Schliemann und das Gold von Troja - Frank Vorpahl - E-Book
SONDERANGEBOT

Schliemann und das Gold von Troja E-Book

Frank Vorpahl

0,0
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Heute wie zu Lebzeiten umstritten: Schliemann und seine Funde in Troja. Kaufmannsgehilfe, Goldsucher, Schiffsbrüchiger, Kriegsgewinner, Raubgräber und »Entdecker von Troja« auf den Spuren Homers – Heinrich Schliemanns unglaubliches Leben und sein schwieriges Erbe. Bis heute ist er ein Faszinosum und bis heute ist sein Erbe hochumstritten. Ob Heinrich Schliemann wirklich Troja fand oder ob die Ruinen, in denen er mit brachialen Methoden nach Schätzen grub, etwas ganz anderes waren – bis heute streitet man darüber. Seine wichtigsten Funde, der »Schatz des Priamos« und der »Schatz des Agamemnon« sind erstaunlich. Aber mit Priamos oder Agamemnon haben sie nichts zu tun. Bis heute sorgt sein Gold aus Troja für Streit bis hin zu staatspolitischen Verwicklungen – denn zuerst schaffte Schliemann die goldenen Preziosen illegal außer Landes – dann verschwanden sie am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Berlin. Erst 1994 machte eine russische Museumsdirektorin bekannt, dass sowjetische Soldaten sie nach Moskau mitgenommen hatten. Selbst bei Archäologen ist Schliemann so umstritten wie verhasst, und auch wenn die Hälfte von ihnen ohne jugendliche Schliemann-Lektüre etwas ganz anderes geworden wäre – dass er die Funde ganzer Kulturperioden als Schutt entsorgte, bleibt ein Sakrileg. Schliemanns ganzes Leben liest sich wie eine sagenhafte Tellerwäschergeschichte: Aus dem Krämergehilfen in Fürstenberg an der Havel wurde im kalifornischen Goldrausch der Gründer einer Bank, in Russland wurde Schliemann mit Schießpulver-Spekulationen während des Krimkriegs zum Millionär – dann zog er als Reiseautor und Schatzgräber auf den Spuren Homers durch die Welt. Fest steht: Kaum ein Deutscher hat die Fantasie der Menschen so beflügelt wie Heinrich Schliemann. Weshalb von ihm zu lesen spannend wie ein Krimi ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 467

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Frank Vorpahl

Schliemann und das Gold von Troja

Mythos und Wirklichkeit

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Frank Vorpahl

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Kapitel 1 Große Rochade

Kapitel 2 Nach Hellas

Kapitel 3 Aufbruch nach Hissarlik

Kapitel 4 Freundliche Übernahme

Kapitel 5 Projekt Priamos

Kapitel 6 Osmanische Mühlen

Kapitel 7 Das Dach von Ilion

Kapitel 8 Der Glanz des Goldes

Kapitel 9 Einzug in den Tempel

Kapitel 10 Der Zeremonienmeister

Kapitel 11 Troja und kein Ende

Bibliografie

Bildteil

Bildnachweis

Dank

Register

Inhaltsverzeichnis

Quid non mortalia pectora cogis, auri sacra fames?

 

Wozu bringst du die Herzen der Sterblichen nicht, verfluchter Hunger nach Gold!

Vergil, Aeneis (III 56)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Große Rochade

Ein russischer Millionär wird Reiseschriftsteller

Es ist das Foto einer Frau, das Heinrich Schliemann berühmt macht: eine stolze Griechin mit Ehrfurcht gebietendem Blick, Stirn und Dekolleté, dekoriert mit einem jahrtausendealten Goldschmuck, der wohl nur Helena gehört haben kann, der schönsten Frau im epischen Universum des antiken Dichters Homer. Heinrich Schliemanns suggestive Inszenierung für die Weltpresse, das Porträt seiner 20-jährigen Ehefrau Sophia mit dem Gold, das er in Troja ausgegraben hat, soll die lauthals erhobenen Zweifel an seinem »Schatz des Priamos« überstrahlen.[1] Von nun an gilt er, gegen heftige Proteste der Archäologenzunft seiner Zeit, als der »Entdecker von Troja«, als eine Art Gründervater der modernen Archäologie.

Dabei hat Heinrich Schliemann nie ein Studium abgeschlossen, sondern seine Karriere als 14-jähriger Geselle besenschwingend in einem Krämerladen in Fürstenberg an der Havel begonnen. Wo er auftaucht, sind sensationelle Geschichten nicht fern: vom jugendlichen Auswanderer, der sich nach dramatischem Schiffbruch vor Hollands Küste in tosenden Fluten an seinen schwimmenden Koffer klammert, von dem im kalifornischen Goldrausch reich gewordenen Banker, der seine Beute notfalls mit Machete und Pistole gegen Diebe verteidigt, oder dem gewieften Geschäftsmann in Russland, der mit riskanten Spekulationen auf Schießpulver im Krimkrieg das große Geld verdient. Erst als Mittvierziger beginnt der Multimillionär mit Hang zur Selbstheroisierung sein zweites Leben. Heinrich Schliemann wechselt bis zum Weihnachtsfest 1890, bis zu seinem Tod in Neapel, unendlich oft Länder und Sprachen, Milieus und Metiers und die ihm nahestehenden Menschen. Den gravierendsten Neuanfang aber macht er im Sommer 1865. Er ist 43 Jahre alt und Troja, die Mythen der alten Griechen und das Schatzsuchen liegen noch in weiter Ferne.

Im Morgengrauen des 4. Juli 1865 liegt die Tokio-Bucht so leer und fahl vor ihm wie das gebundene Heftchen, das er von nun an eifrig füllen wird. Es ist eine neue Welt, die dem drahtigen kleinen Mann mit hohem Zylinder und Zwicker bei seinem Abschied von Japan, am Ende einer langen Reise, vor Augen steht. Er will seine Zeitgenossen beeindrucken. Jenseits des Geldscheffelns. Er will schreiben.

Mit der Zuverlässigkeit eines preußischen Kontoristen verfasst Heinrich Schliemann – drei Jahrzehnte nach seiner letzten literarischen Arbeit, einem Schulaufsatz an der Neustrelitzer Realschule – sein erstes Buch. »Es ist auch zu spät, mich der wissenschaftlichen Laufbahn zu widmen«, begründete Schliemann den geplanten Weg in die Schriftstellerei, »denn ich bin bereits im Kaufmannsberufe zu alt geworden, um hoffen zu können, in den Wissenschaften noch etwas zu erreichen.«[2]

Wie geplant braucht er für die Niederschrift seines Debüts die 50 Tage seiner Pazifik-Passage von Yokohama nach San Francisco auf der Rückreise nach Europa.[3] Fast 20 Monate rastloser Recherchen liegen hinter ihm: 1864 hetzte er kreuz und quer durch Europa und Nordafrika: von Aachen nach Paris, Genua und Tunis, dann von Karthago nach Malta und Ägypten, wieder zurück nach Bologna, Florenz und Neapel, weiter nach Wien, Triest und Korfu. Über das Rote Meer schließlich auf den indischen Subkontinent: von Kalkutta über Madras, Delhi und Lucknow zu den Gipfeln des Himalaja. 1865 schifft er sich per Dampfboot nach Penang, Jakarta und Singapur ein und reist weiter ins vietnamesische Saigon. Schließlich China: von Hongkong und Kanton am Perlfluss weiter Richtung Norden nach Peking und zur »Großen Chinesischen Mauer«, endlich von Schanghai nach Japan. Die letzte Reisestation war ihm am wichtigsten, denn hier fallen Ausländer regelmäßig Attentaten zum Opfer, seitdem die Vereinigten Staaten das Ende der japanischen Selbstabschottung erzwungen haben.[4] Gerade darum war Schliemann in die japanische Hauptstadt Edo gekommen, als einziger Fremder neben dem amerikanischen Gesandten. Er hoffte den Schleier lüften zu können, der noch immer über diesem so lange isolierten Teil der Welt lag.

Drei Wochen lang von fünf Polizisten und sechs Pferdeknechten begleitet – teils zum Schutz vor Attentaten, teils zwecks Überwachung –, durfte Schliemann im Sommer 1865 in Tokio Zeremonien beiwohnen, wie sie kein Europäer vor ihm gesehen hatte. So nahm er für eine Nacht unter den 8000 Besuchern des Taisibaia-TheatersPlatz, der größten Bühne von Edo, besichtigte mehrfach den Asakusa-Schrein, Tokios ältesten und bedeutendsten Tempel, und beobachtete schließlich – Höhepunkt seiner Japan-Visite – eine Prozession des Schogun auf der Tokaido, der zwölf Meter breiten und makellos gepflasterten Reichsstraße, zum Tenno in Osaka.[5]

In der Passagierkabine des englischen Seglers Queen of the Avon kann sich Schliemann erstmals wieder völlig sicher fühlen, wenngleich ihm hier nur knapp drei Quadratmeter Platz zur Verfügung stehen.[6] Zum Glück macht der Stille Ozean seinem Namen alle Ehre, sodass er ungestört von Wetterkapriolen oder der Seekrankheit beständig an seinem Buch arbeiten kann. Wie kann er seine Leser fesseln, was soll er ihnen erzählen? Da der britische Segler meist in schier endlosen Nebelbänken navigieren muss, gibt es in der »eintönigen Einsamkeit des grenzenlosen Ozeans« wenig Abwechslung.[7] Allenfalls lenken ihn Tümmler-Herden »mit 500 bis 1000 Tieren« oder ausgedehnte purpurfarbene Krill-Schichten, die vom Schiffsrumpf bis zum Horizont leuchten, für einen Moment vom Schreiben ab.[8]

Nach einer letzten Reiseetappe über Mittelamerika, New York und London landet Heinrich Schliemann schließlich im Januar 1866 in Paris. Und nennt wenig später ein opulentes Stadthaus an der Place St. Michel Nummer 5 sein Eigen. Hier will er leben, inmitten der literarischen und künstlerischen Welthauptstadt. Geld hat er genug. Auch zur Finanzierung seines literarischen Debüts. Es soll in der Librairie Centrale erscheinen, natürlich in französischer Sprache: »La Chine et le Japon au temps présent« par Henry Schliemann.[9]Klang das nicht weit erhabener als ein schnöder deutscher Titel wie »Reise durch China und Japan«? Gebunden in gelbem Karton, 221 Seiten Großdruck, verlegt am Boulevard des Italiens, vis-à-vis zum Café de la Paix, wo die Großen der literarischen Welt verkehren. Heinrich Schliemann gesellt sich selbstbewusst dazu. Ob sich diese Investition von Zeit, Geld und Gesundheit zum Erwerb literarischen Ruhms tatsächlich gelohnt hat? Heinrich Schliemann hat auf seiner Weltreise mehrere schwere Malariaanfälle überstanden, musste wegen Hautausschlags wochenlang das Bett hüten und sich mehrfach am Ohr operieren lassen. Und am Ende vieles weglassen, Berichte über Batavia oder Saigon gab es schon genug. Also nur China und Japan – war das die richtige Wahl für seinen Einstieg in die literarische Welt? Darüber entschied am Ende der Erfolg auf dem Pariser Buchmarkt.

Tatsächlich hatte Schliemanns Reisebuch im Frühjahr 1867 einigen Neuigkeitswert. Der zweite Opiumkrieg der Briten und Franzosen gegen das chinesische Kaiserreich war noch in frischer Erinnerung – mit Schliemann hatte sich nun ein ziviler Besucher in das durch Drogen und Kanonenboote geöffnete Reich der Mitte aufgemacht. Mochte das Französisch des deutschen Autors auch ein wenig ungelenk und seine Hetzjagd durch Fernost eher sporadisch denn tiefschürfend erscheinen, so fielen ihm doch Besonderheiten der anderen Kultur auf, die zumindest einen gewissen Unterhaltungswert garantierten.

»Höchst erstaunt und bestürzt« – so fasste Schliemann seine Alltagseindrücke aus China zusammen.[10] Die chinesische Mode etwa, den weiblichen Fuß als »Objekt der Koketterie« grausam einzuschnüren, was durch luxuriöse Seidenschuhe und bunte Tücher zwar kaschiert wurde, aber zu lebenslangen Gehbehinderungen der Frauen führte.[11] Die Große Chinesische Mauer hingegen, für deren Anblick Schliemann sich über 150 Kilometer von Peking bis Gubeikou auf der Deichsel eines Pferdekarrens gequält hatte, erschien ihm »hundertmal grandioser, als ich sie mir vorgestellt hatte«.[12] Doch sah er im desolaten Zustand dieses »gewaltigsten Bauwerks der Menschheit« auch einen schweigenden Protest gegen »Korruption und Demoralisation«. In seinen Augen war die herrschende Qing-Dynastie im historischen Niedergang begriffen, was er auch an der Verwahrlosung der kaiserlichen Verbotenen Stadt in Peking oder an der »Spielleidenschaft« der Chinesen festmachte, die nicht zuletzt durch das Opium angefacht wurde, mit dem die Briten das Land seit Jahren unter Drogen setzten.[13]

Was Schliemanns Eurozentrismus betrifft, so blieb er seinen Zeitgenossen nichts schuldig.[14] Typisch etwa seine Bemerkung, wonach »das chinesische Volk keine Spur von Harmonie- und Melodiegefühl« besäße.[15] Ähnlich rasche Urteile lässt er auch auf seiner Japan-Visite fallen, wo er beispielsweise mehr Krätze und Hautkrankheiten »als irgendwo sonst auf der Welt« ausmacht.[16] Umgekehrt nennt er die Japaner »unbestritten das sauberste Volk der Welt«.[17] Dass er in den öffentlichen Badeanstalten Nippons etwas zu sehen bekommt, was im prüden Europa seiner Zeit undenkbar wäre, nämlich nackte Menschen beiderlei Geschlechts, die sich täglich ohne Scham voreinander entblößen, um sich im Onsen von oben bis unten abzubürsten – und daher naturgemäß auch die Defekte ihrer Haut nicht verbergen –, kommt ihm nicht in den Sinn. Immerhin will Schliemann aus der »Schamlosigkeit« japanischer Badehäuser kein moralisches Urteil ableiten. Andere Länder, andere Sitten: Selbst die 100.000 Kurtisanen Tokios lässt er relativ kritiklos durchgehen. Das kostbare hauchdünne Japan-Porzellan mit den naturalistischen Nacktszenen allerdings stuft er als »minderwertig« ein.[18] Und höchst empört ist Schliemann, als er an den Wänden eines Shinto-Schreins neben heiligen Kalligrafien Dutzende Bilder von Geishas erblickt: »Nichts vermag eine bessere Vorstellung von den Sitten des japanischen Volkes zu geben«, ereifert er sich, »als das Vorhandensein dieser Porträts im berühmtesten Tempel von Japan.«[19]

Dennoch scheint sich Heinrich Schliemann in den drei Wochen, die er für Yokohama, Tokio und die Bucht ringsum reserviert hat, mehr zu begeistern als an anderen Stationen seiner zweijährigen Weltreise. Das reale Japan, das er schon in jungen Jahren als Sehnsuchtsort auserkoren hat, kann seiner Fantasie in vielfacher Hinsicht standhalten.[20] Die »geradezu übertriebene Reinlichkeit« und Ordnungsliebe der Japaner, liebliche Landschaften voller Bambushaine und Kamelien, prachtvolle Teegärten und Reisfelder in kluger Anordnung, Ehrfurcht gebietende Tempel und Schreine, Literatur für jedermann zu günstigsten Preisen und Kinderspielzeug von höchster Qualität, eine gute Schulbildung für alle Mädchen und Jungen, die »beste Straße der Welt« von einem Ende des Reiches zum anderen und die zweistöckigen erdbebensicheren Holzhäuser, nicht zuletzt der praktische Sinn der Japaner findet Schliemanns Applaus: ein Wasserbrunnen, so leichtgängig wie ein Perpetuum mobile, Pferde, die sich mit dem Kopf zum Gang hin einstallen lassen, sodass sie nicht ausschlagen können, oder das japanische Papier, so raffiniert bearbeitet, dass sich daraus dichteste Regenmäntel fertigen lassen.

Langweilig war Heinrich Schliemanns Reisebuch nicht, dafür hatte der mittlerweile 44-Jährige bei seinem Debüt zu genau überlegt, was er macht: Aus den fünf dicken Tagebüchern, die der polyglotte Weltenbummler auf seiner fast zweijährigen Reise in acht Sprachen verfasst hatte, beschränkte er sich mit China und Japan geografisch auf jene Regionen, von denen andere bislang kaum berichtet hatten. Ein exklusives Angebot an die Leserschaft – das dennoch zum Fiasko wurde. Wie Blei lagen die von Schliemann vorfinanzierten handlichen Hefte 1867 in den französischen Buchregalen, der erhoffte Verkaufserfolg blieb aus.[21]

War sein geringer Bekanntheitsgrad als Autor die Ursache? Oder die Atmosphäre aufgepeitschten Chauvinismus kurz vor dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, sodass ihm sein deutscher Name in Frankreich schadete? Oder hatte er, der bei Spekulationsgeschäften ein Leben lang ein Glückspilz war, sich diesmal verspekuliert, als er bei seinem Lesepublikum ein starkes Interesse an fernöstlicher Exotik voraussetzte? Jahre später gab es den rauschenden Erfolg einer japanischen Prinzessin namens Lakmé in Léo Delibes gleichnamiger Oper in Paris oder den Mailänder Triumph Giacomo Puccinis mit Madame Butterfly. Vielleicht hatte er mit fernöstlichen Sujets zwar richtiggelegen, war aber zu früh angetreten?

Tatsächlich war es nicht Schliemann, sondern der Grieche Georgios Nicolaïdes, der im Jahr 1867 die gelehrte Pariser Welt aufhorchen ließ. In einem Vortrag der Geografischen Gesellschaft auf der Pariser Weltausstellung stellte der Mann aus Kreta ein ebenso streitbares wie faszinierendes militärhistorisches Werk vor. Oder war es eine fantasievolle Fiktion à la Jules Verne? Nicolaïdes unternahm nichts weniger als den Versuch, die Kämpfe zwischen Hellenen und Trojanern, jenen antiken Mythos um den Krieg um Troja aus grauer Vorzeit, den Homer in den 15.693 Versen seiner Ilias besungen hatte – das Werk eines Dichters, dessen Authentizität wiederum selbst angezweifelt wurde –, in die Form einer strategisch-topografischen Karte zu gießen, mitsamt Lokalitäten, Schlachtplätzen und Truppenbewegungen.[22] So elegant wie in einer mathematischen Formel schien Nicolaïdes’ Topographie et plan stratégique de l’Iliade den Homer’schen Mythos auf nur einer Buchseite, auf einer handtellergroßen Landkarte, dingfest zu machen und ihm unleugbare historische Faktizität zuzusprechen. Auf den 270 Seiten seiner analytischen Deutung der Ilias lege er, so Nicolaïdes, den schlüssigen Beweis vor, dass sich König Priamos’ Troja unzweifelhaft auf dem Höhenzug von Bounarbachi an der westtürkischen Küste befunden haben müsse.[23]

Tatsächlich gehörte Nicolaïdes’ Buch zu den drei maßgeblichen Schlüsselwerken, die den Reiseschriftsteller Heinrich Schliemann zwischen 1867 und 1868 in jenen rastlosen Archäologen verwandelten, der heute vielen als Urvater der empirischen Altertumskunde gilt.

Tatsache ist, dass sich Schliemann bis 1867 kaum für die Schauplätze der Ilias interessierte.[24] Erst 15 Jahre später suggerierte er in seiner erstmals veröffentlichten Selbstbiographie, dass schon dem jungen Heinrich durch die Homer-Leidenschaft des Vaters der »feste Glaube an das Vorhandensein jenes Troja« gegeben war.[25] In Schliemanns Kindheitserinnerung mündet das neugierige Interesse des Knaben für die Ilias und ihre Helden in einen »lateinischen Aufsatz über die Hauptereignisse des Trojanischen Krieges«, den er Weihnachten 1832 dem Vater widmete.[26] Diesen »Gründungsmythos« seines Strebens nach Troja verknüpfte Schliemann in der eigenen Darstellung später mit einem schicksalhaften Liebesdrama, das – so der Autobiograf Schliemann –, als kindliche Romanze beginnend, schließlich sein weiteres Leben prägte. Danach stand für ihn und die gleichaltrige Minna Meincke, eine seelenverwandte junge Schatzsucherin aus dem Nachbarort, schon seit dem achten Lebensjahr fest, dass sie »die Stadt Troja gemeinsam ausgraben wollten«.[27]

Zwar wurde diese Darstellung Schliemanns von der Jugendfreundin später als »dichterische Ausschmückung« relativiert.[28] Und auch die väterliche Obsession für Homer blieb in Wirklichkeit hinter der Leidenschaft von Pastor Schliemann für Wein, Weib und Gesang zurück, was dazu führte, dass sein Sohn Heinrich nach dem frühen Tod seiner Mutter schon im Alter von zehn Jahren in den Haushalt seines Onkels wechseln und sich als 14-Jähriger als Krämergehilfe in Fürstenberg an der Havel verdingen musste, statt sich auf ein Universtitätsstudium vorzubereiten.[29] Eine höhere Schulbildung hatte Heinrich Schliemann als verarmte Halbwaise daher nur drei Monate lang auf dem Gymnasium von Neustrelitz genossen.

Dieses am Selbstbewusstsein nagende Bildungsdefizit wollte der frischgebackene Schriftsteller wohl 30 Jahre später in Paris ausgleichen, denn als geschäftstüchtiger Kaufmann und Bankier hatte er in Russland zwar ein Millionenvermögen anhäufen, aber seine elementaren Wissenslücken nie schließen können.[30] Der grau melierte Student der Sorbonne, an der sich Schliemann nach der Rückkehr von der Weltreise mit Sondergenehmigung des französischen Erziehungsministers 1866 einschreiben durfte, hörte in seinem ersten Universitätssemester Vorlesungen zu moderner französischer Sprache und griechischer Literatur, zur Dichtung des 16. Jahrhunderts und in vergleichender Sprachwissenschaft – zur Altertumskunde jedoch nur in einem Fach, nämlich der Ägyptologie.[31] Oberste Priorität hatte die Archäologie für den 44-Jährigen also – ein Jahr vor Beginn seiner ersten eigenen Grabung – noch nicht.[32]

Doch wurde Heinrich Schliemann in Paris auch immer wieder von seiner russischen Vergangenheit eingeholt, sodass er kaum sichere Dispositionen für die Zukunft treffen konnte. In welche Richtung seine Pläne auch immer gehen würden – zunächst galt es, die russischen Bande zu lösen, die sich ihm mehr und mehr als Fallstricke darstellten.

Zwanzig Jahre lang war Sankt Petersburg nicht nur der Mittelpunkt seines Lebens gewesen, sondern auch das Sprungbrett für eine beispiellose berufliche und soziale Karriere. Weiter als dieser Deutsche – so musste es Außenstehenden erscheinen – konnte man es als »Bürgerlicher« im Zarenreich kaum bringen: Er verfügte im Herzen der russischen Hauptstadt über ein großzügiges Stadtpalais mit zwölf Zimmern und zwei Ballsälen, das den Vergleich mit den fürstlichen Residenzen, die sich am Newski-Boulevard und an den eleganten Newa-Kanälen aneinanderreihten, nicht zu fürchten brauchte. Aus seiner Ehe mit Katharina Lyschina – »einer Russin mit großen körperlichen und geistigen Vorzügen«,[33] wie der Bräutigam in sein Amerikatagebuch schrieb – waren seit der Heirat in der prächtigen Petersburger Isaaks-Kathedrale im Oktober 1852 ein Sohn und zwei Töchter hervorgegangen.[34] Dass der Vater seiner Frau einer vermögenden Petersburger Juristenfamilie und ihre Mutter dem polnischen Adel entstammte, dürfte Schliemanns Aufstieg sicherlich förderlich gewesen sein.[35] »Ich bin häufig gereist und habe gewiß viel von der Welt gesehen, aber nie sah ich ein Land, das mir so gefiel wie mein heiß geliebtes Rußland«, formulierte er im Dezember 1852 euphorisch. »Ich werde daher Sankt Petersburg für den Rest meines Lebens zu meiner Heimat machen und nie daran denken, es wieder zu verlassen.«[36] Doch dabei blieb es nicht, denn die anfangs so günstig erscheinenden familiären und gesellschaftlichen Verhältnisse wurden schon bald nach der Heirat mit der wachsenden Entfremdung der Eheleute schwieriger. Katharina, die schon Schliemanns ersten Heiratsantrag kalt zurückgewiesen hatte, schien die Zusage, die sie dem Deutschen bei dessen zweitem Anlauf gegeben hatte, schon bald zu bereuen.[37] Umgekehrt sah sich Schliemann, der nach Katharinas Einverständnis zu einer Zweckehe auf wachsende Gefühle und größere Vertrautheit, nicht zuletzt auf die Liebe zum gemeinsamen Nachwuchs gesetzt hatte, zusehends enttäuscht. »Nach einem Jahr Ehe mußte ich meine Kinder mit Gewalt erzwingen« – so das dramatische Eingeständnis des ungeliebten Ehegatten. Und wie in den Familiendramen bei Ibsen oder Tolstoi wurde auch im Hause Schliemann paternalistische Gewalt zur Kehrseite der Entfremdung: »Ich muß sagen, dass ich ihr die letzten zwei Kinder stehlen mußte«, gestand Schliemann die grausamste Seite seiner Ehe mit Katharina im Februar 1867 in Paris ein.[38]

In den folgenden Monaten versuchte Schliemann auf unterschiedlichen Wegen, diese private Malaise zu beheben – lange mit dem Ziel, Frau und Kinder aus Russland heraus zu sich nach Paris, nach New York, auf ein herrschaftliches Gut in Mecklenburg oder in eine großbürgerliche Villa in Dresden zu holen, die er für diesen familiären Neuanfang eigens erworben hatte.[39] Seiner Frau offerierte Heinrich Schliemann sogar eine Zweckgemeinschaft, die Katharina für immer von den obligatorischen Pflichten einer Ehefrau entbinden sollte: »Sei ruhig, ich werde nie mehr versuchen, Dich zu umarmen«, versprach er.[40] Doch seine Angebote werden nicht erhört.[41] Es folgt ein Versuch Schliemanns, seine Kinder oder wenigstens Sergej, den Ältesten, aus der Konkursmasse seiner Ehe zu retten und dem Einfluss ihrer Mutter und deren Familie zu entziehen. Aber auch dies scheitert. Selbst wütende Drohungen Richtung Russland – »Du weißt, daß Du mit Deiner wilden, rasenden Handlungsweise Deine Kinder enterbst! Ja, sie sind enterbt!«, wie Schliemann nach Petersburg kabelte – können die eiserne Katharina in Petersburg nicht umstimmen.[42]

Wie so oft bei Schliemann, ja geradezu charakteristisch für sein Agieren: Da folgten nicht etwa Brief und Antwortbrief, Aktion und Reaktion, da gab es kaum längere Pausen, die erneutes Nachdenken erlaubten. Vielmehr prüfte Schliemann nahezu zeitgleich, welche Trümpfe er in der Hand hielt. Wie bei seinen Bank- und Handelstransaktionen und später bei seinen Grabungsprojekten handelte er auch im Privaten ohne Verzug und vielfach parallel. Beim Navigieren in schweren familiären Gewässern schlug er so in einem atemlos zu nennenden Stakkato erst die Einrichtung einer neuen familiären Bleibe jenseits von Sankt Petersburg, dann die Trennung der Kinder von der Mutter und schließlich die sofortige Scheidung vor. Und fand für seine Ehe, die nach russisch-orthodoxem Ritual geschlossen wurde und daher als untrennbare heilige Verbindung galt, tatsächlich einen Weg der Auflösung.

Dafür allerdings musste er sein bisheriges Leben auf den Kopf stellen: Obwohl in Russland mit dem Titel eines »erblichen Ehrenbürgers«, als Großkaufmann erster Gilde und Richter des Petersburger Handelsgerichts hoch geehrt, gab er seine russische Staatsbürgerschaft ohne viel Zögern auf.[43] Im Oktober 1867 beendete er sein kurzes Universitätsstudium in Paris und bestieg einen Dampfer nach New York – ironischerweise mit dem Namen Russia –, wo er um die amerikanische Staatsbürgerschaft nachsuchte. Die dafür notwendige Voraussetzung hatte er, so meinte Schliemann, bereits 1851 erbracht, als er seinem jüngeren Bruder Ludwig für anderthalb Jahre nach Sacramento gefolgt war, um im kalifornischen Goldrausch eine Bank zu gründen.[44] Tatsächlich hatte er damals unter abenteuerlichen Umständen sein Vermögen verdoppeln können und war als gemachter Mann nach Europa zurückgekehrt.[45] Doch als »U.S.-Citizen« konnte er, wie ihm die New Yorker Behörden mitteilten, aufgrund dieser kurzen amerikanischen Episode 15 Jahre später nicht anerkannt werden.[46] Dafür musste er fünf Jahre in den USA gelebt haben.

Für Schliemann jedoch spielte der Wechsel der Staatsbürgerschaft die entscheidende Rolle bei der endgültigen Trennung von seiner Ehefrau. Nur als Amerikaner konnte er sich nach den großzügigen Scheidungsgesetzen der USA in Abwesenheit von Katharina trennen und sein Russland-Kapitel endgültig abschließen. Um dieses Ziel zu erreichen, kaufte sich Heinrich Schliemann schließlich Zeugen, die seinen fünfjährigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten bestätigten. Dazu erwarb er ein Haus in Indianapolis und Anteile an der dortigen Stärkemittelfabrik, um den für eine Scheidung vorgeschriebenen Mindestaufenthalt in einem Bundesstaat besser fingieren zu können.[47] Ein Heer von Anwälten war damit beschäftigt, den Rechtsakt vor einem amerikanischen Gericht zu arrangieren und die Anfechtungen des Scheidungsurteils in Sankt Petersburg durch die Lyschin-Familie mittels großzügiger finanzieller Regelungen abzuwehren.[48] Am 30. Juni 1869 hatte er es geschafft: Nach fünfzehn Jahren Ehe war der 47-Jährige geschieden.

Das aber war auch dringend erforderlich, heiratete Heinrich Schliemann doch im September 1869, also keine drei Monate später, zum zweiten Mal – diesmal in Athen. Griechenland, so hatte er seinen Schwager kurz nach der Scheidung in aufgekratztem Offiziersjargon wissen lassen, habe den ungeheuren Vorteil, »daß die Mädchen arm wie Ratzen sind, jeden Fremden als unermeßlich reich ansehen und daher Jagd auf ihn machen, gerade wie ich vor zehn Jahren in Ägypten den Enten nachjagte«.[49]

Während er in Amerika eine ganze Maschinerie in Gang gesetzt hatte, um wieder als lediger Mann disponieren zu können, hielt er zeitgleich diverse weitere Optionen für die Zukunft in der Hand, was sein Privatleben, den Fortgang seiner Geschäfte und sein Bedürfnis nach Ruhm und Anerkennung betraf. Sophia Engastromenos, seine zweite Ehefrau, sollte in Schliemanns neuem Leben den Platz einer schillernden Galionsfigur einnehmen. Und sie wurde dafür mit Akribie ausgewählt: »Sie soll arm sein, aber gebildet«, ließ Heinrich Schliemann – am Vorabend seiner Scheidungstour in die USA bereits wieder auf Brautsuche – seinen einstigen Griechischlehrer Theokletos Vimpos in einem genauen Instruktionsschreiben wissen. »Sie soll griechischen Typus haben, schwarzes Haar, und wenn möglich soll sie schön sein. Meine Hauptbedingung ist ein gutes und liebreiches Herz!«[50] Freund Vimpos hatte es in Griechenland mittlerweile zum Erzbischof von Mantinea und Kynuria gebracht, ein ehrwürdiger Herr, dem junge Damen wohl ihre aussagekräftigen Brustbilder für den Postversand nach Übersee anvertrauen durften. Unter dieser Handvoll Porträts fand sich auch eines von Vimpos’ gerade 16 Jahre alt gewordener Nichte.[51]

»Ich habe mich bereits in Sophia Engastromenos verliebt«, schrieb Schliemann, offenbar elektrisiert inmitten seiner Scheidungsschlacht, aus Indianapolis nach Athen zurück, »und ich schwöre Ihnen, daß sie die einzige Frau ist, die ich heiraten werde.«[52] Dabei blieb es, auch wenn sich Schliemann einige Sorgen machte, weil er »auf Grund meiner ehelichen Schwierigkeiten seit sechs Jahren keine Beziehung zu einer Frau gehabt« hatte.[53] Oder war diese freizügig-peinliche Auskunft nur zur Beruhigung des griechischen Kirchenmannes gedacht, der die Moral des noch nicht einmal geschiedenen Bräutigams, der sich anschickte, in seine Großfamilie einzuheiraten, wohl ein wenig in Zweifel zog? Immerhin hatte er im Spätsommer 1869 auch einige andere Athenerinnen examiniert, wohl aber nur hinsichtlich ihres Bildungsstandes.

Was aber mag in dem 1,57 Meter großen, recht kahlköpfigen Freier Mitte 40 vorgegangen sein, als er das unbekannte junge Mädchen, das er per Foto zu seiner Auserwählten erkoren hatte, beim ersten Zusammentreffen unter vier Augen im September 1869 mit der Frage überfiel: »Sophia – warum wollen Sie mich heiraten?« Weil die Schöne nach peinlichem Herumdrucksen jedoch wahrheitsgemäß antwortet: »Ganz einfach, Herr Schliemann, weil meine Eltern es wollen und weil sie gesagt haben, Sie seien ein reicher Mann«, rauschte er wutschnaubend davon.[54] Erst ein rasch aufgegebener Eilbrief der Brauteltern mit der Beteuerung, das arme Mädchen sei doch nur zu schüchtern gewesen, ihm ihre tiefe Liebe zu bekennen, lenkte den verschnupften Millionär schließlich wieder zurück zum Traualtar.[55] Vor der Hochzeitszeremonie in der Meletios-Kirche im Athener Vorort Kolonos, dem Familiensitz der Tuchhändlerfamilie Engastromenos, mussten Brautvater Konstantinos und seine Tochter Sophia in letzter Minute noch einen Ehevertrag unterzeichnen, in dem die Familie ihren Verzicht auf alle Vermögenswerte erklärte. Diesmal wollte Schliemann sichergehen, dass sein neuerliches Investment in die Institution Ehe nicht noch einmal im Kurs fallen würde.

Das Umfeld beobachten und kühl kalkulieren, Eventualitäten abwägen und Gefahren absichern, Risiken streuen und Kursspitzen ausnutzen, vor allem: im richtigen Moment zuschlagen und nicht zuwarten – das Einmaleins des Börsenspekulanten hatte Heinrich Schliemann von der Pike auf gelernt und es war ihm in 30 Jahren Geschäftspraxis in Fleisch und Blut übergegangen. Im Alter von 14 Jahren, fast noch ein Kind, hatte er sich infolge der desaströsen familiären Verhältnisse in Ankershagen gezwungen gesehen, »in dem Städtchen Fürstenberg in Mecklenburg-Strelitz als Lehrling in den kleinen Krämerladen von Ernst Ludwig Holtz einzutreten«.[56] Doch der stupide Verkauf von »Heringen, Butter, Kartoffelbranntwein, Kaffee, Oel und Talglichtern« und das Fegen der Dielen füllten den aufgeweckten Jungen nicht aus.[57] Fünf Jahre später, nach kurzen Anstellungen in Rostock und Hamburg und einem dramatischen Schiffbruch bei seiner geplanten Ausreise nach Venezuela – er überlebt das Kentern der Brigg Dorothea vor der westfriesischen Insel Texel nur, weil er »eine schwimmende leere Tonne zu fassen« kriegte, wie er seinen Schwestern in einem Brief berichtete, in seinen späteren Darstellungen war es dann aber ein »Ruderboot«, schließlich tauchte auch sein halb leerer Koffer mitsamt »Tagebuch und Empfehlungsschreiben« in dieser Geschichte auf –, verschlägt es ihn im Dezember 1841 mit knapp 20 Jahren ins geschäftstüchtige Amsterdam. [58] Wie viele seiner Zeitgenossen aus ähnlichen kleinbürgerlichen Verhältnissen – der »Chronist Preußens« Theodor Fontane aus Neuruppin etwa, der spätere Berliner »Lokomotiv-König« August Borsig oder auch sein späterer Freund Rudolf Virchow, der »Anatomie-Papst« der Berliner Charité – ist Schliemann in seinem bürgerlichen Emanzipationsstreben hoch motiviert, große Anstrengungen zu unternehmen, um vorwärtszukommen. »Nichts spornt mehr zum Studium an«, so Schliemann im Rückblick, »als das Elend und die gewisse Aussicht, durch angestrengtes Arbeiten sich aus demselben befreien zu können.«[59]

Im winterlichen Amsterdam von 1841, im Gewimmel der Handelsschiffe aus aller Welt, findet er »als Bureaudiener bei Hrn.F. C. Quien« beim Austragen der Post und beim Wechsel-Kassieren eine »Methode«, um das Tor zu seinem Aufstieg aufzustoßen: »Niemals machte ich meine Gänge, selbst bei Regen, ohne mein Heft in der Hand zu haben und auswendig zu lernen«, erläuterte er sein Vorgehen später in seiner ersten Selbstdarstellung, »und es gelang mir, in Zeit von einem halben Jahre die englische Sprache gründlich zu lernen. Nun wandte ich dieselbe Methode auf das Studium des Französischen an, dessen Schwierigkeiten ich ebenfalls in einem andern halben Jahre bewältigte.«[60] Schliemanns wichtigste Lernhilfen waren dabei ein paar Romane in der Originalsprache, Oliver Goldsmith’ Vicar of Wakefield und Walter Scotts Ivanhoe, François Fénélons Aventures de Télémaque und Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre – umfangreiche Buchtexte, die er in der Fremdsprache auswendig lernte und einzelne Passagen ständig wiederholte. »Diese angestrengten und übermäßigen Studien hatten mein Gedächtniss innerhalb eines Jahres in einem solchen Grade gestärkt, dass mir das Studium des Holländischen, Spanischen, Italienischen und Portugiesischen sehr leicht erschien, und ich hatte nicht nöthig, mehr als sechs Wochen auf jede dieser Sprachen zu verwenden, um sie geläufig zu sprechen und zu schreiben.«[61] So behauptet er zumindest.

Interessant ist indes auch, welchen Inhalts die Romane waren, die Schliemann da 20-jährig in seinem Kopf mit sich herumtrug und ständig repetierte. Sollte der sparsame junge Mann für die Lektüre Geld ausgegeben haben? Oder hatte er sich die Bücher geliehen? Fest steht, dass alle vier Romane programmatisch nicht schlecht zusammenpassten. Wenn im Vikar von Wakefield Prediger Pimrose mit seinen Kindern vor seinem abgebrannten Familiensitz steht, erinnert dies an Schliemanns Jugendschicksal. Doch Gottvertrauen und der Glaube an das Gute im Menschen machen die Welt am Ende wieder heil. Auch bei Scott siegt die Gerechtigkeit und die seit der Schlacht von Hastings unterdrückten Angelsachsen bekommen ihre Chance: Der verarmte Ritter Ivanhoe, unverbrüchlich in seiner Treue zu König Löwenherz, kann seine angebetete Lady Rowena schließlich zum Altar führen und die jüdische Maid Rebecca im Turnier retten. Fénélons Geschichte von Odysseus’ Sohn Telemach wiederum entlarvt die Fallstricke des dekadenten Lebens im Überfluss und die Wohlhabenden als Sklaven eingebildeter Bedürfnisse, die zu Neid, Zwietracht und Krieg führen. Während Paul und Virginie, Saint-Pierres’ junges Liebespaar, unter den Palmen von Mauritius jene idyllische Einfachheit der Natur entdecken, die tatsächliches Glück bedeutet. Vermutlich waren es solche Romanbotschaften, die im jungen Heinrich Schliemann die Sehnsucht nach einem hoffnungsvollen Neuanfang im tropischen Südamerika weckten und lebenslang den zupackenden Optimismus des Enthusiasten Schliemann bestärkten.

Was seine Fremdsprachenkompetenz angeht, so überbewertete der 14-Jährige seine Lateinfähigkeiten in der Schule ebenso wie der 47-Jährige die Qualität seiner Altgriechischkenntnisse bei den ersten Vorort-Recherchen auf der Fährte Homers.

Auf dem Abschlusszeugnis der Realschule von Neustrelitz lautete die Bewertung im Fach Latein »Befriedigte nicht«.[62] Und bei Schliemanns Promotion in Rostock im Jahre 1869 bemängelte der Hauptgutachter an dem Doktoranden, dass der »einen vollständig in sich geschlossenen Satz in antiker Form zu bilden nicht versteht« und die Übersetzung von dessen Vita ins Altgriechische »besser ganz weggeblieben wäre«.[63] Unbestritten aber bleibt Schliemanns erstaunliches Sprachtalent, wie viele seiner Briefe und Tagebücher belegen, die er an Reisestationen auf der ganzen Welt in der jeweiligen Landessprache verfasste und so seinen aktiven Wortschatz bewahrte, trainierte und erweiterte.

Vor allem aber erkannte Heinrich Schliemann im Frühjahr 1844 in seiner zweiten Stellung in Amsterdam als Buchhalter und Korrespondent im »Comptoir der Herren H.B. Schröder & Co.« den Wert exklusiver Fremdsprachenkenntnisse in seinem Metier: »Da ich nämlich glaubte, dass ich mich vielleicht durch die Kenntniss der russischen Sprache noch nützlicher machen konnte, beeilte ich mich, auch diese zu lernen. Trotz aller meiner Nachfragen konnte ich keinen Lehrer des Russischen finden, denn Niemand in Amsterdam verstand ein Wort von dieser Sprache. Ich machte mich also daran, ohne Lehrer zu studieren.«[64] Während er an allem knauserte und von Schwarzbrot und Bier lebte, sich zwar gediegene Anzüge leistete, aber an der Unterwäsche sparte,[65] investierte er von seinem nicht eben üppigen Salär wöchentlich vier Franken »für einen armen Juden, der jeden Abend kommen musste, um zwei Stunden hindurch meine russischen Vorträge anzuhören, von denen er nicht eine Sylbe verstand«.[66]

Tatsächlich fiel seinem Chef bald auf, dass Schliemann zu mehr taugte als zum Bürogehilfen. Bei öffentlichen Versteigerungen konnte sich der junge Deutsche offenbar flüssig mit den russischen Händlern verständigen, die zu Indigo-Auktionen nach Amsterdam kamen. Da mit der in Indien gewonnenen Blaufärberpflanze in Russland hohe Gewinne zu erzielen waren, durfte Schliemann sich bald darauf, im Januar 1846, nach Sankt Petersburg aufmachen, um in der russischen Hauptstadt eine Schröder’sche Niederlassung zu gründen. Schon ein Jahr später machte sich der energische junge Handelsagent aus Holland selbstständig und kaufte und verkaufte von nun an auf eigene Rechnung.[67]

»Die furchtbare Passion für Sprachen, die mich Tag und Nacht quält«, bekannte Schliemann ein Jahrzehnt später in einem Brief an seine Tante in Mecklenburg, »ist jetzt schon seit Jahren in blutigem Kampf mit meinen zwei anderen Leidenschaften: dem Geize und der Habgier.«[68] Der aufgesetzte selbstironische Duktus dieser Zeilen war indes nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Immerhin konnte Schliemanns Großhandelsfirma im Jahre 1856 einen Umsatz von 13 Millionen Talern verbuchen.[69] Und die Zahl der Sprachen, die er nach eigenen Angaben mündlich und schriftlich beherrschte, war auf 16 angewachsen. Neben der polnischen, slawonischen, schwedischen, dänischen, alt- und neugriechischen, hebräischen und arabischen Sprache eignete er sich schließlich Sanskrit, Hindustani, Chinesisch und Persisch an.[70] Hatte der 20-Jährige 1841 auf dem vermeintlichen Weg nach Venezuela mit Spanisch angefangen, so lernte er 30 Jahre später für die Ausgrabungen in Troja mit der türkischen vermutlich seine letzte Sprache.

Für den kommerziellen Erfolg bei Geschäften an der Börse, die Schliemann in Petersburg über Jahre nachmittags von 15.30 bis 17.00 Uhr besuchte,[71] kommt der Beobachtung des Marktes und des Marktumfeldes größte Bedeutung zu, weil aus der Verknappung von Rohstoffen und Gütern steigende Preise resultieren. Neben Insider-Informationen war Vielsprachigkeit ein geldwerter Vorteil im Überseehandel der Kolonialära, in einer ständig neue Regionen und Erdteile einbeziehenden Handelswelt. Damit Börsengerüchte sich zu einer halbwegs sicheren Prognose verdichten lassen, die einen hohen Spekulationsgewinn einbringen, musste ein cleverer Spekulant möglichst viele und unterschiedliche ausländische Nachrichtenquellen heranziehen. Schliemann war also bestrebt, eine Vielzahl ausländischer Zeitungen und Telegrafenmeldungen auszuwerten, um den »richtigen Riecher« zu haben und schneller zu sein als seine Konkurrenten. Ein Spekulant, der Millionen scheffeln wollte, musste so polyglott sein wie irgend möglich – und das war er. Nur auf diese Weise konnte Heinrich Schliemann den Aufstieg in die Elite schaffen, obgleich in Russland ebenso wie in Deutschland nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 Adel und Großgrundbesitzer noch lange deutlich privilegiert wurden. Dass Geldadel im alten Europa nicht Adel, nicht höchste Reputation, bedeutete, hatte vermutlich keinen geringen Anteil am späteren Streben Schliemanns nach Ruhm und Anerkennung, sobald er sein Millionenvermögen abgesichert hatte.

Als junger Petersburger Kaufmann konnte Heinrich Schliemann zunächst mit dem Indigohandel erstes Grundkapital akkumulieren – mit soliden Geschäften ohne großes Risiko: »So lange mein Vermögen noch keine 200.000 Francs erreichte, gab ich nur Firmen von bewährtestem Rufe überhaupt Credit. So musste ich mich freilich zuerst mit kleinem Gewinne begnügen«, schrieb er in seinem autobiografischen Rückblick von 1881.[72] Dieses Kapital ließ sich durch das schon erwähnte Amerika-Abenteuer und die Gründung einer Bank für Goldgräber in Kalifornien verdoppeln. Doch erwies sich dieses Unternehmen als ebenso halsbrecherisch wie lukrativ: Schon auf der Hinreise von Liverpool nach New York geriet das Dampfschiff Atlantic – ausgerechnet an Schliemanns 29. Geburtstag – in einen Orkan und dümpelte angeschlagen eine Woche lang zurück nach Irland, sodass der ungeduldige Bankier in spe sein Glück erneut versuchen musste – diesmal von Amsterdam aus mit dem Dampfer Africa – und erst im Mai 1851 die Goldminen im Tal des Sacramento River besichtigen konnte.[73] Immerhin war ihm diesmal ein Kentern des Schiffs, wie ein Jahrzehnt zuvor auf der Nordsee, erspart geblieben. Zudem hatte er auf seiner Tour durch die Vereinigten Staaten in Washington, D.C., Station gemacht, sich Sitzungen im Senat und im Repräsentantenhaus angesehen und angeblich sogar US-Präsident Millard Fillmore seine Aufwartung gemacht.[74]

Die Bankgeschäfte in Kalifornien ließen sich gut an, der vertrauenswürdig wirkende Deutsche konnte mit den Diggern aus aller Herren Länder zumeist in ihrer Muttersprache parlieren und zahlte in bar, wohl etwas unter Marktwert, aber wer kannte den schon tagesgenau? In 18 Monaten konnte Schliemann Goldstaub im Wert von 1,35 Millionen Dollar aufkaufen und dabei erhebliche Gewinne machen.[75] Doch dann brach er das ganze Unternehmen abrupt ab, trotz der hohen Gewinnmarge. War etwas dran an den Gerüchten über unkorrektes Wiegen im Bankgeschäft Henry Schliemann & Co?[76] Oder war es der frühe Tod seines Bruders, das Sterben so vieler anderer Glücksritter an Cholera, Typhus und Ruhr im Sumpfgebiet des Sacramento, die dem 30-Jährigen Todesangst einflößten? Im Winter 1851 wurde er selbst immer wieder von heftigen Gelbfieberschüben heimgesucht.

Als größtes Problem stellte sich am Ende der Gewinntransfer nach Europa heraus, für den es an der amerikanischen Westküste noch keine zuverlässige Logistik gab. Also musste Schliemann sein Gold im Wert von 60.000 Dollar höchstpersönlich heimbringen, nahezu den gesamten Reingewinn all seiner Unternehmungen.[77] Zurück zur amerikanischen Ostküste und weiter nach Europa führte im Frühjahr 1852 jedoch kein Weg an Panama vorbei, dem kriminellen Bermudadreieck der Goldrausch-Ära. Der dortige englische Konsul machte gute Geschäfte, indem er Reisenden von der Pazifik- zur Atlantikküste den sicheren Transport ihrer Wertsachen durch Soldaten offerierte, natürlich gegen gute Bezahlung. Doch fast vier Prozent Schutzgeld, »mehr als 850 Thaler Spesen«, wie Schliemann ausrechnete, kamen überhaupt nicht infrage. Er löste das Problem, ungeachtet seiner schmächtigen Statur, in Wildwestmanier. »Am Rohrgeflecht meines Koffers mit dem Golde befestigte ich Schnüre, deren Enden ich an meinen Händen festband, sodaß ich die geringste Bewegung meines Koffers augenblicklich spüren musste«, hielt er unter dem Datum des 27. April 1852 in seinem Tagebuch fest.[78] Tatsächlich trauten die mit ihren Goldschätzen beladenen Reisenden aus Kalifornien, die sich zur Überquerung des Isthmus von Panama in Eselskarawanen zusammenfanden, weder den Einheimischen noch einander: »Mehr als zwanzig Personen schliefen im gleichen Zimmer, alle ohne Bett und völlig angekleidet; jeder mit einer fünfrohrigen Pistole und einem Dolchmesser bewaffnet«, notierte Schliemann, der sich ebenfalls mit Pistolen, Gewehr und Machete ausgerüstet hatte.[79] Für die schlimmste Pein aber hielt er nicht Banditen, sondern die Moskitos – »höllische Bestien, die unter die Kleider kriechen« –, die er an der Atlantikküste Panamas zwei Wochen lang ertragen musste, bis am 1. Mai 1852 endlich ein Kanonenschuss des Dampfschiffs Sierra Nevada die Erlösung verkündete.[80] Mit 50.000 Reichstalern war er 1852 in die USA aufgebrochen, mit 100.000 kam er nach Russland zurück.[81]

Bald darauf erweiterte er sein Petersburger Stammhaus um »eine Filiale zum Engrosverkauf von Indigo« in Moskau.[82] In Briefen an den Vater in Mecklenburg, den er nunmehr ebenso finanziell unterstützte wie seine Schwestern, berichtete er immer wieder stolz davon, wie sich sein Vermögen vervielfachte.[83]

Doch brachte ihm nach seiner Rückkehr aus den USA der Krimkrieg zwischen Russland auf der einen, dem Osmanischen Reich und seinen westlichen Verbündeten England und Frankreich auf der anderen Seite zwischen 1853 und 1856 weit mehr ein, als der amerikanische Goldrausch. Erst jetzt begriff Schliemann den wahren Wert der Indigo-Pflanze, denn das Blaufärbemittel wurde in Russland nun erst recht in riesigen Mengen gebraucht, denn es diente zum Färben von Militäruniformen. Und doch blieb sein Geschäft höchst riskant, »und mehr als einmal wurde ich nur durch einen Zufall vom gewissen Untergange gerettet«, wie er in seinem autobiografischen Rückblick von 1881 festhielt.[84] »Mein ganzes Leben lang wird mir der Morgen des 4. Oktober 1854 in der Erinnerung bleiben. Es war in der Zeit des Krimkrieges. Da die russischen Häfen blockiert waren, mußten alle für Petersburg bestimmten Waren nach den preußischen Häfen von Königsberg und Memel verschifft und von dort zu Lande weiterbefördert werden. So waren denn auch mehrere hundert Kisten Indigo und eine große Partie anderer Waaren … von Amsterdam für meine Rechnung auf zwei Dampfern an meine Agenten, die Herren Meyer & Co., in Memel abgesandt worden, um von dort zu Lande nach Petersburg transportiert zu werden.« Schliemann selbst, der seinen auf der Amsterdamer Indigo-Auktion erworbenen Schätzen zur Transportkontrolle hinterherreist und die Nacht zum 4. Oktober in Königsberg verbringt, erfährt nun am frühen Morgen, dass am Vorabend ganz Memel »von einer furchtbaren Feuersbrunst eingeäschert worden sei«.[85] Und mit der Stadt auch alle Warenspeicher an den Ufern des Pregel. »Vor der Stadt angekommen, sah ich die Nachricht in der traurigsten Weise bestätigt«, notierte Schliemann. »Wie ein ungeheuerer Kirchhof, auf dem die rauchgeschwärzten Mauern und Schornsteine wie große Grabsteine, wie finstere Wahrzeichen der Vergänglichkeit alles Irdischen sich erhoben, lag die Stadt vor unsern Blicken. Halbverzweifelt suchte ich zwischen den rauchenden Trümmerhaufen nach Herrn Meyer. Endlich gelang es mir, ihn aufzufinden – aber auf meine Frage, ob meine Güter gerettet wären, wies er statt aller Antwort auf seine noch glimmenden Speicher und sagte: ›Dort liegen sie begraben‹. Der Schlag war sehr hart: durch die angestrengte Arbeit von achtundeinhalb Jahren hatte ich mir in Petersburg ein Vermögen von 150000 Talern erworben – und nun sollte dies ganz verloren sein.«[86] Nach eigenen Angaben blieb Schliemann trotz dieses Schicksalsschlags seltsam ruhig. »Der Krimkrieg hatte nämlich erst vor kurzem begonnen«, wie ihm bei der Weiterreise nach Sankt Petersburg durch den Kopf ging, und gewiss würde ein Fuchs wie er jederzeit Kredit für einen Neuanfang erhalten. »Und so hatte ich die beste Zuversicht, daß es mir mit der Zeit gelingen werde, das Verlorene wieder zu ersetzen.«[87] Tatsächlich aber ereignete sich noch am selben 4. Oktober 1854 in der Postkutsche kurz hinter Tilsit etwas, was Schliemann später als »das Wunder von Memel« feiern würde: »Ich erzählte eben den übrigen Passagieren von meinem Missgeschick, da fragte plötzlich einer der Umstehenden nach meinem Namen und rief, als er denselben vernommen hatte, aus: ›Schliemann ist ja der einzige, der nichts verloren hat! Ich bin der erste Kommis bei Meyer & Co. Unser Speicher war schon übervoll, als die Dampfer mit Schliemanns Waren anlangten, und so mußten wir dicht daneben noch einen hölzernen Schuppen bauen, in dem sein ganzes Eigentum unversehrt geblieben ist.‹ Der plötzliche Übergang von schwerem Kummer zu großer Freude ist nicht leicht ohne Tränen zu ertragen: ich stand einige Minuten sprachlos; schien es mir doch wie ein Traum, wie ganz unglaublich, daß ich allein aus dem allgemeinen Ruin unbeschädigt hervorgegangen sein sollte!«[88]

Statt sich für einen Neuanfang zu verschulden, konnte Heinrich Schliemann nunmehr die Gewinne aus dem erfolgreichen Indigo-Geschäft für sich arbeiten lassen. Da er die selbst gesetzte Spekulationsbremse von 200.000 Talern nunmehr übersprang, wagte er es, riskanter zu investieren. Dabei kam ihm, dem bürgerlichen Aufsteiger, bei seinen Russlandgeschäften die neutrale Position Preußens im Krimkrieg besonders entgegen, die von den erzkonservativen Junkern um Otto von Bismarck, dem späteren Gesandten Preußens in Petersburg und »eisernen Kanzler« des deutschen Kaiserreichs, gegen alle Widerstände der preußischen Liberalen bis zum Kriegsende gehalten wurde.[89] Heinrich Schliemann nutzte diesen Heimvorteil geschickt aus und versorgte Russland über die neutralen deutschen Häfen in Ostpreußen – »infolge der Zerstörung Memels alle über Königsberg« – nicht mehr nur mit Färbemitteln, sondern vor allem mit Salpeter, Schwefel und Blei.[90] In seiner Selbstdarstellung führte er seine geradezu prophetischen Marktprognosen gern auf nächtliche Eingebungen zurück: So habe er im Juni 1855 »eines Nachts plötzlich das sichere Gefühl gehabt, daß der Preis für Salpeter steigen werde«. Also sei er aus dem Bett aufgesprungen und habe seinen Agenten in Hamburg, Berlin und Königsberg die Order telegrafiert, sofort alle verfügbaren Lagerbestände an Salpeter aufzukaufen.[91] Tatsächlich war damals in der russischen Hauptstadt die Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen, dass Briten und Franzosen am 3. Juni 1855 einen der Hauptumschlagplätze der russischen Armee am Asowschen Meer, das Militärdepot von Taganrog, angegriffen und zerstört hatten. Da die Westmächte mit 16.000 Mann Bodentruppen und diversen Kriegsschiffen die Versorgungslinien der russischen Hauptarmee im Krimkrieg abzuschneiden drohten, die durch das Asowsche Meer verliefen, musste der frisch vom Zaren eingesetzte General Tolstoi die Materialverluste von Taganrog so rasch wie möglich ausgleichen. Salpeter für die Schießpulverherstellung war also dringender denn je gefragt. Insofern war Schliemann als Spekulant nicht auf Träume angewiesen, sondern musste nur genauestens das Kriegsgeschehen beobachten, um profitable Transaktionen in die Wege zu leiten – in diesem Fall verdiente er am Salpeter-Nachschub die gewaltige Summe von 40.000 Talern.[92] An seinen Freund Bahlmann nach Waren/Müritz aber schrieb er, er habe »fast immer mehr Glück als Verstand gehabt« und so habe sich sein Vermögen durch diese »überaus glücklichen Unternehmungen in 1853, 1854 u. 1855 das von Californien mehr als versechsfacht«.[93]

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Schliemann, der Fénélons radikalpazifistischen Telemach als junger Mann auf Französisch auswendig hersagen konnte undmithilfe der kyrillischen Ausgabe dieser Friedensbotschaft die russische Sprache erlernt hatte, ausgerechnet mit Kriegsgewinnen zum Millionär wurde, indem er – »da die Kapitalisten Scheu trugen, sich während des Krimkrieges auf größere Unternehmungen einzulassen« – nicht nur ein Drittel der russischen Indigo-Einfuhren, sondern auch ein Drittel des Pulvers besorgte, das Russland im Krimkrieg verschoss.[94] »Ich gelte hier und in Moskau als der schlaueste, durchtriebenste und fähigste Kaufmann«, teilte er seinem Vater im Frühjahr 1856 nicht ohne Stolz mit. Selbst durch die Niederlage Russlands wurde er zum Gewinner, der genug Geld verdient hatte, um von den Zinsen leben zu können.[95]

Indes blieb der Fall der russischen Festung Sewastopol auf der Krim und die russische Demütigung von 1856 für das Bank- und Handelshaus in Petersburg naturgemäß nicht folgenlos. Statt des russischen Schutzschirms über die Christen im gesamten Osmanischen Reich, die Zar Nikolaus I. ultimativ von der Hohen Pforte gefordert hatte, musste sein Thronfolger Alexander II. im Friedensabkommen von Paris die russische Schwarzmeerflotte und die Schutzherrschaft über die Donau-Fürstentümer aufgeben. Dieser politischen Depression folgte die wirtschaftliche Flaute, die 1857 in eine Handelskrise mündet. »Hier liegt das Geschäft ganz unter den Füßen«, so Schliemanns Befund, »und bei größter Energie ist es nicht mehr möglich, etwas zu verdienen.«[96] Tatsächlich verliert er in der Krise zwischen 300.000 und 400.000 Rubeln, besitzt allerdings ein großes finanzielles Polster.[97] Umso mehr ist jetzt Schliemanns guter Riecher, das heißt hellsichtige Marktumfeld-Analyse, gefragt. Als in Kronstadt, dem wichtigsten Marinestützpunkt der russischen Baltikflotte, die Docks abbrennen, kauft Schliemann alles Holz vom Markt, um beim Wiederaufbau der Hafenanlagen Höchstpreise erzielen zu können. Und als Gerüchte über eine russische Justizreform umgehen, denkt er sofort an die erforderlichen neuen Gesetzbücher, sucht bei der russischen Regierung um den Großauftrag für das erforderliche Papier nach und erhält den Zuschlag.[98]

Die Firma Schliemann & Co. ist dank ihrer internationalen Kontakte schließlich so gut aufgestellt, dass sie auch an einem Krieg in Amerika verdienen kann. Als in den USA 1861 der Bürgerkrieg zwischen den Nordstaaten und den Konföderierten der Südstaaten losbricht, importiert Schliemann 15.000 Ballen Baumwolle aus dem bedrängten Süden und macht »sehr bedeutende Geschäfte, die durch den amerikanischen Bürgerkrieg und die Blockade der südstaatlichen Häfen begünstigt wurden und sehr großen Gewinn gaben. Als die Baumwolle aber zu teuer wurde, gab ich sie auf und machte Geschäfte in Tee.«[99]

Allein von Mai bis Oktober 1860 beläuft sich der Wert der von Schliemann importierten Waren auf »10 Millionen Mark«, im Jahre 1861 handelt er mit Waren »für zirka zweieinhalb Millionen Silberrubel«, doch all das, »um mir Zerstreuung zu verschaffen«, wie er Freund Bahlmann verrät.[100] Die jährliche Messe in Nischni Nowgorod erlebt er »wie ein Säufer, wenn er in eine Bude mit lauter Schnapsflaschen gesperrt wird«.[101] Geld verdienen, das ständige Zocken an den Märkten, war längst zu einer Art Selbstzweck geworden.

Vielleicht würde man heute von überdehnter Arbeitsroutine oder Suchtverhalten sprechen – in jedem Fall wurde sich Heinrich Schliemann in der Flaute nach dem Krimkrieg seiner Lage bewusst. Seit dem Kriegsende dachte er darüber nach, sich im Bank- und Handelsgeschäft nicht mehr »so abzuquälen und diese schauderhaften Risikos zu laufen«, wie er Bahlmann beichtete.[102] Er musste sich also bemühen, sein Vermögen »den Wechselfällen des Handels zu entziehen«, wie er es ausdrückte, also sichere Anlagen tätigen, Grundstücke erwerben, in Immobilien investieren.

»Aber was dann anfangen?«, fragte er sich.[103] Vielleicht größere Ländereien im Süden Brasiliens kaufen? Oder doch ein schönes Landgut in Mecklenburg für ein ruhiges Leben auf dem Land?[104] Glaubt man Schliemanns Selbstdarstellung, so gab es jedoch einen schon viel früher gefassten Plan.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2 Nach Hellas

Durch arabische Wüsten zu Odysseus und Homers Heroen

»Ich hatte immer sehnlichst gewünscht, Griechisch lernen zu können; vor dem Krimkriege aber war es mir nicht ratsam erschienen, mich auf dieses Studium einzulassen, denn ich mußte fürchten, daß der mächtige Zauber der herrlichen Sprache mich zu sehr in Anspruch nehmen und meinen kaufmännischen Interessen entfremden möchte. Während des Krieges aber war ich mit Geschäften dermaßen überbürdet, daß ich nicht einmal dazu kommen konnte, eine Zeitung, geschweige denn ein Buch zu lesen. Als aber im Januar 1856 die ersten Friedensnachrichten in Petersburg eintrafen, vermochte ich meinen Wunsch nicht länger zu unterdrücken und begab mich unverzüglich mit größtem Eifer an das neue Studium; mein erster Lehrer war Herr Nikolaos Pappadakes, der zweite Herr Theokletos Vimpos, beide aus Athen, wo der letztere heute Erzbischof ist. Wieder befolgte ich getreulich meine alte Methode, und um mir in kurzer Zeit den Wortschatz anzueignen, was mir noch schwieriger vorkam als bei der russischen Sprache, verschaffte ich mir eine neugriechische Übersetzung von ›Paul et Virginie‹ und las dieselbe durch, wobei ich dann aufmerksam jedes Wort mit dem gleichbedeutenden des französischen Originals verglich. Nach einmaligem Durchlesen hatte ich wenigstens die Hälfte der in dem Buche vorkommenden Wörter inne, und nach einer Wiederholung dieses Verfahrens hatte ich sie beinahe alle gelernt, ohne dabei auch nur eine Minute mit Nachschlagen in einem Wörterbuche verloren zu haben. So gelang es mir, in der kurzen Zeit von sechs Wochen die Schwierigkeiten des Neugriechischen zu bemeistern; danach aber nahm ich das Studium der alten Sprache vor, von der ich in drei Monaten eine genügende Kenntnis erlangte, um einige der alten Schriftsteller und besonders den Homer verstehen zu können, den ich mit größter Begeisterung immer und immer wieder las.

Nun beschäftigte ich mich zwei Jahre lang ausschließlich mit der altgriechischen Literatur, und zwar las ich während dieser Zeit beinahe alle alten Classiker cursorisch durch, die Ilias und Odyssee aber mehrmals.«[105]

Ganz so stringent, wie Heinrich Schliemann die Leser seiner Selbstbiographie glauben machen will, ist seine Ausrichtung auf Griechenland und Homer nach dem Krimkrieg jedoch nicht. Vielmehr wird ihm, als er in der deutschen Gemeinde der russischen Hauptstadt stärker mit dem Präsidenten des Kaiserlich-Pädagogischen Instituts von Sankt Petersburg Friedrich Lorentz in Kontakt kommt, das Bildungsdefizit seiner Jugend bewusst. Lorentz’ gestochenes Latein, das Schliemann bei einem Festvortrag zum Jubiläum des Schulinstitutes hört, begeistert ihn so sehr, dass er die lange Rede auswendig lernt und es künftig mit den Lateinkenntnissen des Historikers aufnehmen will.[106] Lorentz wiederum hat als frisch emeritierter Professor die Zeit, an den wöchentlichen Petersburger Kaminabenden im Hause Schliemann teilzunehmen, und empfiehlt schließlich einen Kollegen als Privatlehrer. Und so nimmt der Lernbegierige im Sommer 1858 mit seinem »verehrten Freunde Professor Ludwig von Muralt in Petersburg die Studien der lateinischen Sprache wieder auf, die fast 25 Jahre lang geruht hatten«.[107]

Zugleich kann es sich Schliemann endlich auch leisten, auf ausgedehnte Bildungsreisen zu gehen. Sein Interesse ist dabei jedoch nicht auf Griechenland fokussiert, sondern viel breiter aufgefächert: »Im Jahre 1858 schien mir mein erworbenes Vermögen groß genug, und ich wünschte mich deshalb gänzlich vom Geschäft zurückzuziehen. Ich reiste zunächst nach Schweden, Dänemark, Deutschland, Italien und Ägypten, wo ich den Nil bis zu den zweiten Katarakten in Nubien hinauffuhr. Hierbei benutzte ich die günstige Gelegenheit, Arabisch zu lernen, und reiste dann durch die Wüste von Kairo nach Jerusalem. Darauf besuchte ich Petra, durchstreifte ganz Syrien und hatte so fortdauernd Gelegenheit, eine praktische Kenntnis des Arabischen zu erwerben; ein eingehendes Studium der Sprache nahm ich erst später in Petersburg vor. Nach der Rückkehr aus Syrien besuchte ich im Sommer 1859 Smyrna, die Cykladen und Athen und war eben im Begriff, nach der Insel Ithaka aufzubrechen, als ich vom Fieber befallen wurde.«[108]

Es ist ein umfangreiches Bildungsprogramm, das Schliemann bis zu seiner Erkrankung absolviert. Aber auch ein großes Abenteuer. Für die schwierige Durchquerung der Sinai-Halbinsel von Kairo nach Jerusalem mietet er zwölf Kamele an, die »mit Lebensmitteln, Hausgeräten, Zelten und Waffen beladen« werden, und tut sich mit zwei jungen Abenteurern aus Bologna zusammen, den Grafen Giulio und Carlo Bassi. Bei Askalon wird er »von zwei Beduinen zu Pferde angegriffen« und kann nur »durch die größere Schnelligkeit meines Hengstes unversehrt« entkommen, wie er seinen Schwestern vermutlich künstlerisch ein wenig ausgeschmückt berichtet.[109] Und weiter, er sähe in der Wüste »fortwährend die Täuschung der Fata Morgana, welche den ganzen Tag hindurch die herrlichsten Seen mit Wald umgibt und dann und wann auch das Meer präsentiert«, wie er schreibt, »doch kommt man an den Ort hin, so sieht man nur Flugsand, den der Wind in Massen emporhebt«.[110] Zumindest das Andauern der Luftspiegelung vom Morgen bis zum Abend scheint dem Reich der Schliemann’schen Fantasie anzugehören. Ansonsten beweist Schliemann in seinen schriftlichen Berichten Sinn für romantische Naturbeobachtungen: Im »ewigen Schnee« hoch auf dem Libanongebirge bewundert er »die über 4000 Jahre alten Zedern, von denen Salomon das Holz zum Tempelbau nahm«.[111] In Petra mit seinen Theatern, Palästen und Grabhöhlen genießt er die in Fels geschlagenen Kunstwerke »im herrlichsten Farbenspiel« der Sonne.[112] Im Toten Meer entdeckt er, »dass es ganz unmöglich ist unterzusinken«, während er im Jordan »badend und überschwimmend beinahe ertrunken wäre, denn mit wütendem Ungestüm tobt der Strom ins Tote Meer«.[113] In Damaskus hat er zwischen Aprikosen-, Mandel- und Feigenbäumen sein Zelt »in einem herrlichen öffentlichen Garten aufgeschlagen, durch welchen ein Fluss und mehrere Bäche laufen«.[114] Sein Tagebuch führt Schliemann wie immer in der örtlichen Landessprache. So erweitert er mit Sprachstudien und Notizen in Arabisch, gleich im Anschluss an seine Petersburger Griechisch- und Lateinstunden, noch einmal das Portefeuille seiner Fremdsprachenkenntnisse. »Jede Sprache bedeutet ein neues Leben«, formulierte er in einem Brief an seinen Bruder Ernst.[115] Doch noch weiß er selbst nicht genau, welches Leben er in Zukunft anstreben soll, welche Sprache künftig die wichtigste in seinem Leben sein wird. Fest steht nur: Er will seine Karriere als Kaufmann und Spekulant an den Nagel hängen und neu anfangen.

Doch noch einmal wird er von äußeren Zwängen zurückgehalten. Die Reise von Jerusalem, die er im Mai 1859 nach Damaskus antritt, erweist sich als zu anstrengend. Es ist keine der bequemen Schiffsreisen, wie er sie auf dem Nil bis Abu Simbel unternehmen konnte, sondern eine strapaziöse Tour zu Pferde durch das steinige Heilige Land, bei sengender Hitze nach Samaria, Nazareth, Kanaa, Tiberias, zum Berg Karmel und weiter über Tyrus, Sidon und Beirut nach Damaskus. Die Fieberanfälle, die ihn schon seit der Ankunft in Syrien Ende Mai durchschütteln, holen ihn dann auch auf dem Schiff, bei der Überfahrt nach Smyrna und erneut auf der Weiterreise nach Athen, ein. In der griechischen Hauptstadt schließlich fesseln ihn hohe Temperaturen und Schüttelfrost für eine ganze Woche ans Bett und er muss um sein Leben bangen. Ursprünglich hatte er vorgehabt, von Smyrna über Konstantinopel nach Odessa weiterzufahren, er wollte »Landeigentümer im südlichen Rußland ansehen und wenn passend kaufen«, wie er vor der Erkrankung notierte.[116] Irgendwann kamen ihm dann, will man seinen späteren Selbstdarstellungen glauben, Ithaka – die Insel des Odysseus – und Homer in den Sinn.[117] Doch ob nun Odessa oder Odysseus – beide rückten Mitte 1859 in weite Ferne. Und auch als er auf seiner Rückreise nach Russland über Konstantinopel, Budapest und Stettin mit dem Schiff bei der Ausfahrt aus dem Mittelmeer die Dardanellen passierte – jene Landenge, auf der er wenige Jahre später Troja verorten sollte –, schwieg sein sonst so beredtes Tagebuch. An Homer dachte er 1859 wohl nicht.

Stattdessen kehrte Schliemann Ende Juli nach Sankt Petersburg zurück, dank der »Luftveränderung« hatte sich das Fieber bald gelegt. Doch jetzt waren es juristische Fallstricke, die Heinrich Schliemann ans Zarenreich fesselten. Der Hintergrund: Bevor er zu seiner Mittelmeerreise aufgebrochen war, hatte er sein Petersburger Geschäft an den russischen Kaufmann Stjepan Solowjew verkauft. Der hatte sich vertraglich verpflichtet, die Übernahmesumme von 83.000 Silberrubeln in vier Jahresraten zu entrichten.[118] Doch dann stockte die Zahlung, der russische Kaufmann, der schon bald nach der Übernahme Konkurs anmelden musste, weigerte sich, die vereinbarten Kaufbeträge zu zahlen. Und mehr noch: Er verleumdete Schliemann als Betrüger und Wechselfälscher. In seiner Ehre »außerordentlich bloßgestellt«, musste Schliemann Klage erheben und einen Großteil seiner Energie auf den anstehenden Prozess richten, den er jedoch nach wenigen Monaten für sich entscheiden konnte. »Nun aber appellierte mein Gegner bei dem Senat, wo kein Prozeß in weniger als drei bis vier Jahren zur Entscheidung gelangen kann«, empörte sich Schliemann in einem Brief an seinen Reisegefährten Graf Luigi di Bassi. »Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie sehr ich gelitten habe bei meinem heißblütigen Charakter in all dieser Zeit, und recht oft habe ich in einer einzigen Nacht für eine Million Ärger und Wut in mich hineingeschluckt.«[119]

Die gerichtlichen Auseinandersetzungen, die Solowjew noch einmal durch Bestechung der Gerichtssekretäre verzögern kann, sodass das schriftliche Urteil lange nicht ausgestellt wird, kosten Schliemann insgesamt drei Jahre.

Nur ein Mal, während er monatelang auf den ersten Petersburger Prozess wartete, konnte Schliemann auf Studienreise gehen. Diesmal nach Spanien. Und wieder will er alles sehen: das Baskenland, San Sebastian und Madrid, Gibraltar, Cadiz und Alicante, Toledo, Segovia und Cordoba, Sevilla, Malaga und die Alhambra, schließlich Valencia und Barcelona.[120] Er vertieft sich in die Kunst der Karthager und der Römer, der Sarazenen und Mauren, studiert im Escorial und im Prado italienische und spanische Malerei. Nach und nach scheint sein Entschluss festzustehen: Er will die Welt sehen und über seine Reiseeindrücke berichten. Heinrich Schliemann, der polyglotte, gut situierte Weltenbummler, möchte – es ist naheliegend – Reiseschriftsteller werden.

Endlich, im Dezember 1863, zahlt Solowjew die letzte Rate, jetzt kann Heinrich Schliemann seine Firma gewinnbringend auflösen.[121] Zugleich verabschiedet er sich als Geschäftsmann von Russland. In Petersburg lässt er sich förmlich von seiner Funktion als ehrenamtlicher Handelsrichter beurlauben, die er über drei Jahre pflichgetreu an jedem Montag und jedem Donnerstag ausgeübt hatte.[122] Die Wahrung seiner Geschäftsinteressen legt er in die Hände zweier vertrauenswürdiger Petersburger Bankiers. Schließlich nimmt er erhebliche Kapitalverschiebungen vor – Zehntausende Pfund für Eisenbahn-Obligationen in den Vereinigten Staaten und Kuba und große Summen zugunsten französischer Wertpapiere und Immobilien in Paris. Seine Rückkehr in den Westen steht fest.[123]