Selbsteinladung ins Paradies - Martin Hagenmaier - E-Book

Selbsteinladung ins Paradies E-Book

Martin Hagenmaier

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Beschreibung

Der islamistische Terrorismus hat Religion zum öffentlichen und weltpolitischen Thema gemacht. Europa erlebt ausgerechnet anhand der Religion seine politische Position als Minderheit in der Welt. Es sieht seine mühsam erkämpften Weltkonstruktionen wie Säkularisierung, Individualisierung, Freiheit, Frieden und Menschenrechte in Frage gestellt. Der Terrorismus im Namen Allahs ist aber allen Abwehrversuchen aus Kirchen und Moscheen zum Trotz nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse Herausforderung. Man kann ihn nicht einfach als Folge krankhaften, behandlungsbedürftigen Wahns abtun. Um das zu erläutern, vergleicht Martin Hagenmaier wahnhaften Islamismus mit der Krankheit religiöser Wahn. Er stellt die islamistischen Rechtfertigungen dem Alten und Neuen Testament sowie dem christlichen Glauben gegenüber. Daraus ergeben sich erstaunliche Parallelen. Religiöse Rechtfertigungen und Weltherrschaftswünsche des Islamismus können keine Originalität für sich beanspruchen. Warum sich viele junge Männer selbst ins Paradies einladen? Sie überkompensieren ähnlich wie beim religiösen Wahn narzisstische Wut und gefühlte Ablehnung durch gefährliches Allmachtsgehabe. Politisch reagiert der Westen ebenfalls ziemlich wahnhaft. Die Bekämpfung von Islamismus muss durch theologische Arbeit und Gespräche vor allem vom Islam geleistet werden. Die christliche Seite sollte sich ebenfalls intensiv einbringen, zumal sie theologische Auseinandersetzungen und die Angst davor besser kennt als alle anderen.

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Inhalt

VERRÜCKTE RELIGION?

RELIGIÖSER WAHN

Frau A und die Wiederkunft Christi

Selbstheilung durch persönliche Glaubens - Dosis?

Immunisierungsstrategie

Symbole tauchen aus dem „Unterbewusstsein“ auf

Möglichkeiten der Interpretation für eine Maria

Weitere Fälle von Wahn

Umgang mit Themen, die jeden ‚angehen’

M

ERKMALE DES RELIGIÖSEN

W

AHNS

PERSPEKTIVEN ZUM ISLAMISTISCHEN TERRORISMUS

F

UNDAMENTALISMUS UND RELIGIÖSER

W

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OTT IST GROß UND GEWALT

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Perversion als Live-Inszenierung

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UIZIDVERBOT UND DER

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ONVERTITEN

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ELIGIÖSE

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ANIPULATION ZUM

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ACHTGEWINN

Ali und sein Schwert

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SLAM KRITISCH BETRACHTEN

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Ja, Frau tut es!

‚WESTLICHE’ INTERPRETATIONEN

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K

ULTUREN

G

LOBALISIERUNG UND

I

NDIVIDUALISIERUNG

G

EWALTMYSTIK

K

OSMOPOLITISIERUNG UND

I

NDIVIDUALISIERUNG

K

ULTURDIFFERENZ ALS GESELLSCHAFTLICHE

W

ELTSTRUKTUR

M

ODELL

K

RIMINALITÄT

THEOLOGISCHER DISKURS IM ISLAM

D

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B

EFREIUNG DES

M

ENSCHEN

E

IN ISLAMISCHER

T

HEOLOGIE

- D

ISPUT

ZWEI INDIVIDUELLE WELT-KONSTRUKTIONEN

Irregulärer Migrant in Europa

Tod in Melilla

MERKMALE DES WAHNHAFTEN TERRORISMUS

WAHN UND WAHNHAFTER TERRORISMUS

"WELTVERANTWORTUNG": DER WESTLICHE WAHN

Politische Verwicklungen und Friedensgebete

Das Chaos mit Gewalt beseitigen?

"Weltverantwortung"

Möglichkeiten ethischer Bewertung

Eingreifen als Folge gegenwärtiger Machtverhältnisse

„Weltverantwortung“ alleine ist kein Grund für den Einsatz von Soldaten in fremden Ländern

Nichteinmischung als ethisches Prinzip?

Die Verschiebung gesellschaftlicher "Plausibilitäten"

Ergebnis: Sicherheitswahn gegen religiösen Wahn

DIE VERANTWORTUNG DER (WELT-) RELIGIONEN

N

AMENSINDEX

B

ENUTZTE

L

ITERATUR

ANMERKUNGEN

Verrückte Religion?

„Langsam, aber unwiderstehlich entgleitet die Welt dem Zugriff des Religiösen. Die Religionen gehören zu den vom Aussterben bedrohten Arten. … Die Krise ist überall, und überall beschleunigt sie sich, wenn auch in unterschiedlichen Rhythmen.“ Dieser Einschätzung von René Girard könnte man heftig widersprechen, wenn man die heutige Welt anschaut. Hält nicht die Religion die ganze Menschheit im Würgegriff? Oder sehen wir im „Schreckgespenst des Fundamentalismus“ nur „verzweifelte Reaktionen auf die überall zunehmende religiöse Gleichgültigkeit“? 1

Religion hat jedenfalls wieder Hochkonjunktur, seit in ihrem Namen (wieder) großflächig gemordet wird. Sie bekommt eine (ihre?) fremde und Angst auslösende Seite (zurück) und verbindet sich mit Fremden- und Globalisierungsängsten. Diese dynamische Entwicklung übertrifft alles, was an fundamentalistischen und anderen Bewegungen trotz oder wegen der Säkularisierung über Europa (und Nordamerika) hinwegging. Sie macht deutlich, dass die großen Antagonismen, die in der religiösen Sprache Ausdruck finden, psychischen Kräften entsprechen, die tatsächlich und nicht nur im Begriff mit Vernichtung und Errettung, Heil und Unheil, Angenommen- und Verworfensein zu tun haben. Die ‚kleineren’ Wahnhandlungen erzeugen keine derart große Resonanz: „Frau erschlägt Mutter mit Kreuz“, diese Meldung erschien am 25. 3. 2009 bei t-online.de. Die Tat geschah im Wahn, wird die Polizei zitiert. Dadurch fühlt sich aber niemand bedroht. Die Idee ‚Wahn’ erzeugt hier Einverständnis im Sinne von ‚Das kommt auch vor…’! Warum ist das so?

Religiöses Verhalten ist außer von Theologie auch Objekt von Religionspsychologie, Psychiatrie und Seelsorge. Alle versuchen, Bedeutungszusammenhänge zwischen der menschlichen Psyche und der Religion bzw. dem religiösen Verhalten aufzuzeigen, um beides einem vertieften Verständnis zuzuführen. Bei der (Psychiatrie-) Seelsorge geht es um die definitorische Trennung von gesunder und kranker Religiosität, bei der Psychiatrie die Annäherung an ein vernachlässigtes ‚Phänomen’ vor allem in der psychotischen Erkrankung2 und bei der Religionspsychologie ein eher nachvollziehendes Verständnis von religiösem Verhalten im Alltag. Religionspsychologie als Religionskritik findet heute wissenschaftlich kaum mehr statt, nachdem die meisten Ergebnisse inzwischen popularisiert wurden. Die These Freuds von der Religion als kollektiver Zwangsneurose3 ist allerdings mehr vergessen als widerlegt oder bestätigt. Sie wird auch heute weniger als Religionskritik, denn als Religionspsychologie verstanden.4

Die „zündende“ Bedeutung für „Religion“ aus den islamistischen Verbrechen im Namen Gottes hätte von der Religionskritik und –psychologie angesichts des Erstarkens fundamentalistischer Strömungen als Möglichkeit gesehen werden können. Sie blendeten jedoch aufgrund ihrer Befangenheit durch die säkularisierte Sicht eine derartig gewaltförmige Konstruktion von Wirklichkeit grundsätzlich aus und zeigten damit ihre „Beschränktheit“ auf die Situation in Europa. Dabei findet die Identifikation von Gott und Gewalt im Alten Testament reichlich Urgrund und Ausdruck, wurde aber gleichsam ‚übersehen’ oder als bloß innerpsychische Figur nur theoretisch wahrgenommen.

Religion kam aus der Verdrängung / Säkularisierung und der Konstruktion der Welt als europäischer Vorhof in erstaunlichen Formen wieder, die die ganze abendländische Vernunftgläubigkeit konterkariert. Menschen sind in großer Zahl bereit, bei Meditations- oder Entspannungsübungen dubioser Herkunft nicht nur mitzumachen, sondern sogar etwas zu empfinden, und sich krudesten und abstoßend gewalttätigen Religionsideen anzuschließen.

Immer neue Sektenbewegungen, seit Jahrzehnten mit okkulten Einschlägen, ließen etwas wie ein religiöses Bedürfnis erkennen oder konstruieren. Eine nicht mehr öffentlich gestaltete (kontrollierte) Religiosität verlor ihre offenen entwicklungsfähigen Formen und fiel / fällt in die Stufe des religiösen Anfangs zurück, in der der Mensch in seiner Gruppe nur sich selbst verwirklicht und in seiner Religiosität sein ‚Innenleben’ nach außen kehrt. Gott dient dann als Rechtfertigung für die Gewalt gegen „Ungläubige“ jeder Herkunft im Sinne der Vereinigung mit der Gewalt Gottes gegen die „große Beleidigung“ durch die Missachtung der Ungläubigen. Die Fundamentalismen schließen das religiöse Über-Ich mit einer bei uns als unbzw. vorbewusst verstandenen archaischen Wut gegen alles andere zusammen und überformen damit alle anderen Wirklichkeitskonstruktionen. Sie üben große Anziehungskraft auf Männer mit darauf ansprechenden psychischen Konstellationen aus. Erstaunlicherweise berichten die Medien auch über Frauen, die an den brutalsten Formen des islamistschen Fundamentalismus beteiligt sind.5

Die Pastoralpsychologie versucht im christlichen Bereich, an die Religionspsychologie anknüpfend zu verstehen, wie die Wirklichkeit, die in biblischen Texten, Bildern und Bedeutungen aufgehoben ist, Menschen anregt, sich wieder zu finden, Ähnlichkeit und Differenz zu erfahren, sich auszudrücken und im Ausdruck weitere Wirklichkeit zu konstruieren. Es geht nicht darum, Überlieferungen ‚richtig’ zu interpretieren und historisch angemessen zu präsentieren. Vielmehr tritt die Bedeutung, das Bild oder der Text wieder unmittelbar an die Leser/BetrachterInnen heran, indem sie nach Identifikation (Ausschluss von Differenz) für ihre Wirklichkeit suchen. Mit der Übernahme von Wirklichkeiten alter Texte schaffen Menschen so jeweils ihre neue Wirklichkeitskonstruktion.

Es geht dabei um unmittelbare, nicht normative Bezugsetzung. Menschen fühlen sich elementar angesprochen. Sie empfinden in den Texten und Bildern die Ambivalenz, die der Protestant als simul iustus ac peccator kennt, aber nur einpolig – also normativ - benutzt. Die Unmittelbarkeit wirkt aber als verwobene Konkurrenz von Heil und Unheil, Gut und Böse, Erlösung und Verdammung etc. Sie tendiert zur Identifikation mit den Gestalten des „Welttheaters“ in jedweder Art. Die Art, in der sie nun in der persönlichen Begegnung empfunden und ausgedrückt wird, hilft dazu, an den Bedeutungen dieses Gegenübers teilzunehmen. In der Begegnung mit den Texten und ihren Bedeutungen verdichtet sich der „Jetztzustand“, die aktuelle Konstruktion, mit den Erfahrungen von Heil und Unheil zum Ausdruck einer Lebensperspektive.

Die identifikatorischen Prozesse können auch tödliche Wirkungen generieren. In den pastoralpsychologischen und theologischen Konstruktionen galt und gilt stets der Grundsatz, Religion und der Umgang mit Religiösem sei heilsam im ureigentlichen Sinne. Besonders das seelsorgerliche Herangehen unter dem Aspekt des ‚richtigen’ Glaubens sei hilfreich, weil SeelsorgerInnen neben dem Akzeptieren Klarheit gegenüber religiöser oder psychotischer Verwirrung ins Spiel bringen.6 Die Antagonismen Heil und Unheil stehen unter der Prämisse, dass Gott das Heil will und das Unheil durch Glauben besiegt ist bzw. werden kann. Im Sinne des konstruktivistischen Ansatzes handelt es sich aber um die Begegnung verschiedener Wirklichkeitskonstruktionen. Die eine ist durch Konvention und Bedeutungshierarchien in der Gesellschaft positioniert, die andere (durch Ablehnung der anderen oder/und Diagnosen) sanktioniert. Die christliche Theologie und die Seelsorge haben ihre Position (noch) als Teil der gegenwärtigen plausiblen ‚Ordnung der Welt’ und sind Agenten in einer gesellschaftlichen Position, wobei allerdings die Konkurrenzen religiöser und anderer Art zunehmen. Wenn sie zum Verständnis bedrohlicher religiöser Haltungen oder Denkweisen beitragen wollen, dann auch unter dem Aspekt des Erhalts des eigenen Systems. (Das gilt sicher auch für das islamische Denksystem und vermutlich für alle anderen Religionen.)

Das konkurrierende System betont in den Religionen einen Pol, den die systemerhaltende Position interpretatorisch minimiert: Da die „Ungläubigen“ (die Anderen) die Herrschaft Gottes bestreiten und ihn dadurch beleidigen, ist es notwendig, diese mit Nachdruck durch ihre (geistliche) Bekämpfung oder gar (physische) Beseitigung (wieder) herzustellen. Das Heil der Welt liegt in der unumschränkten Herrschaft Gottes. Die beleidigende Gottvergessenheit der Anderen steht daher dem Heil im Wege. Sie sind zu beseitigen, wegzubeten, zu bekehren oder sie werden das ewige Unheil schauen.

Verrückte Religion? Religion kann als so „verrückt“ bezeichnet werden, wie die Menschen, die sie leben und rekonstruieren. Sie ist nicht von sich aus verrückt oder gefährlich. Ihr Reiz liegt darin, dass jede von ihnen ein Ensemble von Bedeutungen darstellt, mit Hilfe dessen Menschen ihre wesentlichen Grundfragen zu beantworten versuchen. Niemand konstruiert seine Wirklichkeit alleine, sondern immer in Abhängigkeit von bzw. Auseinandersetzung mit Systemen und Systemstrukturen, die Macht- und Sinnstrukturen entsprechen. Neurowissenschaftler versuchen Religion als Konstruktion des Gehirns in den Arealen zu verorten, die für Wahrnehmung und Konstruktion sozialer und emotionaler Netzwerke zuständig sind. Wahnähnliche Zustände wären dann nichts anderes als das Überentwickeln normaler Vorgänge.7

Ich beschreibe und untersuche religiöse Strukturen im Zusammenhang mit dem islamistischen Terrorismus und möchte zeigen, dass die „Gewalt“, die dem „fremden Gott“ zugeschrieben wird, zu den Urverständnissen auch der christlichen Religion gehört. Nur der Umgang mit diesem Urgrund hat sich verschieden entwickelt. Daher steht der „fremde Gott“ dem eigenen näher als gedacht. Zum Vergleich und zur Differenzierung betrachte ich die psychiatrische Diagnose religiöser Wahn anhand von mehreren Fällen. Als Wahn wurde nämlich der islamistische Terrorismus insbesondere nach dem 11. September 2001 und bis heute weltweit bezeichnet. Der Vergleich führt durch Unterschiede oder Differenzen zum Verständnis.

Häufiger erscheinen auch den Menschen, die sich in ihrer Religion zu Hause und geborgen fühlen, religiös motivierte Verhaltens- oder Denkweisen als ‚religiöser Wahn’. Sie meinen damit umgangssprachlich sowohl diagnostisch erfassbare als auch eher einfach unverständliche Ausdruckweisen religiösen Glaubens oder Begründens.

Jetzt beschreibe ich noch meine Denkweise. Bei der Arbeit an subjektiven Einschätzungen und Vorstellungen – also an Wirklichkeitskonstruktionen – rechne ich mit mehreren Faktoren der Verzerrung. Der gravierendste davon ist die Plausibilitätsstruktur des Autors, also in diesem Fall meine. Ich bin eingebettet in die Plausibilitätsstruktur der westeuropäischen und hier wieder der westdeutschen Gesellschaft. Dann hat sie mit meinem beruflichen Arbeitsfeld als Seelsorger zu tun und umfasst schließlich persönliche Erfahrungen verschiedenster Art. Zudem rechne ich damit, dass meine Plausibilitätsstruktur einer Rationalitätsunterstellung folgt, die zum Beispiel Sie als Leserin oder Leser nicht teilen.8

In der reflektierten Einstellung erscheint die Welt als interpretierte und konstruierte soziale Ordnung und Struktur9, deren jeweiliger Interpretationsstandort verschiedenste Rationalitäten10 hervorbringt. Wir gehen bei dem, was wir miteinander austauschen, um unser Handeln zu erklären, von der Unterstellung aus, unsere Handlungen seien mitteilbar und „rational“. Die eigenen Handlungen und Denkweisen verstehen wir als rationale Folgen von …, wobei das „Unpassende“ der Tendenz unterliegt, passend gemacht zu werden. Wir unterliegen dem „Drang, die Dinge des Alltags in eine Ordnung zu bringen“11 und darin zu halten.

Unsere Weltkonstruktionen – landläufig Weltbilder - sind nicht einfach veränderbar. Wir schreiben sie täglich fort und bilden sie dadurch immer weiter aus. Sie sind unsere Identität. Alles was ihnen widerspricht, scheidet aus unserem Wahrnehmungshorizont aus. Sonst würde es das fraglose Dasein in dieser Welt bedrohen. Diese Homöostase tendenz kennzeichnet alle Systeme, die Menschen ausbilden. Die Weltkonstruktionen werden daher aktiv verteidigt.

Auch Wahnvorstellungen und religiösen Ideen sind sich fortsetzende Konstruktionen der Welt, die nach Homöostase streben und insofern als fragloses Bezugsschema wirken. Daher müssen alle Akteure so verstanden werden, dass sie zunächst ihr Schema immer weiter auszubauen bemüht sind und die Welt nach diesem interpretieren und konstruieren. Wenn sich ausschließende Bezugsschemata aufeinander treffen, wie es auch in Wahnvorstellungen der Fall ist, entwickeln die darin entstehenden Rationalitäten eine Qualität, die den Anderen oder das Andere als ‚falsch’, ‚widergöttlich’ oder ‚unwahr’ verstehen muss. Der Gegensatz heißt dann nicht ‚Wahn’ oder ‚normal’. Vielmehr stehen sich einander ausschließende Konstruktionen gegenüber, die zu betrachten das Ziel dieser Re-Lektüre ist. Die eigene Betrachtungsperspektive ist nur eine solche und kein Standpunkt von außerhalb.

Eine Verschärfung dieser autopoietischen Homöostase bringt Peter Sloterdijk ins Gespräch und schafft damit den Übergang von der Homöostasetendenz zur Transzendenz. Er sieht das Leben selbst „als eine mit autotherapeutischen oder ‚endoklinischen’ Kompetenzen ausgestattete Integrationsdynamik, die sich auf einen artenspezifischen Übungsraum bezieht. Ihm kommt eine ebenso angeborene wie – bei höheren Organismen – adaptiv erworbene Zuständigkeit für Verletzungen und Invasionen zu, die ihm in der fest zugeordneten Umwelt oder in der eroberten Umgebung regelmäßig begegnen. Solche Immunsysteme könnte man ebenso gut als organismische Vorformen eines Sinns für Transzendenz beschreiben: Dank der ständig sprungbereiten Effizienz dieser Vorrichtungen setzt sich das Lebewesen mit seinen potentiellen Todbringern aktiv auseinander und stellt ihnen sein körpereigenes Vermögen zur Überwindung des Tödlichen entgegen. … Für jeden Organismus ist seine Umwelt seine Transzendenz, und je abstrakter und unbekannter die Gefahr ist, die von der Umwelt her droht, desto transzendenter steht sie ihm gegenüber.“12 Die Tendenz zur Homöostase ist als „angeborene“ Ausstattung zu verstehen, die das System erst zu einem solchen macht. Unter Zuhilfenahme dieser Ausstattung bilden Individuum und Gesellschaft in ständiger Übung Systeme zur Bewältigung der Widerfahrnisse aus. Die ‚Humansphäre’ arbeitet mit drei Immunsystemen, neben dem automatisiert biologischen mit einem sozioimmunologischen (Justiz, Militär etc.) sowie dem psychoimmunologischen oder symbolischen System. Letzteres ist für die Bewältigung der Verwundbarkeit des Menschen im Sinne der schicksalhaften ‚Todestendenz’ zuständig und betätigt sich „in Form von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen“13. Alle drei Immunsysteme sind aber auch untrennbar ineinander verwoben. Die psychoimmunologischen Systeme „funktionieren nicht hinter dem Rücken der Subjekte, sondern sind ganz in deren intentionales Verhalten eingebettet - nichtsdestoweniger ist es möglich, dieses Verhalten besser zu verstehen, als es von seinen naiven Agenten verstanden wird.“14 Damit begründet Sloterdijk Kulturwissenschaft als möglich und nötig, ja als verstehensmäßige nicht-naive Bedingung für das Überleben der Kulturen.

Man muss damit rechnen, dass gerade die Religionen in all ihren Ausprägungen in diesem Sinne als psychoimmunologische Systeme fungieren. Da sie „einer Explikation ihrer dunklen Seite fähig sind“15, lassen sich auch verwirrende oder bedrohliche Formen als Immunwirkung verstehen. Der übende Mensch versucht eine Bewältigung seines Daseins zu erzielen. Einige geraten durch „Vorwegnahme“ und „mentale Rüstung“ auf Abwege, die nur schwer abzuwehren sind. Ich möchte daher nicht „sichere“ Elemente der Religionen von „gefährlichen“ trennen, sondern verstehen, dass und wie die „sicheren“ Anteile auch Grundlagen für die „gefährlichen“ sind. Sowohl der Extremist übt sich in der „Askese“ seiner jeweiligen Weltsicht immer weiter ein, wie auch jeder andere Mensch sich in seinem jeweiligen konstruktiven Werk der Erstellung seiner eigenen Welt und deren Immunologisierung zu vervollkommnen trachtet. Die These Sloterdijks, dass die Religion gar nicht existiert, ist in diesem Zusammenhang nicht so sensationell wie sie einigen erscheint. In konstruktivistischer Sicht „gibt es“ auch keine Wirtschaft oder Kultur – alles wird je und je weiterübend konstruiert. Wer will dem widersprechen?

Nun frage ich mich noch - aus meiner Sicht folgerichtig: Kann ‚Wahn’ hier wirklich als Leitbegriff dienen? Ist das nicht bloß meine Form der Homöostase? Liegt nicht vielleicht ein anderer Begriff oder ein anderes Modell der Interpretation näher, das der Psychopathie? Bereits Arno Plack hat die Terroristen der 70iger Jahre Psychopathen genannt, weil sie seiner Meinung nach durch Gewalt das Gegenteil der angestrebten Freiheit erreichten.16 Das könnte man auch auf Suizidattentäter anwenden, die Gottes Herrschaft durch Mord und Selbstmord erreichen wollen. Es gälte aber wohl für alle Terroristen, weil jeweils die Reaktion der Gesellschaften weltweit mehr aus Abwehr als Zustimmung besteht.

Persönlichkeitsstörung17 heißt die Psychopathie heute auch in Deutschland. Noch Ende des 19. Jahrhunderts verstand sie beispielsweise der Psychiater J.L.A. Koch als genetische Minderwertigkeit. Der Begriff wurde aber schon von F. Pinel im Jahr 1809 benutzt.18 In der Weimarer Zeit erlebte die Psychopathie – Idee dann einen großen Aufschwung.

In den 1980iger Jahren wurden im psychiatrischen Lehrbuch die Begriffe Psychopathie und Psychopath zurückgewiesen.19 Aus psychotherapeutischer Sicht hat Harald Schultz-Henke schon vorher den Begriff nur „in Anführungszeichen“ verwendet.20 Die englischsprachigen Fachleute verwenden den Begriff psychopathy weiter und der schlägt sich differenzierter als vor hundert Jahren in einer Liste der psychopathy nieder, die dann wiederum in den internationalen Diagnoseschlüssel eingegangen ist (ICD 10 (F6) F 60.1 bis F 60.8).21

Einen Perspektivwechsel zum Thema Psychopathie hat Kevin Dutton präsentiert. In seiner Schrift werden als Kennzeichen die für ‚Lebenserfolg’ notwendigen Eigenschaften Skrupellosigkeit, Charme, Fokussierung, mentale Härte, Furchtlosigkeit, Achtsamkeit und Handeln aufgeführt. Diese Merkmale kommen bei jedem vor. Der Psychopath aber liegt mit allen immer ‚am Anschlag’ und kann sie nicht „herunterregeln“. Das ‚normale Leben’ verlangt jedoch stets eine angemessene Dosierung.22

Der Begriff Psychopathie oder die entsprechende Bezeichnung Persönlichkeitsstörung bieten aufgrund Ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer mangelnden Erklärungs- und Diagnosefähigkeiten keinerlei Anhaltspunkte, damit eine Erscheinung wie die des islamistischen Terrorismus noch überhaupt etwas deuten zu wollen oder zu können. Beide Bezeichnungen sind allenfalls Etiketten für unerwünschtes Verhalten. Daher bleibt diese Untersuchung bei dem Begriff des Wahns.

Mein Vorhaben, mit dem Begriff Wahn im Feld des Islamismus und einigen Reaktionen darauf zu operieren, kann ich nicht einfach wie eine vorfahrtberechtigte Hauptstraße durchziehen. Eine Unzahl von Wahrnehmungen, politischen und religiösen Implikationen, persönlichen und gesellschaftlichen Ängsten sowie martialischen, menschenverachtenden und manchmal auch tragischen Ereignissen verlangen aus meiner Sicht vielmehr eine perspektivische Arbeit. Perspektivisch heißt: Ich umkreise nach der Begriffsbildung zum Wahn mein Thema islamistischer Terrorismus als religionsgeleiteter Terrorismus mehrfach und schildere, was ich aus der jeweiligen Perspektive wahrnehme. Das führt dann zu Ergebnissen, die mir zeigen, dass hier alles auf religiöse und politische Art mit allem zusammenhängt. Der Wahn der einen wird mit dem Wahn der anderen beantwortet und umgekehrt. Den Wahn generiert das gesellschaftliche Dasein. Er nährt sich aus persönlichen und historischen Erfahrungen und Deutungen. Die Religionen, die im Nahen Osten entstanden sind, können sich nicht aus der Diskussion mit dem Hinweis verabschieden, alles sei eine Fehlinterpretation.

Als Ergebnis sehe ich keine Strategie der Lösung des Problems, sondern nur den Vorschlag, die in Wahn gefassten Bedeutungen miteinander zu verhandeln. Das setzt voraus, dass der eine den anderen als Mitmensch anerkennt. Eben das scheint das größte Problem zu sein.

Religiöser Wahn

Das Geschehen am 11. September 2001 und alle Nachfolgetaten wurden häufig und bis heute unter ‚religiöser Wahn’ subsumiert. Was aber ist religiöser Wahn? Ich schaue den Begriff ‚religiöser Wahn’ an, um mit einigermaßen sicherem Begriffs- und Bedeutungsfeld zu arbeiten. Die Religiosität in der Psychiatrie gibt für die Fragestellung des Wahns besonders viel her, weil von psychisch kranken Menschen religiöse Bedeutungen unmittelbar zur Beschreibung gegenwärtiger Identität benutzt werden. Die Befremdung, mit der die Umwelt diesen Beschreibungen begegnet, hebt die Bedeutung solcher Identität. Einerseits sind viele Menschen nämlich bereit, andere als Erleuchtete anzunehmen (mit allen Konsequenzen für ihr leibliches und seelisches Leben), andererseits werden religiös nicht durch Studium, Beruf, Klosterdasein etc. qualifizierte Menschen mit dem Stempel "Wahn" in Krankenhäuser gebracht. Die Ambivalenz diesen Erscheinungen gegenüber geht bis in das Neue Testament. Das beschreibt besonders klar die „Verwerfung“ Jesu in seiner Heimatstadt Nazareth in Lukas 4,19. Die Wundererzählungen enden oft mit dem „Entsetzen" der Menge. Den Unterschied zu den terroristischen Wahnvorstellungen, so es sich um solche handeln sollte, kann man aber darin noch nicht erkennen. Daher folgen nun Beispiele unbestreitbaren religiösen Wahns.

Frau A und die Wiederkunft Christi

Frau A hat in langer und mühsamer Arbeit mit der Bibel und innerhalb einer freien Gemeinde, der sie mehr als zehn Jahre angehört, herausgefunden, dass ein äußerst wichtiges Ereignis bereits gewesen ist: die Wiederkunft Christi. Wie Schuppen fiel es ihr eines Tages von den Augen. Sie hörte eine Stimme vom Nordhimmel, dass der Herr mit den Füßen auf dem Ölberg steht. Zur Erklärung dessen, dass sie es erst so spät bemerkt hat, führt sie eine komplizierte Zahlenrechnung an, nach der 42 Jahre von einem biblischen Autor und der kirchlichen Interpretation unterschlagen worden seien. Die genaue Kenntnis der Zahlen aus diversen alttestamentlichen Büchern lässt eine präzise Arbeit annehmen.

Frau A zieht aus ihrer Erkenntnis Konsequenzen. Sie möchte dem Herrn mit einer Öllampe entgegengehen, nachdem sie die Nacht durchgewacht hat. Zunächst fährt sie mit der Bahn, später setzt sie den Weg zu Fuß fort. Allerhand merkwürdige Ereignisse begegnen ihr unterwegs, aber nicht der Herr. Sie wird müde, setzt sich hinter einen Busch. Als sie sich umdreht, steht ein Polizeiauto hinter ihr. Die Polizisten bringen sie nach Hause. Dort allerdings hat bereits die Ordnungsbehörde die Tür versiegelt. Sie wird in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht, wo sie sehr gut argumentieren kann, was die Inhalte der Bibel betrifft. Dennoch nimmt das Gericht eine Zwangseinweisung vor. Die Begründung Psychose erscheint plausibel, zumal Frau A nicht das erste Mal in dieser Hinsicht aufgefallen war. Zum Hintergrund wäre zu sagen, dass Frau A in sehr eingeschränkten materiellen Verhältnissen lebt und zusätzlich auch noch viele Probleme mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten hat. Sie geht ihrer eigenen Gemeinde und auch anderen Menschen durch übergroße Genauigkeit im Hinblick auf die Bibel eher auf die Nerven als sie zu überzeugen.

Eine Interpretationsmöglichkeit kann man eher erahnen. Das große Ereignis - auch noch durch exakte Bibellektüre nachzuweisen - wäre der Ausweg aus dem kleinen belasteten und ereignislosen Dasein ohne weitere konkrete Utopie. Damit ist ein psychodynamisch offensichtlich sehr wesentlicher Punkt religiösen Verhaltens angezeigt: Wo Identität zerbricht, bietet sich das Religiöse als Stütze an. Bei Frau A vereinen sich Sondererkenntnis, exakter biblischer Nachweis und tatsächliche Umsetzung in eine Handlung zu einer neuen, wenn auch mühsamen und bedrohten Identität. Sie erinnert mit ihrem Weg der religiösen Handlung an die "Sondererkenntnisse" vieler Sekten, deren bedrohte Identität durch starres Ritual und scharfe Mitgliederkontrolle geschützt wird.

Bei der Interpretation frage ich mich allerdings in diesem frühen Stadium auch, ob nicht vielleicht zusätzlich oder auslösend ein persönlicher realer Konflikt eine Rolle spielt, der sehr tief an die Wurzeln der Lebensvorstellungen von Frau A reicht. Ohne dass diese Fragen gelöst wären, "stabilisiert" sich Frau A in ihrem Verhalten wieder und kann nach einigen Wochen entlassen werden. Ihr Kontakt zu mir als Seelsorger lässt sich aus der Aussage entnehmen, mit der sie sich nach einem Gottesdienst verabschiedete: „Es gibt Predigten, die sind dünn. Ihre war sehr dünn!“ Die Worte ‚sehr dünn’ dehnte sie lang und laut. Ein positiver Gesprächskontakt ist nicht entstanden.

Im folgenden Sommer ist Frau A erneut im psychiatrischen Krankenhaus. Sie eröffnet mir freudestrahlend, sie habe nun die endgültige richtige Offenbarung über die Wiederkunft Christi erhalten. Sie sei derart glücklich, mir das mitteilen zu können, es sei eine wahre und unumstößliche Gewissheit..... Wir müssten jedoch sehr schnell noch möglichst viele Menschen vor dem Gericht erretten. Meine Aufgabe als Prediger sei es nun, die Dinge deutlich beim Namen zu nennen, den als Hure Babylon jetzt entlarvten ‚anderen Teil’ der Christenheit anzuprangern und meine Amtsbrüder sofort telefonisch zu unterrichten.

"Was", sagt Frau A im zweiten Gespräch, "Sie haben nichts unternommen, um die Botschaft von der Wiederkunft Christi zu verbreiten und einige Seelen zu retten?" Ihre Stimme wird ziemlich laut und sehr heftig. "Das wird auf Sie kommen im Gericht!" Nach einer Weile fügt sie dann etwas leiser und nicht weniger klar hinzu: "Ich weiß jetzt auch den Termin, es ist in zwei Wochen um fünf Uhr nachmittags." Sie lässt mich stehen und fängt an, ihre Mitpatientinnen wegen deren unchristlicher Kleidung zu beschimpfen, ihnen die Botschaft einzuschärfen und im Übrigen das Fernsehprogramm ganz allein zu bestimmen. Widerspruch duldet sie nicht, sie ahndet ihn sogar mit einer deftigen Ohrfeige.

Zum festgesetzten Termin der Wiederkunft Christi sitzen sie, einige Mitpatienten und ich zusammen in "Warteposition". Als der Herr nicht in Erscheinung tritt, beginnt Frau A, ihre Vorstellung mit Interpretationen zu retten. Er selbst sei noch nicht da, aber die Wolke, auf der er kommen werde, sei bereits zu sehen. Jeder habe ja mit verfolgen können, wie just zur bestimmten Zeit der Himmel sich einzutrüben begonnen habe. Dass die Wolke am Westhimmel aufzog, schien sie nicht zu beschweren. Einige Mitpatientinnen schienen eher enttäuscht, einige der Männer hatten etwas Spott übrig.

Frau A wirkt seither eher mehr als weniger gereizt. Sie beginnt aber, sich auf "echte" Gespräche mit mir einzulassen und wird nach einigen Wochen wieder entlassen. Sie gleicht jetzt einer relativ durchschnittlichen älteren Dame und jeder weiß, dass sie zu Hause nicht gerade auf Rosen gebettet sein wird. Sie forscht wahrscheinlich weiter nach dem großen Ereignis, mit der Bibel und auch anderen Eingebungen oder Hilfsmitteln. Für die Kirchengemeinde durchschnittlicher Prägung ist das noch unzugänglich. Selbst Freikirchen sind da vorsichtig. Aber Frau A ist (noch) nicht zu bewegen, sich gründlich und regelmäßig weiter auseinanderzusetzen. Es bleibt bei einer Anzahl eingehender Gespräche im Krankenhaus.

Wenige Tage später saß mir eine gedrückt wirkende Frau gegenüber, die von sich aus keinen Kontakt mehr suchte. Ja es sah gerade so aus, als sei sie mir aus dem Wege gegangen, bis ich mich von mir aus direkt an sie wandte.

Sie wisse es jetzt, dass alles eine Illusion gewesen sei. Sie sei ja oft genug gewarnt worden. Nun habe sie heftige Schuldgefühle und die große Frage, ob denn der Glaube nichts sei? In einem Nebensatz gibt sie Auskunft über die Hintergründe ihres Suchens und ihrer Schuldgefühle. Sie sei der Meinung gewesen, der da kommt, das sei ihr eigener Sohn, sie selbst also die Mutter Jesu. Real - so berichtet sie weiter - habe ihr Sohn schon seit Jahren jeden Kontakt mit ihr abgelehnt und sich verbeten, dass sie Kontakt mit ihm und seiner Familie aufnehme. Ihre Sünden müssten ihr vergeben werden. Frau A ist jetzt allein und nicht von einer aufgeregten Schar von Mitpatienten umgeben. Sie wisse nicht, wie es nun richtig weitergehen solle. Sie könne einfach nicht mehr. Übrigens: Die Offenbarung, die sei an ihrem Zustand schuld. Man dürfe nicht in der Offenbarung lesen. Sie sei jedoch auch hier genug gewarnt worden. Wenn sie an all die grausigen Bilder denke....

Ich versuche, der Zuversicht Ausdruck zu geben, der gegenwärtige Zustand werde irgendwann vorbeigehen, auch wenn sie selbst das so nicht empfinden könne. Ich hätte das schon öfter erlebt. Frau A möchte jedoch die Versicherung haben, es sei durch ihre jetzige Erfahrung nicht der ganze Glaube null und nichtig.

In einem weiteren Gespräch wehrt Frau A den Gedankengang, die ganze Entwicklung könne mit ihrem Wunsch, den Kontakt mit dem Sohn wieder herzustellen, zu tun haben, ab. Das bringe sie nur durcheinander! Sie möchte von mir ein Wort der Bibel haben, das ihr die Gewissheit gebe, nicht aus dem Heil in die Verdammnis gefallen zu sein, sie könne gar nichts mehr und ihr ganzer Schwung sei doch weg. Meine Versuche, ihr zu sagen, sie sei jetzt in einer schlechten Situation und könne deshalb nicht mehr so frohgemut glauben, möchte sie nicht gelten lassen. Frau A kommt auf den Jakobusbrief zu sprechen, wo von den Kranken gesagt wird, sie sollten durch die Handauflegung der Ältesten behandelt werden. Wir suchen gemeinsam nach dem Gleichnis von "verworfenen" Knechten, die schlafen, wenn der Herr kommt.

Die Leidensgeschichte von Frau A ist damit noch nicht zu Ende. Sie wird entlassen, löst ihre Wohnung auf und geht in ein Heim. Einige Wochen später taucht sie in einem völlig verwirrten und desolaten Zustand wieder auf. Sie habe nun den Herrn gefunden. Es sei ein Mitbewohner des Heimes, der sich "genau ausweisen" konnte. "Er wusste alles, was der Messias wissen muss." Erst nach drei Wochen kam der nun fast bemitleidenswerten Frau die Erkenntnis, dass sie "betrogen" wurde. Woher die Wende rührte, ließ sich nicht eruieren. Die Krise scheint diesmal schneller beendet als sonst.

Weiterer Interpretationsversuch

Will man die Geschichte von Frau A weiter interpretieren, lässt sich zunächst nur mit Sicherheit von einer Psychose sprechen, die phasenartig verläuft. Die "Erleuchtung" gibt der Erleuchteten die Macht über die Geschicke und andere Menschen jedenfalls in der eigenen Identität. Damit lässt sich Böses und Widerständiges abwehren und die eigene Rolle und Identität mit großen Bedeutungen neu definieren. Der Schweizer Psychiater Christian Scharfetter deutete solche Symptome als „Indikatoren der Betroffenheit“, die dem „Therapeuten Hinweise, was der Patient unmittelbar braucht“, vermitteln.23 Die Art der Verarbeitung der biblischen Inhalte zeigt an, dass Frau A etwas braucht, was ihrem Leben Halt und Sinn verleiht und die Niederungen ihres Weltempfindens überwindet. Und noch einmal Chrstian Scharfetter: "In der desintegrativen Krise des Ich-Bewusstseins, die wir Schizophrenie nennen, sind häufig im eigentlichen Sinne weltbewegende Themen da: Tod und Wiedergeburt, Weltuntergang und Weltschöpfung, Schöpfer und Geschöpf, Sender und Gesandter, Gut und Böse, Schuld und Sühne, Krankheit und Heilung, Ausgesetztheit und Aufgehoben-Sein, Getrennt - Sein und Eins-Sein. Dies sind religiöse Grundthemen der Menschheit. .... Es gibt aber Wandlungen der Persönlichkeit durch diese Erfahrung, manchmal zu Reife und spiritueller Vertiefung.“24 Er warnt davor, religiöse und psychotische Erfahrungen in einen Topf zu werfen.25 Es wäre wohl möglich, dass Frau A in einer anderen Umgebung einen religiösen Impuls ausgelöst hätte, etwa eine Gruppe um sich geschart, die mit ihr die Endzeit erwartet hätte. In der Hauptsache dient aber ihre wahnhafte Verarbeitung biblischer Inhalte dem Ziel, die Bedrohung der eigenen Identität zu kompensieren. Dabei geht es auch um eine Veränderung der gesamten Umweltwahrnehmung, die mit dem veränderten Ich interagiert. „Bei den Ich-Störungen ist besonders interessant, wie sich nach den Schilderungen von Patienten die innere Logik erschließt. Wenn jemand in dem Chaos seiner eigenen Gedanken und Wahrnehmungen überhaupt nicht mehr zurechtkommt,..., dann wirft er den Notanker – auf andere Menschen.... Es mag ein tolles Gefühl sein, zum Beispiel Napoleon, Gott oder Jesus zu sein. ... Es erscheint als Lösung, dem eigenen Chaos zu entkommen, einfach das Ich zu wechseln.“26Georg Northoff sieht das Ich als „Beziehung zwischen Gehirn und Umwelt“. „Wenn das Ich verändert ist, verändert sich die Beziehung zur Umwelt.“27

Nicht nur in der Seelsorge wäre es sicher falsch, mit Gegenargumenten die Sichtweise von Frau A zu entkräften.28 Zunächst muss die Funktion der Religion als Sicherung der Person erkannt sein, bevor ein Umgang möglich wird. Der Wahn führt nicht zum Leben, wie es der Glaube verspricht, sondern versucht, die Welt festzustellen, damit Ambivalenzen und Unsicherheiten ausgeräumt sind. Der Glaube aber überlässt gewissermaßen die letzte Entscheidung Gott und hilft dadurch dem Menschen, sich in der Welt der Ambivalenzen zurechtzufinden, weil er sie bei Gott aufgehoben weiß. Das ‚Feststellen der Welt’ gleicht einem ähnlichen Konstrukt im islamistischen Terrorismus. Deutlich wird damit, dass eine religiöse Wahnvorstellung – auch wenn sie psychiatrisch als Psychose diagnostiziert werden kann – ganz offenbar Sicherheiten ohne Ambivalenzen im Sinne einer ganz großen Klarstellung sucht oder behauptet. Dies geschieht als Selbstheilungsversuch.

Selbstheilung durch persönliche Glaubens - Dosis?

Andere Beispiele für religiöse Funktionen. Es kommt vor, dass jemand in einer Krankheitsphase äußert: "Ich bin Gottes Frau, das ist mein Geheimnis und soll es bleiben!" Gleichzeitig formuliert diese Frau die Frage, ob es Sünde ist, einen Kaplan mit einer Liebesbeziehung zu "verfolgen", ohne dass er etwas davon weiß. Beides mischt sich mit "mystischen Gedanken", von der Braut Christi, die an mittelalterliche mystische Vorstellungen erinnern.

Andere Menschen gehen während oder nach einer psychischen Erkrankung zu Religionsgemeinschaften, die sichtbare Zeichen einer Aufnahme, wie (Wieder-) Taufe, oder Bekenntnis vollziehen. Ist es eine psychische Strategie der Immunisierung gegen das Leben bzw. bestimmte seiner Aspekte? Betroffensein von Ereignissen kann dann eingeordnet werden in eine bestimmte, vorgefertigte und eingeprägte Sicht der Welt und des Glaubens, in die der nunmehr Gläubige immer tiefer einsteigt. Die eigene Position wird damit dem einzelnen deutlich. Wer sich mit einer solchen Strategie in die Hände einer eher ‚strenggläubigen’ Gemeinschaft gibt, lässt sich beim Hinausfallen aus den Sicherheiten dieser Weltsicht, zur Verstärkung für die anderen Mitglieder, leicht als psychisch krank verstehen. Der Betroffene selbst ist im Rahmen einer solchen Gemeinschaft auch eher bereit, dies einzusehen, weil er ja selbst die Immunisierungsstrategie verfolgt hat. Die Immunisierungsstrategie gegen die Realität verschafft also nicht Leidensfreiheit, aber doch eine bestimmte Sicht des Leidens, eine Leidensqualität. Die Hinwendung zu einer strengen Gemeinschaft kann auch als Strategie der Selbstheilung und Akzeptation gesehen werden. Diese Gemeinschaften werden bei religiösen Bildern der genannten Qualität aber zunehmend abweisend, weil sie Identifikationen mit dem Heiligen auch nicht gutheißen. Sie werden also die Dosis des Glaubens als Heilungsstrategie erhöhen und immer neu anpassen.

SeelsorgerInnen sind bisher kaum in der Lage, eine solche Selbstheilungsstrategie entsprechend zu begleiten, sodass sie darüber hinaus zu einer Integration der Religion in die Person führt. Die Anbindung der Person an die Religionsgemeinschaft verläuft in Form einer Art Dauermedikation. Bestimmte Dosen des Glaubens werden täglich verabreicht bzw. selbständig "eingenommen".

Immunisierungsstrategie

Wenn man Vergleiche mit "normalem" religiösem Verhalten zieht, so fallen zahlreiche Parallelen auf, die auf eine Strategie der Immunisierung hindeuten:

Gebet in Notzeiten,

Zunahme des Kirchenbesuchs bei schwierigen Lagen (Schweden nach dem Palme-Mord, Lage nach dem 9.11.2001, ‚Tsounami’ in Südasien),

Grund für die Kindertaufe in einer Art Immunisierung des Säuglings gegen Unglück ganz im Gegensatz zur gängigen Theologie,

kirchliche Eheschließung als besondere Versicherung gegen kritische Partnerschaftsentwicklung.

Auch das volkskirchliche Leben trägt diese Art von Immunisierungscharakter. Die religiöse Distanz ist geradezu eine Bedingung eines religiösen Kirchenverständnisses, das der Immunisierung dient. Man könnte, angeregt durch das Selbstverständnis, den Umgang des Glaubenden mit seiner Religion(sgemeinschaft) auch mit einem anderen Vorgang vergleichen: mit der Nahrungsaufnahme. Dann würde der Glaube zum täglichen Brot und hätte mit der Immunisierung nichts zu tun. Auch die Nahrungsaufnahme erfolgt manchmal ritualisiert und in bestimmten Formen der Abhängigkeit.

Die Umstände des Umgangs mit dem Glauben lassen jedoch bei vielen eher auf Medikation schließen. Denn die Mitglieder begeben sich in eine starke Abhängigkeit von der Interpretation durch den Pastor. Dieser kontrolliert und verabreicht die Dosis und stellt selbst und mit seiner Leitungsgruppe Diagnosen, wann, wie viel und welche Art der Glaubensmedizin im Moment nötig sei. Die religiös gedachte und formulierte Heilung an Leib und Seele ist nahezu als therapeutisches Ziel anzusehen.

Dies geschieht religionsübergreifend überall da, wo Religion religiös gedacht und genutzt wird. Bei der Erkrankung eines Moslems, die als Psychose diagnostiziert wurde, ergab sich ein Konflikt, der sich in nichts von dem unterschied, was an Konflikten auch im Bereich unserer Seelsorge auftreten kann. Der Vorbeter besuchte den Erkrankten und wollte mit ihm ein siebentägiges Programm der Seelsorge beginnen, das aus Koranlesen und Gebet bestehen sollte. (Wie mir erklärt wurde, handelt es sich dabei um ein meditatives, von wenigen bedeutungsvollen religiösen Formeln eingeleitetes freies Gebet). Aus der Sicht des Vorbeters konnte dieses seelsorgerliche Vorgehen dem Kranken helfen, ohne dass die psychiatrische Behandlung, dadurch gestört wurde.

Der Betroffene aber wurde durch das Gebet in einen Zustand schwerer innerer Spannung versetzt, die sich auch körperlich äußerte. Der behandelnde Arzt interpretierte das als "Dekompensation". Er untersagte die "Gebetsstunden", weil sie dem Patienten schadeten. Bei distanzierter Betrachtung aber handelt es sich hier einfach um zwei konkurrierende Therapien. Das seelsorgerliche Handeln ist trotz oder vielleicht gerade wegen seiner traditionellen Mittel in diesem Falle ein therapeutisches Programm, das ausdrücklich die Heilung zum Ziel hat.

Zwischen den Religionen und Religionsgemeinschaften verschiedener Prägung herrscht kein Gegensatz prinzipieller Art. Die strengen und sektenartigen bilden aber einen Zusammenschluss von Menschen, die Immunisierung sehr dringend brauchen und die Religion therapeutisch benutzen.

Symbole tauchen aus dem „Unterbewusstsein“ auf.

Ein erstaunliches Phänomen tritt dabei immer wieder auf: dass Menschen sich ohne vorherige genauere Kenntnis und Überlieferung ein Bild, Symbol oder eine Gestalt der Bibel aussuchen, die ihre Situation beschreiben. Für C.G. Jung war dies ein Grund, davon zu sprechen, dass eine spontane Reproduktion komplizierter Archetypen "ohne jede Möglichkeit direkter Tradition" möglich sei.29

Ein junger Mann, Student, im Moment und wohl schon länger ohne richtigen "Durchblick" (Selbstschilderung nach einiger Zeit Wohngemeinschaft), fällt auf, weil er meint, er könne wie Jesus über Wasser gehen. Zu diesem Zweck wollte er sich vor einem städtischen Brunnen entkleiden, ohne daran zu denken, dass das beim Gang über Wasser nicht notwendig wäre. Der ‚Entkleidungsversuch’ führte zur Einweisung in die Psychiatrie.

Er trifft in einer Gruppe einen Mitpatienten, der nur in biblischen Sätzen spricht und sich selbst als Johannes bezeichnet, in Wirklichkeit damit aber die "Stelle neben Jesus" meint. Dieser spricht sich große Macht zu im Kampf gegen einen Widersacher aus dem Alten Testament. In der Gruppe meiden sich die beiden und umgehen ihr sonst geliebtes Thema, wirken einsilbig und uninteressiert.

Ein wenig anders verlief die Religionsanbindung bei jemand anderem: Der Betroffene war ein bekehrter Drogenabhängiger. Eines Tages hatte er die Droge durch Jesus ersetzt. Die religiöse Überlieferung war ihm bekannt. In seiner Drogenzeit arbeitete er im Gesundheitsbereich und musste bei Abtreibungen helfen. Als er dann in ein Jesus Center gefunden hatte, baute er allmählich die Meinung auf, als Werk Gottes Beratungsstellen für Schwangerschaftsabbruch zerstören zu müssen: Ein Zeichen des eifernden Gottes gegen die Sünde. Wer denkt da nicht an die Geschichte von Gideon oder Elia, die im religiösen Eifer Götzenbilder zerstörten und Priester anderer Religionen umbrachten. Die Religion ist hier als Begründung in den Handlungsbereich eingegangen. Sie dient zur Motivierung und doch auch zur Schließung einer Lücke im Selbstverständnis. Denn die Handlung im „heiligen Zorn“ richtet sich gegen das, was der Betroffene in früherer Zeit mit vollziehen musste, ohne sich wehren zu können. Sie richtet sich also auch gegen eigene „Mitschuld“.

Möglichkeiten der Interpretation für eine Maria

,,Maria“ wurde nach einer therapeutischen Gruppenbehandlung aufgenommen. Sie geriet auf eine Station, auf der gerade eine Stationsärztin mit starken psychotherapeutischen Interessen und einer Ausbildung im ‚Katathymen Bilderleben’ tätig war. Diese fing auch sofort eine psychotherapeutische Arbeit an, in der sie die starken Tendenzen „Marias“ zur Abspaltung des Bösen erarbeitete und hoffte, auf diese Weise eine Integration des Bösen in die Persönlichkeit der Patientin zu erreichen.

Bei mir fragt Maria nach, wann sie endlich heiraten könne. Ob ich denn nicht nachmittags um vier an der Kirche sein könne. Sie erzählt mir weiter, ihr Mann sei Jesus und da sei sie in der Kirche doch richtig. Zum Bild der Maria zurückkehrend erklärte sie schließlich noch, sie sei schwanger von Gott.

Ich setze voraus, dass „Maria“ Symbole – fest formulierte Bedeutungen religiöser Art - benutzte, um ihren psychischen Zustand zu formulieren. Das Bedeutungsfeld Maria ist die „unbefleckte Empfängnis“, schwanger sein ohne Sexualität oder jedenfalls ohne ‚böse’ Sexualität. Es ist zugleich die in Einssetzung mit dem rein Guten, das alles Böse ausschließt. Maria bringt der Welt das rein Gute, die Erlösung von den Sünden. Wenn der Erlöser schließlich noch der Mann von Maria ist, dann kann eigentlich gar nichts mehr passieren. Alles Böse ist in dieser Vereinigung ausgeschlossen. Immer wieder kommt Maria von sich aus, um eigentlich nichts anderes zu erzählen, und auch den Hochzeitstermin um vier zu bestätigen.

Was Arzt und Pastor betrifft, so ergibt sich ein Austausch über die Probleme des Umgangs mit „Maria“ und auch über die verschiedenen Interpretationsansätze. Die psychotherapeutische Zielsetzung läuft mehr auf die Wiederherstellung „normaler“ psychischer Befindlichkeit (mit Abstrichen) hinaus, die seelsorgerliche eher auf Verstehen dieser bizarren Welt religiöser Bedeutungen, und den dahinter liegenden Anlass einer katastrophalen Bedrohung der Identität als Frau. Maria als Bedeutungsgestalt könnte als Hinweis auf eine Störung im Bereich der Sexualität begriffen werden. Die bösen Anteile werden dabei bestimmten Traditionen folgend (unbefleckte Empfängnis) abgespalten. Es bleibt die Möglichkeit, Frau zu sein, ohne „böse“ Sexualität. Dazu kommt als zweites, dass Maria „nichts dafür kann“; sie wurde ausgesucht und vom Engel konfrontiert, ohne die Möglichkeit, nein zu sagen (Matthäus 1).

Maria ist also ohne Einfluss auf ihr Schicksal als Frau und wird ohne Einwilligung Mutter. Schließlich nimmt ihr Mann Josef sie trotz dieser Lage zur Frau. Damit kommt im dritten Schritt eine Reduzierung des Ausgeliefertseins, die durch die Liebe eines Mannes bestimmt wird. Die „Maria“ geht aber nicht bis zu diesem Schritt. Sie verweilt bei der Vorstellung, Gottes Frau zu sein, die sich in diesem „Wahn“ offenbar mit dem Gedanken verträgt, gleichzeitig die Frau Gottes und ihres eigenen Sohnes zu sein. So wäre Gott gleich Jesus oder umgekehrt.

Im tatsächlichen Verhalten sehnt sich „Maria“ danach, ihren Mann, von dem sie geschieden ist, wieder zu bekommen. Er soll sie damit - so könnte aus dem Symbol gefolgert werden - von dem Geschehen (Promiskuität) nach der Scheidung befreien und sozusagen „legalisieren“, was an Sexualität passiert ist. Die Identifizierung mit Maria deutet darauf hin, dass sie dem Geschehen, Frau zu sein, hilflos ausgeliefert ist. Sie hat es nicht gesteuert, sondern es hat sie gesteuert. Doch die Folge, „schwanger von Gott“ zu sein, zeigt dennoch eine Akzeptation des Geschehens an. Schließlich ließe sich ja damit eine besondere Rolle begründen, nach der es ihrem Mann eine Ehre sein muss, sie (wieder) zur Frau zu nehmen.