Sei der Wind, nicht das Fähnchen - Annie Heger - E-Book

Sei der Wind, nicht das Fähnchen E-Book

Annie Heger

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Beschreibung

Annie Heger ist Künstlerin mit Leib und Seele, mischt an vielen Stellen mit: Als Radiokolumnistin der NDR-Kultkolumne "Hör mal'n beten to!", als Buchautorin oder auf der Bühne mit gesellschaftskritischem Kabarett. Sie moderiert die größten Liveshows des Landes und produziert Reportagen sowie Talks für die BASIS:KIRCHE, einem youtube-Kanal der Evangelischen Kirche. Kurzum: Annie Heger – der Paradiesvogel unter den ostfriesischen Möwen – macht ganz schön viel Wind. Dass die 40-Jährige in ihrem Leben schon zahlreiche dramatische Tiefschläge erleben musste, sieht man der selbstbewussten, starken Frau heute nicht an: Mit 13 Jahren erhielt sie die Diagnose Diabetes mellitus Typ 1 – eine chronische Krankheit, die in vielen Fällen früher oder später zur Erblindung führen kann. Zwischen ihrem 18. und 23. Lebensjahr war Annie 17-mal stationär im Krankenhaus, entwickelte eine Essstörung und eine schwere Depression, fiel am Ende ins Koma. Erst der letzte Krankenhausaufenthalt führte in dieser Phase ihres Lebens dazu, dass sie heute mit psychischer Kraft und Lösungswegen im Gepäck mit ihrer Krankheit unterwegs sein kann. Und auch dazu, dass sie den christlichen Glauben als eine der wichtigsten Säulen in ihrem Leben bezeichnet. Auch oder gerade dann, wenn neue Tiefschläge wie die niederschmetternde Krebsdiagnose ihrer Lebensgefährtin hinzukommen.  Von den steifen Brisen des Lebens lässt sich Annie Heger nicht vom Deich wehen. An der Nordsee, wo sie herkommt, hat sie vor allem eines gelernt: Das Wetter ist wie es ist. Ändern kann man daran nichts, aber sich warm anziehen. Der Friesennerz kann Regenschutz sein und die Zuversicht auf baldigen Sonnenschein hilft ein wenig, den eisigen Gegenwind zu ertragen. Auch anderen macht sie Mut, sich der persönlichen Situation zu stellen, wenn sie sagt: Sei der Wind, nicht das Fähnchen, das sich in alle Richtungen wehen lässt. Annie Heger feiert das Leben – trotzdem und wegen allem – und lädt alle zu diesem Fest ein. Die besten Partys enden bekanntlich in der Küche und dort schwingt Annie nicht nur den Kochlöffel und große Reden, sondern feiert gleichermaßen die Leichtigkeit und den Tiefsinn. Leidenschaftlich gerne diskutiert sie über die großen Themen des Lebens: Glaube, Liebe, Hoffnung, Angst, Geborgenheit, Wut, Vertrauen und Schuld – und auch über die wichtige Frage "Was gibt es heute zu essen?"

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 208

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Annie Heger

Sei der Wind, nicht das Fähnchen

Und wenn nicht: Kurs bestimmen, Segel setzen!

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Die bekommt ihr nicht durch«, sagte Opa.

Immer wieder steht Annie in ihrem Leben an einem Punkt, wo dieser Satz in ihr nachhallt.

Ihr Weg ist mit unzähligen schlechten Diagnosen gepflastert, doch sie feiert das Leben – trotzdem und wegen allem – und lädt andere zu diesem Fest ein. Die selbst ernannte Küchentheologin lässt die Leichtigkeit hochleben, genießt den freien Fall und badet im Tiefsinn. Sie erzählt vom unstillbaren Hunger nach Leben und Zuckerwatte, von Moabiter Kissen, offenen Rechnungen und Reinheitsgeboten. Annie ist laut, urkomisch, oft auch berührend sanftmütig. Und von den steifen Brisen des Lebens lässt sie sich nicht vom Deich wehen. In Ostfriesland, wo sie herkommt, hat sie vor allem eines gelernt: Das Wetter ist, wie es ist. Ändern kann man daran nichts. Deshalb ist es wichtig, sich warm anzuziehen und das Segel richtig zu setzen, wenn der Wind von vorne bläst.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.bene-verlag.de

Inhaltsübersicht

Prolog

Ahoi

Schöner scheitern

Berührt

Heimat / Zuhause

Geborgenheit

Verliebt

Im Zweifel für die Liebe

Stöönpahl: Familie

Schuld

Die heißeste Außenwelle

Sein Herz an etwas hängen

Glaube

Theologia cuciniaria – Küchentheologie

Wo eine Wand ist, ist auch ein Weg

Banden bilden

Ich finde meinen Gott in jeder Kirche

Wie klingt ein Leben im Dunkeln?

Abschied

Nachträge

Danksagungen

Anlaufstellen, wenn du Hilfe brauchst

Am 15. Dezember 2005 um 18:14 Uhr wollte ich nicht mehr leben.

Am 15. Dezember 2005 um 18:19 Uhr wollte ich leben.

 

Man könnte meinen, dass meine Todessehnsucht wohl nicht besonders groß gewesen sein muss, aber nein, das Gegenteil war der Fall: Mein Wunsch nach Leben war einfach noch größer.

Ich bin ein sehr effizient denkender Mensch; ja, ich bin es sogar während einer schweren Depression und akuter Lebensmüdigkeit.

In fünf Minuten zog mein 22-jähriges Leben an meinem inneren Auge vorbei. Es fühlte sich an wie das Leben eines betagten, gebrechlichen Kriegsrückkehrers, der bisher seine Traumata verschwiegen hat und nun endlich rauswill aus Schutt und Asche. All dem, was sich in vielen Jahren auf seine Seele gelegt hat. Das klingt vielleicht für dich pathetisch und ist auch dramatischer, als ich es damals hätte zugeben wollen – doch ganz ehrlich, es fehlte nur noch die Musik von Forrest Gump, um die Situation nochübertrieben bedeutungsvoller zu machen – aber es war still.

Ich habe in diesen elendig langen, gleichwohl entscheidenden fünf Minuten nicht herausgefunden, was die Welt und vor allen Dingen mich im Innersten zusammenhält. Doch ich bekam eine nebulöse Vorstellung davon, was das Fundament und die Säulen in meinem Leben sind, die mich auch als morsche und brüchige Ruine tragen. Und die Farbe auf der rissigen Fassade, die musste runter. So viel stand fest.

 

Was war vorher passiert? Rewind auf 18:10 Uhr.

Ich saß in einem Scheißhaufen aus Liebeskummer, Zukunftsangst und einer schon lange nicht mehr funktionierenden Insulinpumpe, die ich nur noch als Attrappe für die Außenwelt am Bauch trug, da ich ja niemandem Sorgen bereiten wollte, schon gar nicht mir selbst, in meinem Hamburger WG-Zimmer auf meinem mit rotem Cord bezogenen IKEA-Ektorp-Sofa. Im Fernsehen lief eine Doppelfolge Gilmore Girls.

 

Es war der Tag, die Stunde, die Minute, in der meine Gedanken aufhörten zu kreisen. Das erste Mal seit langer Zeit lag ich nicht im Bett, sondern hatte mich einigermaßen würdevoll und aufrecht auf das schwedische Sitzmöbel bewegt. Ich trug Sportklamotten; nicht weil ich endlich entschieden hatte, vor die Tür zu gehen, meinen Körper der frischen Luft auszusetzen und einen weiteren Weg als bis zum Plus-Markt um die Ecke hinter mich zu legen. Nein, ich trug diese Klamotten seit einer geraumen Zeit. Einer längst – aus sämtlichen Perspektiven betrachtet – unangemessen langen Zeit. Sportklamotten zu tragen fühlte sich manchmal und dann auch nur recht kurzfristig so an, als hätte ich mein Leben noch im Griff. Die Leggings waren eng, und ich spürte meinen Körper, zu dem ich schon lange den Kontakt eingestellt hatte, es herrschte Funkstille zwischen uns.

Meine Gedanken überschlugen sich in ihrer Trägheit. Heute wollte ich sie nicht einfach verdrängen oder wegschlafen wie in den letzten Monaten.

 

Mir war klar: Nichts auf dieser Welt kann mich glücklich machen! Es könnte das Schönste auf der Welt passieren und es würde mich nicht aus dieser elenden Melancholie und Müdigkeit herausholen. Ich war gefühlstaub und panisch-traurig zugleich; auf der einen Seite feinsinnig und empfindlich und auf der anderen leer und lethargisch. Ich musste mich auf jeden Atemzug konzentrieren, damit ich ihn überhaupt machte.

»Annie, dann kann es auch jetzt aufhören. Das ist kein Leben, und das müssen wir nicht weiter in die Länge ziehen«, dachte ich altklug und sprach diese Gedanken von oben herab zu mir selbst.

Und dann stellte ich mir noch eine letzte Frage:

»Was will ich noch erleben, bevor ich dann alles beende?«

 

»If you’re out on the road, feeling lonely and so cold …« Die Anfangsmelodie der zweiten Gilmore Girls-Folge hallte durch mein Zimmer. Okay, sie hallte nicht wirklich, denn dafür waren die Staubschicht auf den Möbeln und die Wäscheberge auf dem Boden zu hoch. Aber das Lied hallte in mir: »All you have to do is call my name and I’ll be there …«

Mein ganzer Körper glühte, als hätte ich heiße Kohlen verschlungen.

Wo ist die Reißleine?!

Ich rief meine Mama an.

Ahoi

Was ist denn hier los? Donnerwetter! Dramatischer kann ein Buch kaum beginnen. Doch wenn die Stimmung schon zu Beginn so richtig im Eimer ist, kann es ja nur besser werden. Welch ein Glück! Denn dieses Buch sollte doch vor allem optimistisch, zuversichtlich, hoffnungsvoll und obendrein noch lustig werden! So kennt man mich doch schließlich. Auch das Sprungfoto auf dem Buchcover verspricht ja genau das – vielleicht hast du deswegen danach gegriffen, weil du dir von dem, was ich schreibe, ein wenig Leichtigkeit und kraftvolle Impulse erhoffst. Aber: Don’t judge a book by its cover!

Denn nun bist du gleich auf den ersten Seiten im schlimmsten Moment meiner Depression gelandet.

Warum beginne ich überhaupt an diesem 15. Dezember und laufe deswegen Gefahr, dass dir das alles zu viel wird und du das Buch gleich wieder weglegst? Vielleicht denkst du insgeheim gerade, dass es besser gewesen wäre, das Buch zunächst nur ganz vorsichtig zu öffnen und reinzuluppern, ob es die Erwartungen erfüllt. Gerade so weit, dass der Buchrücken keinen Knick bekommt und das Ganze noch neu aussieht, damit du das Buch einer Freundin oder einem Freund zum Geburtstag schenken kannst, zu dem du nach Jahren unverhofft eingeladen worden bist, weil ihr letztens zufällig an der Kasse einer Drogerie unangenehm lange hintereinander in der Schlange gestanden habt.

Beim Schreiben wurde mir schnell klar, dass das Eine nicht ohne das Andere geht. Es braucht gerade auch die düsteren Momente und die Verzweiflung. Denn Zuversicht schöpft sich eben nicht nur aus dem Guten, sondern offenbart sich meist erst in Gänze in psychodramatischen Situationen und gefährlicher Bodennähe. Ganz kurz bevor wir im freien Fall irgendwo hart aufschlagen. Der nötige Tiefsinn entsteht oft erst durch eine existenzielle Krise. Ich wünschte, es wäre nicht so. Paradoxerweise wächst dadurch oft gleichzeitig die nötige Leichtigkeit, die wir brauchen, um das Leben bei den Hörnern zu packen und mit dem Schlamassel, in dem wir gerade stecken, klarzukommen.

 

Meine große, liebevolle, wunderschöne und auch oft kummervolle Mama sagte einmal, als ich vor ein paar Jahren gerade in dem ganzen Drama meines wirren Lebens und der Lebensmüdigkeit feststeckte, zu mir:

»Dabei hast du dich als Kind doch so gut entwickelt.«

Das saß. Ich wusste, was sie damit meinte – auch wenn der Satz sich wie ein schwerer Unfall liest, den man immer wieder anschauen muss.

 

Als Kind lief ich schnell, sprach gut, schloss im Handumdrehen Freundschaften, las sehr viel eher als Gleichaltrige, war gut im Turnen, immer freundlich, musikalisch, hatte eine schöne Stimme. Wurde krank, richtig maßlos in allem, war oftmals schrecklich laut und unbeherrscht, so einsam. Und ich wurde so unendlich traurig.

Der 15. Dezember war der Tag, an dem alles ans Licht kam. Der ganze Mist! Es gab keine Heimlichkeiten mehr. Und es war bitter. Aber ich merkte gleichzeitig: Da war noch was! Etwas, das ich unbedingt erleben sollte. Da war noch etwas, von dem ich ahnte: Das ist das Beste, was mir passieren kann.

Auf den folgenden Seiten geht es um vieles, was mir damals klar geworden ist. Manches hat sich mir aber auch erst sehr viel später offenbart.

Es wird vielleicht sogar auch ein bisschen fromm.

Jedoch keine Angst, hier ist Heiliger-Bogen-freie Zone! Ich versuche nicht, nur weil ich mich selbst zur Küchentheologin ernannt habe, von einem Ratatouille die Heilige Dreifaltigkeit abzuleiten oder mit einer Szene aus Harry Potter die Transsubstantiationslehre zu erklären.

 

Es geht in diesem Buch nicht nur um einen guten Umgang mit sich selbst (das habe ich mühsam lernen müssen), sondern auch um viele Themen, die mich und andere gerade umtreiben. So ist es auch ein wenig eine Anleitung zum Weltverändern unter der Berücksichtigung der kraftgebenden Säulen im Leben, sodass wir uns dabei nicht verlieren, nicht müde und verbittert werden und unsere radikale Zuversicht bewahren. Diese Welt braucht uns! Lange Sätze kann ich ;)

 

Wie können wir selbst der Wind der Veränderung sein? Was gibt uns dabei Orientierung, was ist unser Kompass? Wie setzen wir das Segel richtig, wenn der Wind eisig von vorne bläst – und wie bleiben wir trotzdem auf Kurs? Und schließlich: Wo können wir ankern, um Kraft für den weiteren Weg zu tanken?

 

Ich erzähle dir von dem, was mich selbst auf Kurs hält, wofür mein aktivistisches Herz schlägt und auch von den Momenten, in denen ich mich mal wieder völlig in der Takelage verheddere.

Schöner scheitern

Noch nie war ich in einem sozialversicherungspflichtigen Angestelltenverhältnis.

Und das ist auch gut so!

Mit zwölf Jahren hatte ich nur eine Verpflichtung: einmal in der Woche den Knöterich im Garten zu schneiden, dafür bekam ich fünf Mark.

Allein der Gedanke an diese gebotene Regelmäßigkeit hat mich in eine schwere Teilnahmslosigkeit oder wahlweise in einen obsessiven Sortierwahn meiner exorbitant exquisiten Hörspielkassettensammlung fallen lassen. Keine fünf Mark konnten das ändern. Die Lehre, die ich daraus zog, war wertvoll:

Die Sache mit dem Geld ist okay, wenn man sein Essen noch nicht selbst verdienen und keine Steuererklärungen machen muss. Und kein Geld der Welt würde mich jemals dazu bringen, regelmäßig Knöterich zu schneiden.

 

Die Kehrseite der Medaille: Ich weiß bis heute nicht, was ich in das erste Feld nach meinem Namen und dem Geburtsdatum auf den Anamnesebogen schreiben soll, wenn ich mich irgendwo in einer Praxis als Neupatientin vorstelle.

Was ist mein Beruf?

Alles, was mir im Leben wichtig ist, was mir Freude macht oder in mir dringlich brennt, habe ich zu meinem Job gemacht. Und somit bin ich Plattdeutsch-Aktivistin, professionelle Fragestellerin, Labertasche, Klassenclown, Hupfdohle, Musikerin, Berufslesbe und Wiesnöös – ein Naseweis, ein/e Klugscheißer*in. Die einzige große Leidenschaft, die ich nicht zum Beruf gemacht habe, ist das Kochen. Und es war verdammt knapp, dass es nicht dazu gekommen ist. Fast wäre ich doch über den Töpfen und am Kochlöffel gelandet. Ich hab gerade noch einmal die Kurve gekriegt und mir so einen letzten Ruheort bewahrt. Die Hobbys, Betroffenheiten und Dringlichkeiten zum Beruf zu machen bedeutet nämlich auch, dass eigentlich alles, was ich so tue, Arbeit ist. Aber wenn etwas Spaß macht, dann fühlt es sich nicht nach Arbeit an? Mit Verlaub: Das ist Bockmist!

Moabiter Kissen sind quer zur Fahrtrichtung angeordnete bauliche Erhebungen auf der Fahrbahn, die zu einer Geschwindigkeitsdämpfung führen und damit zur Verkehrsberuhigung beitragen sollen. Diese kissenartige Bremsschwelle wird oft auch Berliner Kissen genannt. (Wikipedia)

Seit elf Jahren wohne ich in Moabit, Berlin. Ich kenne mich also mit Bremsschwellen aus. Meine Straße ist voll davon. Die Straße, in der ich wohne, ist die Verbildlichung meines ganzen Lebens. Dabei hießen diese Tempohemmschwellen für mich bislang jedoch nicht Moabiter Kissen, sondern Diabetes, Depression, mangelnde Zertifikate, Barrieren, Krankenhausaufenthalte und männlich dominierter Klüngel.

 

Mein Wikipedia-Eintrag liest sich für manch einen wie eine Biografie des Scheiterns. Und ganz ehrlich, da steht nur ein Bruchteil dessen, aus dem sich kein repräsentabler Lebenslauf basteln lässt. Und das »Warum«, die ganze Zerrissenheit, die Fragen, wo die Reise hingehen soll, das steht da nicht drin.

Ja, ich gebe zu, mein Weg ist ungefähr so gradlinig wie der einer Katze, die versucht, den tanzenden Punkt eines Laserpointers zu jagen. Und da das kein Weg ist, den wir als Gesellschaft gemeinsam als erstrebenswert akzeptiert haben, war es für mich kein leichtes Unterfangen, mich abseits eines linearen Karrierepfads zu behaupten. Und zwar zu keinem Zeitpunkt. Bis heute.

Ich bin ja nun mal eigentlich beruflich auch lustig, daher hier kurz die Pointe vorweg: Bis heute habe ich keinen Berufsabschluss!

Eltern ziehen panisch ihre Kinder weg von mir, aus Angst, ihr hoffnungsvoller Nachwuchs könnte Gefallen an meinem Lebensweg finden. Weil ich mit meinen vierzig Jahren bauchfrei und mit Cappy auf dem Kopf vor ihnen sitze und so viel cooler als ihre Eltern bin, aus dem einzigen Grund, weil ich eben einfach nicht ihre Eltern bin. Doch liebe Grüße an alle erziehungsberechtigten Leser*innen:

Keine Sorge! Entwarnung! Ich bin nicht auf Mission für Ausbildungs- und Studienabbrüche.

Das war mein Weg. Vielleicht könnte es auch der eurer Kinder sein, doch das müssen die ganz allein herausfinden. Es geht darum, den eigenen Weg zu finden, sich dabei mitzunehmen und im Blick zu haben.

Nie hatte ich ein berufliches Ziel, zumindest kein ernst zu nehmendes. Als ich sieben Jahre alt war, wollte ich Tänzerin im Zirkus werden, und fand mich mit dreizehn zu alt, um noch als Wunderkind oder Kinderstar entdeckt zu werden. Danach kam lange nichts, keine wirklichen beruflichen Wünsche, denn ich war ja nicht bei bester Gesundheit. Allein zwischen dem 19. und 23. Lebensjahr war ich fünfzehnmal stationär im Krankenhaus, zweimal davon länger als drei Monate. Ganz ehrlich, ich dachte, ich müsste auch nicht wissen, was ich mal werde, wenn ich groß bin – denn so wie es aussieht, werde ich gar nicht groß. »Ich werde höchstens zweiundzwanzig«, das habe ich immer gedacht.

Ich wurde zweiundzwanzig. Und ich lebte. Völlig unvorbereitet auf dieses Leben. Ohne Ziele, ohne Wünsche, ohne Träume stand ich da.

Die Frage, wer oder was ich mal sein will, wenn ich mal groß bin, war für mich immer ein Spiel gewesen. Und jetzt sollte ich mich für nur eine Sache, einen Beruf entscheiden. Und diesen dann in einer mindestens dreijährigen Ausbildung oder einem mehrjährigen Studium erlernen. Damit habe ich mich so schwergetan. Es fühlte sich für mein doch nur auf eine Lebenskurzstrecke ausgelegtes Hirn an wie eine verschwendete Ewigkeit.

Und so habe ich dann ohne Masterplan zu allem Ja gesagt, wo mich das Schicksal so hinstellte. Wirklich zu allem. Ich habe mal in einem verlassenen, unterirdischen Hilfskrankenhaus in einer Bunkeranlage in Oldenburg bei einer Theaterdarbietung Schulungen »performt«, wie man sich im Falle eines Atombombenangriffs richtig verhält. Am Ende habe ich immer auf einen roten Buzzer gehauen, wie in einer TV-Spielshow, sodass der ohrenbetäubende Krach einer Atombombe durch die Lautsprecher dröhnte. Den ein oder anderen Besucher musste ich danach unter den in meinem Raum aufgebauten Feldbetten suchen. Es gab damals keine Triggerwarnung für kriegstraumatisierte Menschen. In dem Raum neben mir wurde eine »Lobotomie« tanzperformt.

 

Zurück zu meinen Jas. Es gibt immer nur zwei Möglichkeiten: an der Aufgabe und Situation zerbrechen oder daran wachsen.

Das berufliche Wasser, in das ich gesprungen bin, war manchmal bitterkalt. Überfordert zu sein und die Angst zu versagen stand immer auf der Tagesordnung. Da gibt es sehr viele Dööntjes, kurze lustige Geschichten, über die ich heute zum Glück lachen kann. Ich habe eine große Schatztruhe, aus der ich den ein oder anderen Schwank schöpfen kann, um auf jedem noch so steifen Stehempfang das Stimmungsruder herumzureißen.

Rückblickend weiß ich gar nicht, was damals mein Motor war, derart waghalsige Köpper ins Leben hineinzuwagen. Schließlich musste meine Klasse bei der Prüfung für das Fahrtenschwimmer-Abzeichen geschlagene zehn Minuten hinter mir warten, bis ich endlich den Sprung vom Dreimeterbrett gewagt habe.

Wollte ich mir also etwas beweisen? Oder war es wirklich Mut, gewürzt mit dem Leichtsinn eines jungen Herzens und einer kleinen Portion Größenwahn? Eine exorbitant große Freude am Risiko?

Mittlerweile weiß ich ein bisschen besser, was ich kann, und habe eine Liste zum Hervorholen, wenn das Impostor-Syndrom wieder hart reinkickt und ich das Gefühl habe, als Hochstaplerin entlarvt zu werden – ja, tatsächlich so eine Selbstlobhudelei-Liste. Genauso habe ich aber auch eine Liste, auf der meine absoluten persönlichen Waterloo-Erlebnisse stehen. Momente des absoluten Gesichtsverlusts. Situationen, in denen die Discokugel im Saal peinlich berührt errötete und sich die Moderatorin des Abends nicht bei mir verabschiedet hat, weil sie nicht wusste, was sie zu mir sagen soll. Ich kann von jetzt auf gleich dieses Gefühl in mir hochholen, auf der Bühne zu stehen und zu denken: Gehe ich einfach während des Auftritts von der Bühne oder bleibe ich hier jetzt stehen und ziehe die Schmach, diese Blamage bis zum bitteren Ende durch?

Es waren Abende, die manchmal mit viel Alkohol endeten, um die Peinlichkeit und beschämende Selbstdemütigung wenigstens bis zum Besuch des von einem anderen Stern stammenden Katers am nächsten Morgen zu verdrängen.

 

Mein Freund und Kollege Yared Dibaba hat vor gar nicht langer Zeit zu mir gesagt: »Sei freundlich zu dir.« Freundlich zu sich sein heißt, sich selbst nicht fertigzumachen, weil man Ansprüchen anderer nicht entspricht.

Freundlich zu sich sein heißt auch, irgendwann nicht mehr zu allem Ja zu sagen, sondern zu wissen, ob die Kapazitäten, Kompetenzen, der Bock, die Begeisterung und die Leidenschaft dafür reichen.

Wenn es heute um Erziehung geht, sprechen ja viele von Bedürfnisorientiertheit. Dabei geht es darum, die Empfindungen eines Kindes zu berücksichtigen und zu respektieren und nicht autoritär Regeln über die emotionalen, körperlichen und psychologischen Bedürfnisse zu stellen. Und das alles, um am Ende eine liebevolle Beziehung zu fördern. Sollten wir diesen Weg nicht genau so auch mit uns selbst gehen?

Freundlich zu sich selbst sein und bockorientiert1 durchs Leben gehen bedeutet nicht, jeden Tag aufzustehen und zuerst in sich hineinzufühlen, wie man seine Bedürfnisse für sich, aber gleichzeitig verantwortungslos für andere einfordern kann. Es geht darum, wie du deine augenblicklichen Bedürfnisse mit deinen Träumen, Wünschen und Zielen grundsätzlich unter einen Hut bekommst.

Heute weiß ich: Träume, Wünsche und Ziele sind im Bestfall ein und dasselbe.

Papa hat mir in der Zeit meiner beruflichen Orientierungslosigkeit oft gesagt:

»Mach was Vernünftiges, studiere Musik … sonst wirst du nicht glücklich.«

Sicherlich ist dies nicht das, was andere Väter zu ihren Kindern sagen. Mein Papa ist anders als andere Papas. Sehr anders. Papa hat sich zum Beispiel mal eine knallrote Punkfrisur färben lassen, als er merkte, dass man nun sieht, dass er sich die langsam ergrauenden Haare dunkel tönt. Wenn ich Papa nach jemandem frage, beispielsweise ob er die Sängerin Rihanna kennt, dann antwortet er meist so etwas wie: »Nö, aber vielleicht kennt die mich.« Papa hat eine meiner Schwestern mal ein Jahr glauben lassen, er würde Helmut mit Zweitnamen heißen. Wenn man mit ihm durch die Fußgängerzone geht, dann kann es sein, dass er sich einfach neben einen Straßenmusiker stellt und mitmusiziert, mit was auch immer ihm gerade als Instrument zur Verfügung steht. Eine Spielzeugtrompete, seine Stimme oder die Füße, mit denen er anfängt zu steppen. Papa ist niemand für halbe Sachen. Im Gegenteil, er setzt immer noch einen drauf und meistens außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen.

Irgendwann habe ich Papa mal aus dem Krankenhaus angerufen, als ich wusste, dass ich bald entlassen werde. Doch was dann …?

»Aber Papa, ich muss doch etwas werden!«

Er sagte dann nur:

»Aber du bist doch schon wer!«

Was für ein Satz: »Ich bin wer.«

Damals im Krankenhaus beschloss ich: Ich. Bin. Künstlerin.

Trotzdem kann es sein, dass ich zuweilen vergesse, dass ich wer bin. Als ich vor einigen Jahren als Referentin für ein medizinisches Symposium angefragt war und meinen akademischen Lebenslauf einreichen sollte, war ich entsetzt. Oh Hilfe, diese Auflistung kann ich denen doch nicht schicken! Wie unangenehm.

Ich habe es bis zur letzten Minute hinausgezögert, dann aber irgendwann gedacht: »Moment, Papa hat damals schon gesagt: ›Aber du bist doch wer!‹.«

 

Ich bin. Und deswegen habe ich dann all meinen Mut zusammengenommen und den Veranstalter*innen keinen Lebenslauf geschickt, sondern den BIN-Zustand. Am Ende des Textes habe ich geschrieben: »Wenn Sie jetzt wirklich noch der Weg dahin interessiert, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.«

Mir hat es in meinem Leben immer wieder geholfen zu wissen, dass ich bin und gleichzeitig auch immer noch werde.

In Zeiten der absoluten Unsicherheit, wo es für mich beruflich hingehen kann, bin ich in mein erstes Ehrenamt gestolpert. Und das in einem aktivistischen Umfeld beim CSD Nordwest e.V.

Welch ein Segen, was für eine Spielwiese für mich! Ich konnte Verantwortung übernehmen, meine Talente ausprobieren und austarieren, ich habe mich gebraucht und wertgeschätzt gefühlt.

Das Ehrenamt hat mir Türen geöffnet und sprichwörtlich Bühnen und Publikum geboten. Während der Zeit beim CSD Nordwest e.V. habe ich vieles gelernt: Texte schreiben, Pläne machen von Plan A bis Plan Z, Veranstaltungskalkulationen jonglieren, mit Menschen so kommunizieren, dass sie gerne etwas für mich und die Sache tun, mit Politiker*innen gleichermaßen auf Augenhöhe diskutieren und feiern – und vor allen Dingen moderieren. Dafür bin ich am dankbarsten. Ich darf Menschen Fragen stellen, auf die ich selbst die Antworten nicht weiß.

Kommen wir zu dem rosa Elefanten im Raum, über den wir reden müssen:

Frau sein ist oft noch ein Hindernis. Oder besser: Kein heterosexueller Cis-Mann zu sein führt dazu, dass es immer wieder Wände einzurennen gilt. Sicherlich, es hat sich in den letzten Jahren vieles getan. Ich bin dennoch immer wieder erschrocken darüber, dass ich als jemand, der sich doch nun wirklich mehr als ein Seepferdchen auf dem beruflichen Parkett erschwommen hat, in einen schweren Fall von Mansplaining gerate. Oder dass mir geschäftliche Türen verschlossen bleiben, nur weil ich eine Frau bin. Menners! Ihr braucht mir nicht meine Welt aus eurer Sicht zu erklären! Ich brauche auch keine kostenlose Vorlesung, die vor Halbwissen strotzt, ich will kein Fisch sein, der so tut, als könne er nicht schwimmen, damit ihr euch relevant und gebraucht fühlt.

Und für alle anderen: Seid nicht dankbar für diese Hürden, Schranken und Wände, weil ihr eventuell denkt, dass ihr ja nur durch den Kampf dagegen und die Überwindung so stark geworden seid.

Wir müssen nicht in allem das Positive sehen. Wir dürfen wütend sein über Ungleichbehandlung, Ungerechtigkeiten, Vorurteile, Klischeedenken, sexistische Witze und Hände, die ungefragt auf unseren Hintern landen.

Zurück zu den Moabiter Kissen in meiner Straße: Ja, vielleicht hat am Ende alles so sein sollen, denn sonst wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin. Aber ganz ehrlich, ich hätte mir ein paar weniger »Speedbumps« gewünscht. Und manche sind ja auch heute noch da. Einige werde ich mit Sicherheit nicht beseitigen können, sie bleiben. Doch im Gegensatz zu einer simplen Bodenschwelle werden mit dem Begriff »Moabiter Kissen« Bremsschwellen bezeichnet, die von Radfahrer*innen über- beziehungsweise umfahren werden können, weil links und rechts davon etwas Platz ist. Es kommt bei diesen Hindernissen darauf an, mit welchem Vehikel man unterwegs ist. Es lohnt vielleicht, vom normalerweise schnelleren Auto einfach mal aufs Rad umzusteigen, weil man die Bremsschwellen dann elegant umkurven kann. Oder langsam zu machen, wenn man das Auto nimmt, damit der Unterboden nicht auf die erhöhten Steine schlägt. Ganz wörtlich und überhaupt nicht metaphorisch gemeint bin ich natürlich für ein Tempolimit, weil wir damit viel Sprit und Stress sparen können. Aber auf der Lebensautobahn sollte sich niemand von anderen sagen lassen, dass er zu schnell unterwegs ist, zu viel vom Leben will. Und auch nicht, wann und wie wir ein Ziel erreichen können oder sollen.

Sollte ein Hindernis in deinem Leben auftauchen, atme gerne einmal tief durch, aber lass dich nicht ausbremsen.

Prost! Äh … Amen!

Berührt

Wenn du nachts um halbe drei mit einem Glas Wein in der Hand und einer Adele-Playlist auf den Ohren alleine auf dem Sofa sitzt und Handyfotos von Verflossenen anschaust, ist es nicht verwunderlich, wenn du in einem Tränenmeer versinkst. Das ist auch dir vielleicht schon einmal passiert. Vielleicht war es statt Wein in deinem Fall ein Whiskey, und statt Adele lief möglicherweise Musik von Klaus Hoffmann. Let yourself feel it all – manches ist so richtig zum Heulen, ein Ausflug zum Seelenabgrund mit Anlauf und der Absicht zum Köpper, hinein in die Untiefen der vielen kleinen und großen unverarbeiteten Enttäuschungen.

Untiefen, die man tagsüber und unalkoholisiert wunderbar umschiffen kann, sind zu nächtlicher Stunde scheinbar unvermeidlich. Noch dazu mit promillevernebeltem Blick, während Adeles Stimme für mich klingt, als wäre sie die Jungfrau vom Loreley-Felsen, die mit ihrem Gesang die vorbeiziehenden Schiffer derart umgarnt, dass sie auf Grund zu laufen drohen. Da wünscht man sich rechtzeitig ein paar Leuchtfeuer, Fanale, die die Untiefen markieren. Zur Orientierung, zur Warnung, um nicht völlig abzudriften.