Krise Apokalypse Neuanfang - Martin Hagenmaier - E-Book

Krise Apokalypse Neuanfang E-Book

Martin Hagenmaier

0,0

Beschreibung

Predigten gehören eigentlich nicht in ein Buch. Denn erstens sind Predigten gesprochene Worte, zweitens sind sie an eine ganz bestimmte definierte Gemeinde gerichtet. Wenn sie als Buch erscheinen, dann sind sie längst vorbei und die Gemeinde existiert in dieser Form gar nicht mehr. Bei der Durchsicht dieser Predigten fiel mir aber auf, dass gerade die in einer aufregenden Zeit stattfanden. In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts änderte sich unsere Weltkonstruktion. Der eiserne Vorhang war gefallen. Der erste Irakkrieg fand statt. Somalia zerfiel trotz Uno-Einsatz. Jugoslawien löste sich unter grausigen Umständen auf. Die Zuwanderungsdebatte bewegte die Politik und die ganze neue Republik erheblich. Innere Sicherheitsfragen (Kriminalitätsangst) dominierten sogar Wahlen in Hamburg. Die Moslems waren "plötzlich" da und wurden wahrgenommen. Nahezu unvermittelt gab es eine kriegerische Zustimmung für die Bundeswehr zur Wahrung der Menschenrechte ausgerechnet bei den Grünen. Waren das nur Zufälle oder Ausrutscher der Mächtigen? Die Themen und Perspektiven dieser Zeit waren vielleicht prägender als die Katastrophe vom 11.9. 2001, die "Wirtschaft" 2008, die Migration 2015 und Corona 2020. Das Klima war schon damals vorhanden. Der Ukraineüberfall durch Russland 2022 allerdings hat das Zeug, eine neue (leider alte) Zeit einzuleiten. Alt- und neutestamentliche Texte handeln von individuellen und politischen Krisen. Das zieht sich daher nicht nur, aber auch manchmal sogar ungewollt durch die Predigten. Das menschliche Leben entpuppt sich darin als Krise. Viele Menschen erleben ihr individuelles Leben als Krise, wie die vielen Krankschreibungen wegen psychischer Probleme deutlich machen. Ein paar Blicke auf eher weniger öffentlich bekannte kirchliche Arbeitsfelder unterstreichen das. Das Ganze endet mit einer "Zeitungsandacht" nach dem Jahr der "Wirtschaftskatastrophe" zum "Neuen Jahr" 2009 und mit einem Text über die unglaublichen Äußerungen des Patriarchen Kirill zum Ukrainekrieg 2022. Das Leben als Individuum, als Gesellschaft und als Menschheit ist immer in der Krise. Nur die Namen ändern sich. Unter dem Stichwort "Gottvertrauen" ist eine Predigt stets ein Aufruf zur Bewältigung der allfälligen Krisen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 242

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

Vorbemerkung

3. Oktober 1990

Predigt am Reformationstag

Volkstrauertag

Hubertusmesse

Totensonntag

Dieser Advent

Während im Advent

Ein unerhörtes Ereignis

Ein echt großer Geburtstag

Predigt am Heiligen Abend

Wer hat Wünsche?

Die Heilige Nacht in der Zelle

Dunkelheit

Nun

Immer noch ist Weihnachten

Silvester

Neues Jahr

Ein Gleichnis

Predigt über das vierfache Ackerfeld.

Liebe Leute

Gott ist Liebe...

Die Berge weichen doch

Der Foltertod als Karfreitag (1993)

Predigt am Ostersonntag 1993

Der Geist weht, wo er will

Pfingsten 1992

Am Pfingstmontag stellen sich noch andere Fragen

Die Sorglosigkeit

Leben wie im Paradies....

Am Leben verzagen?

Dein Glaube hat dir geholfen!

Abschiebungshaft, Leitsymptom einer verfehlten Asylpolitik – eine andere Art der Reisevermittlung

Das Gefängnis als Bereich der Menschlichkeit (1994)

Amnestie 2000?

Gebet für rechtsradikale Mörder?

Die Probleme irregulärer Migration bleiben ungelöst

Schlechte Nachrichten? – Gute Nachrichten

Kirill und der Überfall auf die Ukraine

Vorbemerkung

Predigten gehören eigentlich nicht in ein Buch. Denn erstens sind Predigten gesprochene Worte, zweitens sind sie an eine ganz bestimmte definierte Gemeinde gerichtet. Wenn sie als Buch erscheinen, dann sind sie längst vorbei und die Gemeinde existiert in dieser Form gar nicht mehr. Bei der Durchsicht dieser Predigten fiel mir aber auf, dass gerade die in einer aufregenden Zeit stattfanden. In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts änderte sich unsere Weltkonstruktion. Der eiserne Vorhang war gefallen. Der erste Irakkrieg fand statt. Somalia zerfiel trotz Uno-Einsatz. Jugoslawien löste sich unter grausigen Umständen auf. Die Zuwanderungsdebatte bewegte die Politik und die ganze neue Republik erheblich. Innere Sicherheitsfragen (Kriminalitätsangst) dominierten sogar Wahlen in Hamburg. Die Moslems waren ‚plötzlich’ da und wurden wahrgenommen. Nahezu unvermittelt gab es eine kriegerische Zu-Stimmung für die Bundeswehr zur Wahrung der Menschenrechte ausgerechnet bei den Grünen. Waren das nur Zufälle oder Ausrutscher der Mächtigen?

Die Themen und Perspektiven dieser Zeit waren vielleicht prägender als die Katastrophe vom 11.9. 2001, die „Wirtschaft“ 2008, die Migration 2015 und „Corona“ 2020. Das Klima war schon damals vorhanden. Der Ukraineüberfall durch Russland 2022 allerdings hat das Zeug, eine neue (leider alte) Zeit einzuleiten.

Alt- und neutestamentliche Texte handeln von individuellen und politischen Krisen. Das zieht sich daher nicht nur, aber auch manchmal sogar ungewollt durch die Predigten. Das menschliche Leben entpuppt sich darin als Krise. Viele Menschen erleben ihr individuelles Leben als Krise, wie die vielen Krankschreibungen wegen psychischer Probleme deutlich machen.

Ein paar Blicke auf eher weniger öffentlich bekannte kirchliche Arbeitsfelder unterstreichen das. Das Ganze endet mit einer „Zeitungsandacht“ nach dem Jahr der „Wirtschaftskatastrophe“ zum „Neuen Jahr“ 2009 und mit einem Text über die unglaublichen Äußerungen des Patriarchen Kirill zum Ukrainekrieg 2022. Das Leben als Individuum, als Gesellschaft und als Menschheit ist immer in der Krise. Nur die Namen ändern sich. Unter dem Stichwort „Gottvertrauen“ ist Predigt stets ein Aufruf zur Bewältigung der allfälligen Krisen.

3. Oktober 1990

Die Nachkriegszeit geht mit einem markanten Datum ihrem Ende zu. Die beiden deutschen Staaten werden vereinigt. Noch vor einem Jahr war es undenkbar und unvorstellbar, an der ehemaligen Staats- und Blockgrenze nicht mit einem gewissen Schaudern entlangzufahren oder sie zu überqueren. Obwohl es mich und meine Familie durchaus sehr interessiert hätte, in die damalige DDR zu fahren, haben wir es immer vermieden. Allein schon der martialischen Grenzkontrollen wegen.

Der Kalte Krieg hatte einen Eisernen Vorhang geschaffen. Die Nachkriegsgrenze hatte viele Familien auseinander gerissen, nachdem ja vorher schon unvorstellbar viele Menschen aus den damaligen östlichen Reichsteilen geflohen waren, in die dann wieder andere aus dem Osten ihres Landes getrieben wurden. Viele Menschen mussten ihr Leben bei dem Vorsatz lassen, den Eisernen Vorhang zu überqueren. In beiden deutschen Staaten gab es eine unerhörte Massierung von Soldaten und Kriegsgerät der beiden Blöcke. Szenarien des Atomkrieges mit Kurz- und Mittelstreckenraketen wurden vor kurzem noch mit Schrecken verbreitet. Beide Seiten ziehen die andere der Aggressivität und holten ihre Motivation aus dem jeweiligen Feindbild des bösen Kommunisten oder Kapitalisten. Oft ging die Furcht um, am Eisernen Vorhang könne ein dritter Weltkrieg entstehen.

Von diesem Ende des Kalten Krieges sind alle überrascht. Die einen hatten bereits die Vorstellung, es könne bald wieder einen einzigen deutschen Staat geben, als reaktionär und gefährlich gebrandmarkt. Andere hatten das Ziel der Einheit zwar auf ihre Fahnen geschrieben, es aber oft lediglich zum Eindreschen auf die andere Seite benutzt. Dritte hofften, dass möglichst alles so bleiben solle, wie es war, damit nicht der schwer erarbeitete Wohlstand in Gefahr geriete. Wieder andere fürchteten die Furcht der Nachbarn im Westen und im Osten vor einem einzigen deutschen Staat. Noch andere fürchteten, durch eine Vereinigung das alte Reich von 1937 zu verlieren, das ihrer Meinung nach immer noch existierte. Nach vierzig Jahren war die Hoffnung gering und die Vorstellung verblasst, was das sein solle: ein deutscher Staat.

Wir alle haben in letzter Zeit so viel von Deutschland gehört, dass es fast schon wieder zu viel war. In den dramatischen Zeiten des letzten Jahres wurde sogar manche Stimme laut, die Grenze von unserer Seite aus zu schließen. Und dann ging alles ganz schnell, viel schneller, als selbst die Befürworter einer deutschen Einheit das in ihren geheimsten Wünschen geträumt hätten.

Auch jetzt gibt es wieder das ganze bunte Spektrum aller menschlichen Reaktionen. Einige sehen sich bestätigt und den Sieg des westlichen Systems auf der ganzen Linie perfekt. Andere fürchten schwere wirtschaftliche Zeiten für ein vereinigtes Deutschland. Viele Menschen aber, vor allem wer den Krieg bereits bewusst miterlebt hat, empfindet so etwas wie Dankbarkeit für die Überwindung der Folgen des verheerendsten Krieges der Geschichte.

Skeptiker aber sehen eher schon wieder einen neuen verhängnisvollen Nationalismus in Deutschland heraufziehen.

In diesem Gottesdienst geht es nicht um die alten lutherischen Vorstellungen des deutschen Volkes, wie es sie in den 20iger und 30iger Jahren gegeben hat. Damals sprachen vor allem lutherische Theologen vom Volk als der gottgewollten Ordnung auf Erden, durch dessen Führer Gott seinen Willen kundtue. Seither ist viel Wasser die Elbe heruntergeflossen und hat die unseligen Beigaben des Nationalismus hoffentlich abgewaschen. Aber wir müssen uns gerade heute klarmachen: Es hat einmal eine Kirche gegeben, die im Führer Adolf Hitler den sah, den Gott eingesetzt hat, um dem deutschen Volk wieder seine gottgewollte Stellung zu verschaffen.

Wer das weiß, kann glaube ich verstehen, dass viele evangelische Kirchen sich weigerten, mit den Glocken die deutsche Einheit einzuläuten. Es wäre des Geläuts wert gewesen, wenn einzig und allein der große Fortschritt an Frieden in Europa und zwischen den Supermächten und der Abbau der Armeen zu begrüßen gewesen wäre. Die unguten Bande des Nationalismus als gottgegebener Ordnung und die bis zum Anfang des Jahrhunderts enge Verbindung von Thron und Altar in Deutschland werfen bis heute ihre Schlagschatten.

Es ist im Allgemeinen nicht bekannt oder nicht genug ins Bewusstsein gedrungen, dass sich die Evangelische Kirche als ganze erst im Jahre 1985 in einer Denkschrift zur freiheitlichen Demokratie positiv gestellt hat. In den vierzig Jahren vorher hatte sie zwar immer wieder zu einzelnen politischen und ethischen Fragen öffentlich Stellung genommen, mit dem größten Echo in der sogenannten "Ost - Denkschrift". Aber erst 1985 wurde gewissermaßen offiziell die lutherische Obrigkeitslehre abgeschafft oder doch zur Diskussion freigegeben.

Wenn wir heute dankbar sein können, dann sollten wir auch wissen, was wir tun. Einige der markantesten Eckpfeiler der Entwicklung in Deutschland und Europa liegen gar nicht in Deutschland. Zu nennen wären etwa der heutige russische Staatspräsident, die Entspannung in den 80iger Jahren, an die schon niemand mehr geglaubt hatte, und dann natürlich die Grenzöffnung in Ungarn. In der Theologie gab es eine Lehre, die vom verborgenen Wirken Gottes sprach. Sollte es sich so gezeigt haben? Auch die Ostpolitik der bundesdeutschen Regierung nach 1969, ja auch schon in den 50iger Jahren in zaghaften Ansätzen, wäre da zu nennen.

Ein weiterer Pfeiler ist die Kirche in der DDR gewesen. Auch das gerät fast schon wieder in Vergessenheit. Die großen Demonstrationen in Leipzig und anderswo gingen von Gottesdiensten aus. Menschen, die sich nicht länger unterdrücken lassen wollten, sammelten sich zuerst in kleiner Zahl seit zehn Jahren und länger in Kirchen zum Friedensgebet. Kirchengemeinden, die ihrerseits nicht gerade frei von Repressalien waren und auch unter den staatlichen Übergriffen leiden mussten, schufen Raum für Andersdenkende. Manchmal standen sie - so hatte es den Anschein von hier aus - sogar im Gegensatz zur eigenen Kirchenleitung.

Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte - abgesehen von einigen markanten Einzelkämpfern wie Dietrich Bonhoeffer oder Thomas Müntzer oder Teilen der bekennenden Kirche - folgten viele Christen nicht mehr dem Satz des Paulus: "Seid untertan der Obrigkeit, denn sie ist von Gott." (Röm 13) Es muss ihr Glaube gewesen sein, der ihnen den Mut gegeben hat, ihre Gesundheit, ihr leidliches Auskommen und ihren inneren und äußeren Frieden aufs Spiel zu setzen.

Zum ersten Mal in der Geschichte bedurfte es keiner Gewehre. Es war ja zu Beginn der Gebete am Montag und an anderen Tagen nicht sicher, dass nicht die Staatsmacht zu Gewehren und schlimmerem greifen würde. Das Ohr des Staates war allgegenwärtig, um unliebsame Personen auszusondern und unrecht zu verurteilen. Dennoch erwiesen sich die Gebete als stärker. Die Macht des mutigen Wortes aus dem Glauben an die Gnade Gottes ist in vielen Predigten der damaligen Zeit lebendig.

Eigentlich müssten wir uns in unserer so gehätschelten und reichen Kirche das wie einen Spiegel vorhalten lassen. Welche Auseinandersetzungen gab es in unserer Kirche, als einige Christen meinten, das Gebot der Nächstenliebe auch auf die zwischenstaatliche Ebene übertragen und sich öffentlich und deutlich für Abrüstung aussprechen zu müssen. Den Kirchen und den Pastoren wurde das Mandat dafür abgesprochen, sich in politischen Fragen mit ethischem Hintergrund zu engagieren. Auch in unserer Nordelbischen Kirche bildeten sich damals Gruppen mit unterschiedlicher Ausrichtung, die heute noch bestehen.

Bevor wir also lauthals die deutsche Einheit begrüßen, sollten wir auf ihre Wurzeln schauen. Befreiung wurde nur durch Glauben möglich. Es war nicht nur der Wunsch danach, nun freien Zugang zum wirtschaftlich interessanteren Teil Europas zu haben. Die Freiheit der Reise und der Bewegung und Begegnung scheint auch nur ein Symbol dafür zu sein, dass Gott den Menschen frei geschaffen hat, damit er lebe.

Beim heutigen Datum geht der Blick aber noch weiter zurück: Deutschland, wie immer es in Zukunft heißen mag, war noch nie so wie von heute an. In diesen Grenzen hat es Deutschland noch nie gegeben.

Dieses neue Deutschland folgt einem Staat nach, der mit Größenwahn und Menschenverachtung einherging. Dass es zur gleichen Zeit andere Staaten mit ähnlicher innerer Ausrichtung gab, kann dabei nicht zur Entschuldigung dienen. Dieser Staat war ein Staat der Ordnung durch Vernichtung. Viele Begriffe fügte er dem Wörterbuch des Unmenschen hinzu. In Büchern können wir heute noch nachlesen, dass Ideologen damals von der Aufartung des deutschen Volkes sprachen, das allen Ballast in seiner Mitte vertilgen muss. Und dieses Werk wurde gründlich begonnen. Die Welt wurde in Deutsche und in Untermenschen eingeteilt.

„Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse und hingt dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. Nehmt euch der Nöte der Menschen an. Übt Gastfreundschaft. Segnet, die euch verfolgen, segnet und fluchet nicht. Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltete euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug. Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes.... Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde Böses mit Gutem.“

Bei aller Freude über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten: Dieser neue Staat wird nun auch die gesamte Verantwortung für die Vergangenheit übernehmen. Und der Staat, das sind wir, die einzelnen Bürger dieses Staates mit ihren jeweiligen Bindungen in Gruppe, Glauben und Weltsicht. Es wird darauf ankommen, wie wir nun miteinander umgeben ... wie Fremde bei uns Aufnahme finden, wie unsere Nachbarn zu unseren Freunden werden oder solche bleiben.

Was bei all den stürmischen Entwicklungen der letzten Monate herausgekommen ist, das ist nicht die Rückkehr zu alter Größe. Es war keine Größe, was da im Dritten Reich ablief! Das ist nicht endlich der Sieg über die bösen Kommunisten oder Stalinisten: Diesen Sieg haben die Menschen in den betroffenen Gebieten selbst errungen! Das ist nicht der Sieg der glitzernden Konsumwelt über eine eher triste Sozialismusvariante: Die Schatten der Konsumwelt beginnen sich bereits zu entwickeln. Es ist herausgekommen die Sehnsucht der Menschen nach einem Leben in Freiheit und ohne Unterdrückung durch allmächtige Staatsorgane.

Herausgekommen sind dadurch neue Aufgaben, diese Freiheit des Menschen, die keinen anderen Grund kennen kann als den, dass Gott freie Menschen und nicht Untertanen geschaffen hat, zu entwickeln und zu schützen. Staat, das bedeutet nicht mehr Größe und Macht zum höheren Glanz eines Führers. Staat, das bedeutet heute die Schaffung und Bewahrung von Freiheit. Alle Einschränkungen, die durch Gesetze geregelt werden, können nur damit begründet werden. Es gibt keine Macht mehr an sich. Woher sollte sie auch kommen? Macht an sich hat niemand außer Gott. Es gibt nur noch die Beauftragung nach dem Recht, weil prinzipiell der einzelne nur noch im Ausgleich mit der Gemeinschaft und umgekehrt leben kann.

Wir alle stehen in dieser Welt vor der Frage, wie es möglich sein wird, Freiheit zu bewahren, gut zu leben, und doch die Umwelt so zu schützen, dass auch Generationen nach uns noch leben können. Die Bewahrung der Schöpfung scheint neben der Freiheit und Gerechtigkeit das Hauptaufgabengebiet in diesem neuen Staat zu sein. Für diese Fragen aber gibt es keine Grenzen mehr. Unser neuer Staat liegt in Europa und Europa ist Teil der Welt. Für alles, was in diesen Vernetzungen geschieht, sind auch wir mit unserer neuen Republik mit verantwortlich.

Viele in dieser Welt freuen sich mit uns. Gerade weil von einem deutschen Nationalstaat viel Unrecht und Schrecken ausgegangen ist, wird die Ausstrahlung, die wir jetzt haben, besonders bemerkt werden.

Sollte es möglich sein, sich jetzt neben dem Grundgesetz auf ein Fundament zu besinnen, das alle Menschen für die Zukunft akzeptieren können? Es kann für Geschäfte ebenso gelten wie für Politik oder für das Leben in der Gemeinde und Kirchengemeinde. Wenn viele der Menschen, die den neuen Staat bilden, sich das zu Herzen nähmen, was Paulus in Römer 12 über das Zusammenleben der Menschen sagt, dann könnte sich auch eine neue Politik herausbilden, die endgültig die alte Schuld abträgt und alle Ängste vor einer Rückkehr alter Zeiten überwinden hilft:

Wenn eine Kirche in Deutschland, wenn Christen in dieser Kirche eines einbringen können in den neuen Staat, dann dies. Es erübrigt sich dann Rechthaberei und Beharren auf dem Hergebrachten. Unser neuer Staat wird nicht der alte sein, auch wenn seine Gesetze weiter gelten und seine Regierung weiter regiert. Weil alle Bürger zusammen den Staat ausmachen, wird es ein ganz neuer Staat sein. Vielleicht kann man eines Tages merken, dass in diesem Staat viele Christen leben, denen die Ehrfurcht vor dem Mitmenschen und der Schöpfung Leitfaden für den Alltag ist.

Für das Zusammenwachsen der Kirchen in Deutschland wäre dieser Grundsatz ganz besonders nötig, damit nicht die ganze Erfahrung der Kirche, die täglich neu um ihre innere und äußere Existenz ringen muss, einfach im Drang der Geschäfte verloren geht. Aus der Erfahrung der Kirchen in der ehemaligen DDR können wir als satte Kirchen in der ehemaligen Bundesrepublik besonders viel lernen. Lernen vom Vertrauen auf Gott.

Predigt am Reformationstag

Immerhin wusste eine Konfirmandin gestern im Unterricht darüber Bescheid, was für ein Tag es ist, der 31. Oktober. Bald 500 Jahre nach dem Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche wissen nicht mehr so viele mit der Reformation etwas anzufangen.

Das Ganze wird als ein merkwürdiges Religionsdatum abgelegt, wenn überhaupt noch registriert. Die Reformation aber steht am Anfang der Entwicklung, von der wir nicht wissen, ob sie heute vielleicht zu Ende geht. Sie befreite die Menschen von der Unterordnung unter kirchliche Autoritäten unter Berufung auf nichts als die Bibel. Die damals neue Glaubensform hieß evangelisch, weil sie sich auf das Evangelium berief. Es war eine Art Fundamentalismus im Gegensatz zu den kirchlichen Traditionen, die sich die Kirche nach ihrem Gusto zurechtgeschustert hatte.

Jetzt war plötzlich der einzelne Mensch gefragt, sein einzelnes Gewissen und sein einzelner Glaube. Es reichte nicht mehr, einfach der Kirche zu glauben. Die Kirche sollte wieder sein, was einmal ihr Ziel war: Eine Institution, in der das Evangelium weitergesagt und ausgelegt wird. Glauben sollte jeder Mensch selbst. Zeuge des Glaubens sollte jeder Gläubige selbst werden. Nichts konnte mehr der Institution Kirche und ihren Funktionären überlassen bleiben. Und es sollte auch keine verschiedenen Stände mehr unter den Menschen geben, wenigstens nicht in der Kirche. Und damit begann auch die neuzeitliche Freiheit des Einzelnen. Die Reformation brachte kühne Ideen der Freiheit hervor. Die Durchsetzung der Ideen dauerte lange Zeit.

Eine Grundidee hieß: Jeder Mensch ist in seinem Glauben von Gott so angenommen, wie ein Kind von seiner Mutter oder seinem Vater. Gott bietet Rückhalt selbst dann, wenn Menschen nur unvollkommen handeln. Er lässt nicht ab, die Menschen selbst dann noch zu lieben, wenn sie ihn verlassen. Von daher bekommt jeder Mensch das, was in unserem Grundgesetz steht: eine unantastbare Würde, selbst dann noch, wenn er irrt oder sich gegen die Würde vergeht.

Wahrscheinlich haben einige Menschen daran geglaubt. Daran gehalten haben sich aber längst nicht alle. Noch die friedliche Revolution in der damaligen DDR kann als späte Frucht der Freiheit der Gewissen verstanden werden. Wie schwer es sein kann, das ist das Thema der heutigen Reformation.

Niemand also kann mir meine Würde nehmen und niemand kann mir vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe. Aus dem Glauben allein kann diese grundlegende Würde entstehen. Denn in der Wirklichkeit sieht es ganz anders aus: Wenn ich meine Gedanken frei loslasse, können sie mir selbst und anderen sehr schnell bedrohlich werden. Sie werden regiert von mancherlei Gefühlen positiver und negativer Art. Mein Horizont ist bei bester Ausbildung und Bildung beschränkt und mein voller Bauch ist mir näher als andere vielleicht leere Bäuche. Da kommen Aggressionen ebenso zum Vorschein wie Liebe und Zuneigung. Und wenn ich einen Fehler gemacht zu haben glaube, kann ich mir nicht einmal selbst die volle Würde des Menschen zusprechen.

Und dann erst die anderen. Wenn wir frei geworden sind, stoßen wir immer wieder auf andere, die ziemlich störend für die eigenen Freiheitsgefühle wirken. Sie konkurrieren mit mir um denselben Kunden, dieselbe Arbeit, den Platz am Strand. Sie wollen neben meinem Haus ihres bauen oder sie kommen, weil sie von unserem märchenhaften Reichtum gehört haben, von einem Land, in dem es mehr für alle gibt, als es je in der Geschichte der Menschheit gegeben hat.

Statt Würde und Achtung ernten die anderen meinen Zorn, weil sie meine Freiheit und die Freiheit der mir nahestehenden Menschen einschränken. Manchmal reicht dazu schon allein die Einbildung einer Einschränkung aus.

Wie die Reformation gelehrt hat, dass die Barmherzigkeit und Liebe Gottes gegenüber den Menschen unteilbar sind, so ist auch die Würde des Menschen, die daraus entsteht, unteilbar. Entweder ich glaube an die Würde des Menschen, dann gilt sie allen. Oder ich nehme sie nur für mich, dann schlägt sie um in Hochmut.

Unsere Aufgabe heißt: den Glauben an die unteilbare Liebe Gottes und die unteilbare Würde des Menschen und der ganzen Schöpfung erneuern. Wer heute die Fremden missachtet und Gewalt gegen sie ausübt oder still duldet, denkt wahrscheinlich nicht daran, dass es seine Kinder treffen kann oder die Nachbarn. Die Würde des Fremden ist der Prüfstein für die Würde des Menschen. (Natürlich können wenige reiche Länder nicht die Probleme der ganzen Welt lösen. Aber das ist eine andere Frage.)

Auf meinen, auf deinen, auf den Glauben eines jeden Menschen kommt es an. Das kann man niemand anderem überlassen. Würde verteidigen oder Liebe zum Nächsten leben bringt aber keine Selbstaufgabe mit sich. Vielmehr gehört es zur Vielfalt des Lebens unter der Liebe Gottes, seine Gaben zu entwickeln und einzubringen.

Martin Luther hat sich nicht gescheut, vom Teufel zu reden. Die Wartburgbesucher haben seit Jahrhunderten einen immer wieder erneuerten Tintenfleck von der Wand gekratzt. Der soll einst dadurch entstanden sein, dass Luther sein Tintenfass nach dem aus der Wand kommenden Teufel geworfen hat. Der Teufel ist der, der die Barmherzigkeit und Liebe Gottes zerstört. Immer wieder kommt es von innen und von außen: Du brauchst dich nicht um die anderen zu scheren. Setz dich alleine durch. Wer dir nicht folgt, besitzt keine Würde. Wer dich stört, erst recht nicht. Wer an anderen Dingen Freude findet als du, hat kein Recht auf deinen Respekt. Und schon wird anstelle der Gewissen die Zunge geschärft.

Der Reformator hat seinen Zeitgenossen eingebläut: Die Liebe Gottes und seine Barmherzigkeit erfordern eine tägliche Selbstprüfung und ein tägliches Training darin, das zu suchen, was zum Leben führt und das zu erkennen, was es zerstört. Dazu gehörten für ihn das Gebet und das Bibellesen – nicht, um ein besserer Mensch zu werden, sondern um die Botschaft von der Liebe Gottes nicht untergehen zu lassen im Gewirr des Alltags und unter den teuflischen Attacken der lieb- und würdelosen Kräfte der Zerstörung von Leben.

Volkstrauertag

- das war früher ein Heldengedenktag. Das Vaterland ehrte seine Helden, für die es eigens Denkmale aufgestellt hatte. Ein alter Tag ist er nicht, dieser Volkstrauertag. Es gibt ihn nicht einmal seit hundert Jahren. Doch aus dem Heldengedenktag wurde ein Volkstrauertag. Immer noch legen wir Kränze an den Ehrenmalen nieder, die die Namen der gefallenen Soldaten enthalten. Aber diese Kranzniederlegung hat stellvertretende Funktion. Sie bedeutet Gedenken an alle Opfer der beiden Weltkriege stellvertretend für alle Opfer von Kriegen und Gewalt unter uns Menschen allgemein. 47 Jahre nach Kriegsende leben noch viele Betroffene unter uns. Die Biographien unserer Väter und Großväter, Mütter und Großmütter, die eigenen Biographien sind davon tief beeinflusst. Und täglich kommen weltweit Massen von neuen Betroffenen hinzu.

Die Optik hat sich gewandelt. Heute könnte man nicht von Kriegsopfern sprechen, ohne beispielsweise an die Frauen zu denken, die den Krieg unter erbärmlichsten Umständen erleben mussten, frierend und hungernd und im Ungewissen, was die Männer an- oder ausrichten werden. Sie brachten ihre Kinder durch den Krieg und bangten oder trauerten um ihre Männer, Brüder, Söhne und Väter. Und nach den Kriegen bauten sie wieder auf - wo ist ihr Denkmal? Unter den Opfern waren nicht nur Soldaten. Soldaten waren zahlenmäßig die wenigsten der Opfer. Trauern bedeutet erinnern an das, was unter Menschen passieren kann.... Wir brauchen eigentlich gar keine Erinnerung. Täglich bekommen wir Bilder über Kriege frei Haus geliefert und das in x verschiedenen Programmen. Zerfetzte Menschen, blut-überströmt, im Hintergrund die Geräusche von Gewehrsalven oder Granateneinschlägen, das ist das tägliche Brot der Fernsehnachrichten. Abgemagerte und hungernde Menschen, voll Hoffnung oder schon apathisch, vergewaltigte Frauen und verstörte Kinderaugen, Fluchtversuche live - Soldaten und Panzer sieht man kaum im bosnischen Inferno.

Die westliche und die östliche Welt hatte gehofft, es würde nie wieder einen richtigen großen Krieg geben, und dennoch ihre schrecklichsten Waffen gebaut und bereitgehalten. Jahrzehntelang standen sich feindliche Blöcke bis an die Zähne gerüstet gegenüber. Ihr Potential reichte und reicht zur Vernichtung der Menschheit aus. Nie wieder Krieg, war eine oft gehörte Botschaft. Vielleicht auch eine Sehnsucht, von manchen mehr zähneknirschend mitgesprochen, so jedenfalls schien es oft. Der Mensch ist böse und kann keinen Frieden halten, deklamierten nicht zuletzt auch fromme Menschen, z.T. aus Erfahrung, z.T. aus Ideologie, z.T. aus Bequemlichkeit. Als Beweis dienten die bösen Feinde, die je nach Standpunkt auch als verblendete oder irregeführte Individuen betrachtet wurden. Im Inneren und Äußeren diente der Feind als Alibi für harte Maßnahmen und Rüstung. Sogar die nukleare Abschreckung sollte der Sehnsucht nach Frieden dienen. Dahinter steckte Angst vor der Verwundbarkeit, die sich dazu steigerte, in der Nuklearstrategie immer neue Fenster der Verwundbarkeit zu entdecken.

Dann löste sich etwas, der Ostblock zerfiel und mit ihm die Furcht vor dem Dritten Weltkrieg. Kaum aber schien der Frieden näher gerückt, machten sich Verwerfungen bemerkbar, dass der Menschheit Hören und Sehen verging. Konnte man noch vor wenigen Jahren die Auseinandersetzungen mit kriegerischer und terroristischer Gewalt als Ausdruck des einen großen Gegensatzes und als Kampf der Ideologien verstehen oder verschleiern, so traten nun plötzlich nackte Interessen ans Tageslicht. Fundamentalismus, Großmannssucht, oder kleinlicher Streit um Gebiete kostet jetzt Menschen wieder das Leben und die Gesundheit. Und wieder haben die Interpreten Hochkonjunktur, die dem Menschen ein böses Wesen anhängen. Und wieder fängt es an, dass wir sagen: Da sind die bösen anderen, die keine Kultur haben und unsere friedliche Welt bedrohen. Und wieder wächst daraus Gewalt. Noch hält sie sich in einem bestimmten Rahmen und doch starrt schon wieder alles abgestoßen und fasziniert zugleich zu, wie Menschen gejagt werden, mitten in unserem friedlichen Deutschland.

Auf welchem Boden ist solche Gewalt gegen unschuldige Andere gewachsen, die sogar vor jüdischen Gräbern nicht Halt macht? Die neue Offenheit der Grenzen schafft eine Grenze in den Herzen, so als ob Menschen, die von überall her zu uns strömen, uns unseren Wohlstand rauben wollten. Doch wer kann es ihnen verdenken, dass sie ihr ganzes Leben einsetzen, um in ein Land zu kommen, in dem nach den Gerüchten auf der Erde Milch und Honig fließen? Im Umgang mit ihnen sollte der Verstand und das Herz seinen Platz einnehmen, nicht die Gewalt. Es scheint ja so, als ob sich zur Zeit die Menschen an die Öffentlichkeit trauen, die der Gewalt und dem Rassenhass eine Absage erteilen.

Ja es ist notwendig, einen Tag zum Trauern zu haben. Trauern ist nicht nur erinnern. Trauern ist auch in sich gehen und sich fragen: Was hält mich eigentlich am Leben, was gibt mir Frieden und wie lässt sich die Sehnsucht nach Frieden sich in die Tat umsetzen? Wir haben ja heute den schönen Ausdruck aus der Sportszene, der sich auch hierauf anwenden lässt: Frieden fängt im Kopf an! Und so einfach dieser Spruch scheint, so richtig ist er auch! Frieden fängt in meinem Kopf und in meinem Herzen an. Und ich kann ihn nicht in den Kopf oder das Herz des anderen hineinprügeln oder hineinschie-ßen! Frieden kommt nicht von selbst, sondern er wird genau wie der Krieg und der Unfrieden, von Menschen gemacht. Deshalb liegt ihm wie allem anderen, was unter Menschen geschieht, nicht nur das zugrunde, was ich weiß, sondern vor allem das, was ich glaube. Kann ich also daran glauben, dass Menschen Frieden halten und schaffen können oder lebt meine Seele von der Auseinandersetzung und dem Unfrieden?

Die Wirklichkeit des Daseins zeigt es, dass sich unsere Glaubensvorstellungen immer wieder für uns bestätigen. Was ihnen widerspricht, blenden wir aus. Nur ganz schwer finden wir aus diesem inneren Kreisverkehr heraus. Aber es gibt auch Bespiele fürs Herausfinden: Der ehemals als böser Feind gehandelte Russe wurde in den letzten zwei Jahren das Ziel großer Hilfsbereitschaft und wird es wohl auch noch einige Zeit bleiben. Da wurde plötzlich der Mensch im anderen entdeckt und empfangene Hilfe weitergegeben. Wer weiß, ob nicht einzelne Menschen mit ihrer Politik der Versöhnung diesen Umschwung bewirken konnten. Diese Menschen handelten nach ihrem Glauben, dass Frieden möglich ist und weniger nach der Realität, die nur dazu angetan war, die Zeichen des Unfriedens zu verlängern. Sie hatten und haben ernsthafte Gegner.

Ein Tag der Volkstrauer ist der Volkstrauertag nicht mehr. Die meisten Menschen können ihn nicht sinnvoll begehen. Die Kranzniederlegungen an den Ehrenmalen könnten auch als Alibi missverstanden werden. Damit wir uns nicht mit den Problemen des Friedens einzulassen brauchen. Immer noch werden auf dieser Erde massenhaft Rüstungsgüter produziert. Ich weiß nicht, ob die Zahl noch stimmt: Jährlich verschlingt die Rüstungsproduktion 1000 Milliarden Dollar. Wie vielen Menschen kostet dieser verquere Einsatz von Geld, das man zum größten Teil auch zur Hungerbekämpfung ausgeben könnte, das Leben, ohne dass eine Waffe benutzt wird? Die große Materialschlacht des Golfkrieges ist schon fast vergessen. Da wurde gezeigt, was Menschen leisten können an Einsatz und Präzision. Warum geht das nur für den Krieg? Da hat ein Präsident die Formel von der neuen Weltordnung geschaffen. Die Formel ist in der Welt, die neue Ordnung aber nicht.

Wir begegnen nicht dem weltweiten Untermenschen, wenn wir uns nach der Wirklichkeit des Friedens in dieser Welt fragen. Wir begegnen dem, was Menschen tun und lassen, wozu sich Menschen hinreißen lassen und wozu sie sich aufraffen. Da sind wir gefragt mit dem, was wir glauben und worauf unser Leben zielt. Das Gedenken muss zum Bedenken werden. Die eigenen Ängste und bösen Möglichkeiten zu verleugnen und weg zu schieben und sie dann in den anderen zu bekämpfen, kann nicht der richtige Weg sein.