit hieß das Stichwort – nicht hervortreten, nicht anecken, immer einfach, bescheiden und taktvoll sein. »Nimm Dich recht in Acht nicht wahr, Herzchen – merke wenn zu verschwinden ist, und zwar ohne dass die Andren merken, dass Du diskret sein willst. Die Gabe des Taktes ist die seltenste und in der Welt beinahe die allerbeste, sie erleichtert, ermöglicht alles.«43

Der impulsiven Daniela fiel es wohl nicht immer leicht, den ambitionierten Vorstellungen der Mutter zu entsprechen. »Suche doch, mein Kind, Dir eine hübschere feinere Handschrift anzueignen, die Deinige ist gar klobig und dabei ausdruckslos.«44 Schönschrift war damals übrigens ein Unterrichtsfach! An anderer Stelle kritisierte Cosima bei ihrer »Lulu« eine gewisse »Vulgarität« und forderte sie auf, tiefer zu sprechen: »Du hast zum Beispiel von Deiner Lebhaftigkeit eine gewisse Kürze und von Deiner Heftigkeit eine Beimischung von Vulgarität wenn Du die Stimme sehr erhebst (während Dein Organ sehr angenehm ist wenn Du gemässigt sprichst), ich führe diess als Beispiel an für Manches, was durchaus nicht zu Deinem wahren Ich gehört, sondern wie der Auswuchs davon ist, den Du als guter Gärtner ausreissen musst.«45 Das, was man heute »sexuelle Aufklärung« nennt, gab es damals nicht. Doch wie sollte, wie konnte man als junge Frau einen passenden Mann finden? Die 20-jährige Daniela war ratlos. Cosima bemühte in ihrer Erklärung Fauna und Flora: »das Hofmachen und Hofmachenlassen« sei zwar albern und töricht, »allein es ist diess nun einmal die Form, durch welche ein Mann einer Frau zu erkennen giebt, dass er sie vor den Anderen auszeichnet. Ein Anfang; nun kommt der Spechtische Mensch, der untersucht den Baum in dessen Nähe er gerathen, findet er ihn hohl so bleibt er nicht wie der Vogel, der seinen Wurm holt, sondern er geht, oder besser lässt laufen (so man das von einem Baum sagen darf!).«46

Richard Wagner war – nach allem, was wir wissen – ein liebevoller und nachsichtiger Chef de famille. Wann immer er Zeit und Muße hatte, spielte und alberte er mit seinen Trabanten. Susanne Weinert: »Siegfried kollert sich auf den Teppichboden vor Lust umher und schlägt Purzelbäume, die ihm aber gewöhnlich noch mißraten. Oft kommt dann der Papa herzu, faßt den Jungen an den Füßen und unter den Neckereien der Mädchen und seiner Lehrerin läßt er ihm ein Rad schlagen ›comme il faut‹.«47

 

Siegfried und Richard Wagner1880in Neapel. Siegfrieds Erfolglosigkeit als Komponist und die große Ähnlichkeit mit dem berühmten Vater forderten in späteren Jahren zum Spott heraus.

 

Nicht selten lag auch Wagner auf dem Boden, und der Sohnemann kletterte auf ihm herum. »Sobald eines oder das andre der Kinder auf der Bildfläche erschien«, erinnerte sich die Sängerin Lilli Lehmann, »frug er sie ein bißchen sarkastisch, wie die Lampe, die Tasse, das Buch usw. auf französisch hieße, und neckte sie, weil ihm das Französischparlieren im eignen Hause absolut unangenehm war.«48

Daniela und Blandine nannten Hans von Bülow »Vater« und Richard Wagner »Papa«. Er selbst machte im täglichen Umgang zwischen den beiden Bülow-Töchtern und seinen drei eigenen Kindern offenbar keinen Unterschied. Und doch stimmte etwas nicht in der Villa Wahnfried. Der schöne Schein trog, denn Wagner sagte über Daniela und Blandine einmal zu seiner Frau: »Es wäre besser, wenn sie nicht geboren wären!« Es war – drastisch formuliert – so etwas wie ein nachträgliches Todesurteil, das er über seine Stieftöchter sprach. Sie erinnerten ihn tagein, tagaus an das Bülow-Drama – an das Zerbrechen seiner Freundschaft mit Hans, an Cosimas Ehebruch, an das quälende Versteckspiel der Münchner Jahre. In Daniela und Blandine erblickte er die Repräsentantinnen einer Vergangenheit, die er lieber vergessen würde. Cosima hätte gut daran getan, wenn sie jenes furchtbare Verdikt für sich behalten hätte. Doch sie besaß die Taktlosigkeit und wiederholte es gegenüber Isolde, Eva und Siegfried, wie Isolde schriftlich bezeugte.49 Natürlich versuchte man, sich nichts anmerken zu lassen, man sprach es nicht aus – gleichwohl: Daniela und Blandine galten als Kinder zweiter Klasse, während sich die drei anderen als die »richtigen Kinder« fühlen durften. In einem Brief an Isolde beklagte Daniela die vielen Jahre, »die ich trüb und ungerecht verbrachte, ich verstand die Mutter nicht mehr, fühlte mich ganz ihr entfernt und fasste nicht warum sie eine Scheidewand zwischen euch und mir errichtete. Ihr ward zu jung um zu begreifen und mitzufühlen wie ich litt, ich wurde ungerecht im Empfinden gegen euch.«50 Eine »Scheidewand«? Wagners Schuldspruch war allgegenwärtig, und offensichtlich konnte Cosima die damit verbundenen unterschwelligen Gefühlsströme nicht gut verbergen.

Cosimas Kinder wuchsen in Wohlstand auf. Ob der Luxus nun von König Ludwigs Geld oder von den sich stetig mehrenden Tantiemen bezahlt wurde – man lebte auf großem Fuß. Alle fünf mussten sich zeitlebens um Geld keine Sorgen machen. Allfällige Rechnungen wurden von Adolf von Groß, dem Finanzverwalter des Clans, stillschweigend beglichen. »Fidi möge mir melden, wie es mit seiner Kassa aussieht«, bat von Groß einmal Cosima, »damit ich sie rechtzeitig ergänzen kann.«51 So einfach war das.