Schützenhilfe - Jonas Kratzenberg - E-Book + Hörbuch

Schützenhilfe E-Book und Hörbuch

Jonas Kratzenberg

4,0

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Beschreibung

282 Tage im Krieg Als am Morgen des 24. Februar 2022 die russische Armee in das Nachbarland Ukraine einmarschiert, steht die gesamte westliche Welt unter Schock. Bewegt von den Bildern des Angriffskriegs, beschließt der ausgebildete Panzergrenadier Jonas Kratzenberg, das ukrainische Volk in seinem Ringen um Freiheit zu unterstützen – als Soldat, im bewaffneten Kampf. Entschlossen zieht der junge Deutsche in den Krieg. Er kommt nach Irpin und Butscha, erlebt Artilleriebeschuss, sieht Kriegsverbrechen und kämpft als Richtschütze an der Front – bis zu dem Tag, als nach einem Angriff auf ein vom russischen Militär besetztes Dorf in der Nähe von Mykolajiw plötzlich eine Drohne über ihm auftaucht ... Bewegend und aus nächster Nähe erzählt Jonas Kratzenberg mit Spiegel-Bestseller-Autor Fred Sellin von seinen Erlebnissen im Ukrainekrieg, wo Hoffnung und Zerstörung, Liebe und Tod oft nur Augenblicke auseinanderliegen.

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Seitenzahl: 280

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Zeit:6 Std. 24 min

Sprecher:Sebastian Pappenberger

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Jonas Kratzenberg

mit Fred Sellin

SCHÜTZENHILFE

Jonas Kratzenberg

mit Fred Sellin

Schützenhilfe

Für die Ukraine im Krieg – ein deutscher Soldat berichtet von der Front

Originalausgabe

2. Auflage 2023

© 2023 by Yes Publishing – Pascale Breitenstein & Oliver Kuhn GbR

Türkenstraße 89, 80799 München

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Redaktion: Dr. Peter Schäfer

Umschlaggestaltung: Ivan Kurylenko (hortasar covers)

Umschlagabbildung: Taras Fedorenko

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-96905-244-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96905-245-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96905-246-4

Meinen Eltern,

meiner Schwester

und Liza

Inhalt

»Drone!!!«

Mykolajiw/Ternovi Pody, November 2022

258 Tage davor

Stolberg, Nordeifel

Aufruf des Präsidenten

Präsidialamt der Ukraine, Kiew

Abschied

Düsseldorf/Stolberg, Nordeifel

Go East

Unterwegs/Krakau/Jaworiw

Im Camp

Jaworiw

Sascha’s Palace

Kiew

Die erste Mission

Irpin

Butscha

Butscha

Zweifel

Kiew/Mykolajiw

Noch mehr Zweifel

Mykolajiw/Murachiwka

Masada

Dnipro/Bachmut/Kiew

Im Süden

Mykolajiw/Ljubomyriwka/Maksymivka

So nah am Leben, so nah am Tod

Mykolajiw/Ternovi Pody/Odessa

Was aus meinen Kameraden wurde

Dies ist meine Geschichte. Die geschilderten Ereignisse beruhen auf wahren Begebenheiten, wie ich sie erlebte. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen und um ihre Identität zu schützen, habe ich die Namen und Kampfnamen der Kameraden, an deren Seite ich kämpfte, und die anderer Personen – mit wenigen Ausnahmen – anonymisiert. Doch bei allen handelt es sich um reale Personen.

»Drone!!!«

Mykolajiw/Ternovi Pody, November 2022

Es war kurz vor Mittag. Blauer Himmel, die Sonne schien, achtzehn Grad, ungewöhnlich warm für November. Wir verließen den Stützpunkt, der sich am östlichen Rand der Stadt Mykolajiw befand, auf einem mit brüchigem Asphalt bedeckten Areal, auf dem ein paar alte Industriehallen standen, eine Werkstatt und einer dieser typischen trostlosen Betonblocks aus Sowjetzeiten. Graue Mauern, vier Stockwerke, die Fensterscheiben blind vor Schmutz oder gar nicht mehr vorhanden.

Zuvor hatten wir die Humvees startklar gemacht. Für die heutige Mission wurden zwei von diesen gepanzerten Geländefahrzeugen eingesetzt, also auch zwei Besatzungen – Shuriks Truppe und meine, insgesamt zehn Mann, in jedem Fahrzeug fünf. Shurik und ich waren als Richtschützen eingeteilt. Wir luden mit unseren Teams Raketen und Munition ein, montierten jeder ein Maschinengewehr in den Turm, M2-Brownings, und prüften ihre Funktion. Und wir verstauten jeweils einen Panzerabwehr-Granatwerfer. Shurik einen AT4, Kaliber 84 mm, das Modell kennt er aus der U. S. Army. Shurik ist Amerikaner, Ende dreißig, er kommt aus Kalifornien, ein Typ wie Nicolas Cage in Lord of War. Ich nahm eine Panzerfaust 3, Kaliber 110 mm, wie sie bei der Bundeswehr verwendet wird.

Danach blieb noch Zeit für einen kurzen Einkauf im benachbarten ATB-Markt: Plunderstücke, Chips und Pepsi, unsere übliche Ration für eine Mission, die nur auf wenige Stunden angelegt ist. Ein friedlicher Moment im Krieg.

Dann rollten wir los. Der Humvee mit Shurik fuhr voran. Wir passierten den Checkpoint, bogen nach links auf die Cherson- Chaussee, die in östlicher Richtung zur M14 führt, einer autobahnähnlichen Fernstraße. Die M14 verläuft mehr oder weniger parallel zum Schwarzen Meer, von Odessa über Mykolajiw, Cherson und Mariupol bis hinüber zur Grenze nach Russland.

Wir ließen das Stadtgebiet hinter uns und wichen nach etwa zwanzig Minuten auf kleinere, staubige Straßen aus. Rundherum erstreckten sich Felder, so weit das Auge reichte. Die Landschaft platt wie eine Flunder. Ab und zu ragten am Wegrand Bäume in die Höhe, wie Riesen nebeneinander aufgereiht. Oder sie standen in kleinen Gruppen, als würden sie ein Pläuschchen halten. Oder in einer Kombination aus niedrigeren Bäumen, Büschen und Sträuchern, die bei der militärischen Geländetaufe als Kusselgruppe bezeichnet werden.

In der Ferne tauchten Silhouetten kleiner Ortschaften auf. Mal einzelne Häuser, ein Dutzend vielleicht, mal doppelt so viele oder noch mehr, fast immer um eine Kirche gruppiert, deren Turm die anderen Gebäude überragte. Manche der Kuppeldächer glänzten im Sonnenlicht, sodass sie von Weitem wie große leuchtende Punkte erschienen.

Auf eine dieser Ortschaften steuerten wir zu: Ternovi Pody. Bis dorthin war es noch ein Stück. Wir waren nicht zum ersten Mal in dieser Gegend. Jeder von uns kannte die Route, wusste, dass wir direkt auf die Front zufuhren, auf die russischen Linien nördlich von Cherson. Seit Anfang September lief eine groß angelegte Gegenoffensive der ukrainischen Armee, um die seit Monaten von russischen Einheiten besetzte Hafenstadt am Dnepr-Delta zurückzuerobern. Unser Trupp war ein Teil davon, ein kleines Rädchen. Zuletzt hatten wir die Nachricht erhalten, der Feind weiche zurück, Cherson stehe kurz vor der Befreiung.

Ternovi Pody ist ein winziges Dorf mit klapprigen Häusern aus Stein und Holz, meist weiß oder blau bemalt, die Farben verwittert. Geschätzt 150 Einwohner, von denen die meisten geflüchtet sein dürften, als der Krieg dorthin kam. Die Russen hatten sich im Dorf und in dem Gebiet rundherum festgesetzt. Mit zwei anderen Dörfern sollten es, falls unsere Informationen stimmten, ihre letzten Stellungen in der Oblast Mikolajiw sein. Obwohl wir es seit Wochen immer wieder versucht hatten, war es uns nicht gelungen, sie davonzujagen. Kurz hinter Ternovi Pody beginnt die Oblast Cherson. Bis in die Stadt selbst sind es Luftlinie ungefähr dreißig Kilometer.

Während der Fahrt beherrschten mich zwiespältige Gefühle. Einerseits war ich motiviert und guter Hoffnung, dass der Einsatz ein Erfolg würde. Je näher wir dem Ziel kamen, desto mehr spürte ich, wie mein Adrenalinpegel stieg. Vielleicht würde es mir wenigstens gelingen, einen ihrer verfluchten Panzer außer Gefecht zu setzen.

Andererseits drängten sich Gedanken an vorherige Missionen auf, die nicht so gut gelaufen waren beziehungsweise richtig mies wie die Sache mit Kilo. Das war auch vor den Toren Ternovi Podys passiert, Anfang Oktober. Kilo heißt – hieß – mit richtigem Namen Paul. Er stammte aus Houston, Texas, und war im August zum Kämpfen in die Ukraine gekommen. Kilo war sein Kampfname. Den hatte er schon benutzt, als er bei der U. S. Army diente. Zwölf Jahre Infanterie, mit Kriegseinsatz als Fallschirmjäger im Irak. Er hatte also eine Menge Erfahrung, weit mehr als ich, und trotzdem hatte es ihn erwischt. Im Schützengraben, durch Panzerbeschuss. Oder durch eine Mörsergranate, es kursierten verschiedene Versionen. Nach der offiziellen von den ukrainischen Behörden wurde die Stellung, die er zuvor mit seinem Team den Russen bei einer Sturm-und-Einbruch-Aktion abgetrotzt hatte, von einem Panzer beschossen, einem T-90M. Das ist der modernste, über den die russischen Truppen zurzeit verfügen.

Am Ende ist es egal, ob modern oder nicht, Panzer oder Mörser. Krieg ist ein beschissenes Würfelspiel, entweder du hast Glück oder eben nicht – selbst wenn du glaubst, alles richtig zu machen.

Ich war an dem Tag auch mit draußen, wie heute als Richtschütze auf einem Humvee. Die Russen machten uns mit Artillerie und automatischen Granatwerfern die Hölle heiß. Es war eines der heftigsten Gefechte, die ich je erlebte. Zu allem Überfluss hatte ich meinen Helm vergessen. Ein Wahnsinn, ich weiß bis heute nicht, wie das passieren konnte. Trotzdem kam ich heil raus, Kilo nicht. Zwei Tage später wäre er 35 geworden.

Ich male mir immer das Schlimmste aus, bevor es losgeht. Nicht, dass ich es darauf anlegen würde, die Gedanken springen mich an wie ein wildes Tier und beißen sich fest – die Zweifel, die Angst. Oh ja, ich habe Schiss, jedes einzelne Mal. Was, wenn wir auf eine Mine fahren? Oder von einem Panzer getroffen werden? Und das sind nur zwei von vielen denkbaren Horrorszenarien. Dann ist es aus, dann bist du nicht mehr der Protagonist deiner eigenen Geschichte. Und es spielt keine Rolle, ob du auf der richtigen Seite stehst, den guten, den gerechten Kampf kämpfst. Alle Rechtfertigungen dafür, dass man Menschen tötet, alle hohen moralischen Ansätze – für die Katz.

Aber gleichzeitig hoffe ich, dass nichts davon passiert, dass ich am Ende die bessere Geschichte zu erzählen habe, der Jäger bin, der das größte Geweih nach Hause bringt.

Ein letzter Halt vor der Front. An einer Baumgruppe, die uns Deckung bot. Es waren Laubbäume mit buntem Herbstlaub, auf mehr achtete ich nicht. Anderes war wichtiger, man ist in dieser Phase ein bisschen wie im Tunnel. Und auch fokussiert darauf, die Angst im Zaum zu halten, das erhöht die Konzentration.

An der Baumgruppe wartete die Besatzung eines Kampfpanzers T-80 auf uns. Sie sollte uns bei dem Angriff flankieren. Der T-80 war von den Russen erbeutet worden. Er sah etwas seltsam aus, was an der Reaktivpanzerung lag, die ihn widerstandsfähiger machte gegen Beschuss durch Granatwerfer und Panzerfäuste. Die zusätzliche Panzerung bestand aus dicht nebeneinander angeordneten Stahlkacheln, die ähnlich einem Sandwich jeweils eine Schicht Sprengstoff umschlossen. Wird eine solche Kachel von einer Granate getroffen, explodiert die Sprengladung darin, die obere Metallplatte schleudert dem Geschoss entgegen und mindert so dessen Durchschlagskraft, kompensiert sie im besten Fall. Nach dem Prinzip Stoß–Gegenstoß. Also nicht die schlechteste Erfindung.

Vor dem Gefecht.

Wir redeten mit der Panzerbesatzung. Hauptsächlich die Ukrainer aus unseren Teams sprachen, Shurik, Itamar und ich weniger. Itamar war Shuriks Assistenz – Israeli, Ende fünfzig. Ihn kannte ich seit meiner Anfangszeit in der Ukraine. Shurik war später zu uns gestoßen, dazu komme ich noch. Die Sprachkenntnisse von uns dreien waren besser geworden, trotzdem hätte ich sie noch immer als rudimentär bezeichnet. Es wurden Snacks herumgereicht, und wir ließen uns die Cola schmecken. Man hätte denken können, diese Männerrunde hier unter den Bäumen sei zu einer gemütlichen Wanderung oder einem harmlosen Geländespiel verabredet gewesen. Doch die Zeit tickte. Wir erwarteten jeden Moment den Befehl zum Angriff.

Ich war angespannt. Die Gedanken von vorhin rumorten in meinem Kopf. Vielleicht sollte das meine letzte Mission sein. Diesmal wirklich. Überlegt hatte ich das schon öfter. Man sollte sein Glück nicht überstrapazieren, und bisher hatte ich verdammt viel Glück gehabt. Doch irgendwie fühlte es sich nie richtig an aufzuhören. Als hätte ich dann die Kameraden im Stich gelassen – Shurik und Itamar und Zagg und Potemkin und Cooper und all die anderen, von denen ich noch erzählen werde. Es gab Tage, da hatte ich die Schnauze gestrichen voll und mehr als das, wollte nur noch weg. Doch danach kam immer recht schnell der Moment, wo ich mir sagte: Bleib noch, dieses Land und seine Menschen, sie können jeden gebrauchen, der für ihre Freiheit kämpft.

Schlechte Erinnerungen verblassen leichter als gute, jedenfalls scheint das bei mir so zu sein. Ursprünglich wollte ich im Sommer wieder nach Deutschland zurück, um mich für einen Medizinertest anzumelden und mich auf ihn vorzubereiten. Der Test wäre im Oktober gewesen. Tja, so ist das mit Plänen, meistens funkt das Leben dazwischen. Wobei, hier dürfte es wohl eher der Tod sein.

Noch so eine Sache: Du gehst in den Krieg und denkst, du weißt, worauf du dich einlässt und wie es ausgehen kann. Dass es die Hölle ist und, wenn es schlecht läuft, am Ende nicht mehr als eine schäbige Holzkiste auf dich wartet. Nur: Dass man das weiß, bedeutet nicht automatisch, dass man auch kapiert, wie real die Gefahr ist. Ich meine, wirklich kapiert. Der Tod ist reinste Fantasie, bis man ihn erlebt. Und selbst dann bleibt er surreal, solange es jemanden trifft, der einem nicht wirklich nahestand. Oder eben den Feind, den man wie eine Art Zielscheibe auf der anderen Seite betrachtet, die man besser umnietet, um nicht selbst umgenietet zu werden. Fast wie in einem Videospiel, fast.

Dieses Thema trieb mich um, seit ich den Entschluss gefasst hatte, für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Ich schätze, es war kein Tag verstrichen, an dem der Gedanke an den Tod, ans Sterben, nicht durch meinen Kopf spukte, mal mehr, mal weniger bewusst. Nur dass der Tod am Anfang, als ich dorthin kam – und selbst noch die ersten Monate –, ein Abstraktum für mich war. Das hatte sich geändert. Die Angst davor hatte sich geändert. Hatte mich verändert. Als wäre ich in der Schlange beim Sensenmann ein weites Stück nach vorn gerückt. Als hätte ich mich geradezu vordrängeln wollen.

Auch Shurik marschierte nicht sorgenfrei durch die Tage, obwohl er das gut verbergen konnte. Oft wirkte er unbeschwert wie ein Junge, dem noch nie etwas Böses widerfahren war. Doch jeder an der Front, der nicht in die Kategorie der Psychopathen gehört, schlägt sich mit Dämonen herum, versucht sie niederzuringen, um seinen Job zu erledigen, um als Soldat zu funktionieren. Und jeder macht das auf ganz eigene Weise.

Shurik und ich alberten manchmal scheinbar grundlos herum, oder wir rissen Witze, die weder besonders geistreich noch humorvoll waren, schütteten uns trotzdem aus vor Lachen, als wären es die lustigsten Scherze, die jemals einem Menschen in den Sinn gekommen waren. Einmal stellten wir es uns höchst amüsant vor, uns Helme zu besorgen, wie sie die Kreuzritter im Mittelalter trugen, solche Töpfe mit Sehschlitzen, mit diesen Dingern auf dem Kopf hinter unseren Maschinengewehren zu posieren und kleine Filmchen zu drehen fürs Internet. Schon klar, so erzählt, entlockt das niemandem auch nur ein Schmunzeln. Aber wir standen gerade vor einer heiklen Mission, bei der uns die feindlichen Geschosse nur so um die Ohren pfeifen würden. Jedenfalls mussten wir damit rechnen nach dem, was wir ein paar Tage zuvor erlebt hatten.

Diese Art von Humor mag seltsam erscheinen, ist aber einfach zu erklären: Man kann nicht lachen und sich gleichzeitig Sorgen machen oder, was es in dem Fall wohl besser trifft: sich vor Angst in die Hosen scheißen. Das ist das ganze Rätsel beziehungsweise die Auflösung des Rätsels. Solche Albernheiten sind nichts anderes als Schutzmechanismen, um in bestimmten Situationen nicht durchzudrehen. Das Verrückte daran: Es wird einem erst hinterher so richtig klar, wenn man sich daran erinnert. In dem Moment, in dem es geschieht, kann man gar nicht anders, als den Blödsinn mitzumachen. Als gäbe es in unserem Gehirn einen Seismografen für emotionale Stresssituationen, durch den im Bedarfsfall automatisch so etwas wie ein Überlebensmodus angeknipst wird.

Überleben war das Stichwort. Diese eine Mission noch, den Russen noch einmal richtig Feuer unterm Arsch machen, damit sie sich endlich aus Ternovi Pody verziehen und überhaupt aus dem Oblast Mykolajiw – das wäre ein guter Abschluss. Shurik wird es verstehen und die anderen auch. Und meine Eltern wären glücklich, meine Schwester und Liza sowieso. Ach, Liza, mein kleines scheues Reh.

Mit diesen Gedanken kletterte ich auf den Humvee, um noch einmal alles zu checken. Ich setzte mich in den Turm und machte die Browning feuerbereit. Handgriffe wie auswendig gelernt, dass ich nicht eine Sekunde nachdenken musste, was als Nächstes zu tun war. Unterbrochen wurden die Abläufe nur durch ein kleines Ritual, das ich vor jeder Mission, jedem Feindkontakt zelebrierte: beten.

Um das kurz zu erklären: Ich stamme aus einem kleinen Ort in der Nordeifel. Unsere Familie ist evangelisch, ich wurde als Baby getauft und später konfirmiert. Noch später, als Sechzehn-, Siebzehnjähriger, konnte ich mit Kirche, Gott und dem Glauben an eine höhere Macht nichts mehr anfangen. Das änderte sich einige Jahre später, während der Coronapandemie, als ich in eine ziemlich deprimierende Sinnkrise schlitterte. Hauptsächlich ausgelöst durch – ich drücke es mal so aus – unschöne Erlebnisse bei der Bundeswehr. Nach vier Jahren bei den Panzergrenadieren, zwei Monate Dienstzeit in Afghanistan inklusive, war ich gerade in die Offizierslaufbahn gestartet. Die Truppe war mein Leben. Doch auf einmal – zu den Gründen komme ich noch – stand ich vor der Entscheidung: meinen Traum beerdigen und hinschmeißen oder weiter das Elend ertragen und auf Besserung hoffen. Und wenn ich hinschmeiße, kein Soldat mehr bin, was mache ich dann? Hinzu kam das Abgeschnittensein von Familie und Freunden durch die Coronamaßnahmen, zumindest eine Zeit lang, was mir in der damaligen Verfassung wie eine Ewigkeit vorkam. Wenn man so will: der Klassiker. Die Suche nach Halt, nach Orientierung, in einer Situation, die man als hoffnungslos empfindet. Ich fing also an, mich mit Fragen nach dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen. Dabei stieß ich auf den YouTube-Kanal eines kanadischen Psychologen, durch den ich schließlich einen neuen Zugang zur Religion fand. Das bedeutet nicht, das ich nun streng gläubig wäre. Sagen wir, ich habe wieder einen Draht nach oben gefunden. Dazu gehört, dass ich glaube, Gebete können etwas bewirken. Und wenn sie nur halfen, mir für eine gewisse Zeit ein besseres Gefühl zu geben, mich ein bisschen mehr behütet zu fühlen, beschützt, bevor ich loszog in ein Feuergefecht.

Es war übrigens immer dasselbe Gebet, das ich aufsagte. Psalm 144, Altes Testament, Buch der Psalmen, der Text wird König David zugeschrieben:

Gelobt sei der Herr,

der mein Fels ist,

der meine Hände den Kampf gelehrt hat,

meine Finger den Krieg.

Du bist meine Huld und Burg,

meine Festung, mein Retter, mein Schild,

dem ich vertraue.

Er macht mir Völker untertan.

Wer sich mit der Bibel auskennt, weiß, dass das nur die ersten beiden Verse von Psalm 144 sind. Mehr Verse betete ich nicht, diese dafür aber dreimal – nach jedem Handgriff.

Als Erstes legte ich einen Patronengurt ein. Dafür musste natürlich der Deckel des Maschinengewehrs geöffnet sein. Den Gurt reichte mir der Assistent, er saß im Humvee unter mir, »unter Luke«, wie wir bei der Bundeswehr sagten, in Griffweite der Munitionskiste, die wir vorher eingeladen hatten. Wenn in der nichts mehr drin war, sollten wir möglichst wieder außer Reichweite des Feinds sein. Mein Assistent hieß Andrej, ein Ukrainer, etwas älter als ich. Wir verständigten uns über einfache Codes. Aus sprachlichen Gründen, aber auch weil es im Gefecht blitzschnell gehen musste und um Missverständnisse zu vermeiden. Außerdem konnten wir es so auch leicht über Fingerzeichen regeln, wenn die Hölle über uns hereinbrach, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand, oder wir sowieso Gehörschutz trugen. Signalisierte ich Andrej odin, also »eins«, als Wort oder indem ich einfach meinen Daumen hob, wusste er, dass ich schleunigst einen neuen Patronengurt brauchte. Bei dwa, dem Wort für »zwei«, oder zwei ausgestreckten Fingern reichte er mir die nächste Panzerfaust hoch, eine hatte ich immer als zweite Waffe im Turm.

Aber noch war ich mit der Browning beschäftigt. Der Deckel war aufgeklappt. In einem Gurt steckten hundert Patronen. Panzerbrechende Brandmunition, das Geschoss aus Stahl oder Wolframcarbit. Fürs erste Feuer wurden 200 Schuss aufgegurtet, damit man nicht gleich wieder wechseln musste. Also verband ich zwei Gurte, indem ich die letzte Patrone vom ersten herauszog, das Endstück und den Anfang des zweiten übereinanderlegte und sie dann wieder reinschob. War der Gurt platziert, sprach ich das Gebet – halblaut, für die anderen wahrscheinlich mehr ein Nuscheln. Dann ließ ich den Deckel zuschnappen und sagte die Verse erneut auf. Im letzten Schritt zog ich den Verschlusshebel ruckartig nach hinten, um ihn direkt wieder nach vorn schnellen zu lassen. Damit war die Waffe scharf, und ich betete noch einmal.

Man könnte meinen, es handelte sich um eine längere Prozedur. In Wirklichkeit ging das schneller, als hier die Worte hinzuschreiben. Noch bevor ich zur dritten Wiederholung ansetzte, fuhren wir meistens schon – so wie an diesem Tag.

Der T-80 donnerte hinter uns her.

»Dawai, dawai! Poschli!«, das war das Startsignal gewesen. Es kam von unserem Fahrzeugkommandanten, auch er ein Ukrainer. Sein Platz war vorn neben dem Fahrer. Die Befehle erhielt er über Funk. Von wem genau – keine Ahnung. Als Legionär bekam man da wenig Einblick. Aber die Strukturen werden nicht viel anders gewesen sein als bei der Bundeswehr. Irgendwo wird es einen Befehlsstand gegeben haben, eine Kommandozentrale, die unseren Einsatz mit denen der anderen Kräfte koordinierte, die an der Front unterwegs waren. Man hoffte es.

Dieses poschli, das übersetzt so viel bedeutet wie »Los jetzt, vorwärts, nicht rumtrödeln!«, klang in meinen Ohren inzwischen wie eine schrille Alarmglocke. Die gefährlichsten Missionen hatten mit poschli begonnen, eigentlich so gut wie alle. Immer das gleiche Spielchen: Du hörtest das Wort, einmal oder zweimal, in einem Tonfall, der nicht den geringsten Widerspruch duldete, vielleicht noch garniert mit dawai, dawai wie eben, um keinen Zweifel an der Dringlichkeit zu lassen. Dann setzte sich der Humvee in Bewegung, es vergingen ein paar Minuten, in denen wir mit ordentlich Speed durchs Gelände rumpelten, und auf einmal steckten wir mitten im Bombenhagel – und man fragte sich: Heilige Scheiße, wie überleben wir das?

Ich guckte nicht auf die Uhr, aber mein Zeitgefühl sagte mir, wir waren ungefähr eine Viertelstunde unterwegs, als wir das nächste Mal stoppten, wieder im Schatten einer Baumgruppe. Pinkelpause. Während ich mich erleichterte, blitzte der Gedanke an eine Mine auf, die unter uns explodieren, uns ins Jenseits befördern könnte. Und schon wuchs der Impuls wegzulaufen, diesen verdammten Krieg hinter mir zu lassen. Aber das kannte ich schon. Ich rannte nicht weg, ich kletterte wieder in den Humvee. Ein nächster Adrenalinschub. Der Blutdruck stieg, das Herz schlug schneller. Gleich würde es losgehen, dann würden wir es ihnen zeigen. Dafür war ich hier, dafür hatten wir trainiert. Fast war ich euphorisch. Aber die Angst ließ sich auch nicht abschalten – ein schräger Mix aus widersprüchlichen Emotionen, schwer zu beschreiben, dieser Zustand.

Wir fuhren wieder, Shuriks Truppe wie immer voran. Der T-80 nahm jetzt eine andere Route. Er sollte später aus einer anderen Richtung zu uns stoßen, uns Feuerschutz geben. Ich war froh, dass er uns nicht so dicht auf der Pelle blieb. Je größer ein Fahrzeug, umso mehr gegnerisches Feuer zieht es an.

Irgendwann machte der Weg eine Biegung. Links von uns tauchte eine Baumgruppe auf. Durch die Bäume waren Häuser zu sehen. Das musste Ternovi Pody sein.

Plötzlich kleine Explosionen zwischen den Bäumen – Mündungsfeuer. Man schoss eindeutig in unsere Richtung. Wir waren etwa dreißig, vierzig Meter entfernt, erhöhten die Geschwindigkeit, passierten die Bäume.

Dahinter bekamen wir freie Sicht auf den Ort. Normalerweise war der Plan bei solchen Missionen, so nah wie möglich an die ersten Häuser heranzufahren, draufzuballern, was draufzuballern geht, so gezielt wie möglich, und wieder zu verschwinden, bevor die Russen sich besinnen und zurückschlagen konnten. Hit-and-Run-Taktik nennt sich das. Man vernichtet den Gegner auf diese Weise nicht, schwächt ihn aber und erzwingt vielleicht seinen Rückzug. So die Theorie. Für heute sah die Vorgabe etwas anders aus. Es galt, den Feind möglichst lange mit unserem Feuer abzulenken, während parallel mechanisierte Kräfte das Dorf angriffen.

In beiden Fällen sollte man sich möglichst unerkannt dem Ziel nähern, um das Überraschungsmoment nutzen zu können. Das dürften uns die Schützen in der Baumgruppe diesmal vermasselt haben – was ärgerlich war, aber nur eine alte Militärweisheit bestätigte: Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt. Das hat irgendein schlauer Generalfeldmarschall mal gesagt, vor hundert Jahren oder so, trifft heute aber noch genauso zu.

Wir sahen Häuser, aber keine Menschen. Nirgends schien sich jemand zu regen. Wir fuhren dichter heran. Shuriks Humvee befand sich etwa fünfzig Meter vor uns. Seine Browning fauchte die ersten Feuerstöße. Kurze Feuerstöße. So wie es uns bei der Befehlsausgabe eingeschärft worden war. Kein Dauerfeuer! Munition sparen.

Ich hätte auch schießen sollen. Die Kameraden unter mir brüllten einer nach dem anderen: »Fire!« … »Fire!« … »Fire!«, als hätte ich das nicht selbst gewusst. Dummerweise versperrte mir Shuriks Humvee den Schusswinkel. Ob es mir passte oder nicht, ich musste mich gedulden. Wir reden hier von Sekunden, bis unsere Position günstiger sein würde. Allerdings erschienen sie mir wie Minuten, da der Gegner inzwischen ebenfalls seine Waffen in Stellung gebracht hatte. Beschossen zu werden, ohne selbst schießen zu können, das ist nicht lustig.

Endlich bot sich ein besserer Winkel. Wir kreisten vor der Häusergruppe, die L-förmig angeordnet war, düsten bis auf etwa fünf Meter heran, drehten ab und zogen den nächsten Kreis. Währenddessen immer kurze Feuerstöße, hauptsächlich in die Fenster, die mit den zersplitterten Scheiben aussahen wir aufgerissene Mäuler von Ungeheuern. Aus dem Dunkel dahinter kamen Schüsse. Ich konnte niemanden sehen, höchstens mal einen Schatten, der sich zu bewegen schien. Aber das konnte täuschen, konnte Einbildung sein, da wir die ganze Zeit in Bewegung waren. Wir mussten fahren und feuern, das war unsere Lebensversicherung. Solange wir fuhren, gaben wir ein schlechtes Ziel ab. Hauptsache, den Russen kam nicht die Idee, Granaten oder Raketenwerfer einzusetzen – unsere Humvees waren nur gegen MG-Feuer gepanzert.

Ich fragte mich, wo der T-80 steckte. Sollte er nicht längst hier sein? Ein bisschen Feuerunterstützung von der Seite hätten wir jetzt gut gebrauchen können. Doch dieser verfluchte Panzer ließ sich einfach nicht blicken.

Plötzlich ein Stück vor uns eine riesige Staubwolke, als wäre etwas explodiert. Durch den Gehörschutz hatte ich den Rumms kaum mitbekommen. Offenbar hatte es Shuriks Humvee erwischt – sie mussten auf eine Mine gefahren sein. Und nun standen sie da wie auf dem Präsentierteller. Als unbewegliche Zielscheibe in Großformat. Wie eine Einladung für die Russen.

Unser Fahrer gab Gas, steuerte den anderen Humvee an, fuhr dran vorbei, drehte und blieb hinter ihm stehen, damit wir Deckung hatten. Shurik und seine Leute saßen ab, ballerten mit ihren Waffen, um sich die Russen vom Leib zu halten, sprangen bei uns rein. Ich gab ihnen Feuerschutz, so gut ich konnte, lenkte die russischen Salven somit auf mich. Die Geschosse prasselten haarscharf an mir vorbei. Eines traf mein MG, Splitter flogen mir ins Gesicht, gegen die Stirn. Mein Gurt war fast leer. Kein günstiger Zeitpunkt zum Nachladen. Ich musste die Russen in Schach halten, sonst hätten sie in Ruhe auf uns zielen können. Außerdem wäre ich beim Einlegen eines neuen Patronengurts mit dem Kopf zu hoch gekommen, zu weit aus dem Turm heraus. Glatter Selbstmord wäre das gewesen, erst recht bei der kurzen Distanz zu den russischen Schützen.

Ich versuchte, Zeit zu schinden, indem ich die Abstände zwischen zwei Feuerstößen um ein paar Sekunden – Bruchteile von Sekunden – dehnte. Ein Nervenspiel, hier lief nichts in Zeitlupe, alles ging blitzschnell, ich hatte keine Chance, ein Level zurückzugehen und dort noch mal zu beginnen.

Zum Glück reichten die Patronen, bis wir wieder fuhren. Nun aber nicht mehr im Kreis, sondern schnurstracks und Highspeed weg von den Häusern. Alle zusammen in unserem Humvee. Jedenfalls dachte ich das. Ein Irrtum, wie ich später erfahren sollte. Auch möglich, dass ich in dem Moment nicht dachte, dass wir komplett waren, sondern einfach davon ausging. Weil niemand etwas anderes sagte und ich viel zu sehr mit der Browning beschäftigt war.

»Odin«, rief ich zu Andrej hinunter. Jetzt sollte es mit dem Nachladen machbar sein.

Andrej reichte mir einen neuen Patronengurt.

Ich merkte, dass der Turm blockiert war, sich nicht mehr drehen ließ. Mit der Doppelbesatzung war der Humvee zu voll.

Ein Blick zurück. Die Häuser hinter uns wurden kleiner, die Fenster zu dunklen Punkten. Ich atmete auf, spürte, wie die Anspannung von mir abfiel. Ich fing an zu reden, mit mir selbst, mit den Kameraden unter mir. Ich stellte keine Fragen, und ich erwartete keine Reaktionen. Ich plapperte einfach drauflos, ohne Punkt und Komma. Und ich lachte. Und ich schrie. Und dann vermischte sich eines mit dem anderen. Und das alles geschah, ohne dass ich es hätte steuern können. Es sprudelte förmlich aus mir heraus, wie eine Art Selbstreinigung, als wären dadurch die Gespenster aus meinem Hirn vertrieben worden.

Dann waren wir etwas weiter entfernt, und ich dachte: Geschafft! Gott sei Dank, wir sind da raus! Jetzt schnell zurück und ab in unser Lieblingsrestaurant, einen schönen Abend verbringen. Und vergessen. Beziehungsweise verdrängen. Es beginnt immer mit dem Verdrängen.

Die Stimmung war gut. Oder war sie nur bei mir gut? Diese Frage stellte ich in Wirklichkeit nicht. Im Rückblick scheint sie angebracht zu sein. Nur wusste ich das da noch nicht. Mich durchströmte ein Gefühl der Erleichterung.

Aber das erwies sich als trügerisch. Wir fuhren vielleicht fünf, sechs Minuten, da fiel mir auf, dass wir langsamer wurden. Als hätte jemand den Motor abgestellt, sodass wir nur noch austrudeln konnten. Dann sah ich, wie Qualm aus der Motorhaube quoll. Und ich hatte gedacht, so was wird nur in Filmen inszeniert, um es spannender zu machen.

Wir blieben stehen, mitten auf einer sandigen Straße, kaum breiter als ein Feldweg. Kein Baum, kein Strauch in der Nähe, nichts, was uns Deckung hätte geben können. Der Fahrzeugkommandant befahl etwas, wovon ich kaum mehr verstand als die letzten beiden Worte: »Poschli! Poschli!«

Ich schnappte mir meine Kalaschnikow und die Panzerfaust und kletterte mit den anderen ins Freie. Alles andere ließ ich zurück. Wir liefen ein Stück die Straße entlang, um nicht so dicht beim Humvee zu bleiben, der weithin sichtbar gewesen sein dürfte.

Die Gegend wirkte friedlich. Ich fragte mich, ob wir weit genug von den russischen Stellungen entfernt waren, um nicht von Drohnen aufgeklärt zu werden. Da es unabhängig davon generell nie ratsam ist, im Kampfgebiet auf freier Fläche als Zielscheibe herumzulaufen, noch dazu in der Uniform des Feinds – aus Sicht der Russen – und bewaffnet, verdrückten wir uns in den Graben neben der Straße.

Unser Kommandant funkte mit irgendwem. Sicher bestellte er ein Uber … okay, Galgenhumor, wahrscheinlich eher einen Humvee-Pick-up, wo wir alle draufpassten.

Ich versuchte, optimistisch zu bleiben. Es würde nicht ewig dauern, wir mussten nur warten, Geduld haben. Keine komplizierte Aufgabe. Mir schwirrte alles Mögliche durch den Kopf, ohne dass ich es sortiert bekam.

Nach einem Feuergefecht braucht man einen Cut, irgendeinen Disconnect, der einen aus dem Kampfmodus rausholt. Normalerweise fuhren wir zurück zur Basis, hielten unterwegs irgendwo, um nach den Fahrzeugen zu schauen, zu checken, ob sie es einigermaßen heil überstanden hatten. Oder wir warteten auf ein anderes Fahrzeug, das zurückgeblieben war. An dem Tag wäre das der T-80 gewesen, von dem aber weit und breit nichts zu sehen war. Oder wir kümmerten uns um unsere Waffen und quatschten dabei, machten irgendetwas halbwegs Normales, um Abstand zu kriegen, wieder runterzukommen.

Doch hier, mitten in der Botanik, funktionierte das nicht. Zwei Humvees Schrott, unser Abtransport ungewiss, ohne Ahnung, ob die Russen uns im Blick hatten, die Waffen griffbereit am Mann – da pumpte das Adrenalin fleißig weiter durch die Adern.

Möglicherweise war das der Grund, warum mir nicht auffiel, dass einer aus Shuriks Trupp fehlte. Obwohl wir alle auf einem Haufen hockten. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, schleppte die Last des Erlebten. Die nimmt einem niemand ab, nicht in so einer Situation und später auch nicht. Vielleicht kam die Sache kurz zur Sprache. Vielleicht nannte jemand den Namen des Ukrainers, den sie im Humvee zurückgelassen hatten. Zurücklassen mussten, um ihre eigene Haut zu retten. Kropyva hieß er. Er wurde tödlich verwundet. Und vielleicht hörte ich das alles sogar. So wie ich das Zwitschern von Vögeln hörte. Es waren Vögel in der Nähe, da bin ich mir ganz sicher. Also muss ich ihr Zwitschern gehört haben. Aber ich schwöre, in meinem Gehirn kam es nicht an, weder das eine noch das andere.

Zeit verstrich. Bleierne Zeit des Wartens. Der Ungewissheit. Und der Hoffnung. Wir werden gleich abgeholt, bestimmt. Und dann sind wir in Sicherheit. Ich starrte in die Ferne, bis mein Blick verschwamm. Sehnte den Moment herbei, von hier zu verschwinden, dachte an das Restaurant in Mikolajiw, sah Bilder vor mir, wie wir dort sitzen – essen, reden, lachen. Und wieder schlich sich der Gedanke an, dass es meine letzte Mission sein könnte, sein sollte. Vielleicht, dachte ich, würde ich am nächsten Tag anders entscheiden, aber jetzt, hier in diesem Graben, war ich fest ent...

»DRONE!!!«

Shuriks Stimme zerriss meinen Gedanken wie einen dünnen Faden. Mit großen Augen und ausgestrecktem Arm zeigte er nach oben.

Erschrocken scannte ich den Himmel ab, hielt den Atem an. Die Drohne war so nah, dass ich ihr Surren hörte – und das Geräusch auch wahrnahm. Im Alarmmodus schienen die Synapsen zu funktionieren.

Shurik konnte die Drohne offenbar sehen. Ich nicht.

Einer der ukrainischen Soldaten fragte: »Nasch?« Er wollte wissen, ob es eine von unseren sei. Das hätten wir alle gern gewusst, doch keiner von uns kannte die Antwort.

Was tun? Weglaufen? Hierbleiben? Ein paar Kameraden sprangen auf. Ich verharrte unschlüssig im Graben, suchte Shuriks Blick, der am anderen Ende der Gruppe saß, zwanzig, dreißig Schritte entfernt. Wenn eine Granate auf freiem Feld hochgeht, das hatten sie uns bei der Bundeswehr eingetrichtert, schützt man sich am besten, indem man seinen Körper flach auf den Boden presst, das Gesicht in den Dreck, die Hände übers Genick.

Ich versuchte, die Alternativen im Eiltempo abzuwägen. Da meldete sich Shurik erneut.

»Run! … run … run!!!«, brüllte er diesmal.

Woraus ich schloss, dass die Drohne sich inzwischen direkt über uns befand. Und dass er erkannt hatte, dass sie nicht zu Aufklärungszwecken umherschwirrte, sondern mit einer Granate bestückt war. Wenn sie tief genug fliegen, kann man das sehen. Die russische Armee verwendet für solche Drohnen häufig 30-Millimeter-Granaten oder klassische Handgranaten, beide Arten explodieren beim Aufprall.

Jetzt sprangen auch die Letzten auf, und alle rannten weg, stoben auseinander. Erst überlegte ich das auch, aber dann dachte ich: Wirf dich auf den Boden, dann hast du die beste Chance. Im selben Moment schlug neben mir etwas auf den Boden. Fast gleichzeitig eine Detonation, die eine Druckwelle auslöste, als hätte mir jemand einen Tritt gegen den Schädel verpasst. Ich merkte noch, wie ich zur Seite geschleudert wurde, tiefer hineinrollte in den Graben … und auf einmal war alles schwarz.

258 Tage davor

Stolberg, Nordeifel

»Eh, Junge, es ist so weit!«

Die Nachricht kam von Lars. Ich lag im Bett, war gerade wach geworden und kriegte kaum die Augen auf. Lars gehört zu unserer Clique, Freunde von früher aus der Schule und aus dem Ort. Wir treffen uns immer noch. Nicht regelmäßig, eher spontan, wenn gerade mal alle oder ein paar von uns in der Gegend sind. Die meisten hat es nach der Schule woandershin verschlagen – zum Studium oder um irgendwo eine Ausbildung zu machen. Oder wie bei mir zur Bundeswehr. Wer nicht wieder zurückgekommen ist, besucht ab und zu die Familie, Eltern oder Großeltern. Das sind dann solche Gelegenheiten. Jedenfalls versuchte ich, noch halb im Schlaf, aus den Worten auf meinen Handydisplay schlau zu werden – was mir nicht gelang.

Während ich also mit Grübeln beschäftigt war, mit Grübeln und Wachwerden, ploppte die nächste Nachricht auf: »It has started!!!«

Ich kam nicht drauf, was er meinen könnte, antwortete mit drei Fragezeichen und döste weiter vor mich hin. Vor dem Fenster ein Grau, das nicht zum Aufstehen animierte. Unmöglich, die Uhrzeit zu schätzen. Es konnte gerade hell geworden sein oder schon wieder dunkel werden. So ein Tag war das. In jeder Hinsicht.