Man will wissen, was dahintersteckt - Martin Hagenmaier - E-Book

Man will wissen, was dahintersteckt E-Book

Martin Hagenmaier

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Beschreibung

An Gott zu glauben steht heute unter dem Verdacht der Rückständigkeit, jedenfalls dann, wenn es mit "der Kirche" zu tun hat. Zumindest gilt das in West-Europa. Katholisch ist gleichbedeutend mit Missbrauch, evangelisch scheint belanglos. Das betrifft vor allem die mediengeplagte sogenannte Öffentlichkeit. In anderen Weltregionen herrscht die Religion ohne jede Beeinträchtigung über ganze Kulturen und einzelne Staatgebilde, bis hin zur mit Überzeugung ausgeführten Todesstrafe für Abtrünnige. Verfolgung Ungläubiger und Herrschaft im Namen Gottes gehören dort zum politischen Programm. Strenge Religionsauffassungen treten gegen liberale an, auch in der gleichen Religionsgemeinschaft. Schließlich haben in Sachen Religion islamistische Selbstmordattentäter zeitweise die Meinungsführerschaft übernommen, obwohl, das, was sie anrichten, außer in manchen Geschichten des Alten Testaments, in keiner Religion auch nur ansatzweise befürwortet wird. Zur Religion gehören früheste Ritualreste an Höhlenwänden ebenso wie rätselhafte Steinzeithinterlassenschaften, neuere Verschwörungstheorien, alte und neue Gottesbeweise. Alles findet sich im religiösen Erbe zumindest Europas und Arabiens, sei es religionsphilosophisch, theologisch oder aus der Warte eines Weltbürgers wider Willen formuliert. Daseinsabsicherung, der Sinnbezug, die Zugehörigkeit, die Rache, die Identität, Vernunft und Unvernunft, der direkte Zugang in den Himmel und in die Hölle, das Lebensrecht der anderen, Sitten sowie Bräuche und deren Verfall, Verehrung und Verachtung, Schöpfung und Weltuntergang. Manches schaut sich der Autor fassungslos an. Anderes hält er für sinnlos oder verwerflich. Weder die Religion mit ihrer Theologie, noch das geordnete Nachdenken namens Philosophie bietet eine Lösung an, nach der der Widerstreit beendet werden könnte. Beide können sich die Daseinsberechtigung nicht gegenseitig absprechen, sei es durch "logischen Beweis" oder Glauben an eine Offenbarung. Die Auseinandersetzung oder das Gespräch: Beides bleibt spannend in apokalyptischen Zeiten.

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Inhalt

Einleitung

1. Vorgeschichtliche Zeugnisse vom Glauben

Übergang zu ausgeformten Systemen der Religion

Gemeinschafts- und Identitätsbildung

Kurz gesagt

2. Religion und Philosophie

Der Übergang von mündlicher zu schriftlicher Überlieferung

3. Die Götter (der Griechen)

Philosophische Reaktion auf die Götterwelt

Höchster Gott

Gott im

Der überhimmlische Ort

Philosophie ist Nachahmung des Göttlichen

Die göttliche Sphäre

Kurz gesagt

4. Der Religionsbegriff bei Cicero

Nur wenige leugnen die Götter

Epikur

Die Stoa

5. Die richtige Religion

Augustin - die wahre Religion

Überleitung zum Hochmittelalter

6. Gottesbeweise der Scholastik

Anselm von Canterbury - ontologischer Gottesbeweis

Interpretation des ontologischen Gottesbeweises

Bewertung des ontologischen Gottesbeweises

Weitere Gottesbeweise (Thomas von Aquin)

Kritik der Gottesbeweise

Kurz gesagt

7. Religion strukturiert Gesellschaft

Verständnis des Daseins hängt am Gottesbegriff

8. Glaube und Vernunft in der Aufklärung

Ich denke, also bin ich

Der Begriff des Unendlichen geht dem Endlichen voran

Gott bleibt eingeborene Idee - außerhalb der Offenbarung

Augustinische Form von „Ich denke, also bin ich“

John Locke: keine einborenen Ideen

Kurz gesagt

David Hume: Theismus, Aberglaube und natürliche Religion

Der Mensch ist an Erfahrung gebunden

Religion entsteht aus der Sorge um das tägliche Leben

Gotteserfahrung der „großen Masse“: Rückfall in den Aberglauben

Aberglaube ist Angst und frömmliche Überhöhung: Heiligenverehrung

Vom Theismus zum Polytheismus und wieder zurück

Monotheismus hat nicht nur Vorteile

Priesterherrschaft ist ein Übel

Eingeprägte natürliche Religion

Gott zu erkennen, heißt ihn zu verehren

Kurz gesagt

9. Religion ist Geschmack und Sinn fürs Unendliche

Metaphysik und Moral sind nicht Religion

Keine ewigen Wahrheiten - Religion ist Anschauung und Gefühl

Der „Moment“ ist die höchste Blüte der Religion

Gott kann man nicht in einen Begriff sperren

...

über das Menschliche hinaus

Vernünftigkeit ist das Gefängnis der Religion

Bildung und Religion

Religion ist die Vielheit der Bekenntnisse

Kurz gesagt

10. Definition von Religion

11. Neue Deutung von Religion: Ludwig Feuerbach

Der Anfang der Philosophie ist das

Der Mensch existiert nicht von sich aus

Der Wunsch ist der Ursprung der Religion

Gottesvorstellungen sind „die Wünsche“ der Menschen

Theologie ist Anthropologie

Was ich wünsche, ist mein Gott

Widerspruch zwischen Glauben und Liebe

Eine theologische Antwort

12. Karl Marx - Religion als Symptom der Entfremdung

Kurz gesagt

13. Die Angst vor dem Gottesverlust

Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab

Die Nachwachen des Bonaventura

Der tolle Mensch - Gott ist tot.

Kurz gesagt

14. Der Gotteswahn – die atheistische Reaktion

Christlicher Glaube ist nicht „unvernünftig“, sondern tröstlich

Atheismus ist „vernünftig“ - Gott ist „unvernünftig“

Religion wird mit Fundamentalismus gleichgesetzt

Unwahrscheinlichkeit Gottes

Die Bibel taugt nicht als Grundlage für Ethik

Verbalinspiration

Das Gift der Religion

Religion tötet

Kurz gesagt

15. Neue alte Formen der Offenbarung

Gott offenbart sich im Tod des gottlosen Feindes und im Sieg

Gewalt – keine Erfindung der Islamisten

Mystik der Gewalt - Gewalt als Gottesbeweis

Apokalypse als Ende der Welt

Die Befreiung des Menschen

Das Heil der Welt

Timo „hat sich konvertiert“

Die Blitzradikalisierung von J

Religiöser Anstoß für die Politik im „Lebensschutz“

Eine christliche Bekehrung

Kurz gesagt

16. Religionsersatz durch Verschwörungswahn

17. Warum Religion?

Religion als gesellschaftliche Größe

Theologien und Philosophien stehen für das öffentliche „Aushandeln“ von Gemeinsamkeiten

18. Das „System“ Religion

19. Narrative in der Postmoderne

Ein eigentlich ungeeignetes Beispiel

20. Folgerungen

Das Beispiel Empathie

Vernunft kann Religion nicht „wegargumentieren“

Glauben kann nicht dinglich umgesetzt werden

Die menschlichen Grundfragen sind nicht beantwortet

Religionen funktionieren nicht nach Logik

Virtuelle Asozialität

Umsetzungsweltmeister

21. Apokalypse

Propheten

Sacharja

Daniel

Die Offenbarung des Johannes

Kosmische Anklänge

Koran

Religion, Apokalypse und Vernunft

Die Grenzen des Wachstums

Index (Begriffe und Namen)

Literatur

Einleitung

Bei einer Autofahrt in Berlin Tempelhof war ich etwas verwirrt, als auf der sechsspurigen Fahrbahn auf beiden Seiten die rechte Fahrbahn neben dem Parkstreifen zum Teil doppelt zugeparkt war - und das über mehr als einen Kilometer. Was für eine Großveranstaltung?! Es war Freitagmittag, die Moschee und eine Masse Menschen kamen in Sicht. Welche unabsichtliche Demonstration dessen, was Religion bedeuten kann! Alleine die Menge der Menschen und ihrer Fahrzeuge zeigten Sichtbarkeit und Macht. Wer dagegen an einem normalen Sonntag irgendeine Kirche aufsucht, der zählt ein paar Einzelne, die sich in einer großen Kirche verlieren. Dennoch haben die christlichen Kirchen immer noch, wenn auch schwindende, strukturelle Macht, wie sich etwa an der Beschränkung der Ladenöffnung an Sonntagen oder an der Bewertung von sonstiger Sonntagsarbeit zeigen ließe.

Eine Anleihe an frühere Vorstellungen nahm der russischorthodoxe Patriarch von Moskau im Hinblick auf den Ukrainekrieg 2022. Er bezeichnete die von Russland überfallenen Ukrainer und ihre Soldaten als „Kräfte des Bösen“1 und positionierte damit das Christentum als Wahnvorstellung aus einer finsteren Vergangenheit. Und er sagte, es gehe beim Ukrainekrieg um das Seelenheil im Jüngsten Gericht. „Die orthodoxe Kirche bestehe auf einer von Gott gestifteten Werteordnung und distanziert sich von der säkularen Auffassung von Menschenrechten.“2

Religion war vorher den einen nur aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die Migration bekannt. Andere sehen sie als Privatsache an, die im Grundgesetz geschützt wird. Wer konfirmiert, gefirmt oder kirchlich getraut wurde, hat eine Idee davon, dass die Kirchen etwas damit zu tun haben. Wer kirchlich sozialisiert ist und einen Teil seiner Kindheit oder Jugend in kirchlichen Kreisen verbracht hat, hat u.U. ein ganz positives Bild von Religion. Bezieht jemand seine Identität aus dem Eintauchen in die Moscheegemeinde, lebt er darin. Wie - das wissen wir - die anderen - noch nicht so recht.

Ganz anders aber sieht das jemand, der in kirchlichen Zusammenhängen missbraucht wurde. Wessen Gedächtnis ein paar Jahre zurückreicht, weiß vielleicht, dass Religion auch als Begründung dient, um mit einem Lastwagen Menschen tot zu fahren. Manche haben Angst vor Religionen bzw. den Menschen, die sie vertreten. In einer Buchbesprechung kam der Satz vor, man müsste vielleicht „weniger Religion wagen“.3 Ob Religionen gar gefährlich sind, fragte ein Autor per Buch.4 Aus dem Geschichtsunterricht weiß man, dass es Zeiten gab und gibt, in denen Religionskriege die Menschheit plag(t)en und religiöse Zugehörigkeiten politische Handlungsweisen von Herrschern zu dominieren schienen. Für Europa war das trotz zeitlicher Nähe im „dreißigjährigen Krieg“ (1618-1648) zumindest im zweiten Teil des 20igsten Jahrhundert fernste und finsterste Vergangenheit – bis auf Rudimente in Nordirland und im ehemaligen Jugoslawien.

Aber mehr oder weniger offizielle Religionsvertreter aller Religionen sind sich einig: Religion ist für gute Moral und für menschliches Zusammenleben nicht nur förderlich, sondern sogar Ausschlag gebend. Daher tut jeder Staat gut daran, Religionsfreiheit zu gewähren und ihre jeweilige Ausübung unter Schutz zu stellen. Warum dafür nicht die Grundrechte ausreichen, das hat in Europa Gründe in den historischen Auseinandersetzungen zwischen den (einst) mächtigen Institutionen Kirche und staatliche Herrschaft, die beide den ganzen Menschen für sich beanspruchten. Darin liegt auch der Grund dafür, dass Religion bis heute in Deutschland ein ordentliches Lehrfach ist oder die Kirchen Zutritt zu Anstalten, Militär und öffentlichem Diskurs grundrechtlich garantiert bekommen. In anderen Weltregionen denkt man gar nicht daran, Religion frei zu geben. Dort bildet sie ein Herrschaftskonstrukt wie etwa im so genannten Gottesstaat Iran. Wenn man dort genauer hinzuschauen versucht, findet man, dass die Religion oft eine Art Gloriole für bedrohendes oder verbrecherisches Handeln sein kann. Im Übrigen wird dort knallharte Interessenpolitik von Religionsvertretern gemacht. Wer das will, dem fallen dazu auch weitere Staaten ein – zuletzt im christlichen Bereich ein Teil der USA. Bemerkenswert erscheint dabei eine Parallele, die diese Staaten verbindet: Sie verhängen und vollziehen die Todesstrafe (religionsübergreifend) und treffen sich in diesem Punkt mit China.

Wenn man so über die Religion nachdenkt, muss man feststellen: Es gibt heute nicht mehr „die Religion“, sondern nur „die Religionen“. Noch vor vierzig Jahren war ein konfessioneller Ansatz im Religionsunterricht völlig unbestritten. Rein rechtlich und praktisch ist er es auch heute noch. Das Selbstverständnis der Lehrenden hat sich aber doch verändert. War früher der Inhalt ‘andere Religionen’ etwas Exotisches, so spricht man heute über seine Nachbarn. Im öffentlichen und medialen Diskurs steht der Islamismus mit seiner gewalttätigen Ausprägung an erster Stelle. Alle Religionen, zumal auch die islamische, betonen immer wieder, sie hätten damit nichts zu tun und würden gar missbraucht.

Dass ein solch - euphemistisch gesagt - vielfältiges Bild Religion darstellt, macht es nicht leicht, sich damit auseinanderzusetzen und eine eigene begründete Sicht dessen zu entwickeln, was Religion ist. Aber: Ist es überhaupt hilfreich, eine „begründete Sicht“ von Religion zu haben? Religion fühlt man mit/in seinem Leben. In mittelalterlicher Zeit war - so denken und glauben wir heute - „die Religion“ die eigene, in diesem Falle christliche, und ihre Wahrheit die Wahrheit. Es gab in diesem Weltbild keinen Grund, Religion von außen zu betrachten. Leben, Denken und Glauben spielten sich innerhalb dieser Wahrheiten und daraus gebildeten Institutionen und Machtverhältnissen ab. Wer das nicht wollte oder nicht hineingeboren war, wurde im Zweifelsfalle zwangsmissioniert, zum Widerruf gezwungen oder als Ketzer bekämpft und möglicherweise verbrannt.

Das war nur in der Zeit der zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert unter muslimischer Herrschaft anders. Da gab es in Andalusien fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Muslimen, Juden und Christen. Sie bekehrten sich nicht gegenseitig, sondern setzten sich z.B. in der Philosophie und weiteren Wissenschaften auseinander, lasen gegenseitig ihre Schriften. Alle bezogen sich auf Aristoteles. Sie vertrauten der Vernunft als gemeinsamer Basis. Diese Zeit aber ging durch die Herrschaft der Almohaden, einer muslimischen Dynastie der Berber, im zwölften Jahrhundert zu Ende.

Mit dem Humanismus und der Reformation änderte sich das Religionsverhältnis in der christlichen Welt. Die dann nicht mehr eine (katholische) Christenheit war nun zumindest geteilt und man konnte dem jeweils anderen beim Glauben zuschauen, ohne ihm zustimmen zu müssen, zu wollen oder zu können. (Warum übrigens das Schisma, die Abspaltung der orthodoxen Kirche (1054), diese Wirkung nicht hatte, wurde bisher nicht untersucht.) Die auf diese Weise konfessionell veränderte Situation schuf den Grund für allmählich und langsam zunehmende Freiheit im Glauben. Denn es gab zunächst zumindest eine konkrete Alternative. Machtkämpfe um die Wahrheit, d.h. Macht und Recht, aber entbrannten nun zwischen verschiedengläubigen Herrschern in Europa, nicht mehr überall in der kirchlichen Innenwelt (Inquisition) oder zwischen kirchlicher und weltlicher Macht. Die weltliche gewann die Hoheit und begann, „der Religion“ ihren privilegierten Platz im Staat zuzuweisen.

Religionsphilosophie und Religionswissenschaft vermitteln keinen Glauben, sondern denken darüber nach, was Religion und / oder Glaube begrifflich darstellt. Der von außerhalb gerichtete Blick kann Religionsphilosophie oder Religionswissenschaft genannt werden. Er verbindet sich aber mit dem Blick aus der eigenen Erfahrung des gemeinsamen Lernens. Das Verstehen und Darstellen von Inhalten verschiedener Religionen in ihren Texten, ihre Beurteilung und Bewertung und die Erarbeitung einer eigenen Sicht bilden dabei den Schwerpunkt. Der Religionsphilosophie geht es vorerst um die Erarbeitung einer Perspektive auf Religion, den Begriff, die Form und das Kennenlernen einiger Konzepte religionsphilosophischer Art. Dann folgt die Diskussion um den Atheismus, danach um den Fundamentalismus als eine Art der „Religionsausübung“ mit direkter Umsetzung des Gotteswillens, mit der man sich auch theoretisch auseinandersetzen muss.

Viele Teile eines neuen Textes bestehen aus der Beschäftigung mit Gelesenem. Meiner Auffassung nach sollte man fremde Gedanken, selbst wenn sie den eigenen entsprechen, möglichst exakt abgrenzen und daher häufig zitieren, statt einfach zu referieren. Die Aufregung um die so genannten ‘Plagiat - Dissertationen’ in politischen Kreisen, in denen seitenweise fremde Texte ohne Kennzeichnung übernommen wurden, ist für mich der Anlass zu diesem Verfahren. Sorgfältiger Umgang mit Texten wird gerade im Zeitalter des weltweiten Netzes immer wichtiger und gehört zur sauberen Denkarbeit. Oft stellen Textausschnitte das Gemeinte besser vor als eigene Versuche der Zusammenfassung.

Die Religionsphilosophie beschäftigt sich vor allem mit dem Gottesbegriff und den Fragen der Erkennbarkeit Gottes. Dadurch muss sie sich aber auch um die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen kümmern. Ob die menschliche Erkenntnis aus der Betrachtung der wahrnehmbaren Welt entsteht, der sie selber entstammt, oder ob sie auf einer vorgegebenen und angeborenen Vernunft aufbauen kann, spielt eine Rolle. Kommt man also zur Religion, zum Glauben an Götter oder Gott, durch Fantasie, Rückschluss, Projektion, Begegnung, Wahrnehmung oder Erkenntnis? Das sind spannende Fragen, die die Menschheit und ihre Geistesarbeiter seit Jahrtausenden beschäftigen. Ihre Antworten haben sich mit der Zeit kaum verändert. Sie sind aber natürlich sprachlich und in der Gedankenführung je nach Zeit, gesellschaftlichen Umständen oder wissenschaftlicher Überzeugung sehr verschieden formuliert.

Mit dem Inhalt dessen, was mit Gott gemeint ist, hat sich auch der Schriftsteller Navid Kermani beschäftigt. Da geht es nicht um Erkennbarkeit und Definition, die stets etwas ausgrenzen oder für das geistige Instrumentarium nicht zugänglich erklären. Da geht es um Wahrnehmung, Erzählung, innere Bewegung und die großen Bilder der religiösen Überlieferungen.

„Der Islam oder das Christentum oder das Judentum oder irgendeine andere Religion ist schließlich nicht in Büros entstanden, in Bibliotheken oder in Klassenzimmern. Die Religionen sind entstanden, wo Menschen sich in der Natur umgeschaut haben oder sich um ihre Liebsten sorgten, als sie selbst krank waren, hungerten oder sich verloren fühlten, bei der Geburt ihres Kindes oder beim Tod der Eltern, also mit den wichtigsten Ereignissen, die es im Leben eines Menschen gibt.“5

Von Gott redet man nicht in Formeln und logischen Schritten, sondern mit seinen „Lebens-Erfahrungen“, mit dem Unsagbaren, mit Gleichnissen und Gefühlen. Kermani hält Gott für einen Dichter. Daher lässt er sich nicht in Logiken oder Definitionen einfangen, sondern in Paradoxien oder Gleichnissen – also oft unlogischen Inhalten.6

In christlichen Gebieten fand man noch vor nicht allzu langer Zeit eine „Volksreligion“ höchst einfacher Art: In einem schwäbischen Dorf gab es einen evangelischen Pfarrer, der so vernünftig war, sich während einer Trockenphase in den 1950iger Jahren gegen den Wunsch zu wehren, in einem Gottesdienst um Regen nachzusuchen. Die Bauern setzten ihm zu, weil sie ihre Existenz durch Wassermangel bedroht sahen. Es ging mit der aufgeklärten Position des Theologen gut, bis sich die Stimmen häuften, der Pfarrer im Nachbardorf habe schon zweimal einen Bitte-um-Regen-Gottesdienst gehalten. Und – hat es dann geregnet? hieß die aufgeklärte Gegenfrage. Schließlich aber gab er dem Wunsch der gesamten Gemeinde nach und betete öffentlich um Regen. Ich fand das schon als Kind irgendwie peinlich. Das ganze Dorf aber war sehr zufrieden. Ein paar Wochen später regnete es tatsächlich. Der evangelische Theologe sagte dazu: Das wäre sowieso passiert. Wenn das nicht so wäre, müsste man Gott sehr kritisieren, da er seine „Pflicht“ versäumt, die Ernährung der Menschen durch gezielte Bewässerung sicherzustellen. Das kann ja heute jeder Kleingärtner mit seinem Bewässerungssystem und der zu gehörigen App - sofern er Wasser beschaffen kann. An letzterem mangelt es Gott sicher nicht. Wenn es also nicht regnet - ist es Gottes Wille oder zumindest ein Hinweis für die Menschen, wenn nicht eine Strafe? Diese religiöse Logik ist Theologen eher peinlich.

Der Philosoph spricht vom unvernünftigen Gottesbild: Warum sollte Gott es regnen lassen, nur weil ein Pfarrer und einige Amtsbrüder auf der Alb darum bitten. Sollte Gott tatsächlich schwäbisch verstehen und den Regen so ausrichten, dass er nur die „betenden Regionen“ betrifft? Peter Sloterdijk hat das treffend zusammengefasst: „Häufiger sind es die Sterblichen, die die Hilfe höherer Kraftquellen ansuchen – dann richten sie die Bittopfer aus, die man nicht erst in der Aufklärung als Versuche zur Bestechung des Jenseits gedeutet hat. Tatsächlich gehorchten solche Opfer seit je einer Logik der Spekulation auf Abfindung: Hackt man sich selbst einen Finger ab, verzichten die Götter vielleicht darauf, das ganze Selbst zu nehmen.“7

Der Streit um die Wahrheit ist in diesem Segment schon lange entschieden. Das hindert jedoch auch im 21. Jahrhundert Mitmenschen nicht daran, Pastor*innen zu fragen, ob sie nicht genug gebetet haben, wenn es leider immer wieder zu geplanten Grill-Termin regnet. – Nicht immer handelt es sich um einen kleinen, ziemlich doofen, Spass. In der Klimakrise bezieht sich dann die Frage eher auf das Zuviel an Sonne und zu wenig Regen oder die unvorhergesehene Flut.

Was bedeutet das alles für theologische und philosophische Versuche zur Religion? Hat Gott nun die Welt menschenzentriert geschaffen oder ist das gerade diese Einbildung das Problem der Menschheit? Man muss nicht das eine für richtig und das andere für falsch halten, sondern kann beides bedenken. Darin liegt der „Fortschritt“: Dass Menschen nicht um jeden Preis der je eigenen Religion ‚verhaftet’ bleiben müssen. Sie können alle Glaubensmodelle, Methoden und Kenntnisse nutzen, um sich ihre Anschauung der Welt zu bilden. Der Preis dieser Freiheit liegt im Verzicht auf die Absolutheit bzw. absolute Sicherheit der jeweiligen Anschauung. Für die Religionen bedeutet das einen Schritt zur „Zivilisierung“, in dem sie den Frieden vor ihre Wahrheit stellen.8

Für die Menschheit folgt daraus eine globale Unsicherheit über den Zweck der Veranstaltung. Wenn zufällige Planlosigkeit hinter der Entstehung der Menschheit Regie führen sollte, dann können die Menschen durch Evolution auch wieder von der Erde verschwinden. Dessen wird sich die Menschheit soeben bewusst. Die unausweichliche Nachbarschaft der Menschen und ihr Ressourcenverbrauch zwingt sie ebenso zu dieser „Einsicht“ wie die gemeinsame Erfahrung der Klimakrise.

Manche möchten den eigenen Absolutheitsanspruch behalten und betonen ihn nachdrücklich und „unzivilisiert“ bis hin zum Terrorismus. Nicht nur der Islamismus steht dafür, sondern auch der Patriarch aus Moskau. Manche möchten weiterhin die Menschheit als „Krone der Schöpfung“ verstehen, für die und auf die hin alles „geschaffen“ ist. Da erscheint die Evolutionsthese als „Beleidigung“ Gottes und der Menschen. Wenn die Menschheit (nur) Ergebnis einer blinden Evolution unter den Bedingungen des Überlebens der Fittesten sein sollte, überlebt sie nur, solange sie sich als fit erweist. Das grundsätzliche Vertrauen ewiger Fortdauer des Lebens kommt nicht mehr aus dem Glauben an den Zweck der „guten Schöpfung“ und der ihr innewohnenden allgeltenden Vernunft. Die Fortdauer des Lebens in seiner gegenwärtigen Gestalt unterliegt nun fast ganz dem „Wohlverhalten“ der Menschen im Hinblick auf die begrenzten Daseinsräume auf der Erde. Der Club of Rome präsentiert dafür ein „Überlebensmodell“, das die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt. Damit tritt eine nahezu „absolute“ Erkenntnis auf, die alles leitet: Wenn Menschen sich nicht selbstbeschränkend und ihre sozialen Verhältnisse ordnend in die ökologischen Zusammenhänge einfügen, bedrohen sie sich selbst und alle.9 Die Menschheit wird zum Risiko für die gesamte Schöpfung bzw. Evolution. Die „Risikogesellschaft“10 als Unsicherheit für die Lebensplanung des Individuums (im nationalen Rahmen) hat sich in das Schöpfungsrisiko „Menschheit“ gewandelt. In der „Metamorphose der Welt“11 müssen nicht nur „die Gesellschaften“ entnationalisiert gedacht werden. Die Menschheit in der Welt setzt sich selber aufs Spiel, was auch immer sie denkt und woran auch immer sie glaubt.

1 Orthodoxer Patriarch bezeichnet ukrainische Soldaten als "Kräfte des Bösen" (deutschlandfunkkultur.de), 27.02.2022.

2 Kerstin Holm, Feldzug gegen die Sünde, aktualisiert am 08.03.2022. Russlands Patriarch: Ukraine-Krieg als Kampf gegen die Sünde (faz.net).

3 Siehe „druckfrisch“ in der ARD am 25.11.2018, https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/top-ten/sachbuch-108.html.

4 Schieder, Rolf, Sind Religionen gefährlich? Berlin: University Press 2008.

5 Navid Kermani, Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott, München: Carl Hanser Verlag 2022, 11.

6 A.a.O., 63.

7 Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie, Berlin, Suhrkamp Verlag, 1. Taschenbuchauflage 2022, 71.

8 Ulrich Beck, Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt und Leipzig: Verlag der Weltreligionen 2008, 111, 238f.

9 Sandrine Dixson-Declève, u.a., Earth for All, Ein Survivalguide für unseren Planeten, Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach „Die Grenzen des Wachstums“, München: oekom verlag 2022.

10 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne Taschenbuch, Berlin: Suhrkamp Verlag, 23. Auflage 2016.

11 Ulrich Beck, Die Methmorphose der Welt, Berlin: Suhrkamp Verlag 2016.

1. Vorgeschichtliche Zeugnisse vom Glauben

Von christlich - theologischer Seite wird immer wieder behauptet, dass irgendeine Art von Glauben das menschliche Leben kennzeichnet. Genaueres können wir darüber aus schriftlichen Quellen erfahren, die aber nur jeweils das wiedergeben, was der jeweilige Autor dachte. Insofern können Aussagen über ein wesentlich zum Menschen gehörendes Glauben irgendwelcher Art immerhin hohe Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Es hat offenbar zu allen Zeiten, die überliefert sind, eine Art von Glauben gegeben, die Gruppen oder Gruppenverbände, Völker oder Gesellschaften gemeinsam ausgeübt haben. Insofern sind sie auch beschreibbar. Es handelt sich um ritualisierte Verehrungen, Riten oder Zusammenkünfte an bestimmten Orten. Die Orte sind überliefert durch Bauten aus Holz oder Stein, die archäologisch erschlossen sind, oder auch in Form von Höhlen. Weil bei den älteren Zeugen die Schriftlichkeit fehlt, sind wir auf Interpretationen vorhandener Zuordnungen, Gravuren, Bilder, Schnitzfiguren oder Zeichnungen angewiesen.

So sieht man auf Höhlenzeichnungen, die bis zu siebenunddreißigtausend Jahre (Paläolitihicum: Aurignacien) alt sein mögen, Tiere, Jagdszenen, Hände oder einfach Striche. Sie können als Darstellung von Tieren, welche die Menschen jagten, angesehen werden oder aber als Bannung von Gefahr für Menschen durch diese Tiere oder als Verehrung und Anlass für Zusammenkünfte zu Ehren des Jägers oder des Gejagten. Hände können auch einfach nur Selbstdarstellung oder Copyrightvermerk des Künstlers sein. Sie könnten auch zur Abwehr von „Unbefugten“ dienen.

Wenn man die Höhlenmalereien heute anschaut, kann man nur fasziniert sein, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln die Künstler dieses Zeitalters in der Steinzeit ihre Werke an die Wände brachten. Daher sind wir auch bereit, ihnen tiefere Bedeutung beizumessen. Es können nicht einfach Grafitis gewesen sein, die aus Langeweile oder Schlaflosigkeit in langen Nächten Zeit, vielleicht Einsamkeit oder Angst vertrieben haben. Steckt also ein bestimmter Glaube oder ein Ritual dahinter? Waren vielleicht Schamanen am Werk und was haben sie dort für wen getan? Handelte es sich um Kunst unter Drogen oder anderen Ausnahmezuständen? Das lässt sich aus unserer Sicht nur phantasieren.

Jedenfalls liegt das vermutete Religiöse in einer Verbildlichung und Symbolisierung von Mitgeschöpfen und von sich selbst sowie Mischformen.

In einer Titelgeschichte griff der Spiegel das anscheinend „plötzliche“ Auftreten künstlerischer Aktivitäten der Menschen auf. „Wer diese Höhlenbilder sieht, ahnt etwas von der Sehnsucht ihrer Urheber. Sie hielten Wünsche fest. In Chauvet12 wird das Bestiarium der Natur zum Stillleben erlöst. Was sonst flieht, rast und davonstiebt, ob Pferd oder Hirsch - im Flackerlicht urzeitlicher Fettfunzeln war es harmonisch erstarrt und in die Ewigkeit entrückt.“ 13

Noch ältere Schnitzereien könnten als Andenken, Symbol, Talisman oder heiliger Gegenstand benutzt worden sein. Menschen-, Tier- und Mensch-Tier-Darstellungen, auch funktionsfähige Flöten wurden in schwäbischen Albhöhlen aus der Altsteinzeit gefunden (eingeordnet von 42.000 bis 43.000 vor unserer Zeit) und ergaben ein Bild von damaliger Kultur. „Ob diese Innovationen, die auf der Alb bestens belegt sind, durch den Einfluss von klimatischem Stress, der Konkurrenzsituation mit einer anderen Menschenform oder anderen sozio-kulturellen Dynamiken ausgelöst wurden, bleibt weiter zentral im Fokus der Forschungen der Wissenschaftler aus Tübingen und Oxford.“14 Besonderes Aufsehen erregte der 30 cm hohe Löwenmensch15 aus der Hohlensteinhöhle, der als Schamane gedeutet wird: „Bereits in den primitiven Fellzelten und Höhlengewölben des Jungpaläolithikums traten Zauberer an, die mit Masken und Puppen die Geister der Natur nachahmten, um sie zu beschwichtigen.“16 Ein Transzendieren der vorfindbaren Wirklichkeit, zumindest der Versuch, mit der nicht sichtbaren Welt zu kommunizieren und so Einfluss zu gewinnen, kann darin vermutet werden. „So wäre es nicht allzu weit hergeholt, sich einen Löwenmenschen-Kult vorzustellen – wo am Lagerfeuer tanzend der Schamane oder der beste Jäger des Clans mit übergehängtem Löwenfell in spirituellen Kontakt zum Herrn der Tiere tritt. Und wo löwenköpfige Elfenbeinfiguren, getragen von den Mitgliedern des Clans, ein Wir-Gefühl schaffen – eine Gestalt gewordene Abgrenzung von konkurrierenden Kultgemeinschaften.“17

Mit etwas Phantasie kann man einen religiösen Kult aus den Funden lesen: „Sogar eine Art Religion rankte sich im Paläolithikum bereits um die Raubkatze. Das jedenfalls deutet der Löwenmensch an, der als ein "Schlüsselfund" der paläolithischen Kunst gilt. Die Mehrheit der Forscher geht davon aus, dass die knapp 30 Zentimeter hohe Figur einen Schamanen zeigt, verkleidet im Fell des Königs der Tiere.

Mischwesen dieser Art finden sich viele im Aurignacien. Ob sie alle Schamanen darstellen, lässt sich nicht sagen. Sicher aber scheint: Bereits in den primitiven Fellzelten und Höhlengewölben des Jungpaläolithikums traten Zauberer an, die mit Masken und Puppen die Geister der Natur nachahmten, um sie zu beschwichtigen.

Der Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel im Lonetal ist eine 35 - 41.000 Jahre alte Skulptur aus Mammut-Elfenbein-gefunden auf der Website des Museums in Ulm.

Die Bilderhöhle Chauvet deuten immer mehr Forscher als "überregionales Stammesheiligtum", das die männlichen Jägergruppen für Initiationsriten nutzten. Besondere Ehrfurcht brachten sie dem Meister Petz entgegen. Eine Felshalle ist dort mit Bärenknochen übersät. In der Mitte auf einem Stein fand man einen Schädel des gefährlichen Allesfressers, genannt der "Altar".“18

Damit wären als Elemente einer Glaubensvorstellung gegeben:

Transzendieren - Überschreiten der bloßen Vorfindlichkeit - Überschreiten der Grenzen des Vorfindlichen z. B. durch Tiermasken als Verwandlung

Transzendieren – Kommunikation mit der unsichtbaren Welt durch einen Schamanen, also einen besonderen Menschen

Schaffung einer Gruppen – Zugehörigkeit, möglicher Weise in Abgrenzung zu anderen

Abbilden des spirituellen Darstellers in Kultform als „heilige Figur“

Abbildungen oder Kopien der „heiligen Figur“, die man mit sich tragen kann – als Talisman und oder Zugehörigkeitszeichen bzw. -nachweis.

Die Bannung der Gefahren der Welt und ihrer Geschöpfe durch ihre Darstellung einerseits und durch Zugehörigkeit andererseits

Möglicher Weise heilige Räume zur Versammlung (Höhlen), die gemeinsames und /oder wiederkehrendes Begehen nahe legen.

Eine andere für uns rätselhafte Erscheinung trat in der Jungsteinzeit auf. Manche europäische Regionen sind übersät mit faszinierenden Großsteingräbern und Menhiren. Es gibt sie rund um das Mittelmeer bis hin nach Indien, zudem in Südamerika. Menhire sind senkrecht aufgestellte Steine ohne heute erkennbare Funktion. Ihre rätselhafte Dauerhaftigkeit und interessante Bauweise regen noch heute die Phantasie an. Die Menhire könnten Landschaftszeichen oder Hinweise auf besondere Orte oder Wege gewesen sein. Aber sie haben zumindest an manchen Stellen auch magische Bedeutung erhalten. So erzählt eine Legende über einen großen Stein vom Weltuntergang: „Man sagt, daß er alle hundert Jahre um eine Daumenlänge in die Erde absinkt und sein vollständiges Verschwinden den Weltuntergang verkünden würde.“19 Diese Vorstellung eines Maßes der ablaufenden Zeit setzt doch immerhin den Gedanken von Anfang und Ende der Welt voraus. Der Stein stellt zumindest noch einige Zeit in Aussicht, in der der Lebensraum gesichert ist. Er schafft also Gewissheit in einer unsicheren Welt. Warum aber sollte man sich sonst die Mühe machen, mit menschlichen Kräften eine solche Endzeituhr, eine Wegmarke oder ein Herrschaftszeichen aufzubauen?

Menhire könnten ebenso als Verbindung von Himmel und Erde gedeutet werden, ähnlich einem Kirchturm. Damit wäre ein Hinweis auf „Größeres“, „Überdauerndes“, vielleicht sogar „Ewiges“ gesetzt, darauf, dass Himmel und Erde von menschlichen Kräften verbunden werden können. Das geht über das schlichte Wahrnehmen des Vorfindlichen hinaus. Es zeugt von der Vorstellung, man könne das Irdische mit Außerirdischem verbinden. Auch hier erscheint so eine Form des Abstrahierens und Transzendierens.

Menhir von Champ Dolent

Großsteingräber, Menhire oder Steinkreise können nicht einfach mal so aufgestellt worden sein. Allein der Transport der Steine, oft über viele Kilometer Entfernung, brauchte als Grundlage für das Zusammenwirken vieler Menschen zumindest eine gemeinsame tragende Idee, Überzeugung und Organisation, also einen Ansatz von Kultur oder Glauben. Anders wären derart mühsame und aufwendige Arbeiten aus unserer Sicht nicht denkbar. Schon die Bauweise der Großsteingräber drängt sich heutigen Betrachtern als Häuser für die Ewigkeit geradezu auf. Sie bilden einen nach Jahrtausenden noch heute wasserdichten und gesicherten stabilen Raum, dessen Zugang man verschließen, aber auch öffnen konnte. Die weitere Verbreitung der Grabbauten und Grabbeigaben zeugen überdies davon, dass Menschen in der damaligen Zeit weltweiten Austausch pflegten und sich irgendeine Vorstellung davon machten, dass nach dem Tode noch Nahrung und Statuszeichen gebraucht werden könnten. Wer möchte, kann auch die Form der Grabhügel deuten. Es könnte eine Nachbildung des Mutterleibes sein. Wer einmal durch einen intakten schmalen Gang in ein intaktes Grab gekrochen ist, kann diese Version gut und schwitzend nachvollziehen. Die nahe liegende Vorstellung wäre: Rückkehr in den Mutterschoß (der Erde) als eine Form des Transzendierens.

Gut erhaltener Dolmen von innen

Somit ergeben sich weitere Elemente von Glaubensüberzeugungen:

Gemeinsame Überzeugungen, die in gemeinsame, organisierte Tätigkeiten münden.

Feste selbst errichtete Strukturen für die Verbindung des Vorfindlichen mit der anderen Welt.

Zugang zu einer Vorstellung von Zeit und Ewigkeit.

Umgangsformen mit dem Tod und den Toten, auf feste Plätze und ein „anderes“ Leben bezogen.

Tod als Transzendieren (hinübergehen) in die andere Welt.

Offenbar weite Verbreitung ähnlicher oder gleicher Ideen. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Verbreitung durch äußere Nachahmung oder durch Ideentransfer zu Stande kommt.

Einrichtung zentraler ritueller geschützter Räume oder Plätze für Sippen oder größere Gruppen von Menschen.

Aufgrund von Grabfunden denkbare Hierarchisierung der Gruppen.

Wer in den großen Gräbern bestattet wurde, ist nicht überliefert. An vielen Stellen geht man von einer mehrfachen Belegung über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hin aus. Damit würde es sich um Gemeinschafts-Grabstätten handeln. An anderen denkt man an die Bestattung einzelner bedeutender Personen, für die dieser Aufwand getrieben wurde.

Weitere Hinweise geben Kreisgrabenanlagen wie die von Goseck, die rund 7000 Jahre vor unserer Zeit errichtet wurde. Dieses Zeugnis einer frühagrarischen Gesellschaft diente vielleicht zur Bestimmung der Sonnwenden oder anderen astronomischen Gegebenheiten, wurde aber offenbar für Zusammenkünfte und Mahlzeiten rituell genutzt. Darauf deuten große Mengen von gefundenen Rinderknochen und Gefäßresten hin. Die Größe der Anlage mit 71 Metern Durchmesser, zwei Palisadenreihen, bestehend aus 1700 Pfählen, mit drei Zugängen lässt eine kultische Benutzung vermuten, die etwa 200 Jahre angedauert haben könnte. Diese Vermutung bestärkt auch der Fund von Menschenknochen, die vielleicht aus rituellen Gründen säuberlich abgeschabt worden waren. Im Westen von Österreich wurden solche Anlagen in einer Anzahl gefunden, die vermuten lässt, dass jede Siedlung eine davon besaß - ähnlich wie heute Kirchen, Moscheen, andere Gemeinschaftsgebäude oder vielleicht ein Marktplatz.20 Immer wieder werden auch Siedlungen in der Nähe der Anlagen nachgewiesen.

Ähnliche Befunde bietet das englische Stonehenge rund 2000 Jahre später in der Endphase der Steinzeit. Für Stonehenge wurde sogar versucht, den Bedarf an Arbeitskräften zu ermitteln. In den Bauphasen mussten sicher Tausende von Menschen zusammenarbeiten.21 Die konnten dann nicht gleichzeitig für Ernährung oder andere Alltagsdinge sorgen, mussten also von anderen ernährt werden. Das setzt eine arbeitsteilige Gesellschaft mit entsprechenden Planungen voraus. In dieselbe Zeit fällt auch die so genannte Himmelsscheibe von Nebra (in der Erde vergraben ca. 1600 v. Chr.). Sie ist die älteste bekannte konkrete Darstellung des Himmels. Sie könnte ebenso zur Bestimmung der Sonnwenden wie auch anderen Himmelsbeobachtungen gedient haben. Auch weitere rituelle oder kultische Zwecke sind denkbar.

Kreisgrabenanlage Goseck

https://www.orangesmile.com/extreme/de/mysterious-structures/goseckcircle.htm

In der Zusammenschau der Eindrücke, welche die Hinterlassenschaften der Steinzeit und der beginnenden Bronzezeit auslösen, findet man Elemente einer Gruppe von Menschen, die sich mit sich selbst und mit der Umwelt, in der sie leben, auseinandersetzen. Dadurch haben sie Formen des Umgangs gefunden, die uns an Glaubensvorstellungen denken lassen. Zugleich hinterlassen sie nicht nur eine Idee von „Gesellschaftsbildung“. Denn die frühen Hinterlassenschaften sind schwerlich einzelnen Individuen zuzuschreiben. Sie enthalten Bedeutungen und lassen Gruppen- sowie Umweltbezüge erkennen, benutzen symbolische Darstellungsweisen und bilden feste „ewige“ Bezugspunkte, die sich sowohl auf Lebende, als auch auf Tote und die ‚Welt hinter der Welt’ beziehen. Sie versuchen, Kontakt mit der vermuteten ‚anderen unsichtbaren Welt’ und ihren Kräften herzustellen und mit ihnen zu kommunizieren. Es scheint so, als bringe diese Kommunikation zunehmend ‚herausgehobene’ Personen hervor, die die Gruppe stellvertretend gegenüber der anderen Welt und umgekehrt repräsentieren, wie schon die Löwenmenschstatuette zeigt. Zugehörigkeit und Schutz wird durch Zeichen (Symbole) auch über das bloße Zusammentreffen hinaus dargestellt und gelebt. Somit ist auch das Thema „Wir und die anderen“ in der Welt: die anderen gehören nicht zur eigenen Gruppe. (ingroup / outgroup) Diese Gruppe besteht auch über den Tod hinaus.

Stonehenge Teilansicht

12 Stefan Simons, Eine Tropfsteinhöhle aus Beton, Der Spiegel vom 10.4.2015: http://www.spiegel.de/wissenschaft/ mensch/chauvet-hoehle-nachbau-mithoehlenmalerei-in-der-ardeche-eroeffnet-a-1027692.html.

13 Das magische Mammut, Der Spiegel vom 02.07.2007.

14http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-14784-2012-05-25.html.

15http://www.loewenmensch.de. Das Alter wird mit 35-40.000 Jahren angenommen.

16 Das magische Mammut.

17https://www.wissenschaft.de/geschichte-archaeologie/im-bann-der-loewenmenschen,Absatz 9.

18Das magische Mammut, Der Spiegel vom 2.7.2007, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-521091 51.html.

19https://www.bretagne-tip.de/megalithkultur/menhir-champ-dolent.htm.

20 Christian Pinter, Verwirrspiel im Weinviertel, https://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wissen/forschung/453717 Verwirrspiel-im-Weinviertel.html, vom 27.04.2012. Ebenso: https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/praehist/forschungspro-jekte/Aktuelle_Forschungsprojekte/Gebautes_Wissen/KGA.pdf

21 Die Zeitschrift „Focus“ gibt einen schnellen Überblick zu Stonehenge: https:// www.focus.de/wissen/mensch/archaeologie/legenden/stonehenge-die-entstehung-desmythischen-steinkreises_id_10163390.html - vom 3.2.2019.

Übergang zu ausgeformten Systemen der Religion

Gemeinschafts- und Identitätsbildung

Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich, warum diese Ausführungen aus der Historie zu Gedanken über die Religion notwendig sind. Ich kann mir daran am besten die Funktionen überlegen, die den Menschen ein Leben in der Welt ermöglichen, in der sie nie alleine sind, sondern nicht nur gelegentlich in Gemeinschaft. Religionen entstehen offenbar als Gemeinschafts- und Identitätsbildung und mindern die Gefahren des Lebens, indem sie eine Struktur hervorbringen, die innere und äußere Orientierung verleiht. Wer da nicht sofort von Religion sprechen möchte, kann das auch so ausdrücken wie es offenbar die heutige Archäologie tut: Die Menschen schafften sich Orientierung durch Orte der Erinnerung, die ihnen beim Einordnen der Erfahrungen des Lebens (einschließlich des Todes) helfen konnten. Dadurch entsteht auch heute noch Identität und (emotionale und äußere) Sicherheit, weil die Binnenwelt von der Außenwelt getrennt wird, aber auf sie bezogen bleibt: Wenn ich in meiner Gruppe lebe, gibt es auch die Gruppe des anderen. Wie kann ich ihnen ohne Angst begegnen, ohne meine Gruppe aufzugeben? Gegenüber den Lebenden gibt es auch die Gruppe der Toten, die schon gelebt haben. Wie begegne ich denen? Man könnte fortsetzen: Neben einem Geschöpf gibt es auch einen Schöpfer. Wie setze ich mich dazu in Beziehung? Damit wäre man schon mitten in einer Religionsbildung. Wie die aussieht, kann man an den voll ausgebildeten religiösen Aufzeichnungen der Ägypter sehen.

Das bisher Gesagte erlaubt nicht unbedingt eine Aussage darüber, ob „der Mensch von Grund auf (wesensmäßig) religiös ist“. Es erlaubt aber die Aussage: Gesellschaft wird ganz offenbar schon bei den frühen Steinzeitmenschen durch gemeinsame Überzeugungen gebildet. Nur dadurch können Tätigkeiten unternommen werden, die mehr als einen Akteur brauchen. Dadurch kann man Gefahren abwehren, denen der Einzelne hilflos ausgeliefert wäre. Daraus bilden sich Gruppen von Gemeinsamkeit und /oder Zusammengehörigkeit, die sich von anderen Gruppen unterscheiden. Damit entsteht Identität im Sinne von „Ich gehöre zu ..., ich bin ein ..., ohne mich geht das oder das nicht ...“. Dazu gehört offenbar auch die Erkenntnis oder Ahnung einer anderen unsichtbaren Welt, die die sichtbare beeinflusst oder bedroht, sowie der Versuch der Kommunikation mit dieser. Daraus bilden sich Formen einer organisierten Gesellschaft mit Arbeitsteilung. Das bringt auch eine Differenzierung in Fachleute und Laien sowie verschiedene Ebenen der Bedeutung von Menschen in der jeweiligen Gesellschaft hervor. Ob das dem Wesen des Menschen entspricht oder aber nur eine mögliche Ausformung von menschlichem Leben darstellt, braucht jetzt nicht entschieden zu werden.

22 Einfache Darstellungen des Pyramidenbaus finden sich überall, z.B. bei https://www.planet-wissen.de/geschichte/antike/ pyramidenbau/index.html.

23 Friedrich Max Müller, Vorlesungen über den Ursprung und die Entwicklung der Religion: mit besonderer Rücksicht auf die Religionen des alten Indiens — Strassburg, 1881, 298. https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/mueller1881/0320

Kurz gesagt

Welche religionsähnlichen Elemente finden sich in den Hinterlassenschaften der Steinzeit?

Bei Aussagen zu archäologischen Funden handelt es sich immer um Interpretationen der Finder. Man finden in den Steinzeithinterlassenschaften Elemente des Transzendierens von bloß Vorfindlichen und des Verehrens oder Bannens durch bildliche Darstellung der Beutetiere / Tierwelt. Die Darstellung von Tieren kann bereits als besonderer künstlerischer Akt von herausgehobenen Personen angesehen werden. Tiermasken deuten auf die Aneignung von Übersinnlichem hin. Ihre Träger stellen eine Vorform des Schamanen oder Priesters dar. Durch das Schaffen von Begegnungs- oder Erinnerungsstätten zeigt sich Zugehörigkeit und gemeinsame Überzeugung. Vielleicht entstand dort etwas, was uns an rituelle Begegnung und Begehung in bestimmten Zeitabständen erinnert. Darauf deuten auch Musikinstrumente wie die gefundenen Flöten hin. Funde ermöglichen auch zu sehen, dass das Verhältnis der Geschlechter zumindest eine Rolle spielte. Menschen beginnen, sich selber abzubilden (Selbstverhältnis/ Selbstdeutung).

Bei den hinterlassenen Bauten, oder aufgerichteten Steinen wird ein gemeinsamer Planungswille erkennbar, da Einzelne nicht in der Lage gewesen wären, diese zu errichten. Man kann an den gemeinsamen Grabstätten ein gemeinsames Verhältnis zum Tod ablesen. Die (welt)weite Verbreitung z.B. der Großsteinbauten weist auf einen Austausch von Ideen und eine Entwicklung des Bewusstseins hin. Die gemeinsamen Überzeugungen wurden wohl von priesterlichen Personen oder Schamanen umgesetzt und repräsentiert. Sie lassen einen Schluss auf das Verhältnis der Menschen zu kosmischen Erscheinungen und Naturabläufen erkennen.

Woran lassen sich diese Elemente ohne schriftliche Quellen erkennen?

Die Interpretation der Funde in einer bestimmten Lage oder Anordnung lässt solche Deutungen zu, die allerdings auf der Lebenserfahrung der Findergeneration beruhen. Sie wird über Ähnlichkeiten mit vorhandenen Lebensweisen in Erinnerungskulturen, Gemeinschafts- oder Gesellschaftsbildung und religiöser Anschauung gewonnen. Aus Bestattungsweisen lässt sich eine Anschauung bilden, wie Menschen sich zu der Notwendigkeit des Todes und der Beziehung zwischen Lebenden und Toten stellen – auch in Form von verschiedener Behandlung hierarchisch unterschiedener Personen.

Lässt sich damit die These (Behauptung) begründen, der Mensch sei wesensmäßig religiös?

Daraus lässt sich schließen, der Mensch tendiere dazu, sein Leben in der Natur so einzurichten, dass er erkannte oder erlebte Gefahren „bearbeitet“. Menschen entwickeln Rituale, um Gemeinschaft zu bilden und zu regulieren, Natur zu deuten und sich selbst zu definieren. Daraus wieder könnte man auf Denkweisen schließen, die alle Menschen gemeinsam haben. Daraus kann man aber keine „Ist-Aussagen“ wie endgültige „Feststellungen“ ableiten wie z.B., der Mensch brauche „die Religion“ zum Leben oder „es gibt also eine transzendente Welt“. Die Aussage müsste lauten: Menschen interpretieren die Welt und sich selbst in dieser Welt, in der sie leben, durch Abbildung ihrer Erfahrungen in Ritual- und Gemeinschaftsformen, die Ausdruck in gemeinsamen Stätten der Darstellung, Erinnerung und Gestaltung findet.

Diese vorsichtige Formulierung leuchtet ein, weil sie in der Lage ist, jenseits von Bekenntnissen zu einer gegenwärtigen Religion die Ähnlichkeiten menschlichen Lebens in verschiedenen Umständen technischer und gesellschaftlicher Art zu benennen, ohne dem Bedürfnis gegenwärtiger Religionen nach Bestätigung ihrer Weltsicht zu unterliegen. Denn die Bezeichnung „wesensmäßig religiös“ wirkt als Bestätigung der Religion, in deren Bereich sie geäußert wird. Die Religionsphilosophie ist aber nicht darauf angelegt, eine Religion zu bestätigen, sondern ihre Umgebungs- und Inhaltsbedingungen zu beschreiben. Theologien dagegen suchen nach unanfechtbaren Begründungen ihrer Version von Religion.

2. Religion und Philosophie

Der Übergang von mündlicher zu schriftlicher Überlieferung

Von Religion zu sprechen bedeutet, einer Vielzahl von Vorstellungen und religiösen Schriften gegenüber zu treten. Schriftlichkeit ermöglicht die von einzelnen Individuen unabhängige Erhaltung und Weitergabe von Inhalten. Ihre Entwicklung lässt sich an vielen Stellen der bewohnten Welt nachweisen, auch wenn da und dort der Versuch gemacht wurde, sozusagen die Urquelle der Schrift zu finden. Mit der Schriftlichkeit beginnt zwar nicht die menschliche Geschichte, aber doch die nachvollziehbare Überlieferung. Wer etwas aufzeichnet, hinterlässt seine Gedanken für die Nachwelt. Wer dagegen mündlich Inhalte weitergibt (Oralität), brauchte notwendiger Weise lebende Überträger - Zeugen - dafür, die dann möglicher Weise eigene Inhalte einmischen. Schriftliches bleibt dagegen unverändert mit dem Moment der Aufzeichnung. Mündliches kann eine exakte Wiedergabe sein und über Tausende von Jahren erhalten bleiben. Der Rückgriff auf das Original bleibt aber nur eine kurze begrenzte Lebenszeit möglich. Daher haftet ihm ein Faktor der Unsicherheit an. Man muss dem Zeugen glauben oder ihm vertrauen. Schriftliches kann je nach Schriftträger über lange Zeit unabhängig vom Autor gelesen werden, behält also seinen Originalzustand. So können wir heute noch - mit etwas Mühe und Aufwand - Texte der Tempelverwaltung von Kisch (Zweistromland, heute Irak) nachlesen. In dieser Schrift, die wohl seit 3300 vor Christus entwickelt wurde, ist z.B. teilweise das Gilgamesch - Epos verfasst. Der akkadisch/sumerische Text von ca. 1800 (vielleicht auch 2400 v. Chr.) schildert u.a. so etwas wie eine Sintflut, die manche für eine Vorlage der Erzählung im Alten Testament (1. Mose 6-8) halten.

Fast gleichzeitig - nachgewiesen seit 3200 v. Chr. - wurde in Ägypten die Schrift der Hieroglyphen entwickelt. Hieroglyphen bedeutet heilige Einritzungen / Gravuren und ist die Übersetzung von alt - ägyptisch „Schrift der Gottesworte“. Ihre Erfindung wird dem Gott Thot zugeschrieben. Die erste Verwendung scheint ebenfalls Abrechnungen und wichtigen Ereignissen gegolten zu haben. Ob sich Keilschrift und Hieroglyphen gegenseitig beeinflusst haben oder das eine gar vom anderen abhängt und wie, ist umstritten. Jedenfalls zeigen diese beiden Schriftentwicklungen religiöse Zusammenhänge an. Schriftliche Aufzeichnungen hingen im Zweistromland ganz offenbar mit Tempeln und deren Verwaltung zusammen, die wieder Teil der gesellschaftlichen (Herrschafts-) Strukturen waren.

Wie Sie sehen, haben wir keine Ahnung, wie religiöse Vorstellungen entstanden sind. Mit dem Auftreten der Schriftlichkeit waren sie ganz offensichtlich als Teil des menschlichen Lebens in beginnenden Staatgebilden vorhanden. Davor aber ebenso. Denn was nicht da ist, kann nicht aufgeschrieben werden. Eine definitorische Trennung der Religion von anderen Lebensbereichen wie Politik oder Wirtschaft lässt sich nirgendwo erschließen.

Eine der ersten europäischen Schriften mit bekanntem Autor stammt von dem griechischen Schriftsteller und Bauern / Schafhirten Hesiod (7. Jh. v. Chr.). Sie trägt den Titel Theogonie (= Entstehung der Götter). Darin wird wie auch in den noch älteren Schriften von Homer (8./7. Jh. v. Chr.) die griechische Mythologie ausgebreitet und dargestellt. In den schriftlichen Zeugnissen werden Vorstellungen über die Welt und ihre Deutung durch Religion zugänglich, die vorher schon im Umlauf waren.

Theben: Medinet Habu - Totentempel Ramses III. – Quelle unbekannt

Bald haben sich dann auch Philosophen mit diesen Vorstellungen auseinandergesetzt. Dabei interessiert niemand die Frage, wie eigentlich Götter überhaupt entstanden sind oder wahrgenommen werden können, mit anderen Worten, wie man überhaupt etwas über Götter sagen und denken kann. Das wäre also die Frage, ob sie jemand gesehen hat, ihnen begegnet ist, mit ihnen gesprochen hat, ob sie im Traum erschienen sind, ob jemand zumindest ihre Stimme gehört hat oder ob sie in einem Gefühl oder als Gefühl aufgetaucht sind. Ob Götter zu den real erfahrbaren Dingen oder Substanzen oder zu den Lebewesen gehören, wird zunächst nicht diskutiert. Es wird einfach vorausgesetzt.

Pyramiden von Gizeh/Bild google.de/Creative commons

3. Die Götter (der Griechen)

„Woher ein jeder der Götter aber seinen Ursprung hat, ob sie alle schon immer waren und wie ihre Gestalten sind, das wussten sie nicht. Denn Hesiod und Homer haben den Hellenen Entstehung und Stammbaum (Theogonien) der Götter geschaffen und den Göttern die Beinamen gegeben und ihre Ämter und Fertigkeiten gesondert und ihre Gestalten deutlich gemacht.“24 Der Historiker Herodot (490/480 - 430/420 v. Chr.) hat so die Entstehung der Götter als literarische Gestalten durch Hesiod und Homer beschrieben, ohne ihre Existenz zu bezweifeln oder sie der Phantasietätigkeit der beiden Dichter zuzuschreiben. Hesiod hielt den Olymp für die Wohnung der Unsterblichen und schildert deren auf einander folgende Entstehung oder Zeugung beginnend mit Chaos (Aufklaffen, Kluft, Abgrund), Gaja (Erde) und Eros (sexuelle Energie, Zeugungskraft).25 Diese Götter stellen einzelne Erscheinungen (Tag, Nacht), Zustände (Not), Affekte (Zorn, Liebe) oder Naturerscheinungen (Flüsse, Berge, Himmel) dar. „Er hat natürlich kein Wissen darum, welche Götter denn nun welche gezeugt haben – woher auch? – aber er ordnet kosmische Phänomene und die Phänomene menschlicher Lebenswelt, in diesem Fall die dunklen Seiten des Kosmos und der Lebenswelt, dadurch, dass er im Bild der Zeugung einen Zusammenhang zwischen den Göttern herstellt. Das Chaos, das Aufklaffen, hat etwas Dunkles und Unheimliches an sich. Von dem Chaos wird in einem ersten Schritt nichts Helles und Positives gezeugt. Der Stammbaum des Chaos ist dadurch bestimmt, dass dunkle und unheimliche Kräfte und Mächte in eine Ordnung gebracht werden. ... Hesiod ordnet den gesamten Kosmos und die Phänomene der Lebenswelt und drückt diese Ordnung in Stammbäumen aus. Dabei werden sowohl die kosmischen Phänomene als auch die Phänomene der Lebenswelt zunehmend differenzierter.”26

Aus diesen Darstellungen entwickelt sich ein Jahrhunderte dauernder Disput. Die theologische oder religiöse Frage war die nach den Eigenschaften der Götter und dem Umgang mit ihnen. Die metaphysische ist die nach den letzten Prinzipien der Wirklichkeit: Was steht hinter der Wirklichkeit? Wie lässt sich die komplexe Welt letztlich erklären und damit vielleicht beherrschen? Und vor allem: Ist Gott erkennbar?

Philosophische Reaktion auf die Götterwelt

Das Panoptikum der griechischen Götter war schon bald auch Gegenstand des Spottes oder der kritischen Reflektion. Die als Vorsokratiker bezeichneten Philosophen der griechischen Antike lebten zwischen 600 und 350 v. Chr. vorwiegend in den griechischen Städten im Westen der heutigen Türkei und in Süditalien. Sie fragten nach dem Ursprung der Dinge, arbeiteten an Naturwissenschaft und Mathematik, aber auch an Fragen der Ethik, Theologie und Philosophie. Die Nachfahren, die ihre Schriften überlieferten und ihre Denkweisen beschrieben, nannten sie Naturphilosophen. Xenophanes (um 570 - 475 v. Chr.) kritisierte z.B. die Menschenähnlichkeit der Götter. Er formulierte in einem seiner Fragmente, die Götter seien im Grunde ein Abbild der Menschen und von ihnen gestaltet. Vor allem fiel ihm auf, dass die Götter all das tun, was der Mensch eigentlich nicht tun soll. Das beschreibt er dann in geradezu sarkastischer Weise:

„Homer und Hesiod übertragen alles auf die Götter, was bei den Menschen Schimpf und Schande ist: stehlen, ehebrechen und sich einander betrügen. Aber die Sterblichen glauben, die Götter würden geboren, hätten wie sie ihre Kleidung, Stimme und Wuchs.

Wenn aber die Rinder, Pferde oder Löwen Hände hätten oder zeichnen könnten mit Händen und Standbilder schaffen wie Menschen, zeichneten Pferde auch ihrer Götter Gestalt den Pferden, Rinder den Rindern gleich, und Körper bildeten sie so, wie auch selbst ihren Wuchs sie haben im einzelnen. Die Äthiopier behaupten von ihren Göttern, sie seien plattnasig und schwarz, die Thraker, sie seien blauäugig und rothaarig.“27

Die Götter werden von Xenophanos als Geschöpfe menschlicher Phantasie bezeichnet, die „nach ihrem (der Menschen) Bilde“ geschaffen sind. Das erinnert oberflächlich stark an die Feuerbach’sche Religionsphilosophie aus dem 19. Jahrhundert. Dass seine sarkastische Satire aber philosophische und religionsphilosophische Tiefe erreicht, lässt sich im folgenden Abschnitt lesen.

„Keinesfalls zeigten die Götter von Anfang an alles den Sterblichen auf, sondern mit der Zeit finden sie suchend Besseres. … Ein Gott, unter den Göttern und Menschen der größte, weder an Wuchs den Sterblichen gleich noch im Denken. Ganz sieht er, ganz denkt er, ganz hört er. Doch ohne Mühe bewegt er alles mit seines Verstandes Denken. Immer verbleibt er im selben, nicht im geringsten bewegt. Und nicht steht ihm an, mal hierhin, mal dorthin zu gehen. Nun hat das Genaue kein Mensch gesehen und keiner wird je es wissen um Götter und alles, was über alles ich sage. Denn auch wenn aus Zufall er höchst Vollendetes sagte, so weiß er selbst es doch nicht: Wähnen ist über alles gefügt.“28

Die Götter haben kein Wissen, das sie an die Menschen weitergegeben, also gewissermaßen ‘offenbart’ haben. Darauf kann der Mensch sich also nicht berufen. Die Menschen lernen durch suchendes Nachdenken, ja eigentlich durch Forschen, wie die Phänomene und die Zusammenhänge sind. Das ist aber alles skeptisch zu betrachten und zu überprüfen: Denn alles ist Meinung, nichts ist Kenntnis. Was der Mensch zu wissen glaubt, entspringt seinem Wähnen über die Dinge und Phänomene der Welt. Alle Erkenntnisse sind daher skeptisch zu betrachten.

Höchster Gott

Dennoch erhebt sich Xenophanos zur Beschreibung eines höchsten Gottes. Dieser gleicht weder der menschlichen Gestalt noch menschlichem Denken. Er ist pures Sehen, Hören und Denken ohne Mühe, immer gleich ohne Änderung (Bewegung), der alles denkend bewegt, nicht an einen Ort gebunden. Gott hat somit keine unserer Realität oder Körperlichkeit entsprechende Wirklichkeit, ist nicht dem Einen näher als dem Anderen, ist kein Gegenstand zum Abtransport. Seine Aktivität ist nicht körperlich, sondern rein geistig, ganz Verstand. So transzendiert er unsere Wirklichkeit nicht einfach, ist also keine Fortführung des Diesseits im Jenseits, sondern etwas ganz Anderes, das mit den Kategorien „wirklich“ oder „unwirklich“ nicht beschrieben werden kann. Dieser Gott wäre dann nichts oder alles: kein Grund, kein Ziel, kein Ort, nichts Werdendes, nicht Vergehendes, sondern reines, vollkommenes, ungetrübtes Sein oder ein ebensolches Nichts. Ein solches kann niemand denken, sich vorstellen oder ein Bild davon machen.

Reste des Athenetempels in Delphi

Gott im Inneren

Hier klingt schon das Berühmte „ich weiß, dass ich nicht weiß“ des Sokrates (469 - 399 v. Chr.) an. Sokrates gilt als ‘Erfinder’ der philosophischen Methode der Mäeutik. Mäeutik ist übersetzt „Hebammenkunst“, also die Kunst, (eigentlich vorhandene) Erkenntnisse durch fragenden Dialog (Dialektik) hervorzubringen. Sokrates wurde dieser „Fragekunst“ wegen anklagt. Sie untergrabe die öffentliche religiöse Ordnung und verführe die Jugend, denn sie befragt alles und jeden. Er verteidigte sich damit, dass er dem Gott folge. Nicht Macht, Geld und Ruhm seien seine Ziele wie bei seinen Anklägern, sondern ein tugendhaftes Leben. Er wirft seinen Anklägern vor, zu denen zu gehören, die nachweislich etwas zu wissen behaupten, ohne etwas zu wissen, wie sich mit seiner Mäeutik zeigen lässt. Wenn er selber von seinem Dämon spreche, könne er nicht gottlos sein: „Hiervon ist nun die Ursache, was ihr mich oft und vielfältig sagen gehört habt, daß mir etwas Göttliches und Daimonisches widerfährt, was auch Meletos in seiner Anklage auf Spott gezogen hat. Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an geschehen: eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, – zugeredet aber hat sie mir nie.“29