Seelenvernichter - Corinna Engel - E-Book

Seelenvernichter E-Book

Corinna Engel

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Beschreibung

Anja ist dreizehn, geht in die achte Klasse und es kursieren demütigende und bloßstellende Fotos und Videos von ihr an der Schule. Alina und ihre Clique haben es auf sie abgesehen. Anja wird gemobbt und misshandelt und niemand scheint sich darum zu kümmern. Beschimpfungen, Prügel, Tritte, Drogen und Gewalt - Anja wird zum Spielball ihrer Klassenkameraden. Ihr Leben wird zu einem Spießroutenlauf, einem Teufelskreis an dessen Ende nur eines steht: Eine vernichtete Seele. Corinna Engel und Christian Kaiser haben aus den Berichten des Opfers eine eindringliche und schockierende Collage gearbeitet, die das Schicksal eines Mobbingopfers in nie gekannter Deutlichkeit portraitiert.

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Corinna Engel und Christian Kaiser

Seelenvernichter

1. Auflage März 2012

Titelbild: Corinna Engel & Christian Kaiser

©opyright 2012 by Corinna Engel und Christian Kaiser

Lektorat: Franziska Köhler

Satz: nimatypografik

Druck & Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH – www.aalexx.de

ISBN: 978-3-939239-62-8

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

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Corinna Engel, Jahrgang 1986, brach mit 13 Jahren aus ihrem behüteten Zuhause aus. Ihre Jugendzeit verbrachte sie nach einem längeren Aufenthalt in der Psychiatrie schließlich in einer therapeutischen Wohngruppe. Nach dem Abitur begann sie, Lehramt Deutsch und Religion an der Ludwig-Maximillians-Universität in München zu studieren.

Christian Kaiser ist Jahrgang 1982. Gemeinsam konnten sie trotz «massiver Zensurbestrebungen seitens deutscher Jugendschutz-Organisationen und staat­licher Stellen» im August 2011 ihren Bildband Heroin Kids veröffentlichen.

Das Paar lebt gemeinsam mit seinem Hund Lola in Berlin und arbeitet mittlerweile ausschließlich an seinen Kunstprojekten.

Ein Opfer ist dazu da, es richtig fertigzumachen, so ist das nun mal. Ein Opfer ist ein Opfer ist ein Opfer. Das Leben ist Krieg, beißen oder gebissen werden. Hass allem, was irgendwie «lämmer­mäßig» blickt – Gewalt ist geil!

Als Kind habe ich mir immer gewünscht, ein Pony zu haben. So ein «braun-weißes», wie es auf meiner Kinderschultasche von Scout abgedruckt war. So ein typisches Indianerpferd mit langer Mähne und langen Haaren, die ihm wild in die Augen hängen, und sein Fell ist warm und kuschelig, weil wir ganz viel kuscheln, und nachmittags reite ich mit ihm aus – ich und mein kleines Indianerpony. Manchmal würde ich sicher auch einfach neben ihm im Heu einschlafen, denn wir sind die besten Freunde. Wie auch immer – ich habe nie so ein Pferd bekommen …

Die Sektflasche

Alina: «Komm Anja, nimm noch ’nen Schluck Wodka.»

Tanja: «Ja, kipp’s dir rein, du gehörst jetzt zu uns!»

Ich will eigentlich schon gar nicht mehr. Ich glaub, ich bin ganz schön betrunken, aber ich fühl mich irgendwie auch gut, irgendwie leicht. Ich nehme die Flasche, die Alina mir auffordernd vors Gesicht hält, höre Kichern um mich rum, setze die Glasflasche an den Mund und fühl mich richtig gut, mit den anderen hier zu sitzen. Es sieht aus wie Wasser, aber schmeckt scharf wie Spiritus und brennt in der Kehle. Ich gehöre jetzt dazu – so fühlt sich das also an. Wenn Taifun das jetzt nur sehen könnte, ich hier mit Alina und ihrer Clique, man das wäre total obergeil …

Alina: «Hey Schlampe, was los?! Besoffen?»

Yami: «Du bist doch total dicht!»

Kichern. Alina nennt jeden Schlampe, sogar ihre beste Freundin Yami. Ich glaub, ich bin heute echt aufgestiegen!

Tanja: «Hey, sag ma was, geht’s dir nich gut? Trink doch mal ’nen Schluck Wasser nach, dann geht’s wieder besser! Komm, trink!»

Jemand reicht mir ein Glas und ich trinke. Igitt, SCHEISSE, das schmeckt voll scharf! Ich hab ’nen richtig großen Schluck genommen. Schmeckt wie purer Wodka. Ich muss husten – es ist purer Wodka. Um mich herum lachen alle. Ich spucke – ich pruste den Rest, den ich im Mund hab, wieder aus, mein Rachen brennt so, aber ich muss auch lachen. Ich brauch unbedingt was Normales zum Nachtrinken, und da fängt Alina an loszubrüllen: «Du dumme Fotze, kotzt hier alles aus, waaas?!»

Meine Kehle brennt.

«Der Scheiß kostet Geld und du kotzt es einfach so aus. Is ja nich mal dein Alk. Da lad ich dich ein und du Hurenkind, voll daneben … Du Fotze, schau dir das an, du hast meine Jeans total versaut!»

Ihre Augen glitzern vor Zorn.

«Du Scheißkrüppel!»

Yami: «Du Judenkind!»

Ich bin total durcheinander und versteh nur noch Wortfetzen. Ich muss mich jetzt unbedingt entschuldigen. Echt, mir ist das total peinlich. Warum hab ich mich nicht im Griff? Ich mach echt alles kaputt. Kein Wunder, dass Alina so sauer ist, immerhin hat sie sich für mich eingesetzt, dass ich mitkommen kann. Ich sollte ihr vielleicht ’ne neue Jeans kaufen, die war sicher teuer. Ich muss mich echt zusammenreißen, das Schlimmste wäre, wenn Alina … Also sag ich irgendwas von: «Sorry, wollt ich nich.» Hoffentlich reicht das. Mehr krieg ich nicht raus, da kommt nur so ein leises, total vernuscheltes Murmeln. Ich hab Sprachprobleme, ich hab das nicht unter Kontrolle. So kenn ich mich, ich konnte noch nie so laut sprechen wie die anderen.

«Du scheiß Krüppelkind! Kauf mir ’ne neue Hose!»

«Yeah, du musst jetzt Alina ’ne neue Hose kaufen. Wie viel Geld hast du dabei?»

Yami grinst.

«Ey und dann muss sie erst mal sauber machen. Wisch den scheiß Tisch ab! Hey, bist du behindert, du Krüppel?»

Tanja lacht laut. Alina schmeißt mir das dreckige Tischtuch ins Gesicht und für einen Moment sehe ich nichts mehr. Das Tuch stinkt nach vergammelten Essensresten. Warum macht sie das? Tut mir ja leid mit der Jeans und so, aber sie muss ja nicht gleich so fies sein. Warum macht mich das gerade so scheißwütend?! Ich weiß doch, dass Müll zu Müll gehört. Außer­dem, was hab ich denn erwartet? Dass ich gleich die Königin der Clique hier bin? Dass ich vielleicht sogar Alinas beste Freundin werden könnte? Und dann höre ich mich plötzlich sagen: «Fick dich doch!»

Es rutscht mir einfach so raus. Scheiße – warum hab ich das gesagt?! Ich bin so eigentlich gar nicht, ich weiß auch nicht … aber zu spät. Ich sehe Alinas Augen funkeln vor Zorn – oder ist es Freude? Und plötzlich hab ich ’ne Scheißangst, und ich erschrecke, als mir nasses, kaltes Bier ins Gesicht klatscht. Alina hat mit voller Wucht das Bierglas in mein Gesicht geschüttet und schreit mich an: «Du dreckige Hure!»

Für einen Moment hoff ich, dass es das war, dass es jetzt aufhört, aber da steht Alina auch schon auf und tickt richtig aus.

«Du Opfer traust dich, mich zu beleidigen?»

Und im nächsten Moment spür ich schon die Schmerzen von ihrem Schlag in meinem Gesicht. Eigentlich hab ich immer gedacht, wenn man betrunken ist, na ja, dass man dann keine Schmerzen spürt, aber das tut richtig beschissen weh. Ich schmecke Blut in meinem Mund … Ich weiß noch gar nicht richtig, was passiert ist.

«Sag noch mal ‹Fick dich, du Fotze›.»

Alina schubst mich, die anderen kichern gespannt.

«Was hast du da gerade gesagt?!»

Alina schreit jetzt.

Ich will einfach nur noch, dass es aufhört, dass sie mich in Ruhe lassen. Ich versuch mich jetzt auszuklinken – KLINK – und ich bin gar nicht mehr richtig da. Macht mit mir, was ihr wollt! Das ist fast so, als würde ich mir zuschauen, aber diesmal funktioniert es irgendwie nicht so recht. Alinas Gesicht ist direkt vor mir. Ich sehe ihre blauen, mit schwarzem Mascara­ und rosa Lidschatten geschminkten Augen, ihre ­goldenen Kreolen baumeln an ihren Ohren und glitzern. Sie sieht mich so fordernd an, sie ist so hübsch, ich würde alles dafür geben, so auszusehen wie sie, so zu sein wie sie.

Ich weiß, sie wartet auf eine Antwort, aber ich bring keinen Ton raus, ich spür die Schweißperlen auf meiner Stirn – oder ist es Bier? Wie ich da so sitze, ich sehe sicher aus wie ein hässliches, schwitzendes Schwein. Und dann noch ein Schlag. Sie schubst mich an den Schultern und zerrt mich irgendwie hoch und alles dreht sich und die anderen sind auch da und Tanja hält mich fest. Ich glaub, dass ich ziemlich betrunken bin.

Tanja: «Die ist doch total besoffen.»

Yami: «Ey, schaut sie euch mal an, die kann nich mehr stehn.»

Ich taumle und dann trifft mich noch ein Schlag auf meine Wange. Ich will weg. Ich versuch, mich irgendwie zu befreien, irgendwie mein Gesicht wegzudrehen, aber überall zerrt irgendwer an mir. Tanja zieht mich von hinten an den Schultern zurück und ich kippe um, da packt Alina meine Haare, als würde sie mich noch halten wollen. Sie schlägt noch mal zu. Es klatscht laut und dröhnt in meinem Kopf, als würde er gleich zerspringen, und ich schmecke noch mehr Blut und Bier. Alles fühlt sich so dumpf an. Sie hat mich voll erwischt – es tut so weh, weh, weh, weh, weh! Mein Kopf wird von dem Schlag zur Seite gerissen, Alina zieht ihn grob an den Haaren wieder zurück – ein stechender Schmerz im Genick. Es fühlt sich so an, als hätten sie mir die Wirbelsäule rausgerissen. Wenn man eine Glatze wie Britney Spears hat, dann kann das nicht passieren … Eh egal, ob ich Haare hab oder nicht, hässlicher geht nicht mehr. Noch ein Schlag.

Alles, woran ich mich jetzt grad noch erinnere, ist dieser rosa Wet-Look-Lippenstift auf ihren Lippen und ihre großen, goldenen Kreolen, und von allen Seiten Schreien und Lachen. Noch ein Schlag. Klatsch! Wieder sehe ich Alina lachen. Sie schaut mich an und spuckt mir ins Gesicht. Eine warme Flüssigkeit läuft mir über die Nase, in die Nase und über den Mund. Es schmeckt salzig, fast wie Tränen und nach Bier. Ich weiß, dass ich hässlich bin, ich weiß, dass ich ein scheiß Hurenkind bin, eine dumme Fotze. Macht mit mir, was ihr wollt. Ich will nur, dass ich danach noch einigermaßen heil bin. Ich warte einfach, bis es aufhört. Wenigstens liege ich jetzt auf dem Boden und muss nicht mehr stehen. Mir ist schlecht. Noch ein Schlag von der Seite.

Alina: «Ja Yami, voll rein!»

Kreischen und jemand reißt mich an den Haaren, Spuckgeräusche.

Alina: «Ey, mach mal ’n Video!»

Tanja «Warte! Auf Sendung. Halt sie mal ins Bild.»

Alina reißt mich weiter an den Haaren. Tanjas rosa lackierte Fingernägel halten die Kamera eines pinken Samsung-Handy, das mit Strasssteinen besetzt ist, direkt vor mein Gesicht. Ich glaube, ich weine.

«Kuck mal, sie weint.»

Tanja grinst.

«Kuck, kuck!»

Oh Scheiße, morgen wird das jeder auf der Schule kennen! Ich muss voll losheulen und Alina spuckt mir wieder ins ­Gesicht. Meine Haare sind nass. Und es ist klebrig.

«Hey, kuck mal.»

Tanja zeigt auf meine Wange.

Alina: «Das is ja geil, Foto!! Kuck, genauso groß wie meine Hand.»

Es blitzt.

Yami: «Passt genau.»

Alina: «Fotografier mal daneben meine Hand.»

Es wird wieder hell.

«Hey, schau dir das mal an, Anja, du hast voll meinen Handabdruck auf deiner Arschfresse.»

Lachen. Ich sehe in das Handy über meinem Kopf. Meine Wange hat tatsächlich einen roten Fleck in Form einer Hand, man sieht es ganz deutlich. Daneben Alinas kleine Hand mit ihren lila Nägeln, sie passt genau. Mein Gesicht ist verweint und ihre Spucke klebt an meiner Wange, meiner Nase und um meinen Mund …

«Ist das nich lustig?!»

Yami grinst.

«Ja, und wie. Ich glaub, die steht da drauf.»

Tanja lächelt zu mir runter.

Alina: «Komm, gib zu, dass es lustig ist, sag: Ja, das ist lustig.»

Ich sehe auf Alinas rosa Nike-Turnschuhe mit den Glitzersteinen vorne dran. An den Schuhbändern sind so kleine Buchstaben festgemacht, die glitzern auch, und ich weiß, was da steht. Alina Bitch. Das ist cool. Vielleicht hätte ich jetzt was sagen sollen. Noch ein Schlag, jemand spuckt. Ich weiß nicht, wie viele Schläge noch folgen, alles verwischt irgendwie. Irgendwann tritt Alina dann in meinen Bauch, ich huste und keuche, und Yami, die mich an den Armen verkreuzt hinten gepackt hat, zieht mich hoch, um mich dann wieder fallen zu lassen. Ich sacke einfach zusammen und dann sehe ich weiße Sportschuhe mit rosarotem Nike-Markenzeichen in meine Seite treten, gegen meine Rippen und in meine Brust rein.

Alina: «Du Hure!»

Tanja: «Yeah, tritt ihr in die Rippen!»

Yami: «Tritt ihr die Rippen ein!! Mach sie kaputt!»

Jemand schüttet mir Wodka ins Gesicht.

«Wasch dich mal. Boah, du Schwein, is ja voll widerlich, du hässliche Sau! Weißt du eigentlich, wie abgefuckt scheiße du aussiehst?»

Über mir erkenne ich jetzt Yami mit dem Handy.

«Hey, hol sie wieder mehr ins Licht, kann ja auf dem Teil gar nix sehen.»

Ich bin wieder wach, Tanja zieht an ihrer Zigarette und kommt auf mich zu.

«So, du Opfer, jetzt gibt’s Brandzeichen wie bei den Säuen.»

Lautes Lachen, jemand packt mich von hinten.

«Zieht ihr den Pulli aus … ausziehen!!!»

Jemand zieht mit mir den Pulli über den Kopf, auch das T-Shirt. Jemand reißt daran, das tut weh, der Stoff schneidet in meine Haut. Es wird weiter gerissen, bis beides über meinen Kopf gezogen ist und irgendwo am Ärmel hängt. Oben rum bin ich jetzt nackt, nur mein BH sitzt noch irgendwie so halb, glaub, der ist auch hochgerutscht. Alle sehen meine Brust.

«Boah, die trägt ja ’nen Push-up, schau dir das an!»

«Braucht die auch. Was hast ’n du für eklige, verkrüppelte Titten?»

«Krüppeltitten! Hahaha …»

«Du Krüppel!»

Ich sehe die Zigarette und die Glut bedrohlich nah auf meinen Bauch zukommen und murmele irgendwie «Nein, bitte nicht». Es zischt ein wenig und ich schreie laut.

«Halt ihr den Mund zu, Yami! ZUHALTEN!! Hör auf zu schreien, du Bitch!!!»

Es tut unendlich weh und ich will losschreien. Ich heule und flenne und winsle. Als ich mit meinen Eltern im Urlaub war in Italien, da saß ich so zwischen den Dünen und es war windig und ich hab meine Füße in den Sand gestreckt. Das ist ein geiles Gefühl, wenn der Sand zwischen die Zehen rieselt und ganz leicht kitzelt. Yami hält mir den Mund zu, presst meine Lippen zusammen, ich mach irgendwelche Laute. Ich rieche und schmecke ihre Hand, die nass von meinem Speichel und meinen Tränen ist.

Alina: «Noch mal! Mach die Kippe richtig aus!»

Brennender Schmerz … Zischen und mein Körper verspannt sich … Augen zulassen … einfach zulassen … es wird dunkel … nicht aufmachen … nicht aufmachen …

«Du Fotze, das war wirklich ein Fehler. Heut machen wir dich fertig, heut machen wir dich kaputt.»

Alinas Stimme klingt weich und warm, so aufgeregt.

«Entjungfern wir die Schlampe!!!»

Lautes Lachen, Kreischen.

«Entjungfern wir sie!»

Es klingt euphorisch, triumphierend, wie wenn jetzt ein großer Moment kommt.

«Heute ist dein großer Tag!»

«Entjungfern wir sie mit der Sektflasche und machen ’n Video davon.»

Lachen, Kichern.

«Yeah!»

«Hose runter, zieh ihr die Hose runter!»

Die wollen mir nur Angst machen, das machen die nicht, nein. Aber da packen sie mich und jemand zerrt an meiner Hose und dann an meinem Slip. Ich glaub, es ist Yami.

«Nein, nein, bitte hört auf!»

Ich drehe und winde mich, ich strample, versuch Yami mit meinen Füßen wegzustoßen, aber ich treffe sie einfach nicht. Wieso treffe ich sie nicht? Meine Beine sind so schwer, ich hab keine Kraft.

«Bitte hört auf, ich mach alles, was ihr wollt, bitte Alina, bitte!»

Wieder spür ich, wie jemand meinen Mund zupresst.

«Ey hör auf, da musst du jetzt durch.»

«Wääh, wie widerlich, die stinkt! Bääh, die is nich rasiert!»

«Ja ey, Anjas Fotze stinkt nach Fisch. Wääh, wäscht du dich nicht?»

Ich bin unten komplett nackt. «Neeeeeiiiin, bitte nicht», pruste und winsle ich durch die Finger um meinen Mund. Ich spür so viele Tränen über mein Gesicht laufen, dass ich glaub, ich ersticke daran. Ich kann nicht mehr richtig atmen, ich krieg irgendwie keine Luft und schnappe, schnappe. Atme, atme.

«Biitttte, bitte hört auf, bitte!»

Blitzen.

«Mann, mehr Licht!»

Zerren. Blitzen. Alina beugt sich runter und hat die Sektflasche in der Hand.

«Mach die Beine auf! Macht ihr die Beine auf!!!»

Ich presse meine Beine zusammen so fest es geht.

«Da musst du jetzt durch.»

Yami grinst bis über beide Ohren, meine Haut schabt aneinander und meine Knochen tun weh, aber sie zerren alle und ziehen und dann drücken sie meine Beine auseinander. Ich sehe, wie sie sich öffnen, und ich kann nichts machen, gar nichts, nur weinen und mich jetzt einfach ganz, ganz, ganz weit wegwünschen, wegträumen.

«Das kann jetzt ein bisschen wehtun …»

Lachen. Dann dringt die Flasche in mich ein, sie ist kalt und hart, und ich schlucke, als würde ich einen Stein verschlucken. Es tut so weh, als würde man mich aufreißen. Da gibt es kein Weg, dieser kalte, ziehende Schmerz geht von meinem Unterleib bis in meinen Bauch. Lachen.

«Igitt, das ist ätzend.»

Yami hält sich die Nase zu, sie geht ein paar Schritte zurück. Die Flasche ist hart und kalt und bewegt sich in mir rein und raus, und jeder Stoß tut unendlich weh. Ich weiß nicht, ob mich jemand festhält.

«Komm weiter – richtig rein!»

Tanja hat die Flasche.

«Yeah, tiefer. Schau, wie se kuckt. Stehst wohl drauf?»

Ich hör Alina: «Hey Yami, steh nich nur so rum. Komm her, darfst auch mal!!»

Ich glaub, Yami steht abseits, irgendwie schaut sie komisch – so hab ich sie noch nie schaun sehn.

«YAAAAAMIII!!» Alinas Stimme. «Ey, komm jetzt her und fick die mit der Flasche, sonst glaub ich noch, du bist auch so ’n Opfer!»

Yami zögert. Yami zögert, vielleicht will sie mir ja helfen, vielleicht sagt sie gleich «Hört auf, lasst das!», aber dann sehe ich sie schon auf mich zukommen und sich runterbeugen.

«Warte, du kommst auch aufs Video, Yami. Ey, Shootingstar, haha.»

Lachen, Yami lacht, die Kamera über mir verwischt, Tränen, ich glaub, ich weine immer noch.

«Heute wirst du berühmt.»

Und dann ein richtig tiefer Stoß – direkt in meine Seele. Ich will heim, in mein Bett, mich einkuscheln, einrollen und einschlafen. Nichts mehr mitkriegen. Eigentlich will ich nur noch sterben. Vielleicht hab ich ja Glück und sie bringen mich heute Nacht einfach um.

lch lebe noch

Nein, sie haben mich nicht umgebracht. Ich lebe noch – Hurra! – oder was man so leben nennt. Ich hab eine Platzwunde am Mund, die ist verkrustet und reißt beim Essen oft auf. Meine Mama denkt, ich wär gegen ’ne Tür gerannt. Auf meinem ­Rücken und da, wo sich durch die Haut die Rippen abzeichnen, hab ich dunkle, blaue Blutergüsse. Ich fühl mich irgendwie gerädert – die Wunde von der Zigarette am Bauch hat sich richtig tief durch die Haut ins Fleisch gebrannt und eitert und tut höllisch weh, aber am schlimmsten sind die Schmerzen an meiner Muschi. Sie gehen bis tief in meinen Bauch, bis tief in mich rein. Außen ist es gar nicht so schlimm, nur ein paar Kratzer, aber innen, da tut es richtig weh. Das fühlt sich einfach scheiße an und ich will nur losheulen.

Die Rollladen runterlassen, mich ins Bett legen, ins dunkle Zimmer. Ich will mich nicht sehen, nie wieder in den Spiegel schauen, in diese hässliche Fresse – in meine Schweinefresse. Ich will einfach nur heulen und presse mein Gesicht mit aller Kraft ins Kissen – und heule, heule, heule, heule –, aber wenn ich zu sehr weine, mach ich zu laute Geräusche und das würde­ meine Mama hören und dann fragen, was los ist, ich will aber einfach nur allein sein. Allein mit meinen Wunden, im Dunkeln, auf meinem Bett. Ich krieche unter die Bettdecke und alles tut weh. Eingerollt wie ein zitterndes Fohlen oder eingedreht wie ein Stück Scheiße – das trifft es besser – liege ich da. Ich bin ein ekelhaftes Stück Scheiße, meine Muschi stinkt, stinkt nach Fisch – igitt –, ich höre noch immer, wie sie lachen und sich ekeln. Gott sei Dank ist jetzt alles vorbei, ich will nie wieder reden, nie wieder andere sehen.

Ich will mich umbringen – bin aber zu feige. Ich bin ein feiges, nutzloses Stück Scheiße, ich hasse mich – und meinen Körper und meine Muschi. Ich muss die ganze Zeit an das Handyvideo denken.Denk einfach nicht dran – tu so, als wäre es gar nicht passiert.Es ist aber passiert und es ist auf Video und dieses Video ist mit Sicherheit die absolute Lachnummer für alle coolen Leute.

«Das Schwein wird entjungfert, seht, wie sie grunzt … Hahahahahaha … und wie sie gestunken hat. Ich musste mir echt die Nase zuhalten, voll ekelhaft, wääääh, igiiiitt, das war voll ekelhaft. Da schaut, wie sie weint, die ist nur noch voll am Wimmern, das ist das Lustigste, was ich je gesehen hab.»

Ja, es ist lustig, ein blödes Schwein wie mich kaputtzumachen, zum Weinen zu bringen, zu verletzen. Es ist lustig, einer blöden Sau wie mir zuzusehen, wie sie so erniedrigt wird, dass sie einfach nicht mehr kann. Ich weiß, ich bin wertlos. Die Rasierklinge blitzt in meiner Hand – merkwürdigerweise ist es etwas anderes, wenn man sich selbst verletzt, da ist man vorbereitet auf das, was als Nächstes kommt.

Schmerzen mit Schmerzen bekämpfen. Ritzen holt den INNERLICHEN Schmerz an die OBERFLÄCHE. Es hilft dabei, Dinge zu verbergen, zu verstecken. Ich hab diese Sehnsucht mit der Rasierklinge über meine Haut zu fahren. Kein Wunder bei dem ganzen Scheiß, der passiert ist. Ich hab meiner Mutter versprochen, mich nicht mehr zu ritzen. Aber warum denn mit dem Ritzen aufhören? Warum mit dem Einzigen aufhören,­ das mir wirklich hilft? Jeder Schnitt ist wie ein Versprechen. Lass mich fliegen. Narben der Seele. Eure Scheißwelt ist es einfach nicht wert damit aufzuhören. Dieser Schnitt ist für dich, für deine beschissenen Gafferaugen, die mich jeden Tag anstarren. Für die Art wie ihr kuckt. Für eure ekligen Fischglotzaugen. Diese zwei Sekunden, in denen du den Schnitt machst, gibt es keine Probleme. Da verpuffen die Probleme nur so. Und irgendwann erkennst du deinen Arm gar nicht mehr, weil da so viele Narben sind. Du gehst nur noch mit langärmligen Sachen in den Sportunterricht.

KENNST DU das Gefühl, wenn du schreien willst, aber es geht nicht? Wenn du weinen willst, aber es kommen einfach keine Tränen? Meine Narben erinnern mich an das Mädchen, das ich mal war, und daran, was mit mir passiert ist. Daran, dass es kein Zurück mehr gibt. Wollt ihr wissen, warum ich mich ritze? Du wirst das nie verstehen. Was so schön daran ist, sich zu verletzen. Ich weiß, dass es falsch ist. Dass all meine Probleme nachher noch genauso da sind. Aber für zwei Sekunden sind sie weg. Ich bin auf der Flucht. Richtung: weg. Richtung: kein Zurück. Richtung: nie wieder zurück in meinen Körper. Richtung: Ich habe eure scheiß Welt vergessen. Ich hasse mein Leben und ich hasse euch und ich hasse das alles so sehr. Euer Verständnis kotzt mich an, weil es gelogen ist, weil eure beschissenen Fischaugen immer nur lügen.

Mir läuft das Blut die Hand runter. Ich liebe es, mich zu schneiden. Liebe und Schmerz gehören irgendwie zusammen, darum haben Rosen ja auch Dornen. Jeder scheiß Atemzug tut weh. Tut weh bis tief in die Seele. Es ist ein stummer Schrei, wenn man nicht mehr schreien kann – ein Hilfeschrei. Wenn das jemand mitbekommt, bin ich für die ein Psycho, aber das bin ich sowieso. Glaubt nicht alles, was sogenannte Freunde zu euch sagen. Man kann sich in Menschen so leicht täuschen. Und irgendwann zeigen sie dann ihr wahres Gesicht. Ich setze mir auch jeden Morgen so eine Maske auf. Die Anja-Maske. Irgendwie muss man mit all dem umgehen, damit, was so passiert ist. Mit den Gedanken an dieses Video und an das Lachen und Kichern. Irgendwo müssen die Gefühle hin und mein Körper ist genau das Richtige – ich bin das Richtige. Es ist Wut, Angst, Kontrolle, ein Hilfeschrei, der nicht nach draußen kommt. Wenn man sich ritzt, setzt der Körper Endorphine frei, sodass du dich gut fühlst in dem Moment.

Ritzen ist ein Teil meines Lebens genauso wie das Lachen von Alina und das Ignoriertwerden der anderen oder die Schikanierereien jeden Tag. Genauso wie das Nicht-mehr-essen-Wollen. Genauso wie die Erinnerungen an meinen Papa, die immer mehr verblassen, und die Blicke meiner Mama, wenn sie nicht mehr weiß, was sie machen soll. Das Runterkommen ins Esszimmer, nachdem ich mich im Bad geritzt hab und meine blutende Wunde im Ärmel verstecke, und so tu, als wäre nichts, und denke, dass mich meine Mama komisch anschaut. Die langärmligen Shirts im Sportunterricht und im Hochsommer, das heimliche Aufkratzen des Schorfs in der Schule, das Kotzen, nachdem ich essen musste, die Rippen, die sich durch die Haut in meinen Bauch bohren, und meine schlechten Noten.

Ritzen gehört dazu, ritzen ist wie atmen. Wenn ich mich länger nicht ritze, ist es, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Manchmal denke ich mir, boah, in dreißig Jahren werden diese Ritzwunden immer noch an deiner Hand sein und du wirst sie ansehen müssen, jeden Tag, wenn du duscht, wenn du Urlaub am Meer mit der Familie machst. Wenn deine Kinder fragen, was das ist. Sie werden mich erinnern an das, was ich bin, was ich war, an das, was ich heute bin. An Alina und an Yami, an das Video mit der Sektflasche. Sie gehören jetzt zu mir. Warum aufhören mit dem Ritzen, es funktioniert. Mir hilft das Ritzen. Manchmal nehme ich auch irgendwas ­anderes, einen Füller ohne Patrone, einen Reißnagel. Manchmal zwicke ich mir auch einfach mit den Fingernägeln in die Haut, richtig fest ins Fleisch, dass es schon blutet, wo die Fingernägel sich reinbohren, oder ich reiße mir selbst die Haare aus. Aber zu ritzen ist am besten.