Aufbruch im Licht der Sterne - Frank Vorpahl - E-Book

Aufbruch im Licht der Sterne E-Book

Frank Vorpahl

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Beschreibung

Ohne sie wäre kein Europäer lebend zurückgekommen: Tupaia, Maheine, Mai – die Indigenen, die James Cooks Entdeckungen in der Südsee erst möglich machten. James Cook gilt als bedeutendster Entdecker nach Kolumbus. Freilich: Ohne Tupaia, Maheine und Mai wären seine Reisen unmöglich gewesen. Sie führten Cook in die Welt der Südsee ein, bewahrten seine Schiffe vor gefährlichen Korallenriffen und ersparten es ihm, in Neuseeland von den Maori als Eindringling massakriert zu werden. Tupaia, Meisternavigator, Hohepriester und Chefberater der Herrscher Tahitis erstellte eine Seekarte mit mehr als 70 unbekannten Inseln, das erste schriftliche Dokument, das das ungeheure nautische Wissen polynesischer Seefahrer belegt, die auf ihren Übersee-Kanus den Pazifik schon Jahrtausende vor den Europäern befuhren. Kam er in Cooks Beschreibungen etwa nur deshalb kaum vor, weil er an Bord an Skorbut erkrankte und bald darauf starb – Cook aber als der Kapitän in die Seefahrtsgeschichte eingehen wollte, der »keinen einzigen Mann an den Scharbock verloren« hatte? Maheine ermöglichte es Cooks Expedition bei der zweiten Reise, drei Jahre durchzuhalten und Zugang zu wichtigen Kultgegenständen zu bekommen. Mai kam als Einziger bis nach London mit und erlangte dort bizarren Ruhm als »wilder Südseeprinz«. Alle drei hatten Gründe, bei den Engländern mitzusegeln, von denen diese nichts ahnten. Wo findet sich eine angemessene Würdigung der drei?

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Frank Vorpahl

Aufbruch im Licht der Sterne

Wie Tupaia, Maheine und Mai Captain Cook den Weg durch die Südsee erschlossen

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Frank Vorpahl

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Frank Vorpahl

Frank Vorpahl ist promovierter Historiker, Autor und Kurator. Bei ZDF-Aspekte ist er Redakteur. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Georg Forster und James Cooks Südseeexpeditionen. 2007 initiierte er die illustrierte Neuausgabe von Georg Forsters Reise um die Welt in der ANDEREN BIBLIOTHEK. 2018 veröffentlichte er Der Welterkunder. Auf der Suche nach Georg Forster. Im Zuge seiner Recherchen war er oft in der Südsee und kuratierte Ozeanien-Ausstellungen in Deutschland und Tonga.

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Über dieses Buch

Ohne sie wäre kein Europäer lebend zurückgekommen: Tupaia, Maheine, Mai – die Indigenen, die James Cooks Entdeckungen in der Südsee erst möglich machten.

 

James Cook gilt als bedeutendster Entdecker nach Kolumbus. Freilich: Ohne Tupaia, Maheine und Mai wären seine Reisen unmöglich gewesen. Sie führten Cook in die Welt der Südsee ein, bewahrten seine Schiffe vor gefährlichen Korallenriffen und ersparten es ihm, in Neuseeland von den Maori als Eindringling massakriert zu werden.

Tupaia, Meisternavigator, Hohepriester und Chefberater der Herrscher Tahitis erstellte eine Seekarte mit mehr als 70 unbekannten Inseln, das erste schriftliche Dokument, das das ungeheure nautische Wissen polynesischer Seefahrer belegt, die auf ihren Übersee-Kanus den Pazifik schon Jahrtausende vor den Europäern befuhren. Kam er in Cooks Beschreibungen etwa nur deshalb kaum vor, weil er an Bord an Skorbut erkrankte und bald darauf starb – Cook aber als der Kapitän in die Seefahrtsgeschichte eingehen wollte, der »keinen einzigen Mann an den Scharbock verloren« hatte? Maheine ermöglichte es Cooks Expedition bei der zweiten Reise, drei Jahre durchzuhalten und Zugang zu wichtigen Kultgegenständen zu bekommen. Mai kam als Einziger bis nach London mit und erlangte dort bizarren Ruhm als »wilder Südseeprinz«.

Alle drei hatten Gründe, bei den Engländern mitzusegeln, von denen diese nichts ahnten.

Wo findet sich eine angemessene Würdigung der drei?

Inhaltsverzeichnis

Vorsatzabbildung

Kapitel 1 Hohepriester, Navigator, Geflüchteter: Der Chefberater Ihrer Majestät

Kapitel 2  Tupaia als Meister-Stratege: Die Dolphin und das Massaker von Matavai

Kapitel 3  Pyramide der Macht: Eine Charme-Offensive zum Umgarnen der Popa’a

Kapitel 4  Krieg um Papara: Auf dem Weg zum Navigator Captain Cooks

Kapitel 5  Banks’ Südsee-Kuriositäten: Tupaia und die ersten Bilder Ozeaniens

Kapitel 6  Captain Cooks »Entdeckung«: Das große Inselmeer der Polynesier

Kapitel 7  Tupaias Karte: Eine Vorschau der zweiten Cook’schen Weltumsegelung

Kapitel 8  Polynesien-Gipfel: Der »Admiral« der Endeavour auf Aotearoa

Kapitel 9  Ra’iātea Connections: Tupaias Nachfolger auf Cooks zweiter Reise

Kapitel 10  Cooks Entdeckung Ozeaniens: Maheine, Mai und die Magie der roten Federn

Quellen und Bibliographie

Dank

Register

Abbildungsverzeichnis

Tupaia’s chart

Kapitel 1Hohepriester, Navigator, Geflüchteter: Der Chefberater Ihrer Majestät

Tupaia war nicht zu übersehen. Selbst für Samuel Wallis nicht, den Captain der Dolphin, der an diesem 11. Juli 1767 noch immer gehunfähig und vom Skorbut ausgemergelt nur aus dem kleinen Fenster seiner Kapitänskajüte beobachten konnte, wie sich an Land eine leuchtend weiße Gestalt in wallenden Gewändern dem Ankerplatz seines Schiffs näherte. Plötzlich verwandelte sich das drohende Treiben Hunderter Inselbewohner am Ufer, die sich in den letzten Tagen in der Bucht von Matavai versammelt hatten, um das fremde Schiff und die gefährlichen bleichen Ankömmlinge mit eigenen Augen zu sehen, in ein lautloses Spalier.[1] In der Gasse kastanienbrauner Körper mit gebeugtem Nacken nahm sich der forsch ausschreitende, groß gewachsene Mann in Weiß wie eine Lichtgestalt aus – ein römischer Feldherr in seiner Toga. Erst dann nahm Captain Wallis die in voluminöse rote Stoffe gehüllte Frau an Tupaias Seite wahr. Ihr Gang wirkte nicht weniger selbstbewusst, der turmhohe Schmuck auf ihrem Kopf verlieh ihr etwas Majestätisches. Tobias Furneaux, der Zweite Offizier der Dolphin, der anstelle seines geschwächten Commanders die Landeoperationen auf der bislang von Europäern unentdeckten Insel befehligte, konnte den Captain nach seiner Rückkehr an Bord genauer ins Bild setzen: Die matronenhafte Frau in Rot musste die Königin von Tahiti sein, ihr hünenhafter Begleiter in Weiß der Chefberater Ihrer Majestät. Ein Paar von entscheidender Bedeutung – so die Annahme der britischen Besatzung – für die legale Inbesitznahme des fruchtbaren und dicht besiedelten Eilands für die britische Krone.

Die Voraussetzungen dafür schienen endlich gegeben: Der König Tahitis war – so nahmen die Briten fälschlich an – schon vor zwei Wochen, am 24. Juni 1767, in der ersten Schlacht der Dolphin gegen die Flotte der Insel in der Matavai-Bucht getötet worden, als eine Kanonenkugel das größte der tahitischen Kriegskanus zertrümmert und den Katamaran in zwei Teile gespalten hatte. Dem waren weitere Kanonaden und Scharmützel gefolgt, die die Überlegenheit britischer Feuerwaffen über die Speere, Keulen und Steinwürfe der Tahitianer deutlich demonstriert haben dürften. Etwa 300 der widerständischen Eingeborenen waren getötet worden. »Sie müssen einen schrecklichen Schock erlitten haben, als sie ihre Nächsten und Freunde tot sahen«, trug der Schiffslotse George Robertson ins Logbuch der Dolphin ein. »Ich bin sicher, dass sie sie auf eine Weise in Stücke gerissen sahen, wie sie es nie zuvor für möglich gehalten hatten.«[2]

Jetzt, zwei Wochen nach dem Massaker von Matavai, lagen die Geschicke Tahitis vermutlich in den Händen der Witwe des vermeintlich getöteten Königs, so Tobias Furneaux’ Erkundungen, die er infolge der Unkenntnis der fremden Sprache und der bedrohlichen Lage an Land nur mit größter Mühe hatte durchführen können. Die Einheimischen nannten ihre Respekt einflößende Herrscherin offenbar Purea. Ihre roten Gewänder, so vermuteten Wallis’ Männer, mussten die Trauer um ihren gefallenen Gatten symbolisieren. Die Unterzeichnung eines offiziellen Vertrags, der Tahiti der Hoheit des britischen Königs Georg III. unterwarf – Politiker, Zeitungsschreiber, selbst die Admiralität in London fanden gewaltsame Annexionen immer weniger zeitgemäß, offiziell wurden zivilisierte Manieren, Protektions-Ersuchen der Einheimischen, Papiere und Unterschriften erwartet –, machten Unterhandlungen mit der Königin und ihrem Minister unumgänglich.[3] Captain Wallis, der sich dank der vitaminreichen Früchte Tahitis allmählich vom Skorbut erholte, war nur allzu gern bereit, die maßgeblichen Repräsentanten der erbitterten Gegner in der mittlerweile eingetretenen Feuerpause an Bord der Dolphin willkommen zu heißen. Und es schien, als wären Purea und Tupaia ebenso fest entschlossen, Verhandlungen mit den Invasoren aufzunehmen. Selbst wenn sie dafür an diesem 11. Juli 1767 ihr Leben riskierten.

 

Tupaia, der Hohepriester im größten Tempel von Tahiti, dem Marae Māha’iātea, seit fast einem Jahrzehnt Chef-Berater des Herrscherpaares von Papara – des mächtigsten Distrikts von Tahiti –, war von der Ankunft der Dolphin nicht überrascht. Was in Europa unter dem Datum des 18. Juni 1767 als Captain Wallis’ Entdeckung Tahitis inmitten der endlosen Weiten des Pazifischen Ozeans als Sensation in die Annalen der abendländischen Seefahrt eingehen sollte, war von den Priestern Polynesiens seit Langem erwartet worden. Keiner kannte die Warnungen des Halbgottes Maui vor dem hohen Schiff besser als Tupaia. Schon als Heranwachsender war er auf seiner Heimatinsel Ra’iātea, gut zweihundert Kilometer nordwestlich von Tahiti, als Priesterschüler im Marae Taputapuātea – dem heiligsten Tempel Polynesiens – in die durch Tabu geschützten Visionen der großen Priester eingeweiht worden. Hundertfach hatte er das Wissen der Alten psalmodieren müssen und so auch die Botschaft des Priester-Propheten Paue in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war eine düstere Warnung des Ahnengottes Maui, die Ankündigung eines vaa ama ore, eines gefährlichen fremden Schiffs mit nur einem Kiel, die Paue beschworen hatte. Auch an eine ähnliche Offenbarung des Priesters Vaita konnte sich Tupaia erinnern: In spiritueller Trance hatte der nicht nur Mauis keilförmiges Schiff durch die Himmelsdecke stürzen sehen, sondern auch die gefährlichen milchhäutigen Krieger an Bord beschrieben, die von Kopf bis Fuß in Stoff gehüllt waren und darin tödliche Waffen verbargen.[4]

1769 fertigte Sydney Parkinson eine erste Zeichnung eines Māohi an, der mit den weißen Tapa-Stoffen eines hohen tahitischen Würdenträgers bekleidet ist. Es ist möglich, dass Parkinson hier Tupaia abbildete.

Zwanzig Jahre nach seiner Ausbildung zum Priester-Navigator, auf dem Gipfel seiner Macht, hielt Tupaia, der auf Tahiti und den umliegenden Gesellschaftsinseln als Nachfolger der weisen Priester-Propheten galt und das prestigereiche Amt des Hohepriesters des mächtigen Kriegsgottes ’Oro bekleidete, die Meldung des ungewöhnlichen Schiffs und der in Stoff gehüllten Krieger für alarmierend.[5] Ohne Verzug verließ er sein Ehrfurcht gebietendes Machtzentrum in Papara – die von ihm entworfene und erst kurz vor der Ankunft der Fremden vollendete Tempel-Pyramide des Marae Māha’iātea – und machte sich auf in den weiter östlich gelegenen Distrikt von Viarai, eine halbtägige Kanu-Fahrt von Papara entfernt: Zu Maui, dessen einzige Inkarnation auf der Insel hier aufbewahrt wurde. Dies war der Ort, wo jetzt Klausur gehalten, alles Weitere in Erfahrung gebracht und beschlossen werden musste – gestützt auf Mauis Mana, seine göttliche Energie, im spirituellen Austausch mit den Ahnen. Den einzigen Europäern, denen Tupaia drei Jahre später einen exklusiven Blick auf die Inkarnation des Halbgottes in Viarai erlaubte – Captain Cook und Sir Joseph Banks –, blieb Mauis Bedeutung vollständig verborgen.[6] Sie hielten sein Abbild für ein rätselhaftes »Monster«: Eine mannshohe perlmutt-schillernde »Puppe«, die über und über mit schwarzen und weißen Federn geschmückt war, vermutlich brauchbar für Hiwas, tahitische Theateraufführungen, wie James Cook bemerkte.[7]

Ganz anders Tupaia im Juni 1767: Für ihn rückte mit der Ankunft der Dolphin die Offenbarung des Maui in akute Realitätsnähe – eine dunkle Zukunftsvision, die den letzten Flug der heiligen Vögel prophezeite, das Ende der gefiederten Götter, den Umsturz der althergebrachten Welt, den radikalen Bruch mit den Traditionen und Gebräuchen der Māohi, vielleicht sogar ganz Polynesiens.[8] In dieser Erwartung verfolgte Tupaia minutiös, gestützt auf ein Netzwerk von Beobachtern in den Distrikten Tahitis, was sich ereignete, seitdem die mächtigen Segel des vaa ama ore am Horizont erschienen und die bleichen Krieger in den schützenden Ring des Korallenriffs rund um die tahitische Doppelinsel eingedrungen waren.

 

Für die Männer der Dolphin war nach ihrer monatelangen auszehrenden Fahrt über den Stillen Ozean die Landung an der Küste Tahitis zur Überlebensfrage geworden. Seit der Abfahrt vom englischen Plymouth am 21. August 1766 hatte sich die Lage an Bord ständig zugespitzt. Beim Umfahren von Kap Hoorn im April 1767 war in den heftigen Stürmen an der Südspitze Amerikas eines der beiden Beiboote verloren, das andere beschädigt worden, Landgänge zur Proviant- und Wasserversorgung wurden nun noch schwieriger. In den folgenden Wochen waren beim Navigieren in den endlosen Weiten des Pazifiks infolge des Vitaminmangels mehr als 30 Seeleute an Skorbut erkrankt und so geschwächt, dass sie ihre Hängematte unter Deck kaum noch verlassen konnten. Neben Kapitän Samuel Wallis war schließlich auch William Clarke, der Erste Offizier der Dolphin, ausgefallen. Der Stolz der Royal Navy, eine hochmoderne Fregatte mit kupferversiegeltem Rumpf und 24 Kanonen, die immerhin schon einmal eine Weltumsegelung absolviert hatte, glich beim Anlaufen der Küste Tahitis einem Geisterschiff.[9] Als sich am frühen Morgen des 19. Juni 1767 die Nebelbänke auflösten, erblickten die Seeleute ein großes Eiland mit hohen Bergen, sanften Hügeln und malerischen Wasserfällen. Die saftig-grüne Küste mit ihren Hütten und Booten, Siedlungen und Gärten, hohen Palmen und mächtigen Brotfruchtbäumen tauchte immer wieder hinter dem Korallenriff auf. Da zögerten der Zweite Offizier Tobias Furneaux und sein Lotse George Robertson nicht lange und navigierten das Schiff in die erste schiffbare Lücke innerhalb des ansonsten undurchdringlichen Korallenriffs. »Wir sahen die ganze Küste voller Kanus«, notierte Robertson im Logbuch, »und das Land machte den schönsten Eindruck, den man sich nur vorstellen kann.«[10] Der Anblick Tahitis beflügelte die Hoffnungen aller auf der Dolphin, die angeschlagene Crew endlich wieder mit frischem Wasser und Grünzeug, mit Früchten und Fleisch versorgen zu können. Man musste auf dieser Insel landen – ob nun friedlich oder mit Gewalt.

Die ersten Nachrichten vom Eintreffen des vaa ama ore erreichten Tupaia aus Whai-Urua auf Tahiti-iti, der kleineren, südlichen Halbinsel Tahitis, nur Stunden nach der ersten Sichtung des seltsamen Meeresfahrzeugs mit seinen aufgetürmten Segeln. Tatsächlich hatten selbst die Ältesten auf der Insel noch kein Schiff mit so hohen Masten und Wolken wehender weißer Stoffe gesehen.[11] Noch größeres Erstaunen erregte bei den Tahitianern – geborenen Seefahrern, die mit ihren Ausleger-Kanus tagtäglich in der Lagune und jenseits des Riffs fischten und mit ihren großen pahi weit entfernte Inseln erreichten – die Beobachtung, dass die Fremden das Gewicht ihres Schiffes weder auf zwei Kiele noch auf ausgleichende Ausleger verteilten. Musste der Tiefgang eines keilförmigen Schiffes nicht die Gefahr, auf Korallenbänke aufzulaufen, immens vergrößern? Doch ganz offenbar trotzte das vaa ama ore allen Gefahren. Verfügte es über mehr Mana als die besten Übersee-Kanus der Māohi?

Ein trügerischer erster Eindruck. Denn tatsächlich kollidierte die Dolphin bei den Landungsversuchen auf Tahiti immer wieder mit dem Korallengürtel der Insel, allein die Kupferbewehrung des Schiffsrumpfes verhinderte – für die Tahitianer unsichtbar – größere Katastrophen.[12] Selbst beim Einlaufen zum Ankern in der Bucht von Matavai – Captain Cook hielt diesen von ihm später Point Venus getauften Ankerplatz für den besten Naturhafen der Südsee und nutzte ihn auf seinen drei Weltumsegelungen am häufigsten – schrammte Wallis’ stolze Fregatte eine solitäre Korallenbank, die noch heute Wallis’ Bank genannt wird.[13]

Die Nachrichten, die Tupaia übermittelt wurden, konnten widersprüchlicher nicht sein. Die bleichen Ankömmlinge gaben Rätsel auf. Einerseits versuchten die Fremden, die Popa’a, offenbar Handel zu treiben und riefen immer wieder Boote heran oder holten einzelne Männer an Deck, um Fisch, Früchte und Gemüse zu erbitten, Naturalien, die dann in Ausleger-Kanus rasch herangeschafft wurden. Anfangs war es lustig, fast überschwänglich zugegangen, als die bleichen Fremden auf allen vieren auf dem Schiffsdeck herumkrochen und grunzten oder mit den Armen wedelten und krähten, um nach Schweinen und Hühnern zu verlangen. Immerhin boten sie dafür Metall an, Nägel vor allem, die die Tahitianer bisher nur aus einem Schiffswrack kannten, das im Tuamotu-Archipel gefunden worden war.[14] Aus Nägeln gefertigte Angelhaken aber standen auf Tahiti hoch im Kurs und waren in ihrer Stabilität selbst den Fanghaken aus Menschenbein überlegen.

Doch wie verstörend, was Tupaia aus der Bucht von Aitepiha und dem Südosten Tahitis gemeldet wurde: Dieselben Ankömmlinge, die sonst so erpicht darauf waren, ihre Messer, Äxte und Nägel feilzubieten, hatten auch gehörnte Vierbeiner an Deck, die plötzlich auf die Māohi losgingen und sie mit Wucht ins Wasser stießen.[15] Als bei einem solchen Tumult einige Tahitianermit Metallteilen, die sie zuvor unter Deck eingesteckt oder geschickt von den Schiffsmasten abmontiert hatten, vom Schiff wieder in ihre Kanus zurückkletterten, sich der Tollkühnste unter ihnen sogar übermütig einen Hut mit Goldkordel vom Kopf eines langen Rothaarigen schnappte und rasch von der Reling sprang, jagten die Fremdenmit ohrenbetäubendem Knall und stinkendem Rauch eiserne Kugeln in der Größe von Brotfrüchten aus langen Rohren los. Gefährliche Geschosse, die noch in weiter Entfernung Kanus zertrümmern, Palmen köpfen und Baumkronen abrasieren konnten.

Auf diese Weise, in den Handel, aber mehr noch in Händel mit den Einheimischen verstrickt, war das vaa ama ore die gesamte Ostküste Tahitis abgesegelt, um schließlich nach Westen abzudrehen und nun der Nordküste Tahitis zu folgen. Mehrfach hatten die Fremden die sicheren Passagen im schützenden Korallenriff aufgespürt und versucht, mit einem kleineren Boot an Land zu gehen. Besonders elektrisierte Tupaia, was ihm aus der Bucht von Papenoo im Nordosten Tahitis berichtet wurde. Wie üblich opferten die Bewohner hier für den friedlichen Verlauf des Handels einen Bananenschössling – das Symbol für Menschenopfer – in die Wellen der Lagune. Danach belieferte eine ganze Armada von Auslegerkanus die Fremden mit Kokosnüssen, Zuckerrohr und Mangos, Yams, Brotfrüchten und Bananen, Hühnern und Schweinen. Doch trotz dieser enormen Menge segelte das fremde Schiff nicht weiter. Daher begannen die Einwohner von Papanoo, die sich zu Hunderten am Strand versammelt hatten, dem Schiff heftig zuzuwinken. Doch die Fremden nahmen das Winken, ein klares Zeichen des Abschieds, umgekehrt als Einladung und kamen dem Strand mit ihrem Beiboot immer näher. Tatsächlich wollten die Männer in der Barkasse der Dolphin vor der Einmündung des Papenoo-Flusses mit dem Lot sondieren, ob es sich in der Bucht vor diesem überaus fruchtbaren Tal gut ankern ließe. Zudem mussten die leeren Wasserfässer der Dolphin dringend gefüllt werden. Doch je näher die Barkasse dem Ufer kam, desto erregter wurden die Bewohner. Schließlich umzingelten Hunderte kleine Auslegerkanus das Beiboot der Dolphin, dann griffen drei größere Kriegs-Kanus unter lauten Drohrufen in das Manöver ein und rammten die Barkasse. Als sich die Māohi-Krieger schließlich dasSeil mit dem Lot angelten, während andere nach den Rudern griffen, erteilte George Robertson den Feuerbefehl.

Tupaia konnte kaum glauben, was ihm weiter berichtet wurde: Plötzlich nahmen die Fremden Rohre von ihren Schultern und setzten sie an den Mund, dann ertönte ein Krachen – und zwei der eben noch zupackenden Māohi kippten in ihrem Kanu leblos nach hinten. Der eine schwer verletzt, blutüberströmt, mit aufgerissener Schulter. Der andere tödlich an der Stirn getroffen.[16] »Jetzt wurde ihnen klar, was der Gebrauch von Musketen bedeutet«, notierte Schiffslotse Robertson ins Logbuch der Dolphin.[17]

 

Für Tupaia stellte sich angesichts dieser erstaunlichen Berichte die Frage, ob die Fremden mit solchen Waffen, ihren pupuhi roa – dem »Atem, der in der Ferne tötet«[18] –,nicht sogar einer Vielzahl tapferer Māohi-Krieger überlegen sein mussten. Als Hohepriester, zumal als oberster Ratgeber der Herrscher von Papara, musste er eine Strategie vorschlagen, wie den unberechenbaren Fremden beizukommen war. Sollte Papara als stärkste Streitmacht Tahitis eingreifen? Oder war es klüger abzuwarten und genauer aufzuklären, wie die Popa’a weiter in den nördlichen Distrikten Tahitis agierten? Waren die Ankömmlinge auf Eroberung aus? Oder konnte man – umgekehrt – das fremde Schiff in seinen Besitz bringen? Vielleicht ließen sich die Fremdenauch auf die eigene Seite ziehen, womöglich war eine Allianz Paparas mit den Popa’a denkbar: Was für ein militärischer Vorteil im ewigen Konflikt mit den anderen Distrikten Tahitis, die seit Langem um die Vorherrschaft auf der Insel konkurrierten.[19]

 

Obwohl nicht zum Krieger geboren, hatte Tupaia doch einschneidende Kriegserfahrungen gemacht. Fast zehn Jahre war es jetzt her, als sein Leben als Priester-Navigator in Taputapuātea plötzlich auf brutale Weise endete und er zum Flüchtling wurde. Damals hatte er – als 30-Jähriger fast schon zu alt, um als Krieger mit Keule und Speer in die Schlacht zu ziehen – auf seiner Heimatinsel Ra’iātea zur Waffe greifen müssen, um den heiligen Marae zu verteidigen und eine Schändung des Heiligtums zu vereiteln. Doch die Niederlage ließ sich nicht abwenden. Zahlenmäßig überlegene Truppen aus Bora-Bora, die sich mit einer Streitmacht der Nachbarinsel Tahaa vereint hatten, erwiesen sich als übermächtig.[20] Der Triumph des Kriegsherren Puni von Bora-Bora hatte schwere Folgen für die ari’i, die Herrscher Ra’iāteas und ihre Clans, die traditionelle Adelselite der Insel.[21] Auch Tupaia verlor mit einem Schlag die ausgedehnten Ländereien seiner Familie an der Südwestküste Ra’iāteas. Fast wäre er in der letzten Schlacht im Opoa-Tal seinem Erzfeind Puni in die Hände gefallen, dem ari’i rahi von Bora-Bora, dem ranghöchsten Herrscher der leeseitigen Inselgruppe der Gesellschaftsinseln.[22] Tupaias aristokratische Herkunft, sein Prestige und seine hohe Position – sein Mana – machten ihn zu einem wertvollen Gegner, den Puni nur zu gern im Tempel des Kriegsgottes ’Oro geopfert hätte. Vermutlich hätte der Sieger aus Bora-Bora den Mana-reichen Unterkiefer Tupaias persönlich auf einem Altar von Taputapuātea dargebracht, um sich dessen spirituelle Krafteinzuverleiben. Ausgerechnet an dem Ort, an dem Tupaia nahezu zwanzig Jahre lang als Priester gedient und selbst Dutzende solcher Zeremonien zelebriert hatte.

Doch in entscheidender Stunde hatte ’Oro seine schützende Hand über seinen langjährigen Hohepriester gehalten. Trotz eines feindlichen Speers, der tief in seinen Rücken eingedrungen war, überlebte Tupaia die komplizierte Lungenverletzung und konnte in einem kraftzehrenden Transport in die unzugänglichen Berge oberhalb der Bucht von Teto’oroa – seinem Geburtsort – in Sicherheit gebracht werden. Daheim in seinem Versteck, von Priester-Heilern mit Kräuter-Tinkturen gepflegt, erholte er sich in wenigen Wochen so weit, dass er schließlich ein Hochsee-Kanu besteigen und die nächtliche Fahrt nach Tahiti antreten konnte – seine rettende Flucht nach Papara.[23]

Tatsächlich kam Tupaia nicht mit leeren Händen auf die größte der Gesellschaftsinseln. Vielmehr brachte er an Bord seines Übersee-Kanus aus Taputapuātea das kostbarste Gut mit, das Polynesiens bedeutendster Tempel zu bieten hatte: Zum einen die Inkarnation des Kriegsgottes ’Oro – ein ikonengleiches Futteral, das das göttliche Mana in seinem Innern umhüllte. Und den ebenso mit Mana aufgeladenen Gürtel aus heiligen roten Federn, den maro ’ura, mit dem sich höchste Adels-Sprösslinge beim Erreichen der Mannbarkeit zum obersten Befehlshaber, zum ari’i rahi, gürteten.[24] Diese Insignien göttlicher Macht konnte der flüchtende Tupaia von Ra’iātea nach Tahiti hinüberretten, wo er sie in Papara an Land brachte. Mit Papara, der damals mächtigsten Region an der Südküste von Tahiti-nui, wählte Tupaia einen sicheren Ort, um seine wertvolle Fracht dauerhaft vor dem Zugriff des Kriegsherren Puni und einer Entweihung durch die Bora-Bora-Krieger zu schützen.[25]

Der Nachbau eines pahi aus Taputapuātea, wie es der Priester-Navigator Tupaia steuerte: Diese Replik nach technischen Zeichnungen der ersten Cook’schen Weltumsegelung wurde im Juni 2022 im Zentrum der tahitischen Hauptstadt Pape’ete auf der Place Tu Marama aufgestellt.

Papara hatte sich unter den Geflüchteten den Ruf eines sicheren Hafens erworben. Nicht zufällig war auch der junge ari’i rahi von Ra’iātea hier bei seinem Onkel untergeschlüpft, als die Horden Bora-Boras nicht mehr aufzuhalten waren. Mit der Ikone ’Oros und dem roten Federgürtel hielt Tupaia zwei höchst begehrte Trophäen in der Hand, die ihm überall auf Tahiti die Türen der konkurrierenden Distrikt-Befehlshaber geöffnet hätten. Doch als er als Hüter der Schätze ein neues Refugium für die heiligen Requisiten finden musste, entschied er sich mit Papara nicht nur für einen freundlichen, sondern zugleich den mächtigsten Distrikt Tahitis – das Reich des Herrscherpaares ’Amo und Purea.[26] Deren Haus-Tempel wurde nun zum Refugium der heiligen Insignien aus Taputapuātea. Bald darauf galten die Herrscherin Purea und der Hohepriester Tupaia offiziell als Paar – mit dem Segen des Herrschers, der sich nach der Zeugung eines Stammhalters wieder seinen Mätressen zuwandte.[27] Seine herausgehobene Position als ranghöchster Clanchef allerdings hatte ’Amo bereits mit der Geburt seines Sohnes Teri’irere verloren, da nach polynesischem Brauch bei der Geburt eines Sohnes alle Titel sofort an diesen übergingen. Auf die Eltern eines heranwachsenden ari’i nui, des neuen Clanchefs, kam nun für ein gutes Jahrzehnt – bis zur feierlichen Gürtung ihres Sprösslings mit dem roten Federgürtel – die Aufgabe zu, im Namen ihres Kindes zu regieren. Nicht selten waren es die Mütter, die diese Elternpflicht an sich zogen, in Papara die ambitionierte Purea, die in der plötzlichen Ankunft des geflüchteten Hohepriesters Tupaia wohl auch die einmalige Chance erkannte, das Mana ihres Sohnes Teri’irere durch die heiligen Insignien aus Taputapuātea zu mehren. Ebenso zielstrebig, wie sie Tupaia in ihren Bann gezogen hatte, ging sie nun gemeinsam mit ihm daran, einen neuen Tempel zu errichten – das gewaltigste sakrale Bauwerk der polynesischen Geschichte, den Marae Māha’iātea. Eine elfstufige Pyramide sollte es sein, die dem göttlichen Abbild ’Oros und dem heiligen roten Federgürtel würdig war und damit als machtvolle Kulisse für die Investitur Teri’ireres zum Oberherrscher Tahitis dienen konnte.[28] Niemand sonst, so die unmissverständliche Botschaft an die Clanchefs in den anderen Distrikten Tahitis und auf den umliegenden Inseln des Archipels, würde mehr Mana, mehr Kraft und Prestige auf sich vereinen können als der junge Herrscher aus Papara. Und tatsächlich schien keine der anderen Adelsfraktionen den Aufstieg Teri’ireres zum ari’i rahi aufhalten zu können. Oder konnte das fremde Schiff, das so unerwartet aufgetaucht und in Matavai vor Anker gegangen war, zu einem entscheidenden Machtfaktor werden?[29]

 

Vor dem Hintergrund seiner Kriegserlebnisse, mit der Reife von 40 Jahren, nicht zuletzt als Kenner der machtpolitischen Querelen auf der Insel, überdachte Tupaia, wie viele andere Granden auf der Insel, einen möglichen Angriff auf die Dolphin. Die erstaunlichen Meldungen über die Waffen der Fremden, über die Zerstörungskraft ihrer donnernden Kanonen und ihrer tödlichen pupuhi roa versetzten ihn in Sorge – und faszinierten ihn als Machtstrategen zugleich. Schlich sich für einen Moment auch die Frage in seine Überlegungen, was eine derart überlegene Feuerkraft auf seiner Heimatinsel Ra’iātea gegen die Besatzer aus Bora-Bora ausrichten konnte? Ra’iātea war noch immer das spirituelle und machtpolitische Zentrum dieser Welt, der Geburtsort ’Oros, die Heimat der göttlichen Ahnen aller Clans seit der Ankunft ihrer ersten Kanus in diesem Archipel – Tahiti dagegen nur ein Exilort mit fünf Mal größerer Landfläche. Fest steht, dass sich Tupaia zusammen mit seinem Dienstherrn ’Amo, dem Distriktchef von Papara und mächtigsten Kriegsherrn auf Tahiti, in den Norden der Insel aufmachte, sobald die Meldung eintraf, dass das fremde Schiff in der Bucht von Matavai rasselnd seine Anker hatte fallen lassen.[30] Die Männer der Dolphin waren – unwissentlich – im Machtzentrum der Te-Pori-ō-Nu’u eingetroffen, des mächtigsten Gegenspielers von Papara im Gerangel um die Vorherrschaft auf Tahiti. Auch deshalb eilten ’Amo und sein Berater Tupaia nach Matavai, um direkt vor Ort das weitere Geschehen beobachten und notfalls rasche Entscheidungen treffen zu können.

Kapitel 2 Tupaia als Meister-Stratege: Die Dolphin und das Massaker von Matavai

Mit seiner leuchtend roten Blütenkrone zog ein allein stehender mächtiger Baumriese auf einem Hügel hoch über der Bucht von Matavai die Blicke der Männer der Dolphin geradezu magisch auf sich.[31]Port Royal taufte Captain Wallis den Ankerplatz, der so vielversprechend anmutete – mit einer einladend breiten Zugangspassage im Riffgürtel, festem Boden aus feinem schwarzem Sand, der weiten Landspitze, die sich als halbmondförmige natürliche Mole in die Lagune schob und eine geschützte Lage versprach, und nicht zuletzt aufgrund der Einmündung des Matavai-Flusses mit seinem klaren Quellwasser aus den hohen Bergen über dem tiefen Tal. Nachdem das Schiff bei der Einfahrt in die Lagune – umringt von zahlreichen Kanus – auch die letzte nervenzehrende Kollision mit einer Korallenbank ohne größeren Schaden überstanden hatte, stellte sich an Bord eine frohe, erwartungsvolle Stimmung ein, die durch Tauschgeschäfte mit den Einheimischen im letzten Schein der Abendsonne beflügelt wurde.

Der Morgen des 24. Juni 1767 versprach ein freundlicher Tag zu werden. Mit Sonnenaufgang begann die Crew der Dolphin, das Schiff tiefer in die Bucht hineinzuziehen. Die lauten Kommandos an Deck, das Rasseln der Ketten und der stampfende Gesang der Männer an der Ankerwinde zogen zahlreiche Neugierige an. Doch plötzlich wuchs die Zahl der Boote in der Bucht auf über 500 an, eine ganze Armada aus immer größer werdenden Kanus. Rhythmisches Trommeln, ein Wechselspiel aus Flöten und Muschelhörnern und ein anschwellender Singsang aus rauen Kehlen erfüllte bald die Bucht und übertönte die englischen Shantys. Mehr als 4.000 Mann, schätzte man bestürzt auf der Dolphin, umringten das Schiff. Der Anführer dieser Flotte thronte Respekt einflößend in der Mitte eines rund 20 Meter langen Katamarans auf einer erhöhten Plattform, die nahezu an die Reling der Dolphin heranreichte. Dies musste der König der Insel sein, vermutete Wallis, während der in unbeweglicher Pose verharrende Befehlshaber mit hohem Turban, umweht von Blütenketten und Stoffgirlanden, sich auf seinem Kanu rasch näherte. Wollte er, gestützt auf die demonstrative Stärke dieser gewaltigen Kriegsflotte, mit den Briten verhandeln? Während der Kapitän seinem Zweiten Offizier Order gab, die Seesoldaten in Alarmbereitschaft zu versetzen und die Musketen zu laden sowie die Achterdeck-Kanonen für das Abfeuern von Kartätschen und Neunpfündern bereit zu machen, sah Samuel Wallis der Gelegenheit, endlich zur Sache zu kommen und die britische Inbesitznahme der Insel einzuleiten, ebenso angespannt wie erwartungsfroh entgegen. Doch statt der freundlichen Einladung an Bord zu folgen, veranlasste der tahitische Oberbefehlshaber, dass ein merkwürdiges Requisit aus seinen Händen von Schiff zu Schiff gereicht wurde – ein kunstvoll geschnürtes Bündel aus roten und gelben Federn, das Wallis wie ein Zepter entgegennahm. Nicht ahnend, dass dieses ura-tatae dazu bestimmt war, den Zorn der Ahnen auf das vaa ama ore zu lenken.[32] Ebenso wenig wie ihr Commander konnte die Crew der Dolphin die Inszenierung durchschauen, die sich der Übergabe des Feder-Fetischs anschloss. Während sich das große Kanu des Oberbefehlshabers langsam wieder zurückzog, schoben sich in der Lagune von Matavai neue Plattformen vor die Längsseite der Fregatte, jetzt mit barbusigen Tänzerinnen. Im Zentrum eine junge Frau, die mit lasziven Bewegungen den Schurz über ihren Hüften wie einen Vorhang öffnete und schloss, sodass im Trommelrhythmus ihre Vulva sichtbar wurde und verschwand: ein schwarzer Spalt, aus dem jeder Mensch zur Welt kam und am Ende zurückmusste – Te Po –, der Ort der Geister und der Toten. Dorthin sollten nun auch die bleichen Fremden zurück, die in einem Wechselbad aus schockiertem Staunen und sexueller Erregung wie angewurzelt von der Reling auf die Frauen starrten.[33]

Dann ging alles sehr schnell: Plötzlich warf sich ein Hohepriester der tahitischen Streitmacht einen roten Federmantel über die Schulter und riss seinen Arm in die Luft. Der von weißen Bändern umhüllte Stab in seiner Hand gab das Angriffssignal, das mit einem Kriegsruf aus Tausenden rauen Stimmen beantwortet wurde. In Sekunden sprangen Hunderte Krieger auf die Plattformen ihrer Doppelrumpf-Kanus und ließen aus allen Richtungen einen gigantischen Steinhagel auf die Dolphin los. Einige der britischen Seeleute kippten aus der Takelage, zerschrammt, blutend. Dem folgte das Stakkato englischer Befehle, während der Schiffsarzt John Hutchinson geduckt hinter der Reling die ersten Wunden stillte. Die nächste Welle von Steinen parierte die Dolphin mit Kartätschen aus den Achterdeck-Kanonen, deren eiserner Hagel die Māohi ringsum reihenweise niedermähte. Dutzende Leichen lagen auf ihren Kriegskanus oder schwammen in der Bucht. »Eine tote Frau schob sich quer unter den Loskiel«, notierte George Pinnock erschrocken, ein junger Mittschiffsmann, »ein Loch in ihrem Bauch.«[34]

Als nicht weniger zerstörerisch erwiesen sich die Neunpfünder-Kanonenkugeln, die Furneaux Richtung Land feuern ließ. Sie zerfetzten Boote, Hütten und Menschen. Zwischen dem Kanonendonner wehte vom Strand her ein Echo aus verzweifelten Schmerzensschreien und ängstlichem Weinen herüber. Auch Mai, ein 16-jähriger Bursche aus Ra’iātea, der wie Tupaia vor den Truppen Bora-Boras nach Tahiti geflüchtet war, wurde von einem Musketenschuss in die Seite getroffen.[35] So lernte er die Feuerkraft der Briten am eigenen Leib kennen. Und doch würde er fünf Jahre später als erster »Südsee-Insulaner« mit ihnen nach London segeln – unter dem Kommando von Tobias Furneaux, der in Matavai so brutal feuern ließ und auch dafür in der Royal Navy aufsteigen würde: vom Zweiten Offizier zum Master und Commander, zum Kapitän.

Wie Tupaia war auch Mai an den Schauplatz des Geschehens gekommen, um von einem Hügel aus eine gute Sicht auf die Bucht zu haben. Vielleicht konnte Mai sogar beobachten, welche Gemütsbewegungen das Hin- und Herwogen des Gefechts bei Tupaia hervorrief. Vermutlich aber verstand es der erfahrene Hohepriester, seine Züge zu beherrschen. Sodass sich nicht erkennen ließ, ob er es tatsächlich mit der tahitischen Nordflotte hielt, den härtesten Konkurrenten Paparas um die Vorherrschaft auf der Insel oder insgeheim auf einen Sieg der Dolphin setzte, weil durch eine Allianz mit den Fremden womöglich mehr für Papara zu gewinnen war. Oder griff, wie es tahitische Quellen überliefern, Tupaias Dienstherr ’Amo, der Clanchef von Papara, schließlich doch noch in die Schlacht mit den Briten ein?[36] Hatte ihn sein Chefberater nach der Schlappe der tahitischen Nordflotte zu einer eigenen Attacke auf die Dolphin gedrängt?[37] Vielleicht in der Hoffnung, dass die Männer der Dolphin nachden bisherigen Gefechten sogeschwächt wären, dass die Südflotte Paparas sie nunmehr besiegen konnte? Noch war die Schlacht nicht entschieden.

Die Attacke der Tahitianer auf die britische Fregatte Dolphin in der Bucht von Matavai am 24. Juni 1767 auf einem Kupferstich Edward Rookers – eine der zahlreichen Illustrationen, mit denen John Hawkesworth in London die drei Bände seiner zeitgenössischen Südsee-Reiseberichte Voyages to the Southern Hemisphere ausstattete und so auch den Tahiti-Mythos befeuerte.

Britische Kolonial-Propaganda in Text und Bild: Der Empfang des kranken britischen Kapitäns Samuel Wallis durch die vermeintliche tahitische »Königin« Purea im Juli 1767 wurde in Hawkesworth’ Südsee-Reisebericht Voyages to the Southern Hemisphere zu einer Übergabe Tahitis an die Briten stilisiert.

Nach dem Rückzug der angeschlagenen Kriegskanus und einer kurzen Gefechtspause, in der Tote und Verletzte geborgen wurden, bog eine zweite tahitische Armada in die Lagune ein, um die Dolphin einzunehmen. Erneut hagelte es Steine, diesmal aus Schleudern abgefeuert, doch Captain Wallis ließ aus allen Rohren schießen, die Seesoldaten konterten die Steine der Krieger mit anhaltenden Salven aus ihren Musketen, die Bordkanonen legten einen dichten Vorhang aus Schrot um die Fregatte, sodass die Kanonenkugeln gezielt die großen Kriegkanus ins Visier nehmen konnten, auch das Kanu des Anführers. Am Nachmittag war die Schlacht entschieden und der Katamaran des Kriegsherrn zerschmettert. Mehr als 300 tote Māohi trieben auf dem Wasser oder wurden leblos an den Strand gespült. Wer immer sich in der Bucht von Matavai den Fremden entgegengeworfen hatte, musste jetzt angesichts dieses Massakers um die überlegene Feuerkraft der Popa’a wissen.

Am folgenden Tag beauftragte Captain Wallis seinen Zweiten Offizier,in Matavai an Land zu gehen und die Insel für die Briten in Besitz zu nehmen. Nach einer demonstrativen Exerzierübung der Seesoldaten, die das Revier markierte, das die Ankömmlinge für sich beanspruchten und den eingeschüchterten Einheimischen einen Platz am anderen Ufer des Matavai-Flusses zuwies, proklamierte Tobias Furneaux King George Island zum Besitz der britischen Krone. An einer tief in den Sand gerammten Fahnenstange wurde unter Trommelwirbel die Flagge hochgezogen – ein langer roter Wimpel mit schmalem weißem Kreuz, der nun laut im Wind knatterte.

Für die meisten Bewohner Matavais, die die zeremonielle Prozedur aus einiger Entfernung beobachten konnten, stand fest, dass die Fremden mit dem Kriegsgott ’Oro im Bunde sein mussten, dass es sein göttliches Mana war, das diesmal seine unheilvolle Allmacht unter Beweis gestellt hatte. Rot symbolisierte die Präsenz ’Oros – und rot war die Fahne der Ankömmlinge, rot waren ihre Uniformen, rot flammten ihre Kanonen auf, rot war das Blut, das so reichlich geflossen war und blutrote Menschenopfer waren seit jeher der Tribut, den ’Oro einforderte. Diese göttliche Omnipotenz war unüberwindbar.[38]

In einer ehrfürchtigen Prozession opferten Frauen und Männer nun als Zeichen des Friedens Bananenschösslinge in die See und brachten den Popa’a die wertvollsten Opfergaben dar: mit Brotfrucht und Milch aufgezogene Hunde und Spanferkel – Speisen, die allein den Göttern und dem höchsten Adel vorbehalten waren –, Körbe voller Brotfrüchte in allen Geschmacksrichtungen, Bündel von Taro, Yams und Zuckerrohr, Fisch aus der Lagune und von hoher See, ganze Büschel von Ess- und Kochbananen und Schalen voller Tahiti-Kastanien, Pampelmusen, Mangos und Tahiti-Äpfeln. Die Flussgrenze am Strand überschreiten, so ordneten die Männer der Dolphin nicht ohne Hochmut an, durften jetzt nur noch wenige alte Männer, die demütig durch den Matavai-Fluss wateten und auf allen vieren die begehrten Naturalien vor den Füßen der Ankömmlinge ausbreiteten, wofür sie Äxte und Nägel, meist aber wertlosen Tand wie Glasperlen und Taschentücher entgegennehmen durften.

Doch am nächsten Tag näherte sich erneut eine größere Gruppe Einheimischer dem abgezirkelten Revier, den roten Wimpel mit dem Kreuz hoch über ihren Köpfen, in einer von Trommeln, Flöten und Muschelhörnern begleiteten Prozession. Auf dem Fluss bemerkte die Crew der Dolphin einige mit Kriegern dicht besetzte Kanus. Und George Robertson machte eine Gruppe Einheimischer aus, die sich offenbar von Land her anschlich, um die lange Reihe Wasserfässer im Fluss zu stehlen. Erst vor ein paar Tagen war John Gore, Robertsons Gehilfe, in der Nachbarbucht beim Auffüllen der Wasserfässer so heftig von den Einheimischen bedrängt worden, dass man zur Abschreckung Kanonenkugeln über ihre Köpfe hinweggejagt hatte.[39] Die Männer der Dolphin waren noch immer nervös – und als Robertson jetzt mit seinen Männern vom Wasserplatz zum Beiboot rannte, ließ Captain Wallis erneut aus den Bordkanonen feuern. Kurz darauf machte er in seinem Fernglas eine ganze Reihe fliehender Krieger aus, die sich auf den Hügeln oberhalb der Bucht von Matavai in Sicherheit bringen wollten und unter die Frauen und Kinder mischten, die dort zu Hunderten ausharrten. Sie waren sich offenbar sicher, dass der Atem der pupuhi roa sie in so großer Ferne nicht töten konnte.

Doch diesen Glauben wollte Wallis ihnen endgültig austreiben, also ließ er die Kanonen auf die Spitze des Hügels ausrichten und feuern. Jubelnd quittierten die Menschen auf dem Hügel, dass die erste Salve mit zwei Kanonenkugeln zu tief eingeschlagen war. Doch dann hatten die Männer der Dolphin ihre Kanonen ajustiert und feuerten mit zwei ohrenbetäubenden Donnerschlägen die nächsten beiden Geschosse ab. Als sich die schwarzen Rauchschwaden allmählich verzogen, blickten die Männer der Dolphin auf ein Bild des Grauens. Der Tribut an Menschenopfern, der diesmal an ’Oro entrichtet wurde, übertraf die Seeschlacht in der Bucht. Frauen und Kinder, viele unschuldige Todesopfer, murrte selbst die Mannschaft.[40] Der Kapitän notierte in sein Logbuch: »Dass unsere Geschütze sie noch in so großer Reichweite erreichen und töten konnte, erschreckte sie so sehr, dass innerhalb von zwei Minuten kein Einziger mehr an Land zu sehen war.«[41] Um das Maß vollzumachen, sandte Wallis seinen Zweiten Offizier und die Seesoldaten zusammen mit dem Schiffszimmermann und seinen Gehilfen an Land, um alle Kanus am Strand von Matavai zu zerstören. Einem der axtschwingenden Zimmerleute, John Nicholls, blutete das Herz, angesichts der »wunderschönen Schnitzarbeiten« an einigen der Boote der Māohi, die ihn an »die dorischen Muster der alten Griechen« erinnerten.[42] In den großen Doppelrumpf-Kanus steckten Tausende Arbeitsstunden: für die Auswahl und das Fällen der Bäume, das Bearbeiten und Glätten der Planken, ihr kunstvolles Zusammenbinden und Abdichten, für das Verzieren der hochaufragenden Bugpfeiler und das Flechten der Pandanuss-Bast-Segel – jeder Schritt begleitet von den Segnungen der Priester. Doch auch die letzten Versuche der Einheimischen, der Zerstörungswut der Popa’a Einhalt zu gebieten und das eine oder andere Kanu zu retten, wurden mit Musketen-Salven vereitelt. Obwohl ebenso klar war, dass die Briten niemals alle Boote auf der Insel zerstören konnten: Während sie in der Bucht von Matavai so gnadenlos zuschlugen, segelte hinter der Landzunge die Flotte aus Papara wieder Richtung Süden davon, mit dem von den Briten totgeglaubten ’Amo und seinem Berater Tupaia an Bord.

In Matavai wurden die Ankömmlinge nun »wie Halbgötter« behandelt, merkte Schiffslotse Robertson in seinem Journal an.[43] Fa’a, ein weißbärtiger Gesandter, musste sich im Auftrag ’Amos vorwagen und die Briten zur Wässerung ihrer Fässer am Matavai-Fluss einladen. Todesmutig übergab er Bananenschösslinge und ein Ferkel, lehnte jedoch jedes Gegengeschenk ab.[44] Es war an der Zeit, ’Oro weitere Opfer zu bringen, größere Opfer.

Doch wie seltsam: Die Fremden wiesen die wertvollsten Opfergaben zurück – den aufwändig hergestellten und kunstvoll dekorierten Rindenbaststoff, mit dem sich die Aristokratie der Gesellschaftsinseln statusgemäß kleidete, ihn als Kapital-Rücklage in Speicherhütten ansammelte und bei höchsten Zeremonien in Adelshäusern und Tempeln als kostbaren Bodenbelag, Baldachin oder dekorativen Volant, nicht zuletzt als repräsentatives Geschenk einsetzte. Diese Ballen von Tapa ließen die Fremden erstaunlicherweise achtlos am Ufer liegen. So wie sie die tahitischen Hunde, die kulinarische Delikatesse des Hochadels, nicht zu sich nehmen wollten, sondern die Tiere von ihren Fesseln an Vorder- und Hinterbeinen befreiten und am Strand laufen ließen. Diese unerwarteten Zurückweisungen, die womöglich noch größeres Unheil ankündigten, führten zu einer neuen Offerte: Eine Prozession junger Frauen aus Matavai, aus der die Eroberer nun ihre Wahl treffen durften. Tatsächlich ließen die Männer der Dolphin keine einzige Tahitianerin am Flussufer zurück, sondern »performten« ohne Verzug.[45] Immerhin – so lesen sich die Augenzeugenberichte von der Dolphin – war es kein englischer Matrose, sondern ein Ire, der für einen Vier-Zoll-Nagel »die Ehre haben wollte, der Erste zu sein« und daher sofort am Strand vor den Augen all seiner Schiffskameraden kopulierte.[46] Doch auch die Engländer auf der Dolphin setzten sich über die Widerstände der einen oder anderen jungen Frau hinweg, einem ungepflegten, durch Skorbut zahnlosen oder grobschlächtigen Liebhaber zu Willen zu sein. Von nun an waren die Briten »mad for the shore«, verrückt danach, an Land zu kommen.[47]

Die bemerkenswerte Einsicht, dass »die Natur des Menschen« überall auf der Welt »specifisch dieselbe« sei, die der junge deutsche Naturwissenschaftler Georg Forster sechs Jahre später in derselben Bucht von Matavai auf Captain Cooks zweiter Weltumsegelung notierte,[48] traf auf britische Seeleute ebenso zu wie die sexuell nicht weniger gierige Herrschaftselite der tahitischen Kultloge der Arioi, die in ihren orgiastischen Hiwas bestimmte Normen sexueller Ausbeutung durchgesetzt hatten.[49] Demnach konnten sich die Mächtigen – ob Arioi oder fremde Eroberer – gewohnheitsmäßig vor allem bei der sozialen Unterschicht der Hörigen, der Manahune, sexuell bedienen.[50] Doch gab es zweifellos auch eine erotische Neugier auf die andere oder den anderen, selbst tiefe romantische Gefühle junger Menschen – nicht nur die Tahitianerinnen, auch die meisten Seeleute der frühen Expeditionen in den Pazifik waren selten über 30 und oft sogar Teenager. In jedem Falle wurde die Schönheit der Frauen Tahitis und die Liebe zu ihnen immer wieder beschworen und zum Kern des bald in Europa einsetzenden Tahiti-Mythos.

Mit seinem Reisebericht Voyage autour du Monde veröffentlichte der französische Seefahrer Louis Antoine de Bougainville,[51] noch vor dem »Entdecker« Samuel Wallis, zum ersten Mal seine entsprechenden Eindrücke von Tahiti, an dessen Ostküste er an Land gegangen war.[52] »Ich glaubte mich in den Garten Eden versetzt«, resümierte Bougainville die neun Tage seines Aufenthaltes und sprach von Tahiti als dem »Neuen Kythera«, dem Geburtsort der Venus, der schaumgeborenen Venus Aphrodite, der Göttin der Liebe.[53] Unermüdlich pries er die »Schönheit der Körper« und die »angenehmen Züge«, die denen europäischer Damen keineswegs unterlegen wären.[54] Als kurz nach der Landung die erste junge Māohi Bougainvilles Schiff erklomm und auf dem Achterdeck die letzten Hüllen fallen ließ, breitete sich schweigendes Staunen an Bord der La Boudeuse