Schrittfehler - Richard Grosse - E-Book

Schrittfehler E-Book

Richard Grosse

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Beschreibung

Herbst 1980. In der kardiologischen Abteilung einer renommierten Ostberliner Klinik verscheiden merkwürdigerweise Patienten, denen ein Herzschrittmacher eingesetzt wurde. Die betroffenen Männer sind im Rahmen einer groß angelegten klinischen Studie zur Einführung der Schrittmachertherapie operiert worden. Alle litten an einer besonders schweren Form der Rhythmusstörung. Obwohl die Eingriffe komplikationslos verliefen und die Schrittmacher scheinbar störungsfrei arbeiteten, sterben die Männer kurz vor ihrer Entlassung an Herzversagen. Nichts deutet auf ärztliches Fehlverhalten hin. Nach dem dritten Todesfall leitet Major Bircher Ermittlungen ein, die sich zunächst auf die Studiengruppe konzentrieren: Oberarzt Dr. Peter Wohlfahrt, der die Operationen durchführt; Ingenieur Frank Schuster, der im Rechenzentrum die klinischen Daten der Probanden analysiert; Diplom-Biologe Klaus Behrens, der in den Blutproben der Patienten nach Risikomarkern forscht; Dr. Bäsler von der Chirurgie, der ebenfalls am OP-Programm teilnimmt. Zu seiner Verwunderung stellt Major Bircher bald fest, dass die Mediziner und Wissenschaftler noch etwas ganz anderes verbindet – ein spezielles Interesse an Wohlfahrts Ehefrau Renate … Und welche Rolle spielt Behrens' Vater, ein hohes Tier im Ministerium für Gesundheitswesen, in dem ganzen Szenario? Zu einer Zeit, als der Eiserne Vorhang noch klare Grenzen defi nierte, entfaltet sich dieser Krimi als ein subtiles Kammerspiel, das unter die Haut geht!

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Seitenzahl: 515

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Richard Grosse

Schrittfehler

Ein Berlin-Krimi

Kommissar Birchers dritter Fall

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-803-4

1. Auflage

© 2020 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: ullstein bild - ddrbildarchiv.de / Schönfeld;

SLUB / Deutsche Fotothek (Ärzte)

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Für G.

Die Handlung ist frei erfunden. Jedweder Bezug der Roman­figuren zu realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

EINS

Reisen gehörte nicht zu Birchers Leidenschaften. Im Ferienhaus war es ihm zu ungemütlich und man musste sich selbst versorgen, wie sollten Karola und er ihrer Leidenschaft nachgehen, abends zu kochen, wenn es nur einen Kochtopf und zwei stumpfe Messer gab; im Hotel störte ihn der Krach, zum Frühstück konnte er weder seine Zeitung lesen noch klassische Musik hören und die Gespräche am Nachbartisch waren ihm so lästig wie das Gedränge am Buffet. Seine Frau Karola sah das alles lockerer, fügte sich aber. Nun jedoch, da sie drei Jahre lang ihre freien Tage im Berliner Umland verbracht hatten, gelang es ihr, ein Machtwort zu sprechen.

»Du musst endlich mal raus in die Republik, Karl, lass uns in die Berge fahren, wo du als Kind wandern warst.«

Bircher wippte nachdenklich mit dem Kopf. Tatsächlich gefiel ihm der Gedanke, die Hauptstadt mitsamt Polizeipräsidium und Morduntersuchungskommission für zwei Wochen hinter sich zu lassen. In die alte Heimat Thüringen reisen, durch die herbstlichen Wälder streifen, wie in der Jugend Thüringer Klöße mit Schweinsbraten genießen, und ohne Telefon am Bett friedlich einschlafen.

»Lass mir zwei Tage, um darüber nachzudenken«, brummte er. Werde mich erstmal im Büro umsehen, ob was Neues anliegt, setzte er in Gedanken hinzu. Karolas Wunsch überraschte ihn nicht. Eigentlich hatte er schon im vergangenen Jahr damit gerechnet, dass sie ihn in den Urlaub drängeln würde, wie er es für sich formulierte. Die Fälle der vergangenen Jahre hatten wenig Zeit zum Träumen gelassen. Sie hat recht, beschloss er. Zeit abzuhauen. Auf in die Berge!

»Einverstanden. Ich habe gerade keinen Fall, also nichts wie weg«, verkündete er zwei Tage später am Abend nach dem ersten Glas Wein.

»Dann lass uns schnell verschwinden, bevor du gerufen wirst.«

»Eben, jedes Jahr kam was dazwischen, meistens ein Verbrecher. Fahren wir also ins betuliche Thüringen, da bin ich nicht zuständig, niemand kann mir den Urlaub unterbrechen, wenn im Gebirge ein Wanderer verstirbt.«

»Na, das fängt ja gut an, deine Vorstellung vom Urlaub«, sagte sie und knuffte ihn vergnügt in die Seite. Endlich mal weg aus Berlin, freute sie sich. Im Unterschied zu ihrem Mann war sie in Berlin aufgewachsen, eine Fahrt nach Thüringen erschien ihr wie eine Reise in ein anderes Land.

Sie begannen, sich einige Wanderstrecken auf dem Rennsteig auszusuchen. Als besondere Herausforderung nahmen sie sich den Aufstieg zum Großen Inselsberg vor.

»Du wirst mal was für dein Gewicht tun, damit dir die Ganoven nicht davonlaufen«, witzelte sie.

»Und du wirst das Rauchen einstellen, damit du und der Wald atmen können«, parierte Karl.

Drei Tage später, an einem freundlichen Septembertag im Jahr 1980, Bircher und seine Frau waren schon dabei, die Urlaubsgarderobe zusammenzustellen, wurde Major Bircher über einen Todesfall auf der kardiologischen Station der Klinik für Innere Medizin in Berlin informiert. An sich nicht seine Sache, wäre es nicht der dritte Patient gewesen, der innerhalb kurzer Zeit unter merkwürdigen Umständen aus dem Leben geschieden war. Die Akte wäre ebenso wie die der beiden Vorgänger auch nicht auf seinem Schreibtisch gelandet, stünden die Todesfälle nicht im Zusammenhang mit einer breit angelegten Studie zum Einsatz der Herzschrittmachertechnik in der Republik, veranlasst von ganz oben. Bircher schob die Akte missmutig zur Seite und seine Augen blinzelten nervös hinter den dicken Brillengläsern. Ihm schwante nichts Gutes, denn die Sache erinnerte ihn sofort an die früheren Vorfälle.

Er hatte vor einigen Wochen vom Tod zweier Patienten in derselben Klinik erfahren und der Akte entnommen, dass die Patienten zuvor mit einem Schrittmacher versorgt worden waren. Die Fälle ähnelten sich, das war Bircher und seinen Kollegen sofort aufgefallen: Der Eingriff verlief in beiden Fällen komplikationslos, die Schrittmacher arbeiteten fehlerfrei und die Patienten standen kurz vor der Entlassung, bevor sie die Frühschicht tot im Bett vorfand. Beide Patienten litten seit Jahren unter schweren kardiovaskulären Vorschäden. Die behandelnden Ärzte verwiesen achselzuckend auf das Restrisiko, bedingt durch die Krankengeschichte der Männer. Bircher und sein Stellvertreter, Oberleutnant Angler, hatten gezögert, Ermittlungen einzuleiten. Gegen wen hätten die sich richten sollen? Und schließlich war die Rede von einer der besten Kliniken der Republik, der vor wenigen Wochen die Verantwortung für die Einführung der Schrittmachertherapie übertragen worden war. Bircher vertraute letztendlich den Ärzten, die darauf bestanden, es sei alles mit rechten Dingen zugegangen, selbst ein Schrittmacher könne nicht alle Herzfunktionen übernehmen.

Er hielt es sowieso für ein technisches Wunderwerk, dass man durch künstlich gesetzte elektrische Impulse ein stotterndes Herz so regulieren konnte, dass es sich wie eine Pendeluhr verhielt, die sekundengenau zur vollen Stunde schlug. Das Aktenstudium erinnerte ihn leider auch daran, dass seit einiger Zeit sein eigenes Herz manchmal wie aus heiterem Himmel »stolperte«. Er nahm es nicht zu ernst und beließ es dabei, kräftig durchzuatmen, wie um neuen Schwung in seine Adern zu pumpen. Er konnte nicht wissen, dass ihn seine Frau einmal abends im Bad dabei beobachtet hatte, wie er zwei Finger auf seinen Puls presste und mit geschlossenen Augen die Schläge zählte. Einige Tage später hatte sie sich heimlich und ganz allgemein bei ihrem Nachbarn erkundigt, was ein unregelmäßiger Puls bedeute.

»Nichts Besonderes, wenn man so viel arbeitet wie der Karl. Extrasystolen können vorkommen. Gib ihm weniger Wein«, hatte der mit ärztlichem Langmut abgewiegelt.

Diesen Rat behielt sie für sich, denn ein Abendessen ohne eine Flasche Wein war für sie beide gleichermaßen unvorstellbar. Das Öffnen der Flasche glich einem Ritual, ähnlich dem Falten der Hände beim Gottesdienst. Seit dem ersten Tag ihrer Ehe wurde am Abendbrottisch der Tag ausgewertet, mit dem Wein als treuem Begleiter.

Als die Nachricht über den dritten Fall eintraf, kam es Bircher wie eine Eingebung vor, denn die Schrittmacher spukten immer mal wieder wie eine Ermahnung zur gesunden Lebensführung in seinem Kopf herum. Der letzte Patient hatte wie die zwei zuvor verstorbenen an der Studie teilgenommen. Wieder war es ein Mann, obwohl die Studie auch Frauen einschloss. Es fiel zudem auf, dass andere Patienten, die zur gleichen Zeit einen Schrittmacher erhalten hatten, ohne an der Studie teilzunehmen, beschwerdefrei entlassen worden waren. Zufall? Zu viele Zufälle, befand Bircher. In ihm leuchtete ein Warnlämpchen auf. Er nahm die Akte, las noch einmal die Namen der beteiligten Ärzte und rief sich den Namen der Station in Erinnerung. Ihm war plötzlich unbehaglich zumute, als müsste er sich einen Fehler eingestehen. Er dachte an Karola und die Wandersachen, die sie sich im Centrum-Warenhaus am Alex gekauft hatte, und war nahe dran, die Akte mit dem Vermerk »Oberleutnant Angler, zur Kontrolle« abzulegen. Warum muss man mir diese Angelegenheit ausgerechnet vor meinem Urlaub auf den Tisch legen? Er schwankte einige Sekunden, dann gewann die Neugierde die Oberhand.

Nachdem er die Akte nochmals sorgfältig gelesen hatte, rief er seinen Stellvertreter zu sich. Der ging davon aus, dass sich sein Chef in den Urlaub verabschieden würde. Angler stand kerzengerade im Raum, als wartete er auf einen Einsatzbefehl, und musterte misstrauisch den Schreibtisch. Er argwöhnte, dass er gleich den unbearbeiteten Schriftkram aufgebürdet bekommen würde. Bircher war zwar ein begnadeter Ermittler, aber ein säumiger Chef, wenn es um die Formulierung der Abschlussberichte ging. Sobald ein Fall gelöst und das Ergebnis protokolliert war, überließ er den Rest gern seinen Mitarbeitern. Bircher warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Setz dich mal zu mir«, forderte er ihn auf.

Angler zog einen Stuhl zum Schreibtisch. Irgendwas stimmt nicht, stellte er fest. Sieht nicht nach Urlaub aus.

»Philipp, erinnerst du dich an die beiden Patienten, die nach einer angeblich harmlosen Operation verstarben? Ihnen wurde ein Herzschrittmacher eingesetzt. Das war vor gut drei Wochen, Anfang September. Man hatte uns informiert, mehr aus formalen Gründen, weil die Todesursache nicht völlig klar war. Am Abend waren die Männer noch quietschvergnügt und erfreuten sich an ihren rund laufenden Herzen, am Morgen fand sie die Frühschicht tot im Bett. Du warst auch mal in der Klinik.«

Bircher reichte Angler die Unterlagen und streckte sich, die Hände auf seinem ansehnlichen Bauch verschränkt, nachdenklich in seinem Schreibtischsessel aus. Oberleutnant Angler kräuselte die Stirn.

»Ich kann mich an einen hageren Stationsarzt erinnern, der auch die Operationen durchführte. Der kooperiert mit zwei junge Männern, einem Wissenschaftler und einem Informatiker.«

»Stimmt, ein EDV-Informatiker. Die arbeiten in einem sogenannten Interdisziplinären Forschungsprojekt zusammen. Es geht um den Einsatz der Herzschrittmacher vom Typ VVI.«

Angler warf seinem Chef einen erstaunten Blick zu.

»Aktenstudium.«

Angler wunderte sich immer mehr. Jetzt, kurz vor dem Urlaub, las der Chef sich in alte Fälle ein?

»Und wozu die EDV?«, nahm er den Gesprächsfaden auf.

»Hm, kann ich nicht genau sagen, wahrscheinlich, um die Patientendaten auszuwerten. Das hat uns damals nicht interessiert. Eben EDV.«

Angler nickte und stierte erneut auf den Aktenstapel.

»Und was hat das mit dem Berg auf deinem Schreibtisch zu tun?«, fragte er vorsichtig.

»Alles Fälle, die auf ihren Abschlussbericht warten.«

»Aber du bist doch nur für zwei Wochen im Urlaub«, wandte Angler erschrocken ein.

Bircher kniff die Augen zusammen und hob das Brillengestell leicht an, als hätte er seinen Mitarbeiter eine Weile nicht gesehen.

»Ich verschiebe den Urlaub. An der Sache ist was faul. Das ist nicht irgendein Krankenhaus, wo paar Kardiologen ältere Menschen mit Rhythmusstörungen behandeln und übers Jahr mal einer an Herzversagen verstirbt. Nein, wir müssen der Sache nachgehen, bevor noch ein Abgang gemeldet wird und wir uns Fahrlässigkeit vorwerfen müssen.«

»Also, Karl, ich habe noch nicht begriffen, an welcher Sache was faul sein soll? An den Schrittmachern?«, fragte Angler, dem das Unverständnis über diese Sache ins Gesicht geschrieben stand. Er begriff nicht, warum Bircher wegen zweier verstorbener Herzpatienten das Wandern mit der Ehefrau abblasen wollte. Wenn es um Mord ginge, klar, dann müsste er hierbleiben. Aber wegen eines stinknormalen Herzstillstandes auf einer kardiologischen Station? Wo sonst, wenn nicht dort, starb man am kranken Herzen?

»Auf der Station, wo geforscht und operiert wird, sterben mir zu viele. Jetzt bereits drei«, klärte ihn Bircher trocken auf.

»Es waren nur zwei Männer, und es gab keinen Hinweis auf eine Straftat.«

»Seit gestern sind es drei, für meinen Geschmack mindestens einer zu viel. Und alle waren vor der Nachtruhe ziemlich gut drauf. Am Morgen gab nur noch der Schrittmacher Lebenszeichen von sich.« Bircher reichte ihm die kurze Mitteilung der Klinikleitung. »Lies selbst.«

Er wuchtete sich aus seinem Sessel und ging zu einem der Fenster. Einige graue Wolken drohten den sonnigen Tag vorzeitig zu beenden und es schien, als würde jeden Augenblick der unvermeidliche Herbstregen die Stadt verdunkeln. Es wäre ein weiterer Septembertag, den man schnell hinter sich bringen wollte, am liebsten in einem hellen Wohnzimmer. Wenn es in Berlin im Herbst nieselte, dann häufig den ganzen Tag, abends glänzte der schwarze Asphalt wie frisch geteert, und im schräg fallenden Regen brach sich flimmernd das Laternenlicht. Bis heute früh hatten Bircher nur die Wettervorhersagen für Thüringen interessiert, weil ihn Karola drängte, sich passende Schuhe zu kaufen. Wenigstens blieb ihm nun die muffige Schuhabteilung mit dem lästigen Anprobieren irgendwelcher Wanderstiefel erspart. Er hasste es, in Socken auf niedrigen Schemeln zu hocken, um auf die Verkäuferin mit dem nächsten Paar Schuhe zu warten. Bircher richtete seinen Blick über die Dächer der gegenüberliegenden Neubauten in Richtung Volkspark Friedrichshain, er nahm die Umrisse einiger Bäume wahr und dachte mit einem leichten Ziehen in der Brust an Karola. Das wird schwierig, wenn sie heute Abend von mir hört, dass all die schönen neuen Wanderklamotten erstmal im Schrank bleiben. Hm, was soll ich machen, ich kann ja nicht mit dem Verdacht durchs Gelände wandern, dass in Berlin ein Täter frei herumläuft. Er ließ seine Gedanken schweifen und rief sich die Unterhaltung mit seinem Chef ins Gedächtnis. Generalmajor Meier hatte ihn mit dem Hinweis, dass es sich schließlich um die bedeutendste Berliner Klinik handele, um einen persönlichen Besuch gebeten. »Lass dich mal dort sehen, man kann ja nie wissen, ob was dran ist, und dann ist Ruhe«, hatte er achselzuckend gesagt. Bircher hatte sich seinen Teil gedacht und beschlossen, bei dem Besuch seine Dienststellung zu verschweigen. Wenn sich bei den Patienten rumspricht, wer ich bin, na danke, von Herzkranken sollte man jede Aufregung fernhalten.

Als er damals den Klinikeingang passierte und einen langen Korridor betrat, überfiel ihn dann doch die Neugierde. Ist mein erster Besuch in der Universitätsklinik und ich betrete das Haus nicht als Patient, stellte er fest. Und vielleicht zeigt mir jemand so einen Schrittmacher, könnte ja eines Tages nützlich sein, dachte er, während er leicht schnaufend die Treppen hinauf zur kardiologischen Station stieg. Ob man wohl mit so einem elektrischen Aggregat im Herzen mühelos auf die vierte Etage rennt?, kam ihm ein nicht ganz abwegiger Gedanke. Wäre hilfreich im Präsidium, könnte ich mir den Paternoster sparen. Na ja, interessant sind diese Schrittmacher schon, vor allem, wenn sie plötzlich versagen. Zum Beispiel, wenn die Batterie vorzeitig den Geist aufgibt. Herztod infolge Stromausfalls, hatte er in sich hineingegrinst, als wäre ihm ein Filmtitel eingefallen. Klar, ein technischer Totalausfall, was sonst könnte die Leute im Schlaf hinwegraffen. Herr Professor Sitte belehrte ihn auf dem Stationskorridor eines anderen: »Alle Patienten sind eines natürlichen Todes gestorben, alle wurden mit einem permanenten AV-Block dritten Grades eingeliefert, also höchstes Risiko, an einem Herzversagen zu sterben, mit oder ohne Schrittmacher.« Eine Fehlleistung seiner Ärzte sei ausgeschlossen. Sitte legte die Todesursache mit einer Selbstverständlichkeit fest, dass es Bircher vermied, das Thema weiter zu vertiefen. Über diesen AV-Block würde er sich später informieren. Auf seine vorsichtige Nachfrage hin, ob nicht bereits beim Einsetzen des Gerätes etwas hätte schieflaufen können, hatte der Chefarzt ungnädig abgewinkt: »Aber Herr Major, das ist ein Eingriff wie beim Zahnarzt, wenn der Ihnen eine Plombe ersetzt. Daran stirbt niemand.«

»Soso, und wieder dieselbe Station?«, riss ihn Angler aus seinen Erinnerungen, der immer noch rätselte, ob die Faktenlage den Urlaubsverzicht rechtfertigte oder ob es andere Gründe gab. Angler hatte sich über die Jahre ihrer Zusammenarbeit daran gewöhnen müssen, dass Bircher nicht sonderlich mitteilsam und gesprächig war, schon gar nicht, was sein Privatleben betraf. Angler hingegen musste man zurückhalten, damit er nicht bereits nach der Hälfte der Frage aufsprang und losstürmte, um nach der Antwort zu suchen. Vielleicht verstanden sie sich deshalb so gut, weil die manchmal ungestüme Art Anglers und die bedächtige Birchers sich vorteilhaft ergänzten. Bircher verlangte beweiskräftige Details, bevor er eine Entscheidung traf, und Angler sorgte dafür, dass sein Chef nicht lange warten musste. Akribisch waren beide, geduldiger war Bircher.

»Ja, wie ich schon sagte, die kardiologische Station. Du bist damals hingefahren, um dir die Krankenakten erklären zu lassen. Der Name des hageren Stationsarztes ist Wohlfahrt, kann man sich in diesem Zusammenhang gut merken.«

Angler zuckte mit den Schultern, als wäre der Besuch nicht der Rede wert gewesen. Tatsächlich glaubte er weder damals noch heute, einem Mordfall auf der Spur zu sein. Und nur für diese Art von Gewaltverbrechen waren sie zuständig.

»Ja, an den erinnere ich mich. Das war so ein verschlossener, kränklicher Typ. Der sah aus, als bräuchte er ’n bisschen Zuwendung. Glaubst du, dass die Fälle im Zusammenhang mit der klinischen Studie stehen könnten?«

»Kann ich nicht sagen, aber schon möglich. Würden die neuen Schrittmacher fehlerhaft arbeiten, könnte es den Hergang erklären. Dagegen spricht, dass Patienten, die nicht an der Studie teilnehmen, aber mit dem gleichen Typ Schrittmacher und der gleichen Batterie versorgt wurden, wohlauf sind. Das hat der Klinikdirektor in seinem damaligen Bericht hervorgehoben, wohl um sich von dem Vorwurf zu entlasten, sie hätten für ihre Untersuchung, die eine ziemlich große Patientengruppe umfasst, unausgereifte Modelle eingesetzt. Der kommt zu dem Schluss, dass es an der besonderen Symptomatik der Probanden liege. Es seien besonders schwere Fälle, die mit diesem Block.«

»Schrittmacher, Probanden, Symptomatik, Block«, murmelte Angler etwas ungläubig, einen flüchtigen Blick in die Akte werfend.

»Symptomatik, gemeint sind Patienten mit definierten Befunden, wie zum Beispiel AV-Block, einer Herzrhythmusstörung oder einem hohen Blutdruck«, dozierte Bircher, aus den Augenwinkeln Anglers Reaktion verfolgend.

Der schob die Akte zur Seite und hob die Augenbrauen, als glaubte er sich verhört zu haben. War ihm da etwas entgangen, seit wann beschäftigte den Chef die Medizin, wurde er etwa alt und sorgte sich um die Gesundheit? Doch das erschien ihm unwahrscheinlich. War jemand krank, winkte Bircher gewöhnlich mit einem seiner Lieblingszitate ab: »Es ist der Geist, der sich den Körper baut«, als fehlte bei Grippe nur die richtige Geisteshaltung. Nee, Karl ist der Kranke wurscht, an der Sache muss was anderes dran sein, beendete Angler seine Grübelei.

»Beschäftigen dich der Fall und die Symptomatik schon länger?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Dachte nur.«

»Philipp, Allgemeinbildung. Ist doch deine Stärke. Sollte dich interessieren, das Herz als Organ. Es gibt mehr zum Lesen als nur Akten oder die Berliner Zeitung.«

»Und welche Symptomatik brach unseren drei Patienten das Genick?«, versuchte Angler zu parieren.

Bircher verzog keine Miene, stattdessen erhob er sich, verschränkte die Arme auf dem Rücken und schritt langsam durch sein Arbeitszimmer, als zählte er die Schritte.

»Der Chefarzt sprach von einem ›AV-Block‹. Ich habe im medizinischen Wörterbuch nachgeschlagen. Umschreibt eine Herzrhythmusstörung. Über den AV-Block erfolgt die Kontrolle von elektrischen Impulsen, die den Herzschlag kontrollieren, und wenn die Impulse ausbleiben, kommt es zu Rhythmusstörungen. Den AV-Block kann man sich wohl wie einen Sender vorstellen, der Programmsignale ausstrahlt. Fallen die aus, dann empfängt der Fernseher keine Signale, schwarzer Bildschirm. Wenn also der Herzmuskel kein Signal erhält, weil der AV-Block defekt ist, dann hört das Herz auf zu schlagen und dem Patienten wird schwarz vor Augen. Die mit einem schwachen Block, also schwachen Sender, sind stark gefährdet. Die kriegen als Sender den Schrittmacher. Und unsere drei Patienten fallen in diese Kategorie. So etwa kann man es ausdrücken«, schloss Bircher und blieb in der Zimmermitte stehen, als prüfte er seine Erklärung.

Angler war wie zum Rapport aufgestanden und hörte mit halb­offenem Mund zu. In der Regel war es Angler, der gern seine Überlegungen leicht dozierend vortrug, bis ihn Birchers Miene zum Schweigen anhielt. Das kam nicht häufig vor, dass Bircher so lange Monologe hielt, und dann auch noch über das Herz.

»Na ja, trotzdem, wenn ich die Stellungnahme des Klinikdirektors ernst nehme, und das muss man ja wohl, so ist der Schrittmacher nicht ausgefallen, und ich verstehe immer noch nicht, warum du dann deinen Urlaub opferst.«

»Ich verschiebe die Wanderung. Ist ohnehin mieses Wetter, da braucht man besonderes Schuhwerk. Zur Sache: Stell dir vor, in den nächsten Tagen würden sich weitere Patienten aus der Studiengruppe verabschieden. Was würde wohl der General befehlen, bei einem halben Dutzend Todesfälle in der Universitätsklinik der Hauptstadt, alle gestorben im Zusammenhang mit der Einführung eines neuen Herzschrittmachers aus eigener Produktion?«

»Dich zurückbeordern.«

»Eben, da bleib ich doch besser gleich hier.«

Angler sah ihn forschend an, als hörte er aus Birchers Worten eine Prognose heraus. Vielleicht hat der Chef einfach keine Lust, im Regen über den Rennsteig zu wandern, sich am Abend die Blasen zu kühlen und die Schuhe zu trocknen. Seines Wissens wurde Bircher noch nie bei einer der dienstüblichen Sportstunden gesehen, die Vorgesetzten nahmen es hin, schließlich hatte er immer alle Fälle mit dem Verstand gelöst.

»Moment mal, Karl. Du glaubst tatsächlich, dass da weitere folgen?«

»Keine Ahnung. Wir werden rauskriegen müssen, ob sich die drei Herzen von selbst verabschiedet haben.«

Angler pustete wie zum Abmarsch einmal kräftig durch. Bircher drehte eine letzte Zimmerrunde und setzte sich schließlich an seinen Schreibtisch. Angler hielt die Akte mit den drei Todesfällen unschlüssig in der Hand.

»Gib sie mir nochmal«, brummte Bircher und hob den rechten Arm. Angler legte ihm die Unterlagen in die Hand und Bircher begann zu blättern, als suchte er eine Textstelle.

»Hier«, murmelte er und drückte die Seiten auf der Schreibtischunterlage auseinander, »wird das Studienziel skizziert, auch die Beteiligten. Mir sind damals die zwei jungen Männer aufgefallen, die du auch erwähnt hast, der Biologe und der Rechentechniker von der EDV. Die sind seit Kindertagen engste Freunde, wohnen, glaube ich, wie Brüder zusammen und sind auch noch wie zufällig beide an dem Projekt beteiligt. Obwohl sie keine Ärzte sind. Hier stehen die Namen, der Biologe heißt Klaus Behrens und der Informatiker Frank Schuster. Schuster ist beim Rechenzentrum der Uni angestellt, Behrens an einem Institut der Biologie in der Nähe des Tierparks Friedrichsfelde. Denen muss der Ausflug in die Kardiologie wie ein Abenteuerurlaub vorkommen. Der Oberarzt Wohlfahrt wirkte eher wie schlafwandelnd. Jedenfalls ein interessantes Grüppchen, dass sich da zusammengefunden hat.«

Angler wunderte sich leise. Er konnte immer noch nicht den Anfangsverdacht entdecken, der sie zum Handeln veranlassen müsste. Was geht uns die kardiologische Station an? Dort sterben nun mal Menschen eines natürlichen Todes. Sollen wir alle Kliniken aufsuchen, um die Sterbefälle zu zählen?

»Ja und, Karl, in welche Richtung sollen wir ermitteln?«

»Erstmal in keine.«

»Dann kannst du ja nach Thüringen fahren.«

Bircher warf ihm einen gequälten Blick zu. Angler verstand und hob abwehrend beide Hände.

»Lass man gut sein, Philipp. Mich interessieren die Schrittmacher, mal sehen, ob die nicht doch ’ne Panne hatten oder sich die Patientenherzen ganz von allein aus der Studie verabschiedeten.«

»Und hast du einen Verdacht?«

»Nein«, murmelte Bircher. »Aber dieser in sich gekehrte Doktor, in Kooperation mit den beiden Jungs, die wie ein Zwillingspaar daherkommen. Phänotypisch, versteht sich. Die machen alles zusammen, die sollten wir nochmal befragen«, sprach er wie für sich.