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Prof. Dr. Monika Frommel Was dem Autor Hagenmaier vorschwebt, könnte man auch eine verbesserte Spezialprävention nennen. Es ist egal, ob man das Durchbrechen der Neutralisierungstechniken der Inhaftierten Spezialprävention oder Restorative Justice nennt, wenn Kommunikation dort ermöglicht wird, wo heute noch Sprachlosigkeit herrscht. Vor "Weltverbesserung" allerdings wird gewarnt. Lübecker Nachrichten, 9. 2. 2016 Hagenmaier spricht sich dafür aus, dass Opfer aus ihrer Opferrolle befreit werden und Tätern zu einer verantwortlichen Haltung verholfen wird. In seinem Werk setzt er sich intensiv mit einer Alternative zum gängigen Strafverfahren auseinander. Dr. Michael Scheele ...lese gerade Ihr Buch und bin begeistert. Prof. Dr. Ulfried Kleinert, SLR 73/2016, 28f. Zur Bearbeitung eines im Rechtsbruch offenkundig gewordenen Problem können (und müssen) grundsätzlich alle Beteiligten einbezogen werden.... rj erfordert letztlich einen Paradigmenwechsel vom vergangenheitsbezogenen Straf- und Strafvollzugsrecht weg, hin zu einem Konzept in der Gegenwart einsetzender und zukunftsbezogener 'heilender' Gerechtigkeit. Hilfreich sind auch Hagenmaiers Differenzierungen zum Opferbegriff. (Er stellt) Geschichte und Konzept von restorative justice ... mit vielen anregenden Reflektionen und Impulsen vor. Martin Hagenmaier beschreibt in diesem Buch die Anwendung von Restorative Justice im Gefängnis. Restorative Justice hat zum Ziel, Tätern zu einer verantwortlichen Haltung zu verhelfen und Opfer aus der Opferrolle zu befreien. So könnte unsere Gesellschaft besser mit verurteilten Straftätern und ihren Opfern umzugehen lernen. Bestrafen und Wegsperren der Täter bringen nur den Anschein von Hilfe. Restorative Justice kommt weltweit in Gefängnissen zumindest als Opfer-Emphatie-Training zur Anwendung. In Deutschland gibt es erste Anfänge, mit verurteilten Tätern an ihrer Opferverantwortung zu arbeiten. Die Opferperspektive auch mit Opfern von Straftaten zu entwickeln, spielt dabei die entscheidende Rolle. Der Autor setzt sich kritisch mit den Vorläufern und Ansätzen von Restorative Justice auseinander. Er beschreibt Ergebnisse des Opfer-Empathie-Trainings eines Europa-Projektes (rjustice.eu 2013/14). Anhand von Fallbeispielen aus seiner Praxis als Gefängnisseelsorger und Kriminologe legt er die Voraussetzungen zur Durchführung im Gefängnisalltag dar. Er untersucht den Begriff Empathie im Licht der Entdeckung der Spiegelneuronen und was das für das Training bedeutet.
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EINLEITUNG
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1.2 W
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DIE VORLÄUFER VON RESTORATIVE JUSTICE
2.1 K
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WAS IST RESTORATIVE JUSTICE?
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3.4.1 Der Begriff
3.4.2 Der praktische Anfang und dann?
3.4.3 Methoden / Verfahrensweisen von RJ
3.4.4 Täter-Opfer-Ausgleich (TOA)
3.4.5 Tatausgleich (Österreich)
3.4.6 Ergebnisse von RJ
3.5 R
ESTORATIVE
J
USTICE FÜR WELCHE
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TRAFTATEN
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DIE ‚OPFER‘ UND DIE HEILENDE GERECHTIGKEIT
4.1 D
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RKENNTNISSE AUS DER NEUEREN
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4.5 R
ESTORATIVE
J
USTICE FÜR
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RIMINALITÄT
4.5.1 Ergebnisse einer Gruppe von Opfern im Projekt „Restorative Justice at Post-Sentencing Level; Supporting and Protecting Victims“ in SH.
4.5.2 Ein Ergebnis aus Australien
4.5.3 Fazit
4.6 R
ESTORATIVE
J
USTICE UND DIE
O
PFER
RESTORATIVE JUSTICE IM GEFÄNGNIS
5.1 E
RSTER
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INBLICK
5.2 S
TRAFTHEORIEN
5.2.1. Alltag
5.2.2 Absolute Straftheorie
5.2.3 Relative Straftheorien
5.2.4 Strafe und ihr Ziel aus rechtlicher Sicht (Lebach-Urteil)...
5.3 S
CHILDERUNG DER
G
EFAHREN DES
G
EFANGENSEINS
5.3.1 U-Haft
5.3.2 Strafhaft
5.3.3 Gefangene und ihre Beziehungen
5.3.4 Problemverstärkung
5.3.5 Subkultur
5.3.6 Effekte oder Gefahren der Haft
5.3.7 Totale Institution
5.4 S
TRAFTÄTER UND
G
ESELLSCHAFT
5.5 C
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5.5.1 Zielsetzung des Gefängnisses und Restorative Justice
PROJEKTERFAHRUNGEN
6.1 D
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PFEREMPATHIETRAINING
(OET)
6.2 O
PFEREMPATHIETRAINING
– E
RGEBNISSE
6.2.1 Motivation
6.2.2 Zusätzliche Wahrnehmungen bei der Motivation
6.2.3 Allgemeines Feedback
6.3 O
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RKENNTNISSE
6.4 A
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G
EFÄNGNIS
6.5 P
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NSTRUMENTALISIERUNG
6.6 Empowerment für das Gefängnisleben
6.7 D
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EFANGENEN
6.8 E
RGEBNIS
6.8.1 Folgerungen
6.8.2 Restorative Prison
6.8.3 The Restorative Justice Living Unit at Grande Cache Institution (Kanada)
6.8.4 Restorative Justice - Fazit
OPFEREMPATHIETRAINING IM GEFÄNGNISALLTAG
7.1 W
AS IST
E
MPATHIE
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7.2 OET
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G
EFÄNGNISALLTAG
7.3 D
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EILNEHMER UND IHRE
G
ESCHICHTEN
7.3.1 „Schwere“ Körperverletzung
7.3.2 „Schwere“ Körperverletzung
7.3.3 Einbruch
7.3.4 Fahren ohne Führerschein
7.3.5 Raub
7.3.6 Körperverletzung unter Alkohol
7.3.7 Körperverletzung unter Alkohol
7.3.8 „Schwere“ Körperverletzung
7.3.9 Raub
7.4 E
IN
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EILNEHMER DES
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NACH SEINER ERNEUTEN
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ERURTEILUNG
7.5 D
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RUPPENARBEIT IN DER
JVA
7.5.1 Motivation
7.5.2 Gruppendynamische Probleme
7.5.3 Das Opfer gibt es genau so wenig wie den Täter
7.5.4 Auswahl der Teilnehmer
7.5.5 Die Opferseite
7.6 K
RIMINOLOGISCHE
N
EBENASPEKTE
7.6.1 Review der geschilderten Fälle
7.6.2 Elemente einer Kriminalitätstheorie
WIRKUNGEN DES OET
8.1 S
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8.8 K
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8.9 Z
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8.9.1 Paul
8.9.2 Bilal
RESTORATIVE JUSTICE UND (GEFÄNGNIS)SEELSORGE
9.1 D
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EFÄNGNISSEELSORGE
9.2 S
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ANHANG
RESTORATIVE JUSTICE UND DIE BIBEL
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Biblischer Shalom
OPFEREMPATHIETRAINING – MODELLE
RECHTLICHE AUSPRÄGUNG VON OPFERORIENTIERUNG IN DEN VOLLZUGSGESETZEN IN DEUTSCHLAND
FRAGEBOGEN ZUR PUNITIVITÄT
TABELLENVERZEICHNIS
LITERATURVERZEICHNIS
ANMERKUNGEN
Mike ging nachts auf Tour, um auf Baustellen elektrische Werkzeuge zu stehlen. „Das war nicht so schwer“, erzählte er, „ein Bolzenschneider reichte als Einbruchsgerät aus.“ Wofür man die Bohr- oder Schleif- und andere Maschinen denn gebrauchen könne? Da hatte er seine Abnehmer, die sehr zuverlässig waren. Sie kauften ihm die gestohlenen Geräte ab. Mit Geld in der Hand begab Mike sich dann in die Kneipe und „schmiss dort Runde um Runde“. Wenn das Geld verbraucht war, war er selbst auch so voll, dass er nur noch schwer nach Hause fand. Warum er das erbeutete Geld nicht gespart hat, das weiß er nicht so genau. Beim Reden und Nachfragen kam er aber darauf, dass ihm die Anerkennung, die seine Gäste ihm in der Kneipe entgegenbrachten, wirklich gut getan hat. Er erkannte bald: Sobald das Geld ausgegeben war, sank seine Anerkennungsquote beträchtlich. Das ließ ihm keine Ruhe. Sein Schluss aus den Überlegungen, wie man die Anerkennungsquote steigern könnte, war schließlich konsequent und folgenreich. Wenn das Geld aus der Beute ausgegeben war, musste ganz einfach neues Geld her. So ging er nachts zweimal einbrechen und nach kurzer Zeit auch tagsüber. Dann musste er allerdings nicht einbrechen, sondern einfach nur im richtigen Moment zugreifen. Wie zu erwarten ging das nicht lange gut. Die Hehler kauften ihm alle Geräte ab. Aber am Tage kann man dann auch mal gesehen werden. Schon nach wenigen Tagen stand plötzlich die Polizei vor ihm und nahm ihn mit. Da er auf dem Revier nicht unbekannt war, machte seine Vernehmung schnelle Fortschritte. Er gab zu, einige der infrage stehenden Einbrüche oder auch Diebstähle begangen zu haben. Nach der üblichen Verfahrensfrist wurde er wegen zehn zum Teil schweren Diebstählen angeklagt. Das Gericht verhandelte acht davon. Es gab wegen wiederholter Verurteilung zwei Jahre Haft ohne Bewährung. Darüber beschwerte sich Mike nicht. „Zwei Jahre sind schon in Ordnung“, meinte er, „wenn man bedenkt, dass ich hunderte von Baustellen heimgesucht habe.“
Das ist der übliche Weg des Wiederholungstäters: Wenn man erwischt wird, gibt man mal schnell einige eindeutig zuzuschreibende Sachen zu, dann hat man mit der nervigen Vernehmung seine Ruhe – und die so genannte Gerechtigkeit geht ihren Gang. Man weiß, was man zu erwarten hat, vielleicht hat man auch mal Glück und bekommt noch mal Bewährung. Und das Gefängnis sitzt man dann eben ab. „Es ist auch nicht viel anders als früher im Kinderheim. Da gibt es manchmal sogar nette Leute, die sich kümmern. Dann geht das schon `rum.“ Was aber passiert, wenn es dann nach der Entlassung weiter geht wie vorher? „Das wäre Pech, da müsste ich mich nächstes Mal schlauer anstellen.“
Mit Mike wird daran gearbeitet, dass er sich durch die Einbrüche und Diebstähle Anerkennung kaufen muss. Ob ihn keiner sonst anerkennt? „Nicht so richtig. Die sind immer nur nett, wenn sie was bekommen. Und andere kenne ich nicht.“ Das sei dann fast wie eine Sucht nach Anerkennung. Wenn man die auf solche Art zu kaufen versucht, sei das wie bei jeder anderen Sucht: die Wirkung lässt nach, die Dosis muss gesteigert werden. Da werde er in kurzer Zeit mit dem Einbrechen gar nicht mehr hinterherkommen. „Das ist ja eine ganz gute Erklärung“, erwidert Mike, „kann ich nächstes Mal vor Gericht damit argumentieren, dass ich gar nicht anders kann?“ Nein, so sei das nicht gemeint. Es sei nur ein Versuch, zu erkennen, was in ihm vor sich geht. Wir müssten daran arbeiten, wie er auf andere Weise die Anerkennung seiner Mitmenschen gewinnen könne.
Soweit die Geschichte vom Intensivtäter Mike, der auf dem Weg zum Drehtürgefängnis bereits weit fortgeschritten war. Zu bemerken ist noch, dass er ein Jahr nach der Entlassung noch wegen einer schlimmeren Straftat im Bereich Körperverletzung und Freiheitsberaubung verurteilt wurde. Danach aber nahm die Frequenz ab. Er kam nach fünf Jahren noch ein Mal ins Gefängnis und blieb dann weg. Er hatte eine Frau kennen gelernt, mit der er sich gut verstand. Sie blieb auch während des einen Jahres Gefängnis bei ihm und holte ihn bei der Entlassung am Gefängnistor ab. Selbst die Arbeit, die er vor seinem letzten Aufenthalt bekommen hatte, blieb ihm erhalten.
Im Falle Mikes waren sieben Gefängnisaufenthalte und ein Zufall zur Beendigung der Karriere notwendig. Für die einen sind solche Verläufe ein Beweis für die Wirkungslosigkeit von Strafe, für zweite für die Sinnlosigkeit des Kriminalsystems, für dritte der Beweis dafür, dass nur Lebenslagenveränderung eine Möglichkeit ist, kriminelle Karrieren zu unterbrechen oder abklingen zu lassen. In diesem Fall wurde die Lebenslagenveränderung von dem Straftäter selbst herbeigeführt. Es bleibt die Frage, ob man eine wie immer geartete Lebenslagenveränderung durch Maßnahmen erzwingen kann. Vierte halten solche Verläufe für ein Ergebnis der Gefängnisstrafe, die Täter auch bei einigem Einsatz an Hilfe in der Haft eben nicht resozialisieren kann. Fünfte sehen sich bestätigt, dass Kriminelle eben Kriminelle sind und dass solche glücklichen Zufälle nicht dazu berechtigen, irgendeine Hoffnung auf eine Verhaltensänderung bei vielfach bestraften Tätern zu schüren. Stattdessen müsse man für eine bessere Wirkung von Strafen durch entschiedeneren und härteren Vollzug oder längere Zeitstrafen sorgen.
Mikes Kriminalitätsgeschichte verlief täterorientiert auf allen Ebenen. Ein Fall für den Täter-Opfer-Ausgleich wurde von der Staatsanwaltschaft hier nicht gesehen. Niemand hat gefragt, wie sich wohl die Bestohlenen fühlen könnten. Ebenso wenig stand die Frage nach einer Wiedergutmachung oder Restitution im Raum. In der Regel verläuft letztere so, dass eine Versicherung die Schäden bezahlt. Diese Versicherung kann dann Mike haftbar machen und ihm eine große Rechnung präsentieren, die er nie wird bezahlen können, die ihm aber ein Leben lang anhängt. Mike wurde aber auch in der Justiz nie wirklich mit seinen Diebstählen konfrontiert. Dem kam er dadurch zuvor, dass er im richtigen Moment „alles zugegeben hat“. Dann erübrigte sich der Austausch über den wirklichen Umfang seiner Diebereien. Seine Opfer brauchten im Gerichtsverfahren nicht auszusagen und kamen dadurch im Verlauf der Fallbearbeitung nicht mehr vor. Im Anschluss an die Haft kam jeweils die Bewährungshilfe zum Einsatz. Formal verhielt sich Mike perfekt, während er unter Bewährung stand.
Dieses täterorientierte Freiheitsstrafenmodell wird seit den späten 1950iger Jahren, zunächst noch täterorientiert und wohl nur für Fachkreise, in Frage gestellt. Der Anlass dafür war die häufige Rückfälligkeit der bestraften Täter. Albert Eglash beschrieb 19581‚Creative Restitution’ als eine Maßnahme der Wiedergutmachung der Täter gegenüber den Opfern der Straftat. Damit sollte der Vollzug der Strafe eher das Ziel der Resozialisierung erreichen. In den 1970iger Jahren kamen weitere Ideen und Praktiken hinzu die schließlich zu der Bewegung Restorative Justice führten.
Restorative Justice verändert die Perspektive gegenüber Straftaten. An Straftaten sind nicht nur Täter beteiligt, sondern auch Opfer. Sie spielen sich nicht im luftleeren Raum, sondern in der Gesellschaft ab. Also müssen die Gesellschaft, die Opfer und die Täter an einer Lösung des Falles beteiligt sein und einen Weg zur Wiedergutmachung finden. In der Idealform wird zunächst der Schaden festgestellt und die Frage geklärt, welche Bedürfnisse die Opfer haben. Dann werden die Verantwortung und die Bedürfnisse des Täters eingeschätzt, um eine Form zu finden, in der der Täter seiner Verantwortung gerecht werden kann. Die Gesellschaft gibt beiden Seiten die Möglichkeit, im geschützten Rahmen einen Ausgleich zu finden und steht zu ihrer Verantwortung gegenüber beiden. Das kann in Form von Konferenzen oder Einzelmediationen vor sich gehen, Hilfe bei Therapien zur Bewältigung des Tatgeschehens einschließen und möglicher Weise das Gefängnis überflüssig machen. Entscheidend ist es, bei der konkreten Tathandlung zu bleiben und diese hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Folgen konstruktiv auf- und abzuarbeiten.
Kritiker mögen sofort einwenden, auch im Justizverfahren seien Täter, Opfer und Gesellschaft vertreten. Der Täter werde zum Beispiel durch die Justizverfahren vor direkten Racheaktionen geschützt. Er werde nach seiner Schuld bestraft, und dadurch individuell in Verantwortung genommen. Die Gesellschaft sei daran erheblich durch ihre Justizinstitutionen beteiligt. Das gerechte Urteil schaffe dann der Rechtsfrieden. Dieser Einwand ist richtig. Unser Justizsystem ist mit dem Zentrum Strafvollzug konsequent aufgebaut. Dennoch sind aber die Ergebnisse dieses Systems problematisch. Die Opfer bleiben in der Regel allein mit ihrem Erleben. Die Täter nutzen das System taktisch, werden aber als Konsequenz aus Verfahren und Freiheitsstrafe tendenziell aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Gesellschaft oder Gemeinschaft nimmt nur durch die Presse Anteil am Geschehen. Das konkrete Geschehen wird in eine Verfahrensform der Justiz umgewandelt. Dadurch können nur juristische und andere Experten dieses Verfahren wirklich durchschauen. Täter, Opfer und Gesellschaft werden dem Geschehen gewissermaßen entfremdet.
Restorative Justice ermöglicht die Perspektive einer konkreten Problemlösung anstelle einer eher abstrakten Strafe. Letztlich trauen die Befürworter den beteiligten Individuen und Gruppen eine gute Lösung bei der Aufarbeitung von Straftaten zu. Der Täter-Opfer-Aus-gleich ist ein Ergebnis dieser Sichtweise. In unserem deutschen Strafrecht kann ein solcher Ausgleich nach §46a Strafgesetzbuch dem Täter die Strafe ersparen oder mindern. Warum sollte man dann im späten Verfahrensstadium des Strafvollzugs noch mit Restorative Justice arbeiten, wenn die Strafe ausgesprochen ist und auch bereits vollzogen wird? Wie passt Restorative Justice in eine Gefängnisumgebung? Und wie geht man in diesem Rahmen mit wiederholt bestraften Menschen um?
„Warum Restorative Justice (RJ) im Gefängnis? Gefängnis ist keine leichte Umgebung für restorative Programme, im Gegenteil gibt es eine schwierige Beziehung zwischen den Werten von RJ und der Gefängnisidee. Inhaftierung ist mit der vergeltenden Justiz aufs engste verbunden.“2 Mit dieser Feststellung beginnt ein Forschungsbericht der Christ Church University über eine RJ Mediation im Erwachsenenvollzug. Freiheitsstrafe ist heute das schärfste Schwert der Strafjustiz als deren Gegenteil RJ sich lange ausschließlich verstanden hat. Die ‚retributive’ Strafjustiz ist die Folie, auf deren dunklem Abbild RJ sich hell darstellt. Eine der Wurzeln von RJ liegt im Abolitionismus, der das Gefängnis und das ganze Strafrecht abschaffen will.3 Warum sollte also RJ überhaupt Interesse daran zeigen, sich ‚im Herzen’ des Strafjustizsystems niederzulassen? Sollte vielleicht das Bild der Strafjustiz, das RJ sich zurechtgelegt hat, überzeichnet sein? Immerhin wurde das Gefängnis in Deutschland sogar rechtlich als Behandlungs- und Resozialisierungseinheit definiert4 und daher nicht als Vergeltung verstanden, auch wenn die Realität damit nicht mitgehalten hat.
Da fragt sich, was für einen Sinn es haben soll, mit Straftätern, die nicht zum ersten Mal im Gefängnis sind, organisiert über ihre Opfer zu sprechen? Sollen sie ein schlechtes Gewissen bekommen oder moralisch unter Druck gesetzt werden, um dadurch vielleicht weitere Straftaten zu unterlassen? Wozu kann es gut sein, über einen Ausgleich mit den Opfern nachzudenken, wo doch schon die strafende Justiz die Taten mit einer gerechten Strafe versehen und dadurch das Unrecht ausgeglichen hat? Warum sollte man Opfern von Straftaten anbieten, sich lange nach dem Prozess der Mühe einer Aufarbeitung zu unterziehen und sich mit ihren Tätern gar noch zu treffen? Solche Fragen bewegen u.a. die Praxis von ‚Restorative Justice’ (RJ) in verschiedenen Regionen der Welt. Als Antwort wurden in zahlreichen Gefängnisprojekten weltweit ein Opferempathietraining (OET) für Täter und die Opfer-Täter-Mediation für Opfer und Täter ausprobiert und eingeführt.
Nach Einführung des Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) in Deutschland kamen aus deutschen Gefängnissen gelegentlich Anfragen mit dem Wunsch, einen solchen TOA einzuleiten oder wenigstens eine Entschuldigung vorzubereiten.5 Das zeigte, dass es auch bei bestraften Täterinnen oder Tätern ohne äußeren Anstoß den Wunsch nach Ausgleich geben kann. Auch die Erfahrung der Mitarbeitenden sagt, dass die Opferthematik im Gefängnis nicht abgehakt ist. Ein weiteres Argument ist, dass die Resozialisierung nicht genug Erfolg zeigt und auch Therapiemöglichkeiten im Vollzug grob überschätzt wurden.6
Eine weitere Wurzel von RJ ist die verstärkte Wahrnehmung, dass die Opfer sich im Strafjustizsystem nicht wieder finden, sondern am Rande als Zeugen abgehandelt oder an Betreuungsvereine ausgelagert werden. Bei RJ stehen das Opfer und die Opferschädigung im Zentrum und hat auch einen Impuls für die Bewegung der wiederherstellenden Gerechtigkeit gegeben. Das Opfer ist aber im Gefängnis nicht zu finden. Ausgleich für die Straftat ist ja eben die Gefängnisstrafe. Soll darüber hinaus ein weiterer Ausgleich im Sinne von RJ erfolgen?
Dazu kam ein religiöser Impuls von ‚Prison Fellowship’. Die Bewegung Prison Fellowship wurde 1976 in den USA als evangelikale Gruppe von einem im Zusammenhang mit Watergate verurteilten Nixonberater7 gegründet. Die biblische Zachäus - Geschichte8 hat die Bewegung zu dem inzwischen weltweit verbreiteten Programm „sycamore tree“ geführt, so die Homepage.9 „The programme was named after the story .... … Jesus then helped the crowd understand the reconciling power of biblical (restorative) justice.“10 Prison Fellowship versteht dieses meist von geschulten Laien durchgeführte victim – awareness - Programm als RJ – Maßnahme. Dem können sich im Übrigen auch andere Religionen anschließen. Die moslemische nutzt als Aufhänger die Josephsgeschichte (Verkauf des Joseph durch seine Brüder an eine ägyptische Karawane und Vergebung am Ende11).
Man könnte also sagen, dass RJ aus der Erfahrung der Schwierigkeiten des Gefängnisses mit seinen eigenen Zielsetzungen und aus missionarischen Impulsen den Weg dorthin gefunden hat. Da geht es dann um die Opferproblematik in der ‚Täterseele’, die durchaus noch bearbeitet werden kann (und muss).
Wie RJ und Gefängnis in dieser Fragestellung zusammenpassen, ist Gegenstand dieser Schrift. Dazu wird zunächst betrachtet, was RJ ist und woher sie kommt. Denn ohne ein gründliches Verständnis der RJ-Bewegung erscheint es schwierig, ihre Möglichkeiten im Gefängnis überhaupt wahrzunehmen. Dann folgt ein Abschnitt über die Opferproblematik, der wegen der zentralen Bedeutung des Opfers bei RJ ebenso unerlässlich erscheint. Schließlich wird das Gefängnis mit den begründenden Straftheorien, seinen Zielen und Wirkungen betrachtet, bevor dann ein Opferempathieprojekt dargestellt wird, das die Fragen beantwortet: Warum RJ im Gefängnis? Kann RJ verurteilten Straftätern und vielleicht sogar dem Gefängnis helfen?
In der sozialwissenschaftlichen Forschung liegen die qualitative und die quantitative Methodik miteinander in Konkurrenz.12 In der quantitativen Forschung geht es um repräsentative Erhebungsmethoden für eine genau umschreibbare oder umschriebene Population, deren Einstellungen, Gewohnheiten, Sichtweisen oder Haltungen zu untersuchen und darüber valide, nachprüfbare und gesicherte Ergebnisse zu gewinnen, indem Stichprobenuntersuchungen mit standardisierten Fragebögen abgearbeitet werden. Der Grad der Standardisierung, der bis in vorgegebene Antwortmöglichkeiten führen kann, richtet sich ebenfalls nach dem Thema und der Art der Befragung. Die Befragung kann mündlich, schriftlich oder telefonisch erfolgen. Die Auswahl der Stichprobe nach einem jeweils festzulegenden Prozedere der Zufallsauswahl hängt von der Art der Befragung und der zu befragenden Population ab. Dabei gehen die Konzepte im Prinzip auf die Normalverteilung der Gauß’schen Kurve zurück. Stichprobenbildung wird notwendig, wenn eine Befragung der Gesamtpopulation aus technischen oder Gründen des Aufwandes nicht durchführbar ist. Die Fragestellungen entwickeln Auftraggeber und/oder Wissenschaftler aus ihren jeweiligen Frage- und/oder Forschungsinteressen heraus. Häufig geht es dabei um Gewichtung von Haltungen zu Organisationen, Medien, politischen Parteien, der Regierungstätigkeit, aber auch um die Wirksamkeit von Verfahren oder Markenimages. Die quantitative Methode erhebt differenzierte Mehrheitsverhältnisse im Bezug auf das zu untersuchende Objekt oder die jeweilige Fragestellung. Statistische Mathematik ist ihre häufigste Auswertungsmethode.
Die qualitative Methode setzt dagegen im Wesentlichen auf das persönliche Interview mit einzelnen oder Gruppen, in denen die Fragerichtung von Forschungsfragen vorgegeben wird, die auch dem Forschungsinteresse von möglichen Auftraggebern und/oder Forschenden kommen. Die Entfaltung der Fragestellung wird jedoch dem freien Einfall des Interviewten überlassen. Der Interviewer achtet darauf, durch ein Frageraster bestimmte Fragen anzusprechen, ist aber auch offen für neue Fragestellungen, die durch die Erzählung des Befragten aufkommen. Die Methode eignet sich für die Bearbeitung zunächst nicht einfach standardisierbarer Antwortmöglichkeiten mit Populationen, die schwer zu umschreiben oder schwer zu einem bestimmten Zeitpunkt zufällig ausgewählt werden können. Sie bietet auch die Möglichkeit, den Befragten als Subjekt zur Sprache kommen zu lassen, indem er seine Haltungen erzählend darbietet. Die qualitative Methode eignet sich auch für Personen, mit denen aufgrund von Sprachproblemen oder Ungeübtheit im Umgang mit Fragebögen und standardisierten Antworten die quantitative Methode die Gefahr zu vieler Fehler oder Verweigerungen enthielte. Zudem eignet sie sich ebenso für Interviews mit Experten und Probanden der Bevölkerungsschichten, die aufgrund ihres hohen Bildungsniveaus Vorbehalte gegenüber der Standardisierung und Einordnung in den Durchschnitt entwickeln.
Bei der Auswertung stellt jedoch die qualitative Methode hohe Anforderungen an die Aufschlüsselung des Materials und ist selten für schlichte Vergleichbarkeit oder auch intensive datentechnische Auswertung mit Computerprogrammen geeignet. Während in der quantitativen Forschung der standardisierte Fragebogen oder feststehende Antwortmöglichkeiten bei zureichender Populationenbeschreibung und Stichprobenauswahl die Validität bereits in den Vorarbeiten zur Befragung auf solide Grundlagen gestellt werden kann, ist der Nachweis der Gültigkeit in der qualitativen Untersuchung erst in der Sorgfalt der interpretierenden Schritte möglich. Dennoch ist auch hier die Gültigkeit von Ergebnissen von der Sorgfalt der Fragestellung und der Entwicklung eines Forschungsziels abhängig. Zudem muss einsichtig gemacht werden, wie die Auswahl der Probanden zustande kommt.
„Empirische Untersuchungen sollten nicht nach der Art der verwendeten Untersuchungsmethoden, sondern nach ihrer Funktion und ihrem Stellenwert für den Wissenschaftsprozess klassifiziert werden.“13 Bortz bestreitet auch die Nützlichkeit einer Unterscheidung nach qualitativ und quantitativ. „Beschreibungen neuer, noch weitgehend unerforschter Bereiche können verbal (z.B. in Protokollen, Interviews oder Dokumenten), numerisch (mit eigenen Daten oder vorhandenen Statistiken) oder einfach gegenständlich sein(...).“14 Für Erkundungsgespräche nennt Bortz die Formen „Exploration“, „fokussiertes Interview“ und „narratives Interview“15. Dass die methodischen Grenzen mehr oder weniger streng gezogen werden, richtet sich nach der Praxisnähe des Untersuchungsgegenstands. Eher wissenschaftlich – methodologisch orientierte Arbeiten werden die Methoden – Unterschiede herausstreichen, während praxisorientierte Forschung eher pragmatisch mit den Unterschieden umgehen muss.16 Sinnvoll erscheint auch der Hinweis, dass standardisierte Forschung eher technokratischen, qualitative Forschungsansätze eher emanzipatorischen Impulsen und Grundentscheidungen entspringen.17
Eine weitere methodische Grundentscheidung kommt hinzu. Die qualitative Forschung nach Strauss beruht auf der Annahme von der Komplexität der sozialen Phänomene. Er spricht von strukturellen Bedingungen, „die gegen eine strikte Systematisierung von methodologischen Regeln sprechen. Zu diesen Bedingungen gehört die Vielfalt von sozialweltlichen Gegebenheiten und die damit verbundenen Zufälligkeiten.“18 Die Interaktion der Forschenden mit den zu beobachtenden Menschen oder Phänomenen spielt bei der Forschung eine erhebliche Rolle. Schließlich ergibt diese Methode ein offenes Ende der Forschungsergebnisse.19 Der von Strauss so genannten „Grounded Theory“ liegt die Theorie des „symbolischen Interaktionismus“ von Herbert Blumer20 zugrunde, ohne dass Strauss sich als wissenschaftliches Mitglied einer Schule dieser Theorie sieht.21 Menschen handeln nach dieser Theorie auf der Grundlage von Bedeutungen, die in der sozialen Interaktion entstehen. Wirklichkeit ist immer interpretierte und konstruierte Wirklichkeit, die im gegenseitigen und mehrseitigen Interpretationsprozess verhandelt wird. „Soziale Sinnstrukturen sind damit Produkte menschlichen Handelns und kontinuierlichem Wandel unterworfen.“22 Forschung ist Teil dieses wechselseitigen Interpretationsprozesses und nimmt nicht etwa einen Standort außerhalb ein, der so etwas wie Objektivität garantieren kann.
Methodisch wird in den Abschnitten 3, 4 und 5 auf die qualitative Methode der Sozialwissenschaften zurückgegriffen. Es werden Ergebnisse dargestellt, die in Leitfadeninterviews bei TeilnehmerInnen des Projektes ‚Restorative Justice at post sentencing level; supporting and protecting victims’ (2013/2014, www.rjustice.eu) erfragt wurden. Die Auswahl von ‚Opfern’ und ‚Tätern’ kam aufgrund einer Interaktion – des offenen Angebotes von Opferempathietraining auf der einen und des öffentlich ausgeschriebenen Straf-Tat-Dialogs auf der anderen Seite – auf nicht kontrollierbare Weise zustande. Es wurde beim Projektteil in der Justizvollzugsanstalt Kiel allerdings darauf geachtet, dass zumindest alle Gefangenen des Hauses das Angebot zum OET lesen und sich dann freiwillig zur Teilnahme entscheiden konnten. Das Interesse der Erforschung wurde von dem genannten EU-Projekt in der Projektzusammenarbeit gesteuert. Schließlich aber war mein Interesse als Autor, die Elemente von RJ zu verstehen und in geeigneter Weise im Bereich einer JVA zu erproben. Der Abschnitt sechs schildert und reflektiert Ablauf und Inhalte zweier weiterer OET Gruppen unter realen und nicht unter Projektbedingungen. Abschnitte sieben und ein Anhang bearbeiten die Anbindung von RJ an christliche Wurzeln.
Die Fragestellungen zu RJ – was sie ist und was sie erbringt - werden auf die übliche Weise als Zusammenführung und Interpretation einiger – ausgewählter und wichtig erscheinender - Darstellungen von RJ und ihrer Elemente Opfer – Täter – Gesellschaft (Justizvollzugsanstalt) bearbeitet. Die gesamte Literatur von und über RJ zu bearbeiten, erscheint fast nicht möglich.
“When I first encountered ‘restorative justice’, I was filled with enthusiasm. Restorative justice took a positive, forward-looking approach to crime. It focused on repair instead of punishment, on healing the wounds of injustice instead of inflicting further retributive suffering. It conceptualized crime as the wrongful violation, not of an impersonal set of rules, or an abstract notion of ‘the State’, but of individual victims.”
23
Und so geht es weiter: „It envisioned justice as the repair of the world; … Justice, then, was to be found in an authentic experience of mutuality, reciprocity, and regard between and among individuals. In place of the spiteful aspiration to inflict suffering on the wrongdoer as a means of achieving justice, restorative justice offered a loving aspiration to heal the damage of the wrong and to repair the injury to the relationship between the victim and the perpetrator.”
24
Handelt es sich da um religiöse Erfüllung, Wunschdenken oder gar eine Utopie?
25
Eine besonders eindrucksvolle Wandlung vom strafenden zum heilenden Paradigma liefert das Alte Testament in seinen Anfängen: Kaum war die Menschheit geschaffen, bereute Gott seine Schöpfung: „Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde,…“26 Die Strafe für das Verhalten der Menschen ist die Vernichtung. Wir halten es heute für gewalttätig, böse und ethisch nicht zu rechtfertigen, ‚Bosheit’ mit dem Tod zu bestrafen. Aber Gott tat es gleich massenhaft und grundlegend. Strafe hat immer diese Wirkung, dass sie Menschen ‚vernichtet’, heute in manchen Weltgegenden ‚nur’ moralisch, psychisch und gesellschaftlich, anderswo auch physisch.
Nach der Sintflut hat Gott sich durch den ‚lieblichen Geruch’ eines Brandopfers besonnen: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“27 Das setzt sich im Neuen Testament fort mit der Aussage Jesu zur Begründung der Feindesliebe: „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“28 Die richtige Wahrnehmung der Lebensgrundlagen lässt die Menschen spüren und glauben, dass sie alle auf demselben Grund leben und insofern unabhängig von ihrem Tun Menschen und nichts als Menschen sind. Das könnte man als restorative practice verstehen, weil es die Menschen zu gegenseitiger Achtung, zu Respekt und zu heilenden Beziehungen ermächtigt und die Welt auf stetigen Neuanfang setzt.
Nicht nur die christliche Seite liefert für Restorative Justice Hintergründe. John Braithwaite zählt auf:
„Restorative justice ist … eine wichtige Entwicklung im kriminologischen Denken, ungeachtet ihrer Begründung in Gerechtigkeitstraditionen der alten arabischen, griechischen und römischen Zivilisationen, die einen restorativen Zugang sogar bei Tötungsdelikten akzeptierten, ungeachtet auch des restorativen Zugangs der öffentlichen Versammlungen (Thing) der germanischen Völker29, die nach dem Fall Roms über Europa fegten, indischen Hindus, so alt wie die vedische Zivilisation (6000-2000 vor Christus) mit ihrem ‚vergeben ist dem, der gesühnt hat‘ und alten buddhistischen, taoistischen und konfuzianischen Traditionen, die man heute in Nordasien sehen kann.“30
Die Aborigenes in Australien, die Maori in Neuseeland sowie die Indianer Nordamerikas31 müssen hinzugefügt werden. Restorative Justice sei die Form der Justiz, mit der die Menschen die meiste Zeit in ihrer Geschichte gearbeitet haben, während Strafjustiz ziemlich neu ist.32 Diese Interpretation der Geschichte von Justiz halten Kathleen Daly und andere Autoren für einen „Ursprungs-Mythos“, der dem eigenen Ansatz scheinbare Legitimation verleiht, aber nicht wirklich Geschichte beschreibt.33
Restorative Justice34 hat sich lange Zeit für ungeübte Ohren als (gutes) Gegenstück zur (schlechten) üblichen Justiz oder zum Kriminal-, Strafjustizsystem präsentiert. Im englischen Sprachraum ist das auch sehr praktikabel, weil dort nur ein Wort ausgetauscht werden muss: Das (böse) System heißt criminal justice, das (gute35) Gegenstück restorative justice. Restorative justice nimmt für sich in Anspruch, dass sie die bessere Antwort auf das Kriminalitätsproblem der Gegenwart hat im Vergleich zur „retributiven“, vergeltenden Antwort der Strafjustiz, der destruktive Wirkungen bescheinigt werden. Für ‚Eingeweihte’ beinhaltet der Gegensatz folgende Fragen und Vorgehens- bzw. Denkweisen:
Tabelle 1: Criminal versus restorative justice
Criminal justice
Restorative Justice
Verständnis von Kriminalität und Strafe
Verbrechen ist Gesetzesverletzung.
Verbrechen ist eine Schädigung von Menschen.
Verletzungen erzeugen Schuld
Verletzungen erzeugen Verpflichtungen.
Gerechtigkeit ist Schuldfeststellung und daraus folgende Strafzumessung.
Gerechtigkeit ist eine gemeinsame, allseitige Anstrengung zur Wiedergutmachung oder gar Verbesserung der Lebensumstände.
Täter bekommen, was sie verdienen.
Bedürfnisse der Opfer und Verpflichtung der Täter zur Wiedergutmachung.
Perspektive der Betrachtung
Welches Gesetz ist übertreten?
Wer ist geschädigt oder verletzt?
Wer hat es getan?
Was sind die Bedürfnisse der Betroffenen?
Welche Strafe steht auf den Ü-bertritt?
Wer hat die Verpflichtung, das auszugleichen?
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Folge der Bearbeitung von Kriminalität
Stigmatisierung des Verurteilten auf Dauer, Strafe bleibt registriert, dauernde gesellschaftliche Nachteile.
Reintegration, Versöhnung für Opfer und Täter
Verurteilter bleibt trotz Resozialisierungsangebot eine Gefahr. Opfer bekommt evtl. Schmerzensgeld.
Hoffnung auf und Versprechen von Neubeginn für Opfer und Täter
Folge des Straf-Justiz-Systems ist, dass das Opfer völlig aus dem Prozess heraus fällt37 und allenfalls als Zeuge dient, während beim heilenden System das Opfer im Zentrum steht. Dieser Perspektivwechsel vom Täter zum Opfer erscheint entscheidend.
„Da die Justiz in erster Linie sicherstellen will, dass Täter bekommen, was sie verdienen, betrachtet sie Opfer bestenfalls als nachgeordnetes Anliegen. … Für die restaurative Gerechtigkeit beginnt Gerechtigkeit … mit den Anliegen der Opfer und ihrer Bedürfnisse. … Dieser opferorientierte Ansatz verlangt, dass das Recht sich mit den Bedürfnissen der Opfer befasst, selbst wenn kein Täter identifiziert oder verhaftet wurde.“38
Die Strafjustiz sieht Gerechtigkeit eintreten durch Strafe oder Leid39 zum Ausgleich für die Gesetzesübertretung, wodurch auch die Gesellschaft die Aufrichtung des Rechts erkennen und mit vollziehen kann. Heilende Gerechtigkeit zielt auf eine Gerechtigkeit, die das Opfer entschädigt und den Ausgleich sucht. An dem Prozedere ist auch die Gesellschaft beteiligt, indem sie Opfern und Tätern einen Ort und die Gelegenheit zum Ausgleich gibt und auf die Bedürfnisse beider eingeht sowie auch nachvollzieht, was Opfer und Täter als Teile der Gesellschaft brauchen. Statt Strafe und Leid, die auf die kriminelle Handlung folgen, erarbeitet die heilende Gerechtigkeit einen Horizont der Stärkung des Individuen und Gesellschaft umfassenden Lebensraums: Gerechtigkeit als Heilung – heilende Gerechtigkeit als Idee von einer „guten Gesellschaftsbildung“, in der Opfer und Täter heil werden. Diese Bewegungs-Richtung von heilender Gerechtigkeit ruft bei manchen Autoren die Begeisterung der gesellschaftlichen und sogar religiösen Utopie hervor und es ist nicht sicher, ob sich da nicht mancher sehr gut verstanden fühlt.40
„Indeed, the growing movement to a system of restorative justice may well be part of the larger transition and evolution in which we are immersed. The philosophical base of restorative justice does call us to a transformation of our thinking, of our attitude, of our practice towards our human sisters und brothers, to those who have been wounded and to those who have wounded others. We need not resist nor be fearful of such transformation, because this is what Jesus of Nazareth was all about […]. May this be our inspiration, in the early years of this millennium, as we continue to grow in awareness and empowerment in our congregational prison ministries.“41
Völlig anders – geerdet - klingt eine Äußerung der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Täter-Opfer-Ausgleich im Gegenüber zur Strafjustiz, deren „Kern Gefängnis“ hier gar nichts zugetraut wird:
„Weil die im Namen des Volkes verhängte Strafe dem Lebensschutz und der Gerechtigkeit dient, nicht aber Vergeltung üben soll oder Sühne erzwingen kann, muss sie an der Wiedergutmachung, dem Täter-Opfer-Ausgleich und der Konfliktregelung orientiert sein. Es sollen - soweit möglich - konkrete Konflikte geregelt werden und die Opfer Wiedergutmachung erfahren. Statt der anonymen Beziehung zwischen der Gesellschaft (in Gestalt der staatlichen Vollzugsorgane) und dem Täter wird - wo immer das möglich ist - eine unmittelbare Beziehung zwischen den betroffenen Menschen angestrebt. Verantwortung und Pflicht bewirken mehr als alles andere die Integration des straffällig gewordenen Menschen in die Gesellschaft, und sie tragen dem Gerechtigkeits- und Rechtsempfinden der Bürger Rechnung.
Freiheitsstrafen können nur letzte Konsequenz sein, wenn andere Konfliktregelungen versagen bzw. wegen der Schwere des Rechtsbruchs nicht möglich sind und sich auch mit dem Rechtsempfinden der Bürger nicht vereinbaren lassen. Aus der Freiheitsstrafe gibt es nur verhältnismäßig selten einen Weg zur dauerhaften Wiedereingliederung in die Gesellschaft, denn das Gefängnis ist aller Erfahrung nach ein ungeeigneter Ort, um zu Schuldeinsicht fähig zu werden.“42
Daraus wird deutlich, dass es notwendig ist, die einzelnen Elemente der heilenden Gerechtigkeit genauer anzuschauen. Handelt es sich um eine „Bewegung“, eine Gesellschaftstheorie43 oder um ein juristisch geprägtes oder sozialwissenschaftliches Herangehen an das Phänomen der Kriminalität?
Strafjustiz ist Ausdruck des staatlichen Gewaltmonopols und wird auch so empfunden. Niemand fragt offiziell nach der Zufriedenheit mit einem Urteil. Es muss lediglich vor der nächsten Instanz standhalten. Ein Urteil wird öffentlich in den Medien und privat als gerecht oder ungerecht verhandelt, darin spiegelt sich am ehesten die Frage der Zufriedenheit. Täter und Opfer können nichts zur Zufriedenheit beitragen. Akzeptieren oder ablehnen ist die einzige Möglichkeit. Das ist bei RJ anders. Das Ziel ist eine Vereinbarung von Opfer und Täter, das beide zufrieden stellen muss. Zu dieser Zufriedenheit können also Opfer und Täter selbst beitragen. Eine Ermächtigung zur Bewältigung des Lebens ist das Resultat. Der Staat wird nicht immer mit seinem Gewaltmonopol gebraucht. Ob das Gewaltmonopol nicht doch unabdingbar als Rahmen für die konstruktive Lösung von kriminellen Akten (Drohkulisse) gebraucht wird und wer die unabhängige, nicht interessengeleitete, Aufklärung übernehmen könnte, bleibt zunächst offen bzw. wird den gängigen Abläufen in Polizei und Justiz überlassen.
Warum sich Restorative Justice als Alternative zum Vergeltungsstrafrecht durchgesetzt hat, lässt sich nicht einfach erklären. Es gab in den 1970iger Jahren eine Reihe von Entwürfen, die ähnliche Ziele wie restorative justice verfolgten. Sie waren z.T. als Ideen der Entinstitutionalisierung angelegt, um die Entfremdung des Menschen (in seiner technik- und institutionenorientierten Umwelt) von sich selbst und den Mitmenschen aufzuheben. Einer der so genannten Vorläufer hat den Begriff restorative justice eingeführt und als erster für die Justiz mit restitutiver Orientierung benutzt.
Als Vorläufer von restorative justice wird u.a. die Idee von Nils Christie mit dem Vorschlag der Rückgabe der Konflikte an den Ort ihres Entstehens gesehen. Statt von ‚Konflikten‘ würde ich eher von der ‚Lösung der Probleme‘ sprechen, die durch ‚Übergriffe‘ erzeugt werden. Eine kriminelle Handlung ist kein Konflikt, allenfalls ein Konflikt auf verschobenen Ebenen oder ein verzerrter Konflikt. Ich bleibe aber hier bei der Wortwahl von Christie, weil eigentlich klar ist, was er meint. Er sieht die Notwendigkeit, den Umgang mit Konflikten den Fachleuten zu entreißen, die sich als ‚professionelle und strukturelle Diebe’ gerieren und den Menschen ihre Konflikte stehlen, sie nach ihren eigenen Bedürfnissen und Gegebenheiten definieren und für und auf Kosten der eigentlichen Konfliktparteien lösen.44 Er bevorzugt ein „Nachbarschaftsgericht“, aus nicht rechtlich vorgebildeten Personen, wie er es an einem Zivilfall – einer Ehescheidung – in Tansania erlebt hat45, das im ersten Schritt wie andere Gerichte die Vorwürfe untersucht, ob sie zutreffen und ob der Täter die Person ist, die das Gesetz gebrochen hat. Dann aber im zweiten Schritt – dem äußerst wichtigen - steht das Opfer im Zentrum einer detaillierten Betrachtung dessen, was geschehen ist und ob und wie der Schaden ersetzt werden kann. Notfalls muss der Täter, das was er angerichtet hat, abstrakt kompensieren, durch Autowaschen oder Treppe fegen etc. Alles muss zur Sprache kommen, wichtig erscheinend oder nicht. Erst danach kann die Frage einer Bestrafung erörtert werden. Schließlich - im vierten Schritt - muss gefragt werden, was der Täter in seiner Situation braucht.
„Da könnten sich Bedürfnisse für soziale, erzieherische, medizinische oder religiöse Aktionen herausstellen – nicht um Rückfälle zu verhindern – sondern weil Nöten begegnet werden sollte. Gerichte sind öffentliche Arenen, wo Nöte sichtbar gemacht werden. Aber es ist wichtig, dass dieses Stadium nach dem Urteil folgt. Sonst bekommen wir eine Wiederholung des ganzen Spektrums der Sondermaßnahmen – Zwangsbehandlungen - oft nur ein Euphemismus für unbestimmte Haft.“46
So will Christie – ähnlich wie Ivan Illich47 und Paulo Freire48 in der Pädagogik – eine Veränderung der enteignenden Justiz erreichen, damit die Gesellschaft sich selbst reguliert und nicht durch viel zu viele professionelle Repräsentanten die Konflikte perpetuiert, statt sie zu lösen. Erst die Macht der Professionellen macht Konflikte unlösbar! Die Idee Christies wirft mehr Fragen auf, als sie zu lösen im Stande ist: „Wir brauchen Fragen, nicht Antworten der Professionellen. Der Ernst unseres Themas macht uns viel zu umständlich und dadurch unbrauchbar zum Paradigmenwechsel.”49 Christies Sicht ist mehr eine Idee als ein ausgeführtes Programm. Ganz deutlich sind dabei Impulse, welche die Großgebilde der Institutionalisierung mit der darin enthaltenen Enteignung des sozialen Lebens angreifen und dem (intellektuellen) Geist der Zeit entsprechen: Small is beautiful!50 Das wäre sozusagen die Rückführung der Strafjustiz auf ein ‚menschliches Maß’ mit Opfer-Orientierung, oder sogar die Tendenz, Strafgerichte und Gefängnisse überflüssig zu machen.
Auch in Deutschland gab es eine abolitionistische Richtung.51 Die wollte die von ihr erkannten Probleme der (eher schädlichen) Strafjustiz mit der Abschaffung des Strafrechts und dessen Ersatz durch zivilrechtliche Regelungen der Wiedergutmachung bewältigen. Arno Plack plädiert für ein Maßnahmerecht, in dem das „nicht zu duldende sozialfeindliche Verhalten eine Ablösung des Sühne- und Vergeltungsgedankens durch den Grundsatz der Wiedergutmachung“52 erfährt. Dafür entwickelte Plack eine Menge von Erklärungen, Ideen und Vorschlägen. Als Wiedergutmachung bei Schäden, die den einzelnen überfordern, sollte so vorgegangen werden:
Zumindest Teilausgleich,
Unentgeltliche Arbeitsleistung für die Allgemeinheit (therapeutische Wirkung),
Arbeitserziehung im geschlossenen Heim (hört sich nach Gefängnis an),
lebensstandardbeschränkende Auflage für groben Rechtsbruch.
53
Strafe sollte durch Schadensersatz abgelöst werden. „Verpflichtung zur Wiedergutmachung ist umgekehrt keine Strafe“.54
Plack zielt durch Wiedergutmachung auf eine Befriedung des Zusammenlebens: „Durch Strafen, von denen der Geschädigte oft gar nichts hat als die Genugtuung der Rache, werden Dieb und Bestohlener, Betrüger und Geschädigter als Mitmenschen nur noch weiter einander entfremdet. … Verhängte Strafen verstärken soziale Gegensätze. … Wiedergutmachung dagegen, sofern sie nur von der strafwütigen Gesellschaft akzeptiert würde, könnte das Zusammenleben befrieden.“55
Wiedergutmachung statt Strafe hätte noch eine weitere Veränderung zur Folge. „Der Vorschlag, ein Wiedergutmachungsverfahren ohne die Publizität der heutigen Strafprozesse einzuleiten, macht sich auch die Erkenntnis zunutze, dass die Resozialisierung von Rechtsbrechern am ehesten gelingt, wenn die Tat zwar entdeckt, aber nicht strafrechtlich verfolgt wird.“56 Eine Ausnahme gibt es aber auch: Für den gefährlichen Täter schlägt Plack „ein eigenes Recht sichernder und therapeutischer Maßnahmen“ vor.57
Arno Plack konkretisiert seine Ideen z.B. damit, einen Todesfahrer (Autounfall) nicht nur mit zumindest einem Teil der Schadensregulierung zu belegen (nicht nur die Versicherung), sondern ihn auch zum Dienst in einer Unfallklinik zu verpflichten: „Ein solcher Dienst für die Allgemeinheit könnte auch therapeutisch auf den dazu Verpflichteten zurückwirken, ….“58 (384) Diese Vorschläge ähneln den Sichtweisen von Restorative Justice durchaus.
Randy E. Barnett diagnostiziert einen Zusammenbruch des Kriminaljustizsystems mit dem Paradigma ‚Strafe’ und schlägt als neues Paradigma die Restitution vor. Als Argumente für die Strafe nennt Barnett 1. Die Verhinderung weiterer Missetaten. 2. Die Möglichkeit, die Täter durch Behandlung zu einem Leben ohne Straftaten zu bewegen. 3. Strafe generiert Abschreckung. Diese Argumente sind aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) überzeugend. Daraus folgt als Viertes: “Many advocates of punishment argue that its apparent practical failings exist because we are not punishing enough. All that is needed, they say, is a crackdown on criminals and those victims and witnesses who shun participation in the criminal justice system; the only problem with the paradigm of punishment is that we are not following it.”59 Barnett hält nach dem Scheitern aller Versuche zur Rettung des Strafparadigmas - durch Appell an die Verhältnismäßigkeit, durch Verstärkung der Resozialisierungsbemühungen, und durch Opferkompensation60 - einen Paradigmenwechsel zur Restitution als Begründung des Kriminaljustizsystems für sinnvoll und notwendig. Das würde die Wahrnehmung von Kriminalität revolutionieren, weil dann der Schaden des Opfers im Mittelpunkt steht. Mit dieser Opferorientierung des Kriminalsystems wäre dann auch fraglich, ob es weiterhin unter dem Stichwort Strafrecht oder nicht viel mehr unter zivilrechtlichen Vorgaben stehen sollte. „This does, however, lead to a potentially serious problem with the restitutional paradigm: what exactly constitutes ‘restitution’? What is the standard by which compensation is to be made?”61 Das wird nur zum Problem, wenn ein retributiver Anteil bei der Restitution erhalten bleibt. Ansonsten muss das Prinzip gelten, dass Opfer für ihren Verlust entschädigt werden. Wie das zu organisieren ist, ist eine Frage der Praxis.
Die Vorteile der Restitution sind 1. Das Opfer erhält Unterstützung. 2. Die Möglichkeit, Kompensation zu erhalten, wird Opfer ermutigen, bei Gericht ihren Fall wirklich zu berichten. 3. hilft sie auch dem Täter. „Restitution, …, is an active effortful role on the part of the offender. It is socially constructive, thereby contributing to the offender’s self-esteem. It is related to the offense and may thereby redirect the thoughts which motivated the offense. It is reparative, restorative, and actually leaves the situation better than it was before the crime, both for the criminal and victim.”62 4. Die Restitution ist eine Sache, deren Ableistung der Verpflichtete selbst in der Hand hat und z.B. durch mehr Arbeit steuern kann. 5. Restitution spart den Steuerzahlern eine Menge Geld. Sie müssen nicht mehr so viele Plätze im Gefängnis bezahlen. 6. Kriminalität zahlt sich nicht mehr aus. Also ist Restitution gut für Opfer, Täter und die Steuerzahler (Gesellschaft).63 „The experimentation with restitutionary justice will, however, differ from the trial and error of the recent past since we will be guided by the principle that purpose of our legal system is not to harm the guilty but to help innocent - a principle which will above all restore our belief that our overriding commitment is to do justice.”64 Im Grunde ähnelt dieser Entwurf dem deutschen zur Abschaffung des Strafrechts (s. vorheriger Abschnitt). Auch hier wird die Verlagerung des Augenmerks auf die Opfer der Straftaten notwendig und damit – fast ein Wortspiel in Bezug auf restorative justice – ‚restoring justice‘ angestrebt.
Zu den Vorläufern wird auch Albert Eglash gerechnet, der den Begriff restorative justice übernommen und somit in die kriminologisch-juristische Debatte eingeführt hat. Sein Ansatz ist für diese Arbeit von besonderem Interesse, weil Eglash als Gefängnispsychologe tätig war und das daher rein täterzentrierte Interesse der Resozialisierung hatte. „At the core of the restitutional concept lies the damage or harm done to victims of the crime. In reading autobiographies of criminal offenders, I am impressed with their callousness toward their victims. Even when they determine, with apparent success, to pursue a different way of life, they never make amends to those they hurt. The victim is generally overlooked. …
I now want to admit that I too am offender oriented. From the start, I’ve been thinking and writing about ways to help offenders, about justice and rehabilitation for offenders. I work with and interview offenders. I seldom think about the victim, how to help him with his financial, medical, emotional, and social problems. I have never visited any victims, never interviewed any, never wondered what questions I would want to ask, never thought to include any victim interviews- ‘How do you feel about creative restitution’ - in this paper.”65 Eglash beschreibt das retributive Justizsystem mit der Technik des Bestrafens und das jüngere System der therapeutischen Behandlung (distributiv) als Gegenstück zu restorative justice als die leitenden scharfen Gegensätze seines Denkens.
Diese Gegensätze sind auf die Verhängung und den Vollzug von Strafe bezogen. Daraus ergibt sich die kreative als gelenkte Restitution. Von dem verurteilten Täter wird eine Wiedergutmachung verlangt, aber er ist frei in der Form, in der er sie ausführen will. Die Art der Wiedergutmachung wird in der gelenkten Restitution definiert. Zu dieser Art der Restitution gehört das Prinzip der „second mile“66