Schrei! Nur wenn ich laut bin, wird sich was ändern - Laurie Halse Anderson - E-Book

Schrei! Nur wenn ich laut bin, wird sich was ändern E-Book

Laurie Halse Anderson

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Beschreibung

#speakup Dies ist die Geschichte eines Mädchens, dem die Stimme geraubt wurde und das sich selbst eine neue schrieb. ›Schrei!‹ ist Andersons Autobiografie in Versform, in der sie fortführt, was sie in ihrem Debüt ›Sprich‹ weltweit erfolgreich begonnen hatte: die schonungslos offene Auseinandersetzung mit Missbrauch in einer Gesellschaft, die im Umgang damit noch ganz am Anfang steht. Und deshalb umso dringender von Werken wie diesem lernen, verstehen und handeln muss.

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Seitenzahl: 162

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Über das Buch

»Sie ist ausgerastet, hieß es,

konnte es eben nicht mehr verkraften,

hatte ihre Sollbruchstelle erreicht.

Wir sollten unseren Mädchen beibringen,

dass es vollkommen okay ist

auszurasten,

auf alle Fälle besser,

als von anderen

kaputt gemacht zu werden.«

Diese beeindruckende Autobiografie in Versform ist gleichermaßen eine Anklage an die Wegschaugesellschaft und ein Liebesbrief an alle, die in Zeiten von #MeToo und #TimesUp das Schweigen brechen.

 

 

 

 

Für die Überlebenden

Vorwort

Den Mut zu finden, fünfundzwanzig Jahre nachdem ich vergewaltigt worden war, meine Stimme zu erheben, Sprich zu schreiben und Gespräche mit unzähligen Überlebenden von sexueller Gewalt zu führen, hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin.

Dieses Buch erzählt nun, was davor und danach geschehen ist. Seine Seiten sind randvoll mit all dem, was mich bisher geprägt hat: Widrigkeiten, glückliche Zufälle, Verwandtschaftsbeziehungen, Sturmwogen, Sonnenaufgänge, Katastrophen, Stempel in meinem Pass, Verbrecher, Cafeterien, Albträume, Hoffnungen, meine Leser*innen, böse Omen und weitergeflüsterte Wahrheiten.

Auch mein Vater schrieb Gedichte. Seine Grundregel, die er mir mit auf den Weg gegeben hat, lautete: Sei nachsichtig mit den Lebenden, die Toten aber besitzen ihre eigene Wahrheit; sie sind ohne Furcht. In seinem Sinne habe ich – so aufrichtig, wie ich konnte – aufgeschrieben, was meine Eltern in ihrem Leben durchzumachen hatten und wie sich ihre äußeren und inneren Kämpfe auf mich ausgewirkt haben. Es finden sich in dem Buch auch Gedichte, die nicht von mir oder meiner Familie handeln, sondern von anderen Menschen, die mir ihre Geschichten anvertraut haben. Um sie als Überlebende zu schützen und ihre Anonymität zu wahren, habe ich Details verändert.

Dies ist die Geschichte eines Mädchens, das seine Stimme verloren und sich eine neue erschrieben hat.

Präludium: Mic Test

Dieses Buch

duftet so wie ich,

Rauch vom Lagerfeuer,

Salz,

Erdbeeren und Honig,

Sonnencreme, Büchereien,

Wünsche, Misserfolge und Schweiß,

grüne Nächte in den Bergen,

kalte Sonnenaufgänge am Meer.

Dieses Buch

riecht

nach meiner Angst,

nach den schwarzen, jaulenden Hunden der Depression

und der alten Scham, die mir

im Nacken sitzt, ihre Klauen

tief eingegraben.

Dieses Buch

ist der Morast von gestern,

verkrustet auf dem Dance Floor,

die Schrittmuster

behutsam ausgebreitet

für eure Spurensuche

danach, wie es sich tief drinnen

bei mir

wohl so anfühlt.

Erster Teil

Im Namen der Liebe

Als er achtzehn war, musste mein Vater mit ansehen,

wie der Kopf seines Freundes in zwei Hälften

zerteilt wurde, knapp über den Augenbrauen, durch

eine explodierende Trommelbremse. Sein

Freund erzählte da gerade einen Witz.

Mein Vater reparierte Jagdflieger, P-51 Mustangs,

auf einem Stützpunkt in England, wollte ein Gewehr

in die Hand bekommen, keinen Schraubenschlüssel,

zimmerte in seinem Kopf eine feste Truhe für alles,

was mit der Armee zu tun hatte, und verstaute das Bild

vom letzten Atemzug seines Freundes ganz unten.

Dann schickten sie ihn nach Dachau.

Nicht nur ihn, seine ganze Einheit,

und nicht nur nach Dachau, sondern in alle

Konzentrationslager,

weil der Krieg zu Ende war.

Aber das war er nicht wirklich.

Daddy redete mit mir vierzig Jahre lang nicht

darüber, was er in Dachau gesehen, gehört, gerochen hatte,

und darüber, was es mit ihm machte.

Ein Jahr des Schweigens für jeden Tag der Sintflut,

ein Jahr des Schweigens für jeden Tag zwischen

Aschermittwoch und Ostern.

Die Luft in Dachau war durchwölkt von der Asche

unzähliger Körper, als er sie einatmete, infizierte

die Agonie der Sterbenden meinen Vater

und alle seine Freunde. Sie versuchten den Leidenden

zu helfen, befolgten Befehle, ließen ihrer Wut

auf unerlaubte Weise freien Lauf, während die Offiziere

sich abwandten. Mein Vater füllte die Truhe

in seinem Kopf mit marschierenden Leichnamen,

die ihm jede Nacht

für den Rest seines Lebens

ihre Lieder vorsangen.

Eines Tages beobachtete Daddy eine Schwangere,

die in Dachau die Straße in der Nähe der Lagertore

entlangtrottete. Er passte seine Schritte den ihren an,

blieb stehen, als sie im Straßengraben niederkam

und ein Kind zur Welt brachte.

Mein Vater, selbst noch ein Kind, an Tod und Zerstörung gewöhnt,

halb verrückt von der Gewalt, die er gesehen hatte,

darauf gedrillt, zu töten, zu schlachten, zu verstümmeln,

sah dabei zu, wie dieses Baby zwischen den blutverschmierten

Schenkeln seiner Mutter in die Welt hineinschlüpfte,

und wurde dadurch gerade so weit geheilt,

dass ihm die Tränen kamen.

Er wickelte das Neugeborene in die Schürze seiner Mutter

und half den beiden zum Rotkreuzzelt,

das für die Überlebenden errichtet worden war.

Glassplitter im Mund meiner Mutter

Veteran des D-Day, vertraut mit Depression,

Krieg gegen Deutschland und Gräueltaten,

ein hübscher Junge, der ein groß gewachsenes Mädchen

heiratete, das aussah wie Katharine Hepburn,

zwei Jugendliche in einer Stadt weit weg von zu Hause,

zwei Schiffe, die ohne Anker auf hoher See trieben.

Mom erzählte mir die Geschichte, als ich in der

Highschool war, an einem Abend, an dem

Daddys Trinkerei unsere Familie

auf eine sehr harte Probe stellte.

»Er musste mich damals ohrfeigen«, sagte sie.

»Es war lang vor deiner Geburt.«

Das Bild meines Vaters, wie er meine Mutter

schlug, formte und verformte sich vor mir,

wie sonntägliche Sonnenstrahlen, die durch die bunten

Kirchenfenster hereinscheinen, die Wahrheit zerschneiden

und auf dem Boden neu zusammensetzen.

Sie lebten damals in Boston,

Daddy studierte, um Prediger zu werden,

Mom übte sich darin, seine Frau zu sein.

»Er musste mich damals ohrfeigen«, wiederholte sie,

»weil ich nicht zu schreien aufhören wollte.«

Ein Aufschrei der Verzweiflung

aus zahllosen Gründen.

Wie Brotkrumen, fallen gelassen,

um mir den Weg zu weisen,

so erzählte sie mir stockend

die ganze Geschichte.

Nach dem Nervenzusammenbruch, dem Ausraster

blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit dem Zug

nach Hause zu fahren, um ihr Gesicht

wiederzuherstellen, zurück in die Berge, zu den Eltern,

in eine schnatternde Kleinstadt voller Bosheit.

Ihr pochten die zerschlagenen Zähne

schmerzhaft im blutigen Zahnfleisch,

ihr Mann war von Grauen gepackt, dass er

seiner Liebsten den Krieg erklärt hatte,

er drehte den Kopf zum Gang,

überlegte zu fliehen.

Moms Rücken krümmte sich

vom Gewicht ihres Herzens.

Sie starrte auf den finstern

Wald hinter der Scheibe.

»Ich wollte nicht aufhören zu schreien«,

sagte sie. »Er konnte nicht anders.«

Für Nachbarn und Freunde hatten sie die Lüge parat,

dass sie die Treppe heruntergefallen sei,

wie ungeschickt und dabei so viele Zähne ausgeschlagen,

armes Ding, solche schlimmen Sachen

passieren eben in großen Städten.

In Wahrheit hatte die krampfhafte Anstrengung,

die Gespenster in seinem Kopf niederzukämpfen,

meinen Vater in dieser Nacht

total ausrasten lassen

und bei ihrem Streit

hat er meine Mutter nicht bloß geohrfeigt.

Er hat sie geschlagen.

Aber dass er sie geschlagen hatte, passte nicht

in die frommen Märchen,

die sie sich gern erzählte,

deshalb verzuckerte sie die bittere Pille,

damit sie leichter zu schlucken war.

Der Zahnarzt der Stadt, ein Freund der Familie,

nahm kein Geld für die Behandlung,

entschuldigte sich sanft bei jedem Zahn.

Sie lebten den ganzen Sommer bei ihren Eltern,

während ihr Mund heilte,

warteten auf die falschen Zähne, schlichen

auf Zehenspitzen umeinander herum,

aber berührten sich nicht.

Nachdem die Fäden gezogen waren,

nachdem sie gelernt hatte, aus Zahnpulver

und Wasser eine Paste herzustellen,

die ihren Mund verklebte,

nach fünf Fehlgeburten,

fünf ungeborenen Söhnen,

versuchten meine Eltern es noch einmal

und zeugten mich.

Er hat sie nie wieder geschlagen,

aber sie lebte stets in der Angst,

dass er es wieder tun könnte,

was auch der Grund war

für das Schweigen, das sie

sich angewöhnt hatte.

Schmutzwörter

Vor allen Damen der Kirchengemeinde,

die in unserer Küche

bei Kaffee und Doughnuts versammelt waren,

hab ich laut scheiße gesagt.

Als Dreijährige, kartoffelförmig,

stämmige Beinchen, wie ein Papagei

alles nachplappernd.

Ich war hingefallen, hatte mir das Knie

aufgeschlagen und dann kam aus

meinem Mund das Wort scheiße,

bei meiner Mutter gehört,

die zu einem strengen, steifen Leben

als Pfarrersfrau verurteilt war,

in dem sie nicht scheiße sagen durfte,

auch wenn ihr oft danach war.

Aber allein

mit mir

durfte sie und machte

es auch häufig.

Damals in der Küche,

als die Damen der Kirchengemeinde

die handgenähten Vorhänge meiner Mutter

beäugten, daran Maß nahmen für das Urteil

über ihre Befähigung zur Pfarrersfrau,

sprach ich als Kleinkind dieses unflätige Wort aus

und wurde sofort gepackt.

Kindern ein Stück Seife in den Mund zu stecken,

um damit die schmutzigen Wörter aus den Köpfen

zu schrubben, war damals gängige Praxis,

von den Damen der Kirchengemeinde bestens

erprobt, die Gewalt des Schweigens,

von Generation zu Generation

brutal weitergereicht.

Rillen im Elfenbein, tief eingeritzt

von meinen Milchzähnen,

Mommys fest zupackende Hände,

die mich gegen die Küchenspüle pressen.

Meine Schluchzer wurden von Seifenschaum

erstickt, hörbar erst, nachdem die Blasen zerplatzt

waren, als ich in mein Zimmer eingesperrt war,

während die Damen der Kirchengemeinde und meine

Mutter von Bitterkeit nippten und unter sich

die Brotkrumen teilten.

Damals lernte ich, dass Worte

eine große Macht haben,

so groß, dass manche von ihnen nie

ausgesprochen werden dürfen,

und mit der Zunge wurde ich

zugleich der Wahrheit beraubt.

Mit beiden Händen fest auf der Erde

Als ich vier war, nahm mich meine Mutter

zu einem Teich mit, damit ich Schwimmen lernte.

Dort gab es so etwas wie einen Strand,

übersät mit Tannennadeln und Müttern,

die auf Handtüchern saßen und Zigaretten rauchten,

sie hatten Pullis und warme Socken an:

Sommer im kalten Norden.

Mom zog mir mein Sweatshirt aus und scheuchte mich

zu den anderen Kindern, die sich am Ufer drängten.

Die Herrin des Sees, unsere Schwimmlehrerin,

eine Riesin mit einer mit Plastikblumen geschmückten

Gummibadekappe, begann mit dem Unterricht.

Alle auf dem Bauch, Gesicht zum Strand, Hände im

Schlamm, Beine im Wasser. Meine Füße strampelten

gehorsam, Wassertreten machte mir nichts aus, so lange

ich mich am Ufer festhalten konnte. Aber dann winkte

die Lehrerin uns ins tiefe Wasser, Kind für Kind.

Ich weigerte mich, obwohl mich alle anstarrten, und

schließlich packte die Lehrerin mich unter den Armen

und zog mich hinein.

Trau niemals jemandem mit Plastikblumen auf dem Kopf.

Ich brüllte so laut, dass die Lehrerin sich fragend

an meine Mutter wandte, während die anderen

Mütter gluckten und zischelten.

Mein Sieg

bestand darin, dass ich an die seichteste Stelle

des Teichs verbannt wurde,

wo ich mich mit beiden Händen

fest auf der Erde

durchs Wasser voranhangelte.

Ab und zu reckte ich einen Arm in die Luft,

als würde ich schwimmen,

eine störrische Kaulquappe,

die den Untiefen nicht traut.

Orientierungsprobleme

In der ersten Klasse haben meine Eltern mich

als Landmaus in die Stadt verpflanzt,

zitternde Tasthaare, die Augen weit geöffnet.

Zwei Tage später setzte Mom meine Schwester

in den Kinderwagen und wir spazierten

zu dritt durch einen Sprühregen aus goldenen

und rubinroten Blättern erst einen Hügel hinauf,

dann einen anderen hinunter

zu meiner neuen Schule aus Backstein.

Nach der Anmeldung im Sekretariat drückte mir Mom

meine Lunchbox in die Hand und winkte

kurz zum Abschied.

Ich saß in der letzten Reihe, spielte in der Pause

mit ein paar Mädchen Himmel-und-Hölle und rannte,

als die Schulglocke nach der letzten Stunde klingelte,

die Hände jubelnd hochgereckt, hinter allen anderen her

zum Tor hinaus, wo ich an unserem weiß behandschuhten

Verkehrsengel vorbei in die falsche Richtung ging.

Ich blieb stehen.

Ging zurück zur Kreuzung, drehte mich um

neunzig Grad, marschierte den Hügel hoch,

was sich erst besser anfühlte,

so lange, bis es sich nicht mehr richtig anfühlte,

weil die Häuser nicht mehr zu unserer Familie passten.

Ich blieb stehen.

Ging zurück zur Kreuzung, bog dann in die dritte

Straße ein, das dritte Mal der falsche Weg.

Ich blieb stehen.

Ging zurück zur Kreuzung, bog in

die vierte Radspeiche möglicher

Heimwege ein, wieder falsch.

Ich war das letzte Kind weit und breit,

Landmaus, fünf Jahre alt,

kreiselte in der Mitte meines Kompasses,

bei dem ich nicht mehr wusste, wo Norden war.

Ein weißer Handschuh winkte, der Engel war eine Frau.

Sie kauerte sich vor mich hin, die Flügel fein säuberlich

hinter dem Rücken gefaltet, ihre Engelsaugen hatten

alles gesehen, sie wischte mir die Tränen ab

und nahm mich bei der Hand

und führte mich

den Hügel mit den goldenen und rubinroten Blättern

ein weiteres Mal hinauf, weiter als ich mich

auf meinen winzigen Landmauspfoten getraut hätte,

so lange, bis wir oben angekommen waren,

dann auf der anderen Seite wieder hinunter,

ich trippelte neben ihr her, die Häuser

veränderten sich und ganz unten am Fuß

des Hügels stand unser neues Zuhause,

wo meine Mutter vor der Tür auf mich wartete.

Training

Mr Irving wusch, legte und toupierte das Haar

meiner Mutter, stellte sie den anderen Damen vor,

dauergewellt, parfümiert, über ihre Ehemänner

herziehend beim Friseur, ihrem Beichtvater,

der über alle privaten Details Bescheid wusste.

Meiner Mutter empfahl er, sie solle mich doch zum

Schwimmen schicken, die anderen Kinder seien da auch,

und danach wäre ich so müde, dass ich abends gleich

einschlafen und ihr nicht auf dem Kopf rumtanzen würde.

Ich musste erst noch lernen, in Wasser, das tiefer als

fünfzehn Zentimeter war, zu schwimmen. Aber danach

vertauschte ich unseren schlammigen Teich gegen

auszementierte Becken in Schulen und Parks überall,

in der Stadt,

trainierte in der Schwimmmannschaft kaulquappiges

Rückenschwimmen, Schmetterling und Kraulen,

bis mein Körper kräftig, schlank und geschmeidig war,

ein glänzender Wasserpfeil

mit einem schiefzahnigen Lächeln.

Gewinnen war mir nicht wirklich wichtig,

aber auf keinen Fall wollte ich Letzte sein,

besonders wohl fühlte ich mich auf Bahn 7,

lange, langsame Meilen,

Schwimmzug für Schwimmzug,

unterbrochen von Rollwenden.

Wumm!

Unter Wasser war ich

als Meerjungfrau in meinem Element.

Ich spürte, wie mir Kiemen wuchsen,

brauchte für meinen Atem keine Luft mehr.

Köder

Schwimmbad

Unterwasserwelt

Ein Schwarm glitschiger Jungs,

elf, zwölf Jahre alt,

mit haifischzahnigen Fingern

und Zahnlückengrinsen,

schießt auf

die nichts ahnenden Mädchen zu,

acht, neun Jahre alt,

ins Wasser gestoßen,

wie ein Eimer voller Köder

über Bord gekippt wird.

Die Jungs umkreisen sie, schnappen

gierig zu, grapschen zwischen die Beine,

kneifen in die Brüste, spucken sie an

füllen das aufgewühlte Wasser

mit Gier, Hass und Zerstörung.

Danach halten sich die Mädchen

lieber im seichten Wasser auf,

nach dieser Feuertaufe

als Köder,

der ersten schmerzhaften Lektion,

dass die Retter am Beckenrand

immer in die andere Richtung

schauen.

Bücherliebe

Lesen habe ich gehasst. Wie habe ich die Ameisen

verabscheut, die über die Buchseiten krabbelten.

Ich verlor die Lust an der Schule, kämpfte,

auf ein Puzzle reduziert, bei dem Stücke fehlten.

Einmal gebrandmarkt, verblasst das

Gefühl der Blödigkeit nie,

egal wie viele Medaillen du gewinnst.

Wir sind dann mit dem Bus in die Stadt gefahren,

ich und Leslie, die Musik studierte und bei uns

unterm Dach wohnte,

meine Mary Poppins aus New Jersey,

wir sind mit dem Bus in die Stadt gefahren,

die Münzen waren heiß von meiner Hand,

pling pling

in das Kästchen neben dem Fahrer,

die ganze Strecke

bis zu unserer Carnegie-Bücherei,

von einem Einwanderer

vor vielen Jahren erbaut,

damit alle Bücher lesen konnten,

frei und ungehindert von politischen Systemen,

die sie in Unwissenheit halten

und für immer ans Rad ketten wollten.

Leslie versprach mir, dass sie mir die Bücher

vorlesen würde, deshalb brauchte ich keine Angst

vor Fehlern zu haben, und ich schrieb in großen

Buchstaben meinen Namen und bekam meinen ersten

Ausweis, eine Ausleihkarte mit meinem Namen.

Als ich die Bibliothekarin fragte:

»Kann ich alle diese Bücher ausleihen?«,

antwortete sie ernst:

»Natürlich, mein Liebes, nur

nicht alle gleichzeitig.«

Und so kam es dank Leslie und einer Engelschar,

verkleidet als Lehrerinnen und Bibliothekarinnen,

die mich jahrelang mit ihrer nimmermüden

Liebe und stundenlangem Lesenüben unterstützten,

dass die Ameisen geradeaus marschierten,

Wörter formten, Sätze bildeten, Welten erbauten

für das Mädchen, das endlich lesen konnte.

Ich hatte das Sesam-öffne-dich

für die Schatztruhe gefunden

und gab den Schlüssel nicht mehr her.

Haiku

für meine Lieblingslehrerin Mrs Sheedy-Shea

 

 

 

 

Sie lehrte Haiku.

Suche nach Worten für das,

was ungesagt ist.

Miss Piggy

Indoktriniert durch Zeitschriftencover

mit dürren Angehörigen der weißen Oberschicht

wie den Kennedys

(nur Landeier aßen zu viel),

erwiesen sich

meine emporstrebenden Eltern

als ganz auf der Höhe der Zeit und erstickten

meinen Hunger,

indem sie mich in die Hüften kniffen

und nach dem Fett unter meinem Kinn grapschten,

als ich acht, zehn,

vierzehn, fünfundzwanzig

hungrige Jahre alt war,

da grapschten und kniffen sie mich

und nannten mich dabei Miss Piggy,

mit einer Stimme, die als liebevoll

verkaufen wollte, was kränkend und

beleidigend war.

Andere, sagten sie zu mir,

würden mich später hänseln,

weil ich so dick und fett sei,

besser, ich würde mich

gleich daran gewöhnen.

Schamerfüllt

Als wir Mädchen waren, ritten wir auf

als Fahrräder verkleideten Pferden

und jeder, der Augen im Kopf hatte,

konnte sehen, dass wir uns an sie schmiegten,

ihre Mähnen bürsteten und mit ihnen

über die Prärie galoppierten. Wir mussten

dafür die Dorset Avenue nicht verlassen.

Ja, unsere Räder waren in Wirklichkeit

Pferde und wir waren Mädchen voller Magie

und atmeten die Weite inmitten einer Welt

langweiliger Fußgängerzonen.

Nach einem harten Ritt durch die Prärie,

führten wir unsere Pferde noch eine Weile am Zügel

durch die Straßen, fütterten sie mit Zuckerstückchen,

pumpten ihnen die Reifen auf, bogen die Spielkarten

in den Speichen gerade, die mit rattata-rattata-rattata-tat

unser Kommen ankündigten.

Immer hatten wir aufgeschürfte Knie, mit Schorf bedeckt,

vom Sturz auf dem buckeligen Gehsteig, der sich

durch den starken Frost bei uns im Winter gehoben hatte

und nur noch durch die Wurzeln längst

abgestorbener Bäume zusammengehalten wurde,

dennoch wurde nichts repariert,

wie um die Kinder zu lehren,

auf ihre Schritte zu achten.

Mein Springseil benutzte ich als Zügel für mein Pferd,

als Lasso für ausgebrochene Kälber

und als wirbelnden Derwisch für unsere Mädchenspiele,

in den Himmel hoch gesprungen, die Erde berührt,

in schnellem Rhythmus und dazu unsere Reime

gesungen. Oft verhedderten wir uns und strauchelten,

schlugen uns unsere halb verheilten Knie auf,

leckten uns die blutenden Wunden

und begannen wieder von vorn.

Mein Fahrrad hatte hinten einen Gepäckträger,

mehr zur Zierde vermutlich, aber aus Metall.

Eines Tages ließ ich die kleine Schwester

eines Mädchens aus der Nachbarschaft

hinter mir auf meinem Pferd mitreiten,

ihre Schnürsenkel verhedderten sich

in den Speichen, ihr Fuß verdrehte sich

grauenhaft, war gebrochen.

Die Schreie der kleinen Schwester drangen

bis zu mir in den Wäscheschrank, wo ich mich

stundenlang versteckte, schluchzend und

von Entsetzen gepackt, weil ich daran schuld war,

nein, war ich nicht, doch,

ich war schuld daran, ich ganz allein,

monatelang musste sie

einen schweren Gips tragen.

Das Pferdchenspiel war danach für mich beendet.

Scham steckt dir widerspenstig

wie Erbrochenes in den Haaren,

bleibt kleben, egal wie oft du sie wäschst.

Manchmal musst du dich am Schädel

kahl scheren

und neu anfangen

wie ein frisch geschlüpftes Küken,

den schwachen Fäulnisgeruch

kaputter Magie

in verstreuten Eierschalenscherben

hinter dir lassend.

Heimgezahlt

Nach Wilbur und Charlotte,

aber vor Betty und ihre Schwestern

klaute meine Schwester

den Schlüssel zu meinem

grün eingebundenen

Tagebuch.

Sie hat es gelesen

und mich mit ihrem Wissen

erpresst.

Wir teilten uns ein Zimmer, das

durch einen Streifen Klebeband

auf dem Boden und im Kleiderschrank

in zwei Hälften zertrennt war,

die rote Linie

durfte nicht überschritten werden.

Irgendwelche Verbrechen oder schweren

Verstöße hatte ich nicht begangen, ich war

erst in der fünften Klasse, doch sie verpetzte

mich, dass ich in Mathe gespickt hätte und

vorhabe, es wieder zu tun.

Aber das habe ich ihr heimgezahlt,

indem ich ihr im Dunkeln,

vor dem Einschlafen,

Gruselgeschichten erzählte.

Ich sei nämlich in Wirklichkeit ein Vampir,

wie die Muttermale an meinem Hals bewiesen,

und manchmal würde ich mich auch

in einen Werwolf verwandeln.

Im Mondschein schmiedete ich so meine

Geschichten, bis sie laut nach Mom rief,

von der ich dann angebrüllt wurde,

ich solle meiner Schwester keine solche

Angst einjagen. Für die nächsten Tage

bekam ich Hausarrest, deshalb machte ich

es nie wieder, aber ich drohte damit,

sobald meine Schwester die rote Linie

verletzte.

Eigentlich schulde ich ihr

noch etwas, meiner Schwester,

dafür, dass sie mir den Schlüssel

zu meinem Tagebuch geklaut

und meine Geheimnisse