Schreiner - Werner Sester - E-Book

Schreiner E-Book

Werner Sester

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Beschreibung

wenn Schreiner sich selbst, ihren Beruf, ihre Werkstatt und die Welt mit philosophischen Augen betrachten, dann tun sie dies als Denker der Praxis. Denker der Praxis schöpfen ihre Wissen aus Geschichtsbewusstsein, Tradition und Erfahrung. Die Fähigkeit zum Überschreiten ist in diesem Wissen ein fester Bestandteil. Deshalb fühlen sich Schreiner in Grenzbereichen zuhause, deshalb sind sie immer für eine Überraschung gut.

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Seitenzahl: 87

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Dieses Buch ist allen Handwerkerinnen und Handwerkern gewidmet, die als Geradeaus-Denker der Praxis unsere Gesellschaft am Leben erhalten. Handwerker schulden immer ein Ergebnis.

Sie sind verantwortlich für das, was sie tun.

Deshalb ist die Tätigkeit eines Handwerkers mehr als nur Arbeit, sie ist eine Lebenshaltung.

Ein Handwerker tut, was er tut, weil er es kann.

Er ist eingebettet in einer Tradition aus Wissen und Erfahrung.

Er ist ausgestattet mit dem Gen der Verantwortung, was eine reale Selbsteinschätzung mit einschließt.

Das sind gute Voraussetzungen, dass sich aus einem Denker der Praxis ein Denker realer Utopien entwickelt.

Dieses Buch ist auch eine persönliche Widmung an aufrechte Handwerker, ohne die dieses Buch nie entstanden wäre.

Otmar Sester

Töpfermeister

Alfred Giller

Dreher

Heinz Fitzner

Lithograph

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Vom Lernen und Lehren

Der Übergang

Das Schweigen des Meisters

Ein Riss geht durch die Welt

Fremdkörper

Die Rückkehr des Meisters

Sich wert fühlen

Sprachentwirrung

Das Höchste

Vom Ende zum Anfang

Gefühlsgedanken

Handwerk als Poesie

1. Einleitung

Wer sich heutzutage auf den Weg der inneren Läuterung begeben will, stolpert früher oder später über den Jakobsweg, oder er sucht sich einen Guru mit Ashram, der ihm den Weg zur Erkenntnis und Erleuchtung weisen soll.

Alle Wege enden im „Nichts“.

Ein Meister lehrt Tiefe, Hingabe, Demut und Weisheit und erwartet dafür Unterordnung, Hingabe, Demut und Glauben.

Dieses schöne Konstrukt funktioniert in unseren westlich kapitalistischen Gefilden überhaupt nicht. Hier wird hinterfragt, gezweifelt, verworfen, bekämpft und behauptet.

Entsprechend hat sich hier eine andere Spezies von Meistern entwickelt, die mehr fragt als Weisheiten verstreut, die zweifelt und den Zweifel setzt, die lehrt und gleichzeitig lernt, die weiß, dass sie keine Ahnung von den wesentlichen Dingen des Daseins hat.

Der Ashram eines Schreinermeister heißt deshalb auch ganz banal: „Schreinerei“.

Der Anhang eines Schreinermeisters sind keine Jünger, sondern Gesellen, Gesellinnen und Auszubildende.

Und da ein Schreinermeister keinen Erleuchtungsweg weisen kann, fallen seine Weisheiten handfester aus, als das bei heiligen Männern und Frauen der Fall ist: „Du machst und tust und kommst zu nichts.“

Alle Wege führen ins „Nichts“. Das zumindest ist die einheitliche Erkenntnis unterschiedlicher Vorgehensweisen.

Der Guru strebt nach dem „Nichts“, der Schreinermeister sieht dieses „Nichts“ als Problem.

Die Weisheit eines Schreinermeisters beginnt deshalb immer mit einer Frage oder mit einer Problembeschäftigung.

Die Suche nach einer Lösung ist der Weg des Meisters.

Und diese Suche kann nie im „Nichts“ enden, weil das „Nichts“ für einen Meister lediglich eine Herausforderung darstellt.

Deshalb gibt es auch kein Scheitern. Es gibt einen ständigen Neubeginn.

Der Unterschied zwischen einem Guru und einem Meister wird jetzt sehr deutlich.

Ein Guru ist mit sich und seinen Weisheiten zufrieden.

Ein Schreinermeister ist nie zufrieden, für ihn sind Erkenntnis und Dasein ein Prozess des ständigen Wandels.

Dieses Wissen treibt ihn an. Und dieses tiefe Wissen macht ihn ruhig.

2. Vom Lernen und Lehren

In Schreinereien wird das Schleifen an der Breitbandmaschine allgemein als niedrige Arbeit eingestuft.

Man schleift, um ein bestimmtes Schleifergebnis zu erreichen. Teile werden auf der einen Seite eingeschoben und auf der anderen Seite wieder entnommen.

Der Vorgang beginnt, der Vorgang endet.

Ein Meister würde an dieser Stelle warnend den Zeigefinger in Höhe strecken, wenn er es noch kann:

„Wer den Prozess des Schleifens in dieser Weise verkürzt, hat den Wesenskern des Schleifens nicht verstanden. Er verpasst in diesem Augenblick die Chance, ein guter Schreiner und letztendlich ein Wissender zu werden. ‚Schleifen’ und ‚Erleuchtung’ liegen nahe beieinander.“

Wenn die Breitbandschleifmaschine gestartet wird, entsteht ein Startergeräusch, das nur diese eine, wirklich nur diese eine Maschine weltweit hat. Am Klang hörst du das Wohlbefinden der Maschine, du hörst, ob sie bereit ist, mit dir in einen inneren Dialog zu treten.

Die Schleifmaschine teilt Dir mit, wenn sie mit Deiner Einstellung nicht zufrieden ist.

Sie fordert dich auf, sie mahnt zur Wachsamkeit, sie fordert den harmonischen Gleichklang zwischen „dir und mir“.

Ohne dieses verstehende Miteinander kommt kein gutes Ergebnis zustande.

Der Meister atmet die Maschinenstimme ein. Sie lässt seinen Körper vibrieren, er schwingt mit dem Rhythmus des Maschinentaktes mit, bis er die Gelassenheit der Maschine in sich aufnehmen kann.

Dann erst ist die Kommunikation perfekt.

Der Meister legt seine Hand auf die Maschinenseite – und bekommt gleich darauf einen leichten Stromschlag.

Die Maschine hat gesprochen!

Sie weist den Meister in ihrer eigenen Art darauf hin, dass er mal wieder die Turnschuhe mit den Sicherheitsschuhen verwechselt hat. Der Meister bedankt sich und wechselt heimlich seine Schuhe.

Der Meister befindet sich in einem fortlaufenden Prozess des Lernens. Die Maschine wiederum hat nie aufgegeben, den Meister zu unterrichten.

Altersbedingte Animositäten werden zu einer Herausforderung, sich gegenseitig immer neu aufeinander einzustellen.

Der Zusammenhalt wird gestärkt, wenn man die inneren Werte des anderen besser kennenlernt.

Die Einstellungen der Schleiftiefe werden normalerweise digital vorgenommen.

Aber der Meister weiß, dass die Schleifmaschine ihre Tagesformen hat. Sie liebt bestimmte Temperaturen, und am liebsten läuft sie allein. Sie genießt die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Meisters und sie liebt es, wenn sie die volle Absaugleistung nur für sich allein in Anspruch nehmen kann.

Der Meister achtet auf Empfindsamkeiten.

Er beginnt deshalb die Eingewöhnungsphase mit einem langsamen Herantasten.

Der erste Schleifdurchgang ist ein sanfter Probedurchlauf mit sehr lockerer Schleifung. Die Schleiftiefe wird sanft herunter- bzw. hochgefahren, um den Gewöhnungsprozess für die Maschine in Gang zu setzen.

Am Klang der Maschine hörst du, welches Lied die Maschine singt. Ist es ein Lied der Freude, oder ist es ein Lied des Schmerzes?

Das Lied der Freude erzählt die Geschichte vom Austausch zärtlicher Streicheleinheiten, von Liebe, von gegenseitiger Achtung und Bewunderung für neu entstehende Schönheit.

Das Lied des Schmerzes entsteht aus einer Missachtung der Gefühlslage des anderen.

Die Maschine quittiert diesen Fehlgriff mit einem lang gezogenen, quietschenden Klageruf, das Holz zieht sich zusammen und verliert sein Furnier.

Solche Missgeschicke passieren dem Meister nur selten.

Der Meister hat vorgesorgt und untersagt, dass der Prozess des Eingestimmtseins unterbrochen wird.

Niemand darf einen anderen stören, wenn er an einer Maschine steht.

Trotzdem passieren solche Dinge.

Und wenn mal wieder ein Vertreter hart angeschnauzt wird, dann weiß er jetzt, weshalb.

Schmerzen der Schleifmaschine erschrecken den Meister.

Er beginnt sofort mit der Korrektur. Alle Beteiligten wollen mehr Platz und Raum und stellen ihre maximalen Forderungen, die sich gegenseitig im Wege stehen.

Der Meister muss jetzt gut zuhören, bis zu welchem Toleranzbereich jeder Beteiligte mitgehen kann, um ein harmonisches Miteinander von Nähe und Distanz, von Interesse und Zugeständnis zu erreichen.

Der Tanz kann beginnen.

Es ist in der Tat ein Tanz. Mit Hüftschwung und einer Armbewegung hebt der Meister die Platte vom Rollwagen und übergibt den Schwung auf das rollende Förderband, das den Tanzschritt mit einer Soloeinlage beendet. Der Meister geht im Fünfwechselschritt neben seiner geworfenen Tanzpartnerin her und fängt am Maschinenende ihren strahlenden Körper wieder auf. Aus anfänglicher Übung entsteht ein Rhythmus der Vertrautheit, der in eine entspannte Gelassenheit übergeht. Der Tanz hat die Regie übernommen und führt zu einer Selbstvergessenheit in einer zeitlosen Zeit.

Es ist ein ständiges Geben und Nehmen, ein Drehen und Wenden, ein Auf und Ab, ein Tanz der Hingabe.

Der Schreinermeister liebt diese Form der Einsamkeit.

Allerdings hat er als Meister auch die Aufgabe, andere in den Prozess des Schleifens einzuweihen. Er tut dies als Lernender und Lehrender gleichermaßen.

So ein Prozess wird in stiller Form vermittelt.

Die Integration einer weiteren Person erweitert den Kommunikationsumfang erheblich.

Diese Person ist nicht geschult im Verständnis des Geschehens, sie ist nicht geschult im Zuhören des Unausgesprochenen.

Der Meister lehrt durch Vorleben. Er gibt den Rhythmus der Schwingung vor, um im Gleichklang von Maschine und Material den Neuling zu integrieren. Dieser merkt nicht, dass er sich eigentlich in einem erweiterten Kommunikationsprozess befindet.

Die Verschmelzung in einer übergeordneten Kommunikationssphäre hat begonnen.

In diesem Prozess verschwinden Gedanken,individuelle Gefühle und Bewegungen in einem Gleichklang einer Sphärenmusik.

Zu Störungen kann es auch hier kommen.

Es können sich kleine Frästeile aus dem Verbund der Platte lösen.

Der Meister weiß, dass Kleinteile in einem Schleifvorgang nicht überleben können. Die Absaugung würde dieses Teil hochziehen und festhalten.

Die Maschine hat den Meister gelehrt, dass ein gesunder Schleifvorgang nur im Verbund möglich ist.

Schiebt man ein Kleinteil in die Schleifmaschine und sofort hinterher die große Platte, dann lässt die Maschine mit händischer Unterstützung des Meisters das Große und Kleine wieder zu einer Einheit verschmelzen, mit gleich gutem Schleifergebnis für die Beteiligten.

Wenn Vorgänge unerwartet eintreten, dann werden Uneingeweihte davon überrascht.

Das führt dazu, dass sich Neulinge, meist Auszubildende, öfter bücken müssen, um Kleinteile vom Boden wieder aufzulesen.

Doch kurz danach beginnt der Lernprozess.

Der Helfer erwartet beim nächsten Schleifgang, dass auch ein Einzelteil vorab ein Verbund sein kann. Er lernt durch den Meister, die Maschine in diesem Prozess zu verstehen. Der Verbund schafft die Leistung, der Verbund ist die Quelle der Stärke und des Ergebnisses.

Die helfende Kraft wird Teil des Verbundes und damit Teil der unendlichen Kommunikation, ohne dass sie eine Ahnung davon hat, was sie gerade gelernt hat und wer alles ihre Lehrer waren.

3. Der Übergang

Schlagen Sie nie auf Ihren Computer ein, wenn er mal wieder Dinge hervorzaubert, die so von Ihnen nicht gewünscht waren.

Ihr Computer befindet sich in diesem Moment in einem sehr intimen Dialog mit Ihnen. Er macht Sie entweder auf einen Denkfehler aufmerksam, oder er versucht, Sie zu überreden, Ihr Wissen um eine weitere Dimension zu erweitern.

Ein Schreinermeister kennt dieses Martyrium nur allzu gut. Er weiß, dass er den einfachen Vorgang, eine virtuelle Realität in eine händische Realität zu überführen, in seinem ganzen Ablauf nie wirklich verstehen kann. Der Punkt der Transformation ist und bleibt für ihn ein offenes Geheimnis. Sehen und Begreifen befinden sich auf unterschiedlichen Ebenen der Erkenntnis.

Ausgangspunkt eines Denkaktes ist für einen Schreiner normalerweise die Praxis. Er schöpft aus der Praxis, und er denkt praxisbezogen.

Problemfelder der Praxis werden zum Gegenstand des Denkens. Die Praxis bestimmt das Bewusstsein, das Bewusstsein wiederum wirkt zurück auf die Praxis. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Karl Marx würde dem Schreinermeister jetzt auf die Schulter klopfen und sagen: „Gut so.“

Das ist aber nur die halbe Wahrheit.