Seine dunkelste Stunde - Myron Bolitar ermittelt - Harlan Coben - E-Book

Seine dunkelste Stunde - Myron Bolitar ermittelt E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Dreizehn Jahre ist es her, dass Myron Bolitar – Ex-Basketballstar, Sportagent und zudem Privatdetektiv im Nebenberuf – seine College-Liebe Emily einen anderen heiraten sah. Um so schockierter ist er nun, als Emily wieder auftaucht und behauptet, dass Myron der Vater ihres dreizehnjährigen Sohnes Jeremy sei. Doch für lange Diskussionen bleibt keine Zeit. Denn Jeremy ist lebensbedrohlich erkrankt, und der einzige Mensch, der ihm helfen kann, ist spurlos verschwunden. Bolitar soll ihn aufspüren. Eine Suche, die ihn unversehens die längst verwischte Fährte eines Serienkillers kreuzen lässt – und bei der Bolitar mehr als eine Grenze überschreitet ...

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Seitenzahl: 462

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Buch

Lange Jahre hat der Sportagent und Privatdetektiv Myron Bolitar nichts mehr von seiner ersten großen Liebe Emily gehört. Seit sie einen anderen heiratete und er beschloss, dieses durchaus bewegte und nicht immer einfache Kapitel seines Lebens hinter sich zu lassen. Doch das Schicksal hat anderes mit ihm vor. Denn jetzt, über ein Jahrzehnt später, steht Emily wieder vor seiner Tür, und das mit einer zutiefst erschütternden Nachricht: Bolitar sei nicht nur der eigentliche Vater ihres dreizehnjährigen Sohnes Jeremy – er droht diesen neu gefundenen Sohn auch gleich wieder zu verlieren. Denn Jeremy ist schwer krank und benötigt dringend eine Knochenmarkspende. Doch der einzig kompatible Spender ist spurlos verschwunden. Verzweifelt bittet Emily Bolitar um Hilfe.

Bolitar zweifelt, ob er Emilys überraschenden Enthüllungen über seine Vaterschaft Glauben schenken soll; nichtsdestotrotz macht er sich um Jeremys willen auf die Suche nach dem Spender, dessen vorgebliche Identität sich bald als mysteriöses Verwirrspiel entpuppt. Als dann ein geheimnisvoller nächtlicher Anruf Myron auf die Spur eines alten Serienkillerfalls bringt, werden die Ermittlungen immer rätselhafter – und gefährlicher …

Weitere Informationen zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Harlan Coben

Seine dunkelste Stunde

Myron Bolitar ermittelt

Thriller

Deutsch von Gunnar Kwisinski und Friedo Leschke

Die Originalausgabe erschien 2000

unter dem Titel »Darkest Fear« bei Delacorte Press, an imprint of

The Random House Publishing Group, a division of

Random House, Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe Februar 2018

Copyright © der Originalausgabe 2000 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anja Lademacher

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Richard Shepherd / arcangel images

TH · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-17848-2V002

www.goldmann-verlag.de

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Wenn ein Vater seinem Sohn helfen kann, lachen beide. Wenn ein Sohn seinem Vater helfen muss, weinen beide.

Jüdisches Sprichwort

Für Ihren Vater. Und für meinen.

»Wovor haben sie am meisten Angst?«, flüsterte die Stimme. »Schließen Sie die Augen, und stellen Sie es sich vor. Sehen Sie es? Spüren Sie es? Das schlimmste Leid, das Sie sich vorstellen können?«

Nach einer langen Pause sagte ich: »Ja.«

»Gut. Nun stellen Sie sich etwas Schlimmeres vor. Etwas sehr viel Schlimmeres …«

»Der Geist des Schreckens« von Stan Gibbs.

New York Herald, 16. Januar

1

Eine Stunde bevor seine Welt zerplatzte wie eine reife Tomate unter einem Stöckelabsatz, biss Myron in eine frische Pastete, die verdächtig nach einem Klostein schmeckte.

»Und?«, erkundigte sich seine Mutter.

Myron kämpfte gegen den Würgereiz an, errang einen knappen Sieg und schluckte. »Nicht schlecht.«

Mom schüttelte enttäuscht den Kopf.

»Was ist?«

»Ich bin Anwältin«, sagte Mom. »Ich hatte gehofft, dass ich dich zu einem besseren Lügner erzogen hätte.«

»Du hast dein Bestes gegeben«, sagte Myron.

Sie zuckte die Achseln und deutete auf die, äh, Pastete. »Ich hab zum ersten Mal selbst gebacken, Bubbele. Da ist es schon in Ordnung, wenn du mir die Wahrheit sagst.«

»Es ist, als würde man in einen Klostein beißen«, sagte Myron.

»Einen was?«

»Auf Herrentoiletten. In den Pinkelbecken. Die liegen da drin, damit es nicht so stinkt.«

»Und du isst die?«

»Nein …«

»Braucht dein Vater deshalb immer so lange? Gönnt er sich eine kleine Leckerei? Und ich dachte, es wäre die Prostata.«

»Ich hab einen Witz gemacht, Mom.«

Das Lächeln in ihrem Gesicht breitete sich aus und erfasste auch ihre blauen Augen, die rot unterlaufen waren, obwohl sie Augentropfen benutzt hatte. Nur langes, anhaltendes Weinen konnte die Augen so hartnäckig rot färben. Normalerweise war Mom eine großartige Schauspielerin. Sie weinte nicht lange und anhaltend. »Ich auch, du Schlaumeier. Du hältst dich wohl für den Einzigen in der Familie mit Sinn für Humor?«

Myron schwieg. Er sah hinunter auf die, äh, Pastete, befürchtete – oder hoffte? –, sie würde wegkriechen. In den mehr als dreißig Jahren, in denen seine Mutter in diesem Haus lebte, hatte sie nie gebacken – nicht nach Rezept, nicht mit Backmischungen, nicht einmal diese Pillsbury-Knack-und-Back-Croissants aus den kleinen Versandrollen. Ohne ausführliche Anleitung konnte sie kaum Wasser kochen, und sie hatte auch so gut wie nie auf eine andere Weise Speisen zubereitet, auch wenn sie eine unglaubliche Celeste-Tiefkühlpizza zaubern konnte, wobei ihre flinken Finger über die Zifferntasten der Mikrowelle tanzten wie Nurejew durchs Lincoln Center. Nein, im Haushalt der Bolitars war die Küche eher ein Versammlungsort – gewissermaßen ein Wohnzimmer light – als ein Raum, in dem die Kochkunst beheimatet war. Auf dem runden Tisch lagen Zeitschriften, Kataloge und schmutzige weiße Kartons von chinesischen Take-away-Restaurants. Auf der Herdplatte passierte weniger als in einem Merchant-Ivory-Spielfilm. Der Herd war eine Requisite, ein reines Showelement, wie die Bibel bei Politikern.

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Sie saßen im Wohnzimmer mit der in die Jahre gekommenen weißen Schlafcouch aus Kunstleder und dem blassblauen Läufer, dessen zottelige Oberfläche Myron an einen Klodeckelbezug erinnerte. Immer wieder warf Myron verstohlene Blicke aus dem Panoramafenster auf das Zu-verkaufen-Schild im Vorgarten, als wäre es ein Raumschiff, das gerade gelandet war und dem jeden Moment ein bösartiges Wesen entsteigen konnte.

»Wo ist Dad?«

Sie gestikulierte unbestimmt in Richtung Tür. »Im Keller.«

»In meinem Zimmer?«

»Deinem früheren Zimmer, ja. Schon vergessen, dass du ausgezogen bist?«

Das war er – und zwar im zarten Alter von vierunddreißig Jahren. Erziehungsexperten würden geifern und missbilligende Schnalzlaute ausstoßen: Der verlorene Sohn hatte sich erst auffallend lange nach dem als angemessen erachteten Zeitpunkt entschieden, seinen Kokon mit den zwei Geschossebenen zu verlassen und in die Freiheit aufzubrechen. Aber Myron konnte dagegenhalten, indem er sich darauf berief, dass der Nachwuchs seit Generationen und in den meisten Kulturen bis ins reife Alter im Haus der Familie lebte, dass eine solche Lebensführung einen gesellschaftlichen Trend auslösen und den Menschen in einer Ära der sich auflösenden Kernfamilie Orientierung geben konnte. Und falls diese Argumentation nicht Ihre Zustimmung finden sollte, würde er einfach auf eine andere ausweichen. Er hatte Tausende davon parat.

Doch in Wirklichkeit war es weit einfacher: Es gefiel ihm bei Mom und Dad in der Vorstadt – auch wenn das Eingeständnis solcher Empfindungen in etwa so hip war wie eine 8-Spur-Kassettenaufnahme der Band Air Supply.

»Also, was läuft hier?«, fragte er.

»Dein Vater weiß nicht, dass du schon hier bist«, sagte sie. »Er glaubt, du kommst erst in einer Stunde.«

Myron nickte leicht verwirrt. »Was macht er im Keller?«

»Er hat sich einen Computer gekauft. Damit spielt er da unten rum.«

»Dad?«

»Meine Worte. Der Mann kann ohne Gebrauchsanleitung keine Glühbirne auswechseln – und plötzlich tut er so, als wäre er Bill Gates. Ständig ist er im Nest.«

»Im Netz«, korrigierte Myron.

»Im was?«

»Es heißt das Netz, Mom.«

»Ich dachte, das heißt Nest. Von Vogelnest oder so.«

»Nein, es heißt Netz.«

»Bist du sicher? Es hatte doch irgendwas mit einem Vogel zu tun.«

»Nein, das Netz«, wiederholte Myron. »Wie das von der Spinne.«

Sie schnippte mit den Fingern. »Eine Spinne war’s. Jedenfalls ist dein Vater immer dort, knüpft am Netz oder so was. Er plaudert mit Leuten, Myron. Das erzählt er mir jedenfalls. Er plaudert mit vollkommen Fremden. Wie damals beim CB-Funk, da hat er das auch gemacht, weißt du noch?«

Myron erinnerte sich. Etwa 1976. Jüdische Dads in den Vororten hielten Ausschau nach »Abfangjägern« auf ihrem Weg zum Feinkostladen: »Mächtiger Convoy von Cadillac Sevilles. 10–4, OMT.«

»Und das ist noch nicht alles«, fuhr sie fort. »Er schreibt seine Memoiren. Ein Mann, der nicht einmal einen Einkaufszettel schreiben kann, ohne im Stilwörterbuch nachzuschlagen, hält sich für einen Ex-Präsidenten.«

Sie verkauften das Haus. Myron konnte es immer noch nicht fassen. Sein Blick streifte über die nur allzu vertraute Umgebung, blieb an den Fotos über der Treppe hängen. An der Kleidung konnte er ablesen, wie die Familie alterte – Röcke und Koteletten wurden mal kürzer, mal länger, Hippie-Fransen, Wildleder, Batikhemden, Freizeitanzüge und Schlaghosen, Smoking-Hemden mit Rüschenbesatz, die selbst bei einen Casinobesuch in Las Vegas als übertrieben empfunden worden wären – Bild für Bild zogen die Jahre vorbei, wie in einem dieser deprimierenden Lebensversicherungs-Werbespot. Er betrachtete die verschiedenen Posen aus seiner Basketballzeit – der Sechstklässler beim Freiwurf in der Vorortliga, der Achtklässler auf dem Weg zum Korbleger, der Highschool-Schüler beim Slamdunk –, die Reihe endete mit zwei Titelblättern der Sports Illustrated, einem aus seiner Zeit auf der Duke University und einem mit Gipsbein unter der Titelzeile in Großbuchstaben: IST ER AM ENDE? (Vor seinem inneren Auge erschien ein ebenso groß geschriebenes JA!).

»Und wo liegt das Problem?«, fragte er.

»Habe ich etwas von einem Problem gesagt?«

Enttäuscht schüttelte Myron den Kopf. »Für eine Anwältin lügst du ziemlich schlecht.«

»Dann bin ich wohl ein schlechtes Vorbild?«

»Kein Wunder, dass ich es nicht in die Politik geschafft habe.«

Sie legte die Hände in den Schoß. »Wir müssen reden.«

Der Ton gefiel Myron nicht.

»Aber nicht hier«, fügte sie hinzu. »Lass uns um den Block gehen.«

Myron nickte, und sie standen auf. Aber noch bevor sie die Tür erreicht hatten, klingelte sein Handy. Wyatt Earp wäre zusammengezuckt, wenn er gesehen hätte, mit welcher Geschwindigkeit Myron es zog. Er hielt es ans Ohr und räusperte sich.

»MB SportsReps«, sagte er. Seidenweich, professionell.

»Nette Telefonstimme«, sagte Esperanza. »Du klingst wie Billy Dee Williams, wenn er sich zwei Colt 45-Biere bestellt.«

Esperanza Diaz war seine langjährige Assistentin und jetzige Partnerin in der Sportagentur MB SportsReps. (M für Myron, B für Bolitar – falls jemand mitschrieb.)

»Ich hatte auf Lamar gehofft«, sagte er.

»Hat er immer noch nicht angerufen?«

»Nein.«

Er konnte sich Esperanzas Stirnrunzeln gut vorstellen. »Wir stecken hier tief in der Scheiße«, sagte sie.

»Wir stecken nicht in der Scheiße. Wir sind nur gerade etwas kurzatmig, weiter nichts.«

»Etwas kurzatmig«, wiederholte Esperanza. »Wie Pavarotti, wenn er beim Boston Marathon mitlaufen würde.«

»Der war gut«, sagte Myron.

»Danke.«

Lamar Richardson war ein Baseballspieler, ein Shortstop mit gewaltiger Schlagkraft, der gerade mit dem Gold Glove ausgezeichnet worden – und zurzeit Free Agent war. »Free Agent« war ein Begriff, den Sportagenten mit ähnlicher Ehrfurcht aussprachen wie ein Mufti »Allahu Akbar«, denn er bedeutete, dass Lamars Vertrag ausgelaufen war, und er sich einen neuen Verein suchen konnte. Außerdem suchte er einen neuen Agenten, der ihn bei dieser Suche vertrat. Und er hatte seine Liste auf drei Agenturen reduziert: zwei riesige Gesellschaften, deren Bürofläche so groß war, dass darin ein Verbrauchermarkt Platz gefunden hätte, und die bereits erwähnten MB SportsReps, wo sich gerade mal drei Personen den Arsch platt saßen, bei der man aber ach so persönlich betreut wurde. Auf geht’s, Plattärsche!

Myron sah seine Mutter an, die an der Tür stand. Er nahm das Handy ans andere Ohr und fragte: »War sonst noch was?«

»Du errätst niemals, wer angerufen hat«, sagte Esperanza.

»Elle und Claudia fordern eine weitere Ménage-à-trois?«

»Oooh, knapp vorbei.«

Sie würde es ihm nicht einfach verraten. Bei seinen Freunden verwandelte sich alles in ein Fernsehquiz. »Hast du einen Tipp für mich?«, fragte er.

»Eine deiner Ex-Liebhaberinnen.«

Es durchzuckte ihn wie ein Stromschlag. »Jessica.«

Esperanza machte ein Buzzer-Geräusch. »Tut mir leid, das falsche Miststück.«

Myron war verwirrt. Er hatte nur zwei längere Beziehungen gehabt: die letzten dreizehn Jahre, mit Unterbrechungen, Jessica (jetzt herrschte absolute Funkstille). Und davor, tja, da musste man zurückgehen bis zu …

»Emily Downing?«

Esperanza stieß ein Ding-Ding aus.

Schlagartig erschien ein Bild, das sein Herz wie eine Klinge durchbohrte. Er sah Emily auf der abgewetzten Couch im Keller der Studentenverbindung. Sie saß auf ihren angezogenen Beinen und lächelte dieses Lächeln. Sie trug seine Teamjacke, die ein paar Nummern zu groß war, und ließ die Hand sinken, worauf sie im Ärmel verschwand.

Sein Mund wurde trocken. »Was wollte sie?«

»Keine Ahnung. Sie sagte, dass sie dich unbedingt sprechen muss. Du weißt ja, wie sie spricht. Sie haucht alles, als wäre es zweideutig.«

Bei Emily war alles zweideutig.

»Ist sie gut im Bett?«, fragte Esperanza.

Als überaus attraktive Bisexuelle betrachtete Esperanza jeden als potentiellen Sexualpartner. Myron fragte sich, wie das wohl wäre, so viele Möglichkeiten zu haben und immer wieder von Neuem abwägen zu müssen, beschloss dann aber, diesem Gedanken nicht weiter nachzugehen. Weiser Mann.

»Was genau hat Emily gesagt?«, fragte Myron.

»Nichts Eindeutiges. Sie hat nur ein buntes Sortiment an Schlagwörtern gehaucht: dringend, Leben und Tod, ernste Angelegenheit und so weiter.«

»Ich will nicht mit ihr reden.«

»Das dachte ich mir schon. Soll ich sie auflaufen lassen, wenn sie wieder anruft?«

»Bitte.«

»Dann ¡hasta más tarde!«

Als er aufgelegt hatte, stürzte ein zweites Bild auf ihn ein wie eine überraschende Welle am Strand. Aus seinem letzten Jahr auf der Duke. Emily warf seine Teamjacke gleichgültig auf sein Bett und ging. Kurz darauf heiratete sie den Mann, der Myrons Leben ruinieren sollte.

Tiefe, ruhige Atemzüge, dachte er. Einatmen und wieder ausatmen. So ist es richtig.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mom.

»Prima.«

Wieder schüttelte Mom enttäuscht den Kopf.

»Ich lüge nicht«, sagte er.

»Klar, sicher, sowieso. Du atmest schließlich immer wie ein obszöner Anrufer. Hör zu, wenn du deiner Mutter nicht sagen willst …«

»Ich will es meiner Mutter nicht sagen.«

»Die dich großgezogen hat und …«

Myron blendete sie aus, wie er es öfter tat. Sie schweifte wieder einmal ab, nahm eine Rolle aus einem längst vergangenen Leben ein oder so etwas. Das tat sie oft. Gerade war sie noch eine moderne Frau, eine frühe Feministin, die neben Gloria Steinem marschiert war und ein T-Shirt getragen hatte, auf dem stand: »Der Platz einer Frau ist im House … und im Senate«. Doch beim Anblick ihres Sohns fiel der progressive Umhang von ihr ab, und hinter dem verbrannten BH kam das wie eine Babuschka-Puppe gekleidete, geschwätzige Waschweib zum Vorschein.

Immerhin hatte ihm das eine interessante Kindheit beschert.

Sie verließen das Haus. Myron ließ das Zu-verkaufen-Schild nicht aus den Augen, als könnte es plötzlich eine Pistole ziehen. Seine Gedanken schweiften zu einer Szene ab, die er eigentlich nie gesehen hatte. Zu einem sonnigen Tag, als Mom und Dad zum ersten Mal hierhergekommen waren, Hand in Hand, Moms Bauch durch die Schwangerschaft gewölbt. Beide waren ängstlich und aufgeregt gewesen, weil dieser Vier-Zimmer-Fertigbau mit den zwei Geschossebenen das Boot sein sollte, mit dem sie über die Untiefen des Lebens schippern würden, ihre SS American Dream. Jetzt ging diese Reise dem Ende entgegen, ob es einem gefiel oder nicht. Vergessen Sie den Mist, der besagt, wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Das Zu-verkaufen-Schild markierte das Ende – das Ende der Jugend, der »besten Jahre«, der Familie, des Universums zweier Menschen, das hier begonnen hatte. Hier hatten sie gekämpft, ihre Kinder großgezogen, gearbeitet, Fahrgemeinschaften für die Kinder eingerichtet und ihr Leben gelebt.

Sie gingen die Straße hinauf. Blätter häuften sich entlang des Bordsteins, ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Herbst in der Vorstadt Einzug hielt, während Laubbläser die Stille zerteilten wie die Hubschrauber damals über Saigon. Myron blieb auf der Fahrbahnseite, sodass er über die Ränder der Haufen steigen musste. Die trockenen Blätter knisterten unter seinen Sneakers, was ihm gefiel. Warum, wusste er nicht.

»Hat dein Vater mit dir gesprochen«, fragte Mom. »Über das, was ihm passiert ist?«

Myron spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er stapfte jetzt durch tiefere Blätterhaufen, hob die Füße hoch und zertrat sie mit lautem Knistern. »Ja.«

»Was genau hat er gesagt?«, fragte Mom.

»Dass er Schmerzen in der Brust hatte, als ich in der Karibik war.«

Das Haus der Kaufmans war immer gelb gewesen, doch die neuen Besitzer hatten es weiß gestrichen. Es sah falsch aus, unpassend. Einige Häuser waren mit Aluminiumverkleidungen versehen worden, während andere Anbauten bekommen hatten, um Küchen oder Elternschlafzimmer zu vergrößern. Die junge Familie, die ins Haus der Millers gezogen war, hatte das Markenzeichen der Millers, die überbordenden Blumenkästen, abgeschafft. Die Käufer des Davis-Grundstücks hatten die wunderschönen Sträucher entfernt, die Bob Davis fast jedes Wochenende geschnitten hatte. Myron kam es fast so vor, als würde eine Invasionsarmee die Flaggen der Besiegten herunterreißen.

»Er wollte dir gar nichts erzählen«, sagte Mom. »Du kennst deinen Vater. Er denkt immer noch, dass er dich beschützen muss.«

Myron nickte, stapfte weiter durch die Blätter.

Dann sagte sie: »Es waren mehr als Brustschmerzen.«

Myron blieb stehen.

»Es war ein echter Herzinfarkt«, fuhr sie fort, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Er lag drei Tage auf der Intensivstation.« Sie blinzelte. »Die Arterien waren fast vollständig verstopft.«

Myron hatte einen Kloß im Hals.

»Seitdem hat er sich verändert. Ich weiß, wie sehr du ihn liebst, aber du musst das akzeptieren.«

»Was akzeptieren?«

Ihre Stimme war behutsam und bestimmt. »Dass dein Vater älter wird. Und ich auch.«

Er überlegte. »Ich werd’s versuchen«, sagte er.

»Aber?«

»Aber wenn ich das Zu-verkaufen-Schild sehe …«

»Holz, Steine und Nägel, Myron.«

»Was?«

Sie watete durch die Blätter und ergriff seinen Ellbogen. »Hör mir zu. Du bläst hier Trübsal, als würden wir Schiv’a sitzen, als wäre einer von uns gestorben. Aber dieses Haus ist nicht deine Kindheit. Es ist nicht Teil der Familie. Es sind nur Holz, Steine und Nägel.«

»Du hast hier fast fünfunddreißig Jahre gelebt.«

»Und?«

Er wandte sich ab und ging weiter.

»Dein Vater wollte ehrlich zu dir sein«, sagte sie, »aber du machst es ihm nicht leicht.«

»Warum? Was habe ich getan?«

Sie schüttelte den Kopf, blickte zum Himmel hinauf, als suche sie nach göttlicher Inspiration und ging dann weiter. Myron blieb an ihrer Seite. Sie schob ihren Arm unter seinen Ellbogen und lehnte sich an ihn.

»Du bist immer ein toller Sportler gewesen«, sagte sie. »Anders als dein Vater. Ehrlich gesagt war dein Vater ein ziemlicher Spast.«

»Ich weiß«, sagte Myron.

»Genau. Du weißt das, weil dein Vater nie vorgegeben hat, etwas zu sein, was er nicht ist. Er hat sich dir als Mensch gezeigt – mit all seinen Verletzlichkeiten. Und das hatte eine eigenartige Wirkung auf dich. Du hast ihn noch mehr verehrt. Du hast ihn zu einer beinahe mythischen Gestalt erhoben.«

Myron überlegte kurz, widersprach aber nicht. Er zuckte die Achseln und sagte: »Ich liebe ihn.«

»Ich weiß, mein Schatz. Aber er ist nur ein Mensch. Ein guter Mensch. Aber jetzt wird er alt, und er hat Angst. Dein Vater wollte, dass du ihn als Menschen siehst. Aber er wollte nicht, dass du seine Angst siehst.«

Myron senkte den Kopf. Es gibt bestimmte Dinge, die man sich bei seinen Eltern nicht ausmalen kann – Sex ist das klassische Beispiel. Die meisten Menschen können sich ihre Eltern nicht beim Liebesakt vorstellen – sie würden sich sogar strikt weigern, das zu versuchen. Und in diesem Moment versuchte Myron, ein anderes Bild heraufzubeschwören, das ebenso tabuisiert war: sein Vater, der verängstigt und allein in der Dunkelheit sitzt, die Hand auf die Brust gepresst. Und solange er es aushielt, war dieses Bild fast unerträglich schmerzhaft. Als er dann wieder etwas sagte, war seine Stimme belegt: »Und was soll ich jetzt tun?«

»Du sollst die Veränderungen akzeptieren. Dein Vater setzt sich zur Ruhe. Er hat sein Leben lang gearbeitet. Und wie bei den meisten dämlichen Machos dieser Generation hängt sein Selbstwertgefühl an der Arbeit. Er macht also eine schwere Zeit durch. Er ist nicht mehr derselbe. Du bist nicht mehr derselbe. Eure Beziehung verändert sich. Und ihr mögt beide keine Veränderungen.«

Myron sagte nichts und wartete.

»Komm ihm ein bisschen entgegen«, sagte Mom. »Er hat dich dein Leben lang unterstützt. Er wird dich nicht darum bitten, aber jetzt ist er an der Reihe.«

Als sie um die letzte Ecke bogen, sah Myron den Mercedes vor dem Zu-verkaufen-Schild. Er überlegte kurz, ob es ein Makler war, der Käufern das Haus zeigen wollte. Sein Vater stand im Vorgarten und unterhielt sich mit einer Frau. Dabei gestikulierte er wild und lächelte. Als Myron seinem Vater ins Gesicht sah – die raue Haut betrachtete, die immer eine Rasur zu brauchen schien, die vorstehende Nase, mit der Dad ihm bei ihren kichernden Rangeleien immer Nasenstüber gegeben hatte, die Augen mit den schweren Lidern, wie bei Victor Mature oder Dean Martin, die dünnen grauen Haare, die sich hartnäckig hielten, nachdem die dicken schwarzen verschwunden waren – spürte Myron ein leichtes Zwicken in seinem Herzen.

Dad erblickte ihn und winkte. »Guck mal, wer vorbeigekommen ist«, rief er.

Emily Downing drehte sich um und lächelte ihm kurz zu. Myron sah sie an und sagte nichts. Fünfzig Minuten waren vergangen. Es sollte noch zehn weitere dauern, bis der Stöckelschuh die Tomate zerquetschte.

2

Zu viel Geschichte.

Seine Eltern verdrückten sich. Trotz ihrer fast schon legendären Neigung sich einzumischen, hatten sie die verblüffende Fähigkeit, mit langen Schritten das Minenfeld der Neugierde zu überqueren, ohne dass durch ihr Verhalten eine Explosion ausgelöst wurde. Sie verschwanden leise ins Haus.

Wieder versuchte Emily zu lächeln, aber es gelang ihr einfach nicht. »Nun denn«, sagte sie, als sie allein waren. »Wenn das mal nicht der Gute ist, den ich mir habe entgehen lassen.«

»Das hast du schon beim letzten Mal gesagt, als wir uns gesehen haben.«

»Wirklich?«

Sie hatten sich in ihrem ersten Semester an der Duke in der Universitätsbibliothek kennengelernt. Emily war damals etwas fülliger und rundlicher gewesen, was ihr allerdings gut gestanden hatte. Im Lauf der Jahre war sie auf jeden Fall schlanker und muskulöser geworden, was ihr wiederum auch gut stand. Ihr Anblick traf einen immer noch wie ein Schlag. Emily war nicht so sehr hübsch, sondern, um es mit den Worten aus Super Fly zu sagen »foxy«. Heiß. Und zwar glühend heiß. Als junge Studentin hatte sie lange krause Haare gehabt, die immer auf diese Hab’s-grad-getrieben-Art zerzaust waren, ein verwegenes Lächeln, das einem Film die Freigabe ab sechzehn kosten konnte, und einen wie von selbst wogenden Körper, auf dem, wie bei einem alten Filmprojektor, unablässig das Wort Sex aufflackerte. Dass sie nicht schön war, spielte keine Rolle. Schönheit hatte damit eigentlich nichts zu tun. Es war angeboren – Emily hätte es selbst dann nicht abstellen können, wenn sie sich in einen weiten Umhang gehüllt und ein überfahrenes Tier auf den Kopf gelegt hätte.

Das Verrückte war, dass sie beide damals noch Jungfrauen gewesen waren, irgendwie hatten sie die vielleicht auch etwas übertrieben dargestellte sexuelle Revolution der siebziger und frühen achtziger Jahre verpasst. Myron hatte schon immer geglaubt, dass diese vermeintliche Revolution eigentlich nur ein Hype gewesen und auf keinen Fall bis hinter die Backsteinfassaden der Vorort-Highschools vorgedrungen war. Aber er war ja auch ziemlich gut darin, sich Rechtfertigungen zu konstruieren. Wahrscheinlich war es sein Fehler gewesen – sofern man die Entscheidung gegen Promiskuität einen Fehler nennen konnte. Eigentlich hatte er sich immer zu den »netten« Mädchen hingezogen gefühlt, sogar in der Highschool. Gelegenheitssex hatte ihn nie interessiert. Jedes Mädchen, das er kennenlernte, wurde als potentielle Lebenspartnerin taxiert, als eine Seelenverwandte, eine unsterbliche Liebe, als wäre für ihn jede Beziehung ein Song der Carpenters.

Doch mit Emily war er auf eine vollständige sexuelle Forschungs- und Entdeckungsreise gegangen. Sie hatten in holprigen, aber schmerzlich schönen Schritten voneinander gelernt. Selbst jetzt, sosehr er sie auch hasste, spürte er die Spannung, erinnerte sich noch daran, wie seine Nervenenden surrten und in Schwingungen gerieten, wenn sie zusammen im Bett waren. Oder auf dem Autorücksitz. Oder im Kino, in einer Bibliothek oder – einmal – sogar in einer Politikvorlesung über Hobbes’ Leviathan. Während er sich womöglich danach sehnte, wie in einem Carpenters-Song zu leben, entwickelte sich seine erste längere Beziehung eher wie etwas aus Meat Loafs Album Bat Out of Hell – heiß, drückend, verschwitzt, schnell, das ganze »Paradise by the Dashboard Light«.

Aber irgendwie war es doch mehr gewesen. Emily und er blieben drei Jahre zusammen. Er hatte sie geliebt, und sie war die Erste gewesen, die ihm das Herz gebrochen hatte.

»Gibt’s ein Café in der Nähe?«

»Ein Starbucks«, sagte Myron.

»Ich fahr.«

»Ich will nicht mit dir mitfahren, Emily.«

Sie lächelte. »Mir ist wohl mein Charme abhandengekommen?«

»Der wirkt bei mir schon lange nicht mehr.« Eine halbe Notlüge.

Ihre Hüfte bewegte sich, als sie das Gewicht aufs andere Bein verlagerte. Als Myron das sah, musste er an Esperanzas Worte denken. Es waren nicht nur ihre Stimme oder ihre Worte – sogar ihre Bewegungen waren zweideutig. »Es ist wichtig, Myron.«

»Für mich nicht.«

»Du weißt doch noch nicht einmal …«

»Das spielt keine Rolle, Emily. Du bist Vergangenheit. Genau wie dein Mann …«

»Mein Ex-Mann. Wir sind geschieden, weißt du noch? Außerdem hab ich nie verstanden, was er dir eigentlich getan hat.«

»Genau«, sagte Myron. »Du warst nur der Grund.«

Sie sah ihn an. »So einfach ist das nicht. Das weißt du ganz genau.«

Er nickte. Sie hatte natürlich recht. »Mir war immer klar, warum ich es getan habe«, sagte Myron. »Ich war ein in jeder Beziehung ehrgeiziger Vollpfosten, der Greg eins auswischen wollte. Aber was hast du damit bezweckt?«

Emily schüttelte den Kopf. Früher wären ihre Haare bei dieser Bewegung nach rechts und links geflogen und hätten schließlich die Hälfte ihres Gesichts bedeckt. Ihre neue Frisur war kürzer und modischer, aber vor seinem inneren Auge sah er die krausen Haare aufreizend herumfliegen. »Das spielt keine Rolle mehr«, sagte sie.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte er, »ich wollte es aber schon immer wissen.«

»Wir hatten einfach zu viel getrunken.«

»So banal?«

»Ja.«

Myron verzog das Gesicht. »Schwach«, sagte er.

»Vielleicht ging es mir nur um den Sex«, sagte sie.

»Ein rein körperlicher Akt?«

»Möglich.«

»Am Abend bevor du einen anderen geheiratet hast?«

Sie sah ihn an. »Das war dumm, okay?«

»Wenn du das sagst.«

»Und vielleicht hatte ich auch Angst«, sagte sie.

»Vor der Hochzeit?«

»Davor, den falschen Mann zu heiraten.«

Myron schüttelte den Kopf. »Mein Gott, bist du schamlos.« Emily wollte mehr sagen, aber sie brach ab, als wären ihre letzten Reserven plötzlich aufgebraucht. Er wollte, dass sie verschwand, aber zwischen Ex-Liebhabern bestand immer diese von Trauer getränkte Anziehung. Vor einem lag ein Weg, den man nicht eingeschlagen hatte, ein ewiges Was-wäre-wenn, die Verkörperung eines vollkommen anderen Lebens, wenn nur ein paar Dinge etwas anders gelaufen wären. Er hatte absolut kein Interesse mehr an ihr, trotzdem brachten ihre Worte sein altes Ich zum Vorschein, einschließlich der alten Verletzungen und allem, was noch dazugehörte.

»Das ist vierzehn Jahre her«, sagte sie leise. »Meinst du nicht, dass es Zeit ist, nach vorn zu schauen?«

Er dachte daran, was dieser »rein körperliche Akt« ihn gekostet hatte. Wahrscheinlich alles. Seinen Lebenstraum auf alle Fälle. »Du hast recht«, sagte er und wandte sich ab. »Geh bitte.«

»Ich brauche deine Hilfe.«

Er schüttelte den Kopf. »Wie du schon sagtest, ist es Zeit, nach vorn zu schauen.«

»Lass uns einen Kaffee trinken. Als alte Freunde.«

Er wollte ablehnen, doch der Sog der Vergangenheit war zu stark. Er nickte, hatte Angst zu sprechen. Sie fuhren schweigend zum Starbucks und bestellten ihre komplizierten Kaffees bei einem Barista, der sich wie ein Künstler aufführte und arroganter auftrat als der Typ aus dem örtlichen Schallplattenladen. Sie fügten verschiedene Zutaten an dem kleinen Stand hinzu, spielten eine Runde Twister, als sie aneinander vorbei nach der fettarmen Milch und dem Süßstoff griffen. Dann setzten sie sich auf Metallstühle mit zu niedrigen Rückenlehnen. Aus der Anlage ertönte Reggae, eine CD namens Jamaican Me Crazy.

Emily schlug die Beine übereinander und trank einen Schluck. »Hast du je etwas von der Fanconi-Anämie gehört?«

Interessante Gesprächseröffnung. »Nein.«

»Das ist eine genetisch bedingte Blutarmut, die zu Knochenmarkschwund führt. Sie schwächt die Chromosomen.«

Myron wartete.

»Weißt du, was eine Knochenmarktransplantation ist?«

Es waren seltsame Fragen, Myron beschloss aber, erst einmal mitzumachen. »So halbwegs. Ein Freund von mir hatte Leukämie und brauchte eine Knochenmarktransplantation. Die Synagoge hat dann eine Spenderaktion veranstaltet. Wir haben dort alle Blutproben abgegeben.«

»Wenn du ›alle‹ sagst, meinst du was?«

»Mom, Dad, meine ganze Familie. Ich glaube, Win auch.«

Sie neigte den Kopf. »Wie geht’s Win?«

»Wie immer.«

»Das tut mir leid für ihn«, sagte sie. »Als wir auf der Duke waren, hat er uns immer beim Sex belauscht, oder?«

»Nur wenn die Rollläden unten waren, und er nicht zugucken konnte.«

Sie lachte. »Er hat mich nie gemocht.«

»Du warst sein Liebling.«

»Wirklich?«

»Das hat nicht viel zu sagen«, sagte Myron.

»Er hasst Frauen, oder?«

Myron überlegte. »Als Sexobjekte findet er sie prima. Aber wenn es um Beziehungen geht …«

»Ein komischer Vogel.«

Wenn sie wüsste.

Wieder trank Emily einen Schluck. »Ich versuche, Zeit zu gewinnen«, sagte sie.

»Das dachte ich mir schon.«

»Was ist aus deinem Freund mit der Leukämie geworden?«

»Er ist gestorben.«

Sie wurde blass. »Das tut mir leid. Wie alt war er?«

»Vierunddreißig.«

Emily trank noch einen Schluck, umklammerte den Becher mit beiden Händen. »Also stehst du im Zentralen Knochenmarkspender-Register?«

»Davon gehe ich aus. Sie haben mir Blut abgenommen und einen Spenderausweis gegeben.«

Sie schloss die Augen.

»Was ist?«, fragte er.

»Die Fanconi-Anämie verläuft tödlich. Man kann sie eine Weile mit Bluttransfusionen und Hormonen behandeln, aber die einzige Chance auf Heilung besteht in einer Knochenmarktransplantation.«

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst, Emily. Hast du diese Krankheit?«

»Erwachsene sind davon nicht betroffen.« Sie stellte ihren Kaffee ab und sah ihn an. Er war nicht gut darin, Gesichter oder Augen zu lesen, aber ihr Schmerz leuchtete ihm entgegen wie ein Neonlicht. »Kinder bekommen sie.«

Wie auf ein Stichwort wechselte die Musik im Starbucks zu einem traurigen Instrumentalstück. Myron wartete. Es dauerte nicht lange.

»Mein Sohn hat es.«

Myron erinnerte sich an einen Besuch im Haus in Franklin Lakes als Greg verschwunden war, der Junge hatte im Garten mit seiner Schwester gespielt. Das musste so etwa zwei oder drei Jahre her sein. Er war ungefähr zehn gewesen, seine Schwester ungefähr acht. Greg und Emily befanden sich mitten in einem blutigen Sorgerechtsstreit, bei dem beide keine Gefangenen machten. Auch die beiden Kinder gerieten ins Kreuzfeuer, das so heftig war, dass niemand ohne ernsthafte Verletzungen davonkam.

»Das tut mir leid«, sagte er.

»Wir müssen einen passenden Knochenmarkspender finden.«

»Ich dachte, Geschwister passen so gut wie immer.«

Ihr Blick irrte im Raum umher. »Eine Chance von eins zu vier«, sagte sie, brach dann aber sofort ab.

»Oh.«

»Das Zentrale Knochenmarkspender-Register hat nur drei potentielle Spender gefunden. Mit potentiell meine ich, dass die ersten HLA-Typisierungen sie als Möglichkeit ausgewiesen haben. HLA-A und B stimmen überein, aber dann müssen sie eine komplette Blut- und Gewebeuntersuchung durchführen, um zu sehen …« Wieder stockte sie. »Ich werde technisch, das wollte ich nicht. Aber wenn das eigene Kind so krank ist, lebt man in einer Schneekugel aus Medizinersprache.«

»Das verstehe ich.«

»Jedenfalls ist es, als hätte man fünf Richtige im Lotto, wenn man über das Erst-Screening hinauskommt. Die Chance auf den Hauptgewinn ist immer noch gering. Das Blutspendezentrum bestellt den potentiellen Spender zu sich und führt eine Reihe weiterer Tests durch, aber die Chancen, dass es einen wirklich passenden Treffer gibt, um die Transplantation durchzuführen, stehen immer noch ziemlich schlecht, vor allem, wenn es nur drei mögliche Spender gibt.«

Myron nickte und hatte immer noch nicht die geringste Ahnung, warum sie ihm das alles erzählte.

»Wir hatten Glück«, sagte sie. »Einer der drei passte zu Jeremy.«

»Wunderbar.«

»Es gibt allerdings ein Problem«, sagte sie. Wieder das schiefe Lächeln. »Der Spender wird vermisst.«

»Was meinst du mit vermisst?«

»Weitere Einzelheiten kenne ich nicht. Das Register behandelt alles vertraulich. Mir sagt niemand, was los ist. Wir schienen auf einem guten Weg zu sein, und dann ist plötzlich der Spender ausgefallen. Mein Arzt kann mir nichts sagen – die Daten sind so vertraulich, dass er selbst nichts darüber weiß.«

»Vielleicht hat der Spender einfach seine Meinung geändert.«

»Dann sollten wir ihn schleunigst wieder vom Gegenteil überzeugen«, sagte sie, »oder Jeremy stirbt.«

Das war deutlich.

»Und was ist da deiner Ansicht nach passiert?«, fragte Myron. »Du glaubst also, dass er vermisst wird oder so etwas?«

»Er oder sie«, sagte Emily. »Ja.«

»Er oder sie?«

»Ich weiß gar nichts über die Spender – Alter, Geschlecht, wo sie leben, nichts. Aber Jeremy geht es immer schlechter, und die Chance, rechtzeitig einen anderen Spender zu finden, ist praktisch, tja, nicht existent.« Ihre Miene blieb ungerührt, aber Myron sah, wie die Fassade langsam zu bröckeln begann. »Wir müssen diesen Spender finden.«

»Und darum bist du zu mir gekommen? Um ihn zu finden?«

»Win und du, ihr habt Greg gefunden, obwohl niemand sonst dazu in der Lage war. Und Clip ist zuerst zu dir gekommen. Warum?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»So lang ist sie gar nicht, Myron. Ihr beiden, du und Win, habt Erfahrung in solchen Dingen. Ihr seid gut darin.«

»Nicht in einem solchen Fall«, sagte Myron. »Greg ist ein bekannter Sportler. Er kann das in die Medien bringen, Belohnungen aussetzen. Er kann Privatdetektive anheuern.«

»Das haben wir alles schon getan. Greg hat morgen eine Pressekonferenz angesetzt.«

»Und?«

»Und es wird nicht funktionieren. Ich habe Jeremys Arzt gesagt, dass wir dem Spender jede Summe zahlen würden, auch wenn das illegal ist. Aber da läuft irgendwas anderes falsch. Ich befürchte sogar, dass die ganze Publicity nach hinten losgeht – dass der Spender dadurch nur noch weiter in sein Versteck getrieben wird.«

»Was sagt Greg dazu?«

»Wir reden nicht viel miteinander, Myron. Und wenn, dann läuft es meist nicht sehr freundlich ab.«

»Weiß Greg, dass du mit mir sprichst?«

Sie sah ihn an. »Er hasst dich ebenso sehr wie du ihn. Vielleicht sogar noch mehr.«

Myron beschloss, das als Nein zu deuten. Emily sah ihn weiter an, als suchte sie in seinem Gesicht nach einer Antwort.

»Ich kann dir nicht helfen, Emily.«

Sie sah aus, als hätte er sie gerade geohrfeigt.

»Ich fühle mit dir«, fuhr er fort, »aber ich muss gerade ein paar eigene Probleme lösen.«

»Willst du sagen, dass du keine Zeit hast?«

»Das ist es nicht. Ein Privatdetektiv wäre einfach eine bessere Wahl …«

»Greg hat schon vier verpflichtet. Sie haben nicht einmal den Namen des Spenders herausbekommen.«

»Ich bezweifle, dass ich es besser könnte.«

»Es geht um das Leben meines Sohnes, Myron.«

»Das ist mir klar, Emily.«

»Kannst du deine Abneigung gegen mich und Greg nicht mal kurz vergessen?«

Er wusste nicht recht, ob er das konnte. »Darum geht es nicht. Ich bin Sportagent und kein Detektiv.«

»Das hat dich noch nie gestört.«

»Und guck dir an, was dabei rausgekommen ist. Immer wenn ich mich einmische, führt das zu einer Katastrophe.«

»Mein Sohn ist dreizehn Jahre alt, Myron.«

»Es tut mir leid …«

»Ich will dein Mitleid nicht, verdammt nochmal.« Ihre Augen waren jetzt kleiner, schwarz. Sie beugte sich zu ihm vor, bis ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. »Ich will, dass du nachrechnest.«

Er sah verwirrt aus. »Was?«

»Du bist Agent. Du kennst dich mit Zahlen aus? Also rechne nach.«

Myron lehnte sich zurück, schaffte so ein wenig Abstand. »Wovon zum Teufel redest du da?«

»Jeremys Geburtstag ist der achtzehnte Juli«, sagte sie. »Rechne nach.«

»Was soll ich rechnen?«

»Noch einmal: Er ist dreizehn Jahre alt. Er wurde am achtzehnten Juli geboren. Ich habe am zehnten Oktober geheiratet.«

Nichts. Einige Sekunden lang hörte er Mütter miteinander tratschen, ein Baby schreien, einen Barista dem anderen eine Bestellung zurufen, und dann geschah es. Ein kalter Hauch wehte durch Myrons Herz. Stahlbänder wickelten sich um seine Brust, sodass er kaum noch atmen konnte. Er öffnete den Mund, aber kein Wort kam über seine Lippen. Es war, als hätte ihm jemand einen Baseballschläger in den Solarplexus gerammt. Emily sah ihn an und nickte.

»Genau«, sagte sie. »Er ist dein Sohn.«

3

»Du kannst dir da nicht sicher sein«, sagte Myron.

Emilys ganze Erscheinung schrie Erschöpfung. »Doch, das kann ich.«

»Du hast aber auch mit Greg geschlafen?«

»Ja.«

»Und in der Zeit waren wir nur dieses eine Mal zusammen. Mit Greg warst du bestimmt zig Mal im Bett.«

»Das stimmt.«

»Wie kannst du dann wissen …«

»Verleugnung«, unterbrach sie ihn mit einem Seufzer. »Der erste Schritt der Bewältigung.«

Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Komm mir nicht mit diesem Mist aus dem Psychologiegrundkurs, Emily.«

»Schneller Übergang zum Zorn«, fuhr sie fort.

»Du kannst unmöglich wissen …«

»Ich habe es immer gewusst«, unterbrach sie ihn.

Myron lehnte sich zurück. Er blieb gelassen, spürte aber fast körperlich, wie der Riss sich weitete und das Fundament seiner Abwehr ins Wanken geriet.

»Als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin, habe ich wie du gedacht: Ich hatte viel öfter mit Greg geschlafen, also war das Baby wahrscheinlich von ihm. Das habe ich mir zumindest eingeredet.« Sie schloss die Augen. Myron sagte nichts, der Knoten in seinem Magen zog sich weiter zu. »Und als Jeremy auf die Welt kam, sah er mir ähnlich, das brachte mich also auch nicht weiter. Aber – und das wird jetzt verdammt blöd klingen – eine Mutter weiß so etwas. Ich kann dir nicht sagen, warum. Aber ich wusste es sofort. Auch ich habe versucht, es zu verleugnen. Ich habe mir gesagt, dass es nur auf meinen Schuldgefühlen beruht, wegen dem, was wir getan hatten, und dass Gott mich so strafen wollte.«

»Ist das nicht etwas alttestamentarisch?«, fragte Myron.

»Ironie«, sagte sie und lächelte blass. »Deine Lieblingsverteidigungsstrategie.«

»Deine mütterliche Intuition wird kaum als Beweis zählen, Emily.«

»Du hast vorhin nach Sara gefragt.«

»Sara?«

»Jeremys Schwester. Du hast gefragt, ob sie als Spenderin infrage käme. Das kommt sie nicht.«

»Genau, aber du sagtest, dass es nur eine Chance von eins zu vier bei Geschwistern gibt.«

»Ja, bei Vollgeschwistern. Sie lagen aber viel weiter auseinander. Weil Sara nur Jeremys Halbschwester ist.«

»Hat der Arzt das gesagt?«

»Ja.«

Myron spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. »Und … weiß Greg davon?«

Emily schüttelte den Kopf. »Der Arzt hat mich zur Seite genommen. Wegen der Scheidung liegt das Sorgerecht in erster Linie bei mir. Greg ist auch beteiligt, aber da die Kinder bei mir leben, bin ich für medizinische Entscheidungen verantwortlich.«

»Also glaubt Greg immer noch …«

»Dass Jeremy sein Sohn ist, ja.«

Myron strampelte im tiefen Wasser, ohne dass Land in Sicht war. »Aber du hast doch gesagt, du hättest es schon immer gewusst.«

»Stimmt.«

»Warum hast du es ihm nie erzählt?«

»Soll das ein Witz sein? Ich war mit Greg verheiratet. Ich habe ihn geliebt. Wir standen am Beginn unseres gemeinsamen Lebens.«

»Aber mir hättest du es sagen müssen.«

»Wann, Myron? Wann hätte ich es dir sagen sollen?«

»Sobald das Baby auf der Welt war.«

»Hast du nicht zugehört? Ich habe dir doch gerade erzählt, dass ich nicht sicher war.«

»Eine Mutter weiß das, hast du gesagt.«

»Komm schon, Myron. Ich war in Greg verliebt, nicht in dich. Du mit deinen altbackenen Moralvorstellungen – du hättest wahrscheinlich darauf bestanden, dass ich mich von Greg scheiden lasse, dich heirate und mit dir in deine vorstädtische Traumwelt ziehe.«

»Also hast du beschlossen, eine Lüge zu leben?«

»Nach meinem damaligen Wissensstand war es die richtige Entscheidung. Im Nachhinein …«, sie hielt inne, trank einen großen Schluck, »… würde ich vermutlich einiges anders machen.«

Er versuchte, das Ganze etwas sacken zu lassen, es gelang ihm aber nicht. Eine weitere Gruppe Fußballmoms mit Sportkinderwagen kam ins Café. Sie setzten sich an einen Ecktisch und fingen an, über die kleinen Brittanys, Kyles und Morgans zu schnattern.

»Wie lange lebt ihr schon getrennt, Greg und du?« Myrons Stimme klang schärfer, als er beabsichtigt hatte. Oder auch nicht.

»Seit vier Jahren.«

»Und da warst du nicht mehr in ihn verliebt? Vor vier Jahren?«

»Richtig.«

»Eigentlich schon länger, oder«, fuhr er fort. »Ich meine, du bist wahrscheinlich schon lange nicht mehr in ihn verliebt, oder?«

Sie sah verwirrt aus. »Richtig.«

»Also hättest du es mir zu diesem Zeitpunkt erzählen können. Spätestens vor vier Jahren. Warum hast du das nicht getan?«

»Hör auf mit dem Kreuzverhör.«

»Du hast die Bombe platzen lassen«, sagte er. »Wie soll ich denn deiner Meinung nach reagieren?«

»Wie ein Mann.«

»Was zum Henker soll das denn heißen?«

»Ich brauche deine Hilfe. Jeremy braucht deine Hilfe. Darauf müssen wir uns jetzt konzentrieren.«

»Ich will erst ein paar Antworten. Dazu habe ich wohl das Recht.«

Sie zögerte und sah aus, als wollte sie widersprechen. Aber dann nickte sie nur erschöpft. »Wenn es dir hilft, das hinter dir zu lassen …«

»Hinter mir lassen? Als wäre das ein Nierenstein oder so etwas?«

»Ich bin zu erschöpft zum Streiten«, sagte sie. »Mach einfach weiter. Stell deine Fragen.«

»Warum hast du mir das nicht früher erzählt?«

Ihr Blick schweifte über seine Schulter. »Das hätte ich fast«, sagte sie. »Einmal.«

»Wann?«

»Erinnerst du dich daran, als du bei uns warst? Als Greg das erste Mal verschwunden war?«

Er nickte. Er hatte gerade an diesen Tag gedacht.

»Du hast ihn durchs Fenster beobachtet. Er hat mit seiner Schwester im Garten gespielt.«

»Ich erinnere mich«, sagte Myron.

»Greg und ich hatten diesen üblen Sorgerechtsstreit.«

»Du hast ihn beschuldigt, die Kinder missbraucht zu haben.«

»Das stimmte nicht. Du hast das sofort gemerkt. Das war nur ein juristischer Trick.«

»Toller Trick«, sagte Myron. »Das nächste Mal kannst du ihm dann Kriegsverbrechen vorwerfen.«

»Woher nimmst ausgerechnet du das Recht, über mich zu urteilen?«

»Eigentlich«, sagte Myron, »finde ich, dass gerade ich das Recht dazu habe.«

Emily durchbohrte ihn mit ihrem Blick. »Ein Sorgerechtsstreit ist ein Krieg, bei dem die Genfer Konvention keine Gültigkeit besitzt«, sagte sie. »Greg ist gemein geworden. Ich habe ebenso gemein zurückgeschlagen. Man tut alles, um zu gewinnen.«

»Und das würde auch die Enthüllung einschließen, dass Greg nicht Jeremys Vater ist?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich das Sorgerecht auch so bekommen habe.«

»Das ist keine Antwort. Du hast Greg gehasst.«

»Ja.«

»Hasst du ihn immer noch?«, fragte er.

»Ja.« Ohne jedes Zögern.

»Und warum hast du es ihm nicht erzählt?«

»Weil meine Liebe für Jeremy größer ist als meine Abscheu gegenüber Greg«, sagte sie. »Ich hätte kein Problem damit, Greg wehzutun. Wahrscheinlich würde ich es sogar genießen. Aber ich könnte es meinem Sohn nicht antun, ihm auf diese Weise den Vater zu nehmen.«

»Ich dachte, du würdest alles tun, um zu gewinnen.«

»Greg würde ich alles antun«, sagte sie. »Jeremy nicht.«

Er hielt es für halbwegs plausibel, ging aber davon aus, dass sie ihm noch etwas verheimlichte. »Also hast du das Geheimnis dreizehn Jahre lang für dich behalten?«

»Ja.«

»Wissen deine Eltern Bescheid?«

»Nein.«

»Du hast es nie jemandem erzählt?«

»Nein.«

»Warum erzählst du es jetzt mir?«

Emily schüttelte den Kopf. »Stellst du dich absichtlich dumm, Myron?«

Er legte die Hände auf den Tisch. Sie zitterten nicht. Irgendwie begriff er, dass der Grund für diese Fragen über die übliche Neugier hinausging – sie waren Teil seiner Abwehrstrategie, der innere Festungsgraben und Stacheldraht, die er aufwendig errichtet hatte, um sich vor Emilys Enthüllung zu schützen. Er wusste, dass das, was sie ihm erzählte, sein Leben auf eine bisher unvorstellbare Weise verändern würde. Die Worte mein Sohn schwebten durch sein Unterbewusstsein. Aber bisher waren es nur Worte. Irgendwann würden sie ihn vermutlich erreichen, aber noch konnten Stacheldraht und Festungsgraben ihnen standhalten.

»Glaubst du, dass ich dir das erzählen wollte? Ich habe dich um Hilfe angefleht, aber du wolltest nichts davon wissen. Ich bin verzweifelt.«

»Verzweifelt genug, um zu lügen?«

»Ja«, sagte sie, wieder ohne zu zögern. »Aber ich lüge nicht, Myron. Das musst du mir glauben.«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist ja auch jemand anders Jeremys Vater.«

»Wie bitte?«

»Ein Dritter«, sagte er. »Du hast am Abend vor deiner Hochzeit mit mir geschlafen. Wahrscheinlich war ich nicht der Einzige. Könnte noch ein Dutzend anderer Typen gewesen sein.«

Sie sah ihn an. »Willst du dir dein Pfund Fleisch holen, Myron? Nur zu, sag was du verlangst, auch wenn es so gar nicht zu dir passt.«

»Du glaubst also, mich so gut zu kennen, ja?«

»Selbst wenn du wütend warst, selbst wenn du gute Gründe hattest, mich zu hassen, bist du nie grausam geworden. Das ist nicht deine Art.«

»Wir befinden uns auf unbekanntem Terrain, Emily.«

»Das spielt keine Rolle«, sagte sie.

Er spürte, wie etwas in ihm aufstieg, das ihm den Atem nahm. Er nahm seinen Becher, sah hinein, als fände er auf dem Boden eine Antwort, und stellte ihn wieder hin. Er konnte sie nicht ansehen. »Wie konntest du mir das antun?«

Emily griff über den Tisch und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Es tut mir leid«, sagte sie.

Er zog den Arm weg.

»Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Du hast gefragt, warum ich es dir nicht erzählt habe. Meine Hauptsorge galt immer Jeremys Wohlbefinden, aber an dich habe ich auch immer wieder gedacht.«

»Blödsinn.«

»Ich kenne dich, Myron. Ich weiß, dass du so etwas nicht einfach mit einem Achselzucken abtun kannst. Aber genau das musst du jetzt. Du musst den Spender finden und Jeremy das Leben retten. Um den Rest können wir uns hinterher kümmern.«

»Wie lange ist …«, beinahe hätte er mein Sohn gesagt, »… Jeremy schon krank?«

»Wir haben es vor einem halben Jahr erfahren. Er hat damals Basketball gespielt. Er hat viel zu leicht blaue Flecken und Blutergüsse bekommen. Dann war er grundlos kurzatmig. Außerdem stürzte er öfter …« Ihre Stimme versagte.

»Ist er im Krankenhaus?«

»Nein. Er ist zu Hause, geht zur Schule und sieht auch gut aus, nur ein wenig blass. An Mannschaftssportarten und Ähnlichem kann er allerdings nicht mehr teilnehmen. Es scheint ihm gut zu gehen, aber … es ist nur eine Frage der Zeit. Er ist so blutarm, und seine Knochenmarkzellen sind so schwach, dass ihm irgendwann etwas passieren wird. Entweder zieht er sich eine lebensbedrohliche Infektion zu oder, wenn er das übersteht, werden sich bösartige Tumore entwickeln. Wir behandeln ihn mit Hormonen. Das hilft, ist aber nur eine vorübergehende Behandlung, keine Heilung.«

»Und eine Knochenmarktransplantation würde seine Heilung bedeuten?«

»Ja.« Ihr Gesicht erhellte sich in beinahe religiösem Eifer. »Wenn sein Körper das Transplantat annimmt, besteht die Chance auf eine vollkommene Heilung. Das habe ich bei anderen Kindern gesehen.«

Myron nickte, lehnte sich zurück, schlug das rechte Bein über das linke, stellte es wieder auf den Boden. »Kann ich ihn treffen?«

Sie sah nach unten. Der Mixer kreischte, als er vermutlich ein Frappuccino erzeugte, während die Espressomaschine den vertrauten Balzruf für die verschiedenen Lattes ausstieß. Emily wartete, bis der Lärm sich gelegt hatte. »Ich kann dich nicht davon abhalten. Aber ich hoffe, du tust das Richtige.«

»Und das wäre?«

»Es ist schwer genug, mit dreizehn nahezu todkrank zu sein. Willst du ihm wirklich auch noch den Vater nehmen?«

Myron sagte nichts.

»Mir ist klar, dass du im Moment unter Schock stehst. Und mir ist auch klar, dass du noch tausend weitere Fragen hast. Aber die musst du jetzt erst einmal hintanstellen. Du musst dich erst durch deine Verwirrung, deinen Zorn und was auch sonst noch alles durchkämpfen. Das Leben eines dreizehnjährigen Jungen – unseres Sohnes – steht auf dem Spiel. Konzentrier dich darauf, Myron. Finde den Spender, okay?«

Er drehte sich um und sah die Fußballmoms an, die noch immer über ihre Kinder gurrten. Ihr Anblick bereitete ihm einen überwältigenden Schmerz.

»Wo finde ich Jeremys Arzt?«, fragte er.

4

Als sich die Fahrstuhltür zur Rezeption von MB SportsReps öffnete, streckte Big Cyndi Myron zwei Arme entgegen, die ungefähr den Umfang der Marmorsäulen der Akropolis hatten. Fast wäre Myron zur Seite gesprungen – ein unwillkürlicher Überlebensreflex –, zwang sich dann aber, stehen zu bleiben und schloss die Augen. Big Cyndi umarmte ihn, was sich anfühlte, als würde ihn jemand in feuchte Isolierwolle einwickeln, und hob ihn in die Luft.

»Oh, Mr Bolitar!«, rief sie.

Er verzog das Gesicht und stand es durch. Schließlich setzte sie ihn behutsam wieder ab wie eine Porzellanpuppe, die man ins Regal zurückstellte. Big Cyndi war einen Meter fünfundneunzig groß, jenseits von hundertfünfzig Kilo und früher zusammen mit Esperanza interkontinentale Tag-Team-Wrestling-Champion. Damals waren sie unter den Namen Big Chief Mama und Little Pocahontas aufgetreten. Cyndis Kopf war würfelförmig und mit spitz zulaufenden Strähnen bedeckt, sodass sie wie die Freiheitsstatue auf einem aus dem Ruder gelaufenen LSD-Trip aussah. Sie trug mehr Make-up als das gesamte Ensemble von Cats, ihre Kleidung saß wie eine Wurstpelle, ihr böser Blick war der eines Sumoringers.

»Äh, alles in Ordnung?«, fragte Myron vorsichtig.

Big Cyndi sah aus, als wollte sie ihn noch einmal umarmen, aber irgendetwas hielt sie davon ab – womöglich die nackte Angst in Myrons Augen. Sie nahm einen Koffer hoch, der in ihrer gullydeckelgroßen Pranke wie ein Close’n’Play-Plattenspieler aus den frühen Siebzigern aussah. Sie verkörperte die Art von voluminös, die die Welt um sie herum wie das Set eines schlechten B-Movie-Monsterfilms erscheinen ließ, in dem sie durch ein Miniatur-Tokio lief, Starkstromleitungen umwarf und surrende Kampfflugzeuge zerquetschte.

Esperanza erschien in der Tür zu ihrem Büro. Sie verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen. Trotz allem, was sie in jüngster Zeit durchgemacht hatte, war Esperanza immer noch ungemein hübsch, die schwarz schimmernden Locken fielen ihr einfach perfekt in die Stirn, die dunkle olivfarbene Haut schimmerte – alles in allem vermittelte sie den Eindruck einer Art Zigeunerfantasie mit weißer Bauernbluse. Doch er entdeckte auch ein paar neue Fältchen um ihre Augen, außerdem hingen die Schultern ganz leicht bei einer ansonsten perfekten Haltung. Er hatte vorgeschlagen, dass sie sich nach der Haftentlassung eine Weile freinahm, doch sie hatte das – wie erwartet – abgelehnt. Esperanza liebte MB SportsReps. Sie wollte die Agentur retten.

»Was ist los?«, fragte Myron.

»Steht alles in dem Brief, Mr Bolitar«, sagte Big Cyndi.

»Was für ein Brief?«

»Oh, Mr Bolitar!«, rief sie noch einmal.

»Was?«

Aber sie antwortete nicht, vergrub ihr Gesicht in den Händen und duckte sich in den Fahrstuhl, als würde sie ein Tipi betreten. Die Tür schloss sich hinter ihr, und sie war verschwunden.

Myron wartete einen Moment und wandte sich dann an Esperanza. »Erklärung?«

»Sie nimmt Urlaub«, sagte Esperanza.

»Warum?«

»Big Cyndi ist nicht dumm, Myron.«

»Das habe ich auch nicht behauptet.«

»Sie sieht, was hier los ist.«

»Das ist nur vorübergehend«, sagte Myron. »Wir kommen da wieder raus.«

»Und sobald wir das geschafft haben, kommt Big Cyndi zurück. Ansonsten hat sie ein gutes Jobangebot.«

»Bei Leather-N-Lust?« Big Cyndi arbeitete abends in der SM-Bar Leather-N-Lust als Rausschmeißerin. Motto: Leidenschaft kommt von Leiden. Manchmal – das hatte er zumindest gehört – beteiligte sich Big Cyndi auch an der Bühnenshow. Myron hatte keine Ahnung, welche Rolle sie dort spielte, und auch nicht den Mut aufgebracht, sie danach zu fragen – ein weiterer tabuisierter Abgrund, dem sein Geist nicht zu nahe kommen wollte.

»Nein«, sagte Esperanza. »Sie kehrt zurück zu FLOW.«

Für alle, die sich im Wrestling nicht auskennen: FLOW steht für Fabulous Ladies of Wrestling.

»Big Cyndi will wieder in den Ring?«

Esperanza nickte. »Auf die Seniorentour.«

»Wie bitte?«

»FLOW will die Produktpalette erweitern. Sie haben sich umgeschaut und gesehen, wie gut die Senioren-Golftour der PGA läuft und …« Sie zuckte die Achseln.

»Eine Wrestlingtour für Senioren?«

»Eher für Ehemalige«, sagte Esperanza. »Ich meine, Big Cyndi ist erst achtunddreißig. Sie holen viele der alten Lieblinge zurück: Queen Qaddafi, Cold War Connie, Brezhnev Babe, Cellblock Celia, Black Widow …«

»An Black Widow kann ich mich nicht erinnern.«

»Das war vor unserer Zeit. Verdammt, sogar vor der Zeit unserer Eltern. Sie muss über siebzig sein.«

Myron bemühte sich, nicht das Gesicht zu verziehen. »Und Leute bezahlen dafür, eine Siebzigjährige beim Wrestling zu sehen?«

»Man darf Menschen nicht wegen ihres Alters diskriminieren.«

»Klar, Entschuldigung.« Myron rieb sich die Augen.

»Und das Profi-Wrestling steckt gerade in der Krise, nicht zuletzt wegen der Konkurrenz durch diese Rabatz-Talkshows wie Jerry Springer und Rikki Lake. Sie müssen was tun.«

»Und prügelnde alte Damen sind die Lösung?«

»Ich glaube, sie bauen auf den Nostalgiefaktor.«

»Sie bieten die Gelegenheit, die Wrestlerinnen deiner Jugend noch einmal abzufeiern?«

»Bist du nicht vor ein paar Jahren auf einem Steely-Dan-Konzert gewesen?«

»Findest du nicht, dass das etwas anderes ist?«

Sie zuckte die Achseln. »Beide haben ihre besten Zeiten hinter sich. Beide bauen mehr auf die Erinnerung als darauf, was man sieht oder hört.«

Das klang durchaus logisch. Der Gedankengang war seltsam, aber logisch. »Und was ist mit dir?«, fragte Myron.

»Was soll mit mir sein?«

»Wollen sie nicht, dass auch Little Pocahontas zurückkehrt?«

»Jau.«

»Hat es dich gereizt?«

»Was? Wieder in den Ring zu steigen?«

»Ja.«

»Oh, klar doch«, sagte Esperanza. »Ich reiß mir meinen wohlgeformten Arsch auf, um neben einer Vollzeitstelle meinen Juraabschluss zu machen, damit ich hinterher noch einmal einen Wildlederbikini anziehen und vor den Augen sabbernder alter Knacker alternde Nymphen begrapschen kann.« Sie hielt inne. »Obwohl es gegenüber dem Job als Sportagenten ja durchaus eine Verbesserung wäre.«

»Haha.« Myron ging zu Big Cyndis Schreibtisch. Darauf lag ein Umschlag mit seinem Namen in einem lumineszierenden Orange.

»Hat sie das mit Buntstift geschrieben?«

»Lidschatten.«

»Verstehe.«

»Und, erzählst du mir, was los ist?«, fragte sie.

»Nichts«, sagte Myron.

»Blödsinn«, erwiderte sie. »Du siehst aus, als hättest du gerade erfahren, dass Wham sich auflöst.«

»Fang nicht wieder davon an«, sagte Myron. »Manchmal wache ich nachts noch schweißgebadet aus Albträumen auf.«

Esperanza musterte sein Gesicht noch ein paar Sekunden lang. »Hat es etwas mit deiner alten Uniliebe zu tun?«

»Irgendwie schon.«

»O mein Gott.«

»Was?«

»Wie sage ich es, ohne dich vor den Kopf zu stoßen, Myron? Wenn es um Frauen geht, benimmst du dich mehr als schwachsinnig. Beweisstücke A und B sind Jessica und Emily.«

»Du kennst Emily überhaupt nicht.«

»Ich weiß genug«, sagte sie. »Ich dachte, du wolltest nicht mit ihr reden?«

»Das wollte ich auch nicht. Sie ist bei meinen Eltern aufgetaucht.«

»Sie ist da einfach vorbeigekommen?«

»Jau.«

»Was wollte sie?«

Er schüttelte den Kopf. Er war noch nicht bereit, darüber zu reden. »Irgendwelche Anrufe?«

»Nicht so viele, wie wir gerne hätten.«

»Ist Win oben?«

»Ich glaub, er ist schon nach Hause gegangen.« Sie nahm ihre Jacke. »Und das mach ich jetzt auch.«

»Gute Nacht.«

»Wenn du was von Lamar hörst …«

»Dann ruf ich an.«

Esperanza zog die Jacke an und streifte die schimmernden schwarzen Haare über den Kragen. Myron ging in sein Büro und tätigte ein paar Anrufe, die meisten, um Klienten zu werben. Es lief nicht gut.

Vor ein paar Monaten hatte der Tod einer Freundin Myron ins Schleudern gebracht, was dazu geführte hatte, dass er … ausgeflippt war, um es mit dem psychologischen Fachbegriff zu umschreiben. Nicht übertrieben drastisch, er hatte keinen Nervenzusammenbruch gehabt und war auch nicht eingewiesen worden. Stattdessen war er mit Terese Collins, einer attraktiven Fernsehmoderatorin, die er gerade erst kennengelernt hatte, auf eine verlassene Karibikinsel geflüchtet. Er hatte niemandem erzählt – weder Win noch Esperanza, nicht einmal Mom und Dad –, wo er war oder wann er zurückkommen würde.

Wie hatte Win es ausgedrückt? Wenn er schon ausflippte, dann stilvoll.

Als Myron schließlich zur Rückkehr gezwungen war, hatten sich ihre Klienten in alle Winde zerstreut wie Küchenhilfen während eines Zuwanderungsstopps. Jetzt waren Myron und Esperanza zurück, versuchten das komatöse und womöglich in den letzten Zügen liegende MB SportsReps wieder zum Leben zu erwecken. Das war keine leichte Aufgabe. Die Konkurrenz in diesem Business bestand aus einem Dutzend hungriger Löwen – und Myron war ein schwer lahmender Christ.

Das Büro von MB SportsReps lag sehr schön an der Park Avenue Ecke 46th Street im Lock-Horne Building, das der Familie von Myrons College- und aktuellem Mitbewohner Win gehörte. Das Gebäude befand sich in erstklassiger Innenstadtlage und bot einige nahezu überwältigende Blicke auf Manhattans Skyline. Myron genoss sie einen Moment lang, dann sah er hinab auf die herumwuselnden Anzugträger. Der Anblick dieser Arbeiterameisen deprimierte ihn jedes Mal, ihm ging dabei der Refrain von »Is That All There Is?« durch den Kopf.