Sexualität und Aggression - Hermann Glaser - E-Book

Sexualität und Aggression E-Book

Hermann Glaser

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Beschreibung

Hermann Glaser untersucht die Rolle der Sexualität in Staat und Gesellschaft, den Zusammenhang zwischen Sexualität und Aggression, zwischen doppelbödiger Kleinbürgermoral und politischem Massenverhalten, wobei eine Psychologie der Politik geschrieben wurde, die an Freuds wegweisende Arbeiten über den Krieg und das Unbehagen in der Kultur anknüpft. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Hermann Glaser

Sexualität und Aggression

Sozialpathologische Aspekte der modernen Gesellschaft

FISCHER E-Books

Inhalt

GEIST UND PSYCHE [...]Vorwort zur Taschenbuchausgabe 1975EinleitungDie sexuelle RevolutionParadies à la TahitiRuf der SinnlichkeitParfümierter SensualismusUnbehagen in der KulturIm Dienst der RasseUmgedrehter PuritanismusKahlschlagunternehmen SexAskese als DenaturierungSobrietasProstitution als VentilsitteDer romantische ProtestDer bürgerliche und proletarische AmbivalenzkonfliktFeudales LiebhabertheaterDie verführte UnschuldRepressive TugendFeudale StrahlkraftRoter PlüschBourgeoiser Hintergrund proletarischen DenkensVictorianismusKleinbürgerliche SexualitätEntfremdete ArbeitWohlstandssexualitätGeld macht sinnlichMatrizen der LustDie geheimen VerführerBeispiel AmerikaNymphchen und DummchenEinsamkeit und LSDMenschenfreundliche SexualmoralPsychopathie der KulturKollektiv-Neurosen und -PsychosenWiderstand und AuswegManipulation des kollektiven UnbehagensPietismus und PatriotismusWohnkultur und SpracheDie Psychoanalyse als SündenbockFehlinterpretation der KlassikNorm und ObszönitätIdeologisierung der NormSittlichkeit und JustizWirklichkeit und JustizDie Provokation obszöner KunstIndizierungMythologischer SensualismusPornographische TrivialkunstFiktive VentilierungBeispiel 1: Die Orient-MascheBeispiel 2: Humanitäre VerpackungBeispiel 3: EdelmenschentumBeispiel 4: BonditisBeispiel 5: HeftchenweltBeispiel 6: Das Nitribitt-SchemaLiebesleben, philosophisch vernebeltDer sadistische StaatDestruktion als StaatsräsonHomo homini lupusTriebangstPrüde ErziehungAngst und AggressionDie totalitäre PersönlichkeitFreigesetzte AggressivitätTotalitärer SadismusGeschichte als SexualpathologieRobespierre und seine niederen DämonenCharenton, CharentonTriebe als Triebkräfte der PolitikNationalismusWeltkriegeDas zerbrochene HausDer SS-StaatKleinbürger und MassenmörderEine LesebuchgeschichteMassenbildung und SündenbockfixierungRegression des IchLibido gegen MasseKollektive LustMasse und NeuroseBrandmarkungPogromBrunft und BarbareiDie NegerKu-Klux-KlanMythos des SüdensDie Versklavung der FrauNarzißmus der DifferenzDie Frau als DirneDie Frau als Haus-FrauDie unzüchtige FrauProgenitive ReligiositätTheologie auf neuen WegenOdi et amoDie Frau als HexeTroubadourdichtungAnimaux délicatsKommunismus und EmanzipationDie Entdeckung der GynaikokratieJungfrauenglaube und MännlichkeitswahnDoppelmoralGretchenNationale JungfräulichkeitVergiß die Peitsche nichtAuf dem Weg nach DamaskusMännerbundFeuer und BlutMilch und EichenlaubDie Wandervogelbewegung als sozialpathologisches PhänomenLibidinöse MoralSexualerziehungDie Aufklärung des jungen MenschenDie Durchbrechung des SchonraumsPlayboy-Philosophie und AutoerotikLiebesspieleSublimierung und ÄsthetisierungLust- und RealitätsprinzipTristanTristan und KlöterjahnDas Ästhetische als ProvokationStofftrieb, Formtrieb, SpieltriebEine gesellschaftliche SpielraumtheorieElemente des SpielsSpiel und WirklichkeitSpiel und PolitikDas Zen als SpielraumkulturStufen der ErleuchtungGlasperlenspielDer ästhetische StaatJugendlicher ProtestWeltzustand des GlücksEros in der PolitikModerne TabuisierungNeue MoralScham und SchamgefühlVon der Möglichkeit nicht-repressiver PolitikAnhangBuchhinweisePersonenregister

GEIST UND PSYCHE

Herausgegeben von Nina Kindler

ZUR TASCHENBUCHAUSGABE 1975

Nach einem Wort von James Joyce studierte man allzulange die Sterne und vernachlässigte die menschlichen Eingeweide. Man wird zumindest feststellen können, daß die Erkenntnisse sexual- und sozialpathologischer Forschung noch wenig im allgemeinen Bewußtsein verankert sind. Dies ist um so verwunderlicher, als die psychischen Gefahren und Gefährdungen in der modernen Massengesellschaft, im besonderen die Formen und Auswirkungen der Frustration wie Aggressivität, zum alltäglichen individuellen und kollektiven Erfahrungsbereich gehören. Die triebdynamische Problematik aufzuzeigen, vor allem aber die Hintergründe und Untergründe (auch Abgründe) triebdynamisch gesteuerten Gesellschaftshandelns zu analysieren und über sie aufzuklären, ist das Thema dieses Buches, das, als es erstmals erschien, einerseits enthusiastische Aufnahme fand, gleichzeitig aber auch öffentliche Konsternation hervorrief. (Das Buch werde eine gänzlich neue Phase des politisch-soziologischen Denkens einleiten – meinte »Die Zeit«; im bayerischen Landtag führte die Publikation zu einer Anfrage, ob denn nicht der Artikel 131 der Verfassung, der das Gute, Schöne und Wahre für die Erziehung postuliere, verletzt werde.)

Die Zeiten haben sich geändert; was Emanzipation sei, ist jedoch immer noch, mehr denn je umstritten. Zwar hat die linke Protestbewegung vormals verdrängte oder vergessene polit-ökonomische Begriffsfelder erschlossen und damit die Gesellschaftsanalyse mit einer neuen Dimension versehen; das anthropologische Defizit blieb freilich bestehen; es hat zur Selbstzerstörung der linken Bestrebungen mit beigetragen.

Dem »Hoffen auf Glückseligkeit« (Immanuel Kant) wie der Angst, daß die Sintflut heute herstellbar sei (Max Frisch), sollte die Fähigkeit zur tabufreien Psycho-Analyse des einzelnen wie der Gesellschaft beigegeben werden; ohne sie kann eine erfolgreiche Friedenserziehung nicht angegangen werden. Die Schwierigkeit, in unserer technologisch beherrschten, zugleich aber zunehmend der Grenzen des Wachstums sich bewußt werdenden Kultur bzw. Zivilisation Eros kontra Thanatos zum Durchbruch zu verhelfen, ist groß; das Prinzip Hoffnung muß – darin ist uns vor allem Sigmund Freud Lehrmeister gewesen – im Skeptizismus gründen, wenn es nicht in den Ideenhimmel hinwegprojiziert, sondern vom Kopf auf die Füße gestellt werden soll – den Umkreis besonnener Demokratie bestimmend wie bewegend.

Das Buch entstand, ehe die »linke Tendenz« das gesellschaftliche Bewußtsein, vielfach freilich nur modisch, zu irritieren begann; es kann in seinen Aussagen und Zielen auch der »Tendenzwende« wie einer eventuellen »Gegentendenzwende« standhalten. Ein Standortwechsel ist für den Verfasser nicht notwendig geworden. Im Gegenteil: ihm scheint, daß zum Zeitpunkt der Taschenbuchausgabe die Thematik und ihre hier vorgenommene Behandlung noch aktueller geworden, zudem das Vorverständnis wie die Verständnisbereitschaft für frag-würdige Probleme wesentlich gestiegen sind.

(Wichtige Bücher, die seit der Erstausgabe zum Themenkreis erschienen, sind als Auswahlbibliographie dem Anmerkungsteil angefügt.)

Hermann Glaser

Einleitung

Die große Bedeutung der Sexualität für den einzelnen Menschen ist heute weitgehend erkannt, die Rolle der Sexualität in Staat und Gesellschaft, die darin beschlossenen Probleme und die daraus für die Politik sich ergebenden Folgerungen werden weitgehend verkannt. Die Frage nach dem Einfluß der Sexualität auf das gesellschaftliche und politische Handeln wird weder intensiv genug gestellt, noch wird in ausreichendem Maße der Versuch gemacht, auf solche Fragen entsprechende Antworten zu finden[1]. Die Deutung geschichtlicher Ereignisse bedarf vor allem eines Studiums der in ihr vorherrschenden individual- wie kollektivpsychologischen Komplexe; es müssen seelische und nervliche »Bereitschaftszustände« und Verdrängungsvorgänge, die einen dynamischen oder leitenden Einfluß auf die Reaktion des einzelnen wie der Gesamtheit haben, untersucht werden – Probleme der Anziehung und Abstoßung, der Sympathie und Antipathie, der Liebe und des Hasses, soziologische wie sozialpsychologische Faktoren, welche die aggressiven Impulse menschlicher Gruppen gegen sich selbst, gegen ihre Mitmenschen, Nachbarn und Gegner anwachsen und schwächer werden lassen.

Parallel zur industriellen Revolution und mit ihr verflochten bzw. durch sie bedingt und zugleich sie bedingend, hat sich eine sexuelle Revolution vollzogen, deren politische, soziale und sozialpsychologische Auswirkungen[2] bis heute zu wenig beachtet wurden. Die Sexualhistorie ist dabei Teil einer sozialen Pathologie, die Politologie wird ohne die Psychoanalyse nicht auskommen können[3]. Man beschäftigt sich viel zuviel damit, Institutionen statt Menschen zu analysieren; man unterschätzt dabei die Triebe als Triebkräfte der Politik[4]. In seinem Handbuch der Massenpsychologie (»Vom Geist der Massen«) schreibt Paul Reiwald: »In diesem Sinne hat die Sexualität und die Sexualordnung eine fast immer verschwiegene, aber darum nicht minder große Bedeutung für die Politik und zumal für die Demokratie. Wir brauchen heute nach 50 Jahren Sexualforschung nicht Nietzsches Wort zu wiederholen, daß die Geschlechtlichkeit eines Menschen sein ganzes Wesen durchdringt und bestimmt. Aber dringend nötig ist, klarzumachen, was das für Politik und Demokratie bedeutet. Der sexuell unterdrückte Mensch besitzt keinen Mut zur Selbstbestimmung; er wird einen Untertan abgeben, aber keinen Bürger. Die Sexualordnung ist nur allzuoft ein Instrument politischer Unterdrückung, um so mehr, als sie unsichtbar ist und nur mittelbar wirkt. Der Ratschlag, den Lenaus Mephisto gibt: ›Verkümmert stets, doch nie zu scharf, / dem Volk den sinnlichen Bedarf‹, ist immer von Regierenden befolgt worden. Der sexuell unbefriedigte und gereizte Mensch ist nur allzu bereit, sich andere Befriedigungsmöglichkeiten zu suchen und in der Masse und im Verhältnis zum Führer für seine gehemmten Affekte einen Ersatz zu suchen. Er stellt ein großes Kontingent zu der Masse jener, die unterdrücken oder unterdrückt sein wollen, weil ihnen unbewußt nur ein Verhältnis aktiver oder passiver Hörigkeit vorstellbar ist, weil sie untauglich sind für die Genossenschaft der Gleichberechtigten. Es genügt, die Zustände auf sexuellem Gebiet zu betrachten, die Verkümmerung, in der so viele Menschen leben und die einen so wichtigen Teil der Persönlichkeitsunterdrückung bildet, um schwere Sorge für die Zukunft der Demokratie zu empfinden[5].«

In seinem Distichon »Würde des Menschen« sagt Schiller: »Nichts mehr davon, ich bitt’ Euch, zu essen gebt ihm, zu wohnen; / habt Ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.« Dort aber, wo, um im Bilde zu bleiben, die »Blöße« nicht mehr bedeckt wird oder werden kann, wird sie sozusagen zum geschichtsmächtigen Faktor. – Der Untergrund der Sexualität gefährdet die Humanität; Kollektivneurosen und -psychosen machen sich breit; die Wirklichkeit spiegelt die verquere Psyche einer Menschheit, die sich verdrängter Triebdynamik ausgeliefert sieht und die nicht mehr in der Lage ist, mit sich selbst fertig zu werden.

Schiller hat in seiner Schrift über den »Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen« ganz im Sinne des aufgeklärten Optimismus noch daran geglaubt, daß die tierische Natur die Tätigkeit des Geistes befestige, die tierischen Triebe die geistigen wecken und entwickeln könnten, der Körper der »erste Sporn zur Tätigkeit« und die Sinnlichkeit die »erste Leiter zur Vollkommenheit« seien; er bemühte sich in seinen anderen philosophischen Schriften immer wieder um die »Vermählung« der geistigen mit der körperlichen Natur des Menschen, und er sah darin den Ursprung einer »schönen Seele«. Vor allem das 19. und 20. Jahrhundert sind jedoch durch die Dominanz der tierischen über die geistige Natur des Menschen geprägt. Es werden die Triebe weder integriert noch bewältigt; sie werden statt dessen verdrängt oder scheinbar emanzipiert. Losgelöst vom Wurzelgrund einer umfassenden Menschlichkeit wird die Sexualität, werden die mit ihr verbundenen, aus ihr hervorgehenden oder sie einschließenden Triebe der Aggression, des Sadismus, Fetischismus, Masochismus zur bestimmenden Kraft des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Wir sind der Meinung, daß bei kulturtherapeutischen Überlegungen und Maßnahmen der Denkansatz Schillers durchaus noch aktuell ist: also bei dem Versuch, den Bereich des Sexuellen und Erotischen aus dem sozialpathologischen »Würgegriff« zu befreien, der Kalokagathie-Begriff der deutschen Klassik eine große Rolle spielen könnte und sollte. Freilich ist es dabei notwendig, die Pervertierung des klassischen Begriffs der »schönen Seele«, wie sie durch die Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts bewirkt wurde, wieder aufzuheben bzw. diesen Begriff aus dem ideologischen Schutt freizugraben. Noch schwieriger dürfte es sein, die Abstraktionen des klassischen Menschenbegriffs in die konkrete moderne Umwelt zu versetzen und vor allem hier »umzusetzen«. Darin aber liegt die große Aufgabe einer Politik, die von einer tieferen Einsicht in die Struktur des Menschseins ausgeht und um eine Besserung des menschlichen Daseins im Sinne umfassender Humanität bemüht ist.

Die Überlegungen dieses Buches konzentrieren sich auf vier mögliche Reaktionsweisen, die – werthierarchisch geordnet – in ihrer »vierten« Stufe den Gipfel humaner Möglichkeiten erreichen: Standort und Standpunkt für retrospektive wie gegenwärtige Analyse und Kritik, von wo aus der Blick auf die Wege und Irrwege abendländischer trieb-oppressiver Kultur wie auf die Möglichkeiten einer »neuen« Moral und Kultur erfolgen sollte. – »Es ist vielleicht nicht unnütz, zuweilen einmal daran zu denken, daß die abendländische Kultur der Welt die Hexenmorde geschenkt hat und die Judenverfolgungen, Ketzerverbrennungen und Lynchjustiz, Kolonisation und Sklavenhandel, Gehirnwäsche, Diktatur und totalen Krieg. All das sind Segnungen einer Gier nach Macht, nach religiöser, nationaler oder parteipolitischer Vorherrschaft, die eines der Leitthemen unserer Geschichte ist. Wer diese Dinge nachdenklich betrachtet, dem kommen Zweifel daran, ob man sie nicht allzu leichthin als zufällige Verirrungen, Randerscheinungen einer im Kern gesunden und hochwertigen Kultur auffassen darf. Es fragt sich vielmehr, ob nicht die ungeheuere Potentialität des Unheils zum Wesen selbst unserer Kultur gehört, ob sie nicht eine Janus-Kultur sei, mit zwei Gesichtern, aber einem Hirn[6].«

Diese vier »Stufen« sind natürlich nicht als historische Epochen zu verstehen, sondern als anthropologische, sozialpsychische Verhaltensschichten, die sich in den einzelnen Zeitabschnitten oft ineinander schieben, die aber zu verschiedenen Zeiten auch mit jeweils verschiedener Stärke in Erscheinung treten.

Die erste Verhaltensphase zeigt den Menschen als Triebwesen im Zustand völliger Anarchie; er fühlt sich seiner physischen Wirklichkeit ausgeliefert, die – disparat und diffus mit Seelischem vermengt – jeder gesellschaftlichen wie politischen Ordnung entgegensteht.

In der zweiten Phase erfolgt der Versuch einiger Führungskräfte bzw. der herrschenden Schichten, die Triebenergetik zu regulieren, auch zu manipulieren; die Erkenntnis setzt sich durch, daß Ordnung und damit das Zusammenleben der Menschen, ganz gleich, in welcher Staats- oder Gesellschaftsordnung, nur möglich ist, wenn der anarchische Untergrund der Triebe gefestigt, d.h. kanalisiert wird. Man versucht zunächst appellativ die Triebsphäre dem »Geistigen« und »Moralischen« zu subsumieren; eine Kultur (Kultivierung) des »moralischen Appells«, die sich an die »Vernunft« und »Einsicht« des Menschen wendet, mag beim einzelnen, vor allem, wenn die Kraft des religiösen Gewissens mit im Spiel ist, Erfolg haben, gesellschaftspolitisch, quantitativ gesehen, erweist sie sich letztlich als unwirksam. Deshalb muß zwangsläufig die appellative Moral auf Tabuisierung und Ideologisierung sich stützen bzw. diese zur Hilfe mit heranziehen, damit die Triebwelt des Menschen unterdrückt und so der Mensch (eben im Sinne appellativer Moral – aber auf dem Umweg der Repression) »frei« gemacht werden kann für gesellschaftliche und politische Integration. Eine derartige »unterdrückende« Kultur baut den Staat bzw. die Gesellschaft auf eine dünne Kruste ideologisierter, d.h. auch stereotypisierter Moralvorstellungen, die leicht von der in den Untergrund verdrängten, zu explosionsartigen Ausbrüchen bereitstehenden Triebdynamik zerstört werden können – es sei denn, der Staat verschafft diesem Explosionsreservoir von vorneherein die entsprechenden Ventile oder orientiert die unsublimierte Triebkraft um: auf die eigenen Intentionen, die dadurch eine große, aber sehr gefährliche (irrationale) Schubkraft erhalten, oder von Fall zu Fall auf Sündenböcke, die abreaktive »Entlastung« bringen. Schließlich usurpiert die Triebdynamik die appellative Moral vollends und reproduziert sich als Über-Ich, das die Legitimation für die Herrschaft des Es gibt und diese (in der Form des sadistischen Staates) »rationalisiert«. Wir meinen, daß ein solches Umschlagen der zweiten in die erste Phase, die Regression vom Appellativen ins Barbarische, die staatliche Wirklichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend bestimmt; die damit verknüpften sozialpathologischen Vorgänge sollen in den nachfolgenden Kapiteln ausführlich dargestellt werden.

In der dritten Phase wird der Versuch gemacht, das Staatsgefüge, das Miteinander der Menschen, dadurch zu ermöglichen, daß die Triebenergetik nicht durch Tabuisierung und ideologische Regulationen bzw. Normen verdrängt und im Untergrund gehalten, auch nicht als Sündenbock-Fixierung wegventiliert oder umorientiert, sondern sublimiert wird, also gewisse kulturelle, staatsethische oder gemeinschaftsmoralische Bemühungen inspiriert und ihnen Elan gibt. Die Formierung ethischer Massen etwa, die sich für große Ziele und Ideale, für Begriffe wie Freiheit, Brüderlichkeit, Menschlichkeit engagieren, erwächst aus dem triebenergetischen Untergrund; die in ihrer primären und reinen Form wenig geschätzten Libidostrebungen transformieren (veredeln) sich zu menschheits-idealistischen Impulsen; die auch in der dritten Phase vorhandene Tabuisierung der Sexualität wie der Triebwelt insgesamt wird so ausgeglichen durch die »Flucht nach vorne«; die Repression wird – zumindest was das »Oberflächen«-Verhalten betrifft – als nicht so belastend empfunden, da die Triebenergetik – ins »Positive« um- bzw. »weiter«-orientiert – ihre Kraft mit gutem Gewissen voll entfalten kann. Häufig werden in dieser Phase Zusatzventilierungen, ohne die man dennoch nicht auszukommen vermag, in die private Sphäre verschoben, also die nicht umorientierbaren bzw. nicht sublimierbaren Triebkräfte für individuelle Abreaktionen, z.B. in Pornographie, Prostitution oder Promiskuität, wenn auch mit schlechtem Gewissen, »freigegeben«. Ein solcher Gegensatz zwischen der durch Sublimierungsideale getragenen Gesellschafts- und Staatsmoral und privater »Stofflichkeit« fördert wiederum die Tabuisierung der Triebwelt mit Hilfe der Ideologie, die den Dualismus beheben soll. Die auxiliare Ideologie »löst« den Gegensatz zwischen der idealistischen Gesellschaftsmoral und dem einzelnen (der sich in seiner individuellen physisch-psychischen Wirklichkeit durch diesen Anspruch überfordert fühlt), indem sie dem einzelnen dazu verhilft, sein Selbst-Sein zu verschleiern und so zu tun, als ob er dort sublimiert handle, wo er in Wirklichkeit dem Primat der »Stofflichkeit« verfallen ist, und indem sie die Staatsmoral in ihrem Tugendwächteramt bestätigt, als ob die Wirklichkeit den Idealen entspräche. Der durch die Sublimierung sowieso stark »beanspruchten« privaten Moral werden die letzten Ventilierungsmöglichkeiten genommen; das triebenergetische Reservoir überbordet in kürzester Zeit die Ränder der Sitte und des »guten Geschmacks«. Wenn die auxiliare Ideologie sich zudem verselbständigt – und Verselbständigung liegt im Wesen der Ideologie schlechthin –, erfolgt eine Regression aus der dritten in die zweite und erste Stufe; auch Sublimierung kann – wenn sie dem Menschen zu große Lasten auflegt – in der Triebanarchie enden, was besonders fatal ist, wenn die Sublimierungsideale der dritten Phase als Fassade für das sittliche Chaos unabsichtlich oder absichtlich beibehalten werden.

In der vierten Phase oder »Stufe« sind Staat und Gesellschaft in der Lage, Sublimierungstechniken zu entwickeln, die zwar die Triebenergetik im Wortsinne »veredeln« und Schubkraft für die Verwirklichung der Idealität, der Ideale des Menschseins, bedeuten, die aber zugleich den Menschen nicht überfordern, ihn nicht mit Hilfe eines moralischen Rigorismus aus seiner konkreten physiologischen Wirklichkeit herausnehmen. Das Ziel ist eine libidinöse Moral – sinnliche Sittlichkeit, sittliche Sinnlichkeit, nicht als dialektisches Umschlagverhältnis, sondern als synthetische Möglichkeit der Harmonie verstanden.

Das Miteinander von Psyche und Physis, von Geist und Körper, bedeutet Ent-Sexualisierung und gleichzeitig Erotisierung des Daseins; der moralische Staat ist sinnlicher Staat, ästhetischer Staat, der den »Spielraum« für die »Selbstsublimierung der Sinnlichkeit und die Entsublimierung der Vernunft« (H. Marcuse) bietet. Diese Staats- und Gesellschaftsform ermöglicht es dem Menschen, sich – jenseits von Tabuisierung, Ideologisierung und Verdrängung – von den der humanen Vervollkommnung entgegenstehenden regressiven, barbarisch-sadistischen Elementen zu »reinigen«: etwa durch das »Spiel« eine sozial-rationale Katharsis herbeizuführen. Hier liegen die großen Aufgaben der Gesellschaftspolitik von heute und morgen, die bereit sein muß, auf dem Weg zur Menschlichkeit die Mäander des Menschlichen und Allzumenschlichen nicht zu überspringen, sondern ihnen sorgfältig und tolerant zu folgen; einer Gesellschaftspolitik, die das, was Schiller im »Spieltrieb« als vermittelnde Instanz zwischen Stofflichkeit und Geistigkeit begreift, in die gesellschaftliche Praxis einzuführen gedenkt und die damit eine neue Ästhetik (»Spielraumtheorie«) als integrativen Teil demokratischhumanitärer Ordnung zu schaffen bereit ist. Indem eine solche Gesellschaftspolitik die Kalokagathie konkret zu verwirklichen trachtet, nimmt sie auf der anderen Seite die Fehlentwicklung von Jahrzehnten und Jahrhunderten – wie sie nicht zuletzt durch eine, das christliche Ethos pervertierende kirchliche Moral hervorgerufen wurde und in der bourgeoisen Gesellschaft gipfelte – zurück, sichert sie sich progressiv-experimentell ein Stück Humanität verheißender Zukunft.

Bei dem Versuch, die Möglichkeiten einer solchen Progression genauer zu beschreiben, muß auch diese Betrachtung ins Abstrakte bzw. ins Konjunktivische verfallen, da wir erst an der Schwelle einer möglichen neuen Entwicklung stehen; der »sadistische Staat« hat den Menschen so sehr denaturiert, die Regression war so total, daß die Ansätze zum moralisch-ästhetischen Staat erst wieder freigelegt werden müssen, ehe man zur schrittweisen Konkretisierung und Praktizierung übergehen kann. – Eine Politik, welche die Not-Wendigkeit nichtverdrängender Sublimierung begreift und damit – in Überwindung von S. Freuds »Unbehagen in der Kultur« – in der Kultur nicht mehr das Produkt verdrängter, sublimierter Triebenergetik, sondern die Selbstverwirklichung des Menschen in seiner psycho-physischen Gesamtheit sieht, bekennt sich mit ihren Prinzipien zu den Prinzipien des Eros. Nach einem Wort von Adorno sind Furcht und Destruktivität die emotionalen Hauptquellen des Faschismus, der Eros stelle jedoch den Hauptzug der Demokratie dar. »Eros in der Politik« ist somit das Stichwort der »vierten« Verhaltensphase. –

Es geht bei nachfolgenden Betrachtungen also um die Wechselbeziehungen von Sexualität und Gesellschaft, von Triebdynamik und Gesellschaftsstruktur, um die sexuelle Revolution und die bürgerlichen Moralvorstellungen, und – e contrario aus der Bestandsaufnahme herausentwickelt – um einen ideal-typischen, aber realisierbaren Eros-Begriff, der zugleich Überbau wie Unterbau, Prinzip wie Praxis einer auf einer »neuen Moral« beruhenden Gesellschafts- und Staatsordnung zu sein hätte.

Die Reihenfolge der Kapitel ist aus dieser Zielrichtung zu verstehen. Zu Beginn unseres Betrachtungszeitraumes setzt die sexuelle Revolution ein: die Industrialisierung und der Sieg der bürgerlichen Revolution leiten eine Epoche triebdynamischer Steigerung und komplementärer Repression ein, die sich gegenseitig weiter »aufladen« und damit die Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit zunehmend vertiefen. Die Psychopathie unserer abendländischen Kultur insgesamt wie vor allem der Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts ist der Wurzelboden für den sadistischen Staat, der besonders im 20. Jahrhundert seine schrecklichsten Erscheinungsformen findet. Wenn auch die (scheinbare) Trieb-Emanzipation der zeitgenössischen Wohlstandsgesellschaft keine echte Befreiung bietet, so haben doch die technischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Errungenschaften und Erkenntnisse der Gegenwart die Verwirklichung früherer sozialer wie sozial-psychologischer Utopien in den Bereich des Möglichen gerückt.

 

Was die Darstellungsart dieses Buches betrifft, so ist sie exemplarisch und »impressionistisch«; da sie sich an einen größeren Kreis von Lesern zu wenden hofft, wurde die Monotonie der Beweiskraft einer systematischen Stoffsammlung, die dem Manuskript zugrunde liegt, zugunsten leichter aufzunehmender, die Probleme konkret verdeutlichender und ausführlich dargestellter Beispiele vermieden. Die phänomenologische Betrachtungsweise, der es um Grundelemente, Wesenszüge und nicht um Chronologie oder Historie geht, bringt es mit sich, daß die einzelnen Kapitel und Abschnitte sich überschneiden oder besser: überlagern. Solche Überlagerungen dürfen nicht als Wiederholungen mißverstanden werden, sondern als eine Auffächerung des jeweiligen Problems in die verschiedenen Aspekte, die in der Darstellung aus methodischen Gründen voneinander getrennt werden; die Vielschichtigkeit und die verschiedenen Bezüge eines scheinbar kompakten Problems bzw. Phänomens können dadurch besser zutage treten.

Auch wenn die vielen Beispiele und Konkretisierungen die notwendigen Abstraktionen mit Anschaulichkeit erfüllen dürften, wird der Darstellung nicht überall gleich leicht zu folgen sein; das hat seine Ursache im Grund dieser Untersuchung überhaupt: so wie die triebdynamischen Vorgänge sind auch weitgehend die wissenschaftlichen Bemühungen samt ihrer Terminologie, die eine Erhellung der Triebwelt anstrebten, verdrängt gewesen; einige elementare Ausdrücke der Freudschen Psychoanalyse sind zwar inzwischen volkstümliche Bezeichnungen geworden; insgesamt fand jedoch eine Rezeption Freuds (um einen der wichtigen Orientierungspunkte dieser Untersuchung zu nennen) in Deutschland nicht statt. Mancher wird sich somit erst »einlesen« müssen – wobei ihm zu diesem Zweck der Abschnitt über die »Totalitäre Persönlichkeit« besonders empfohlen werden kann, weil hier auf wenigen Seiten fast alle notwendigen »technischen« Ausdrücke auftauchen, die in der Darstellung immer wieder verwendet werden[7]. – Es wird bewußt darauf verzichtet, kurze Begriffsdefinitionen vorauszuschicken; Worte wie Projizierung, Verdrängung, Fixierung, Ventilierung, Regression, Repression, Rationalisierung, Umorientierung etc. umfassen komplexe und komplizierte Tatbestände, deren Wesen und Bedeutung man am besten über die Veranschaulichung begreift; der Leser möchte somit jeden dieser Begriffe im jeweiligen Beispiel sich bewußt machen und durch Beispiel um Beispiel das Verständnis der Begriffe und Vorgänge, sozusagen ringförmig, erweitern. – Neben den mehr technischen Bezeichnungen spielen jedoch in dieser Darstellung drei Begriffe – nämlich Triebdynamik, Bourgeois, Ideologie – eine derart grundsätzliche Rolle, daß einige Bemerkungen zur Erklärung und Klärung vorweg gemacht werden sollen.

Unter »Triebdynamik« wird im Sinne von R. Heiss und A. Mitscherlich das aus physischen Vorgängen sich entwickelnde, dranghafte seelisch-motorische Geschehen verstanden, ferner die als Folge der Bedürfnisspannung einsetzende »innerliche Bewegung« und der Versuch, zur Befriedigung (auf dem Direktweg oder auf Um- bzw. Irrwegen) zu gelangen. Abartigkeiten (Perversionen) in bezug auf Triebstärke, Triebentäußerung oder Triebobjekt interessieren in ihrer Pathogenese (Krankheitsgeschichte, vor allem Entstehung und Entwicklung der Krankheit betreffend) weniger individual- als sozialpathologisch, also in Hinblick auf das gesellschaftliche und politische Krankheitsbild. – Die allgemeine Bezeichnung »Triebdynamik« vermeidet eine Aufdröselung der Triebgewalt in einzelne Triebe; das enthebt von der Notwendigkeit, die Abhängigkeit der einzelnen Triebe voneinander zu klären und in eine theoretische Diskussion darüber einzutreten, welcher Trieb jeweils der Grundtrieb und welcher nur eine Erscheinungsform bzw. »Maskierung« eines anderen Triebes ist; in unserem Zusammenhang sind solche Fragen unwesentlich, doch ist schon durch die einleitenden Bemerkungen deutlich geworden, daß es hier fast ausschließlich um die sexuellen Strebungen des Menschen geht, wir also im Sinne Freuds Triebdynamik weitgehend mit Libido gleichsetzen. So mag auch zum Verständnis des Begriffs Triebdynamik die Freudsche Unterscheidung von Ich und Es von Hilfe sein: »Ein Individuum ist für uns ein psychisches Es, unerkannt und unbewußt, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf, aus dem Wahrnehmungssystem als Kern entwickelt. Streben wir nach graphischer Darstellung, so werden wir hinzufügen, das Ich umhüllt das Es nicht ganz, sondern nur insoweit das System Wahrnehmung dessen Oberfläche bildet, also etwa so, wie die Keimscheibe dem Ei aufsitzt. Das Ich ist vom Es nicht scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen. Aber auch das Verdrängte fließt mit dem Es zusammen, ist nur ein Teil von ihm. Das Verdrängte ist nur vom Ich durch die Verdrängungswiderstände scharf geschieden, durch das Es kann es mit ihm kommunizieren … Es ist leicht einzusehen, das Ich ist der durch den direkten Einfluß der Außenwelt unter Vermittlung von Wortbewußtsein veränderte Teil des Es, gewissermaßen eine Fortsetzung der Oberflächendifferenzierung. Es bemüht sich auch, den Einfluß der Außenwelt auf das Es und seine Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. Die Wahrnehmung spielt für das Ich die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält[8].«

»Während das Ich wesentlich Repräsentant der Außenwelt, der Realität ist, tritt ihm das Über-Ich als Anwalt der Innenwelt, des Es, gegenüber … Vom Standpunkt der Triebeinschränkung, der Moralität, kann man sagen: das Es ist ganz amoralisch, das Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich kann hypermoralisch und dann so grausam werden wie nur das Es. Es ist merkwürdig, daß der Mensch, je mehr er seine Aggression nach außen einschränkt, desto strenger, also aggressiver in seinem Ich-Ideal wird. Der gewöhnlichen Betrachtung erscheint dies umgekehrt, sie sieht in der Forderung des Ich-Ideals das Motiv für die Unterdrückung der Aggression. Die Tatsache bleibt aber, wie wir sie ausgesprochen haben: Je mehr ein Mensch seine Aggression meistert, desto mehr steigert sich die Aggressionsneigung seines Ideals gegen sein Ich. Es ist wie eine Verschiebung, eine Wendung gegen das eigene Ich. Schon die gemeine, normale Moral hat den Charakter des hart Einschränkenden, grausam Verbietenden. Daher stammt ja die Konzeption des unerbittlich strafenden höheren Wesens[9].« –

»Bourgeois«, Bürger, Kleinbürger, Spießbürger werden in diesem Buch scheinbar unreflektiert nebeneinander gebraucht; daß die Darstellung »antibürgerlich« ausgerichtet ist, ergibt sich schon aus den ersten Seiten; sie fordert anstelle des Bourgeois den Staatsbürger und vor allem eine Gesellschafts- und Staatsordnung, die staatsbürgerliches Leben – ohne Repression, in voller Ausschöpfung der menschlichen Möglichkeiten, einschließlich der Lust – im Sinne humaner Selbstverwirklichung ermöglichen. Gerade dem steht aber die Bourgeoisie entgegen, da sie wirtschaftlich in Wahrung ihres Herrschaftsanspruches die Emanzipation aller Menschen zur Gleichheit der Chancen vereitelt und psychologisch, sozialpsychologisch die geistige Befreiung von Tabus und Ideologien aus sehr einleuchtenden selbstsüchtigen Gründen zu verhindern trachtet. – Anders als Marx sind wir der Auffassung, daß das Bewußtsein der Menschen ihr gesellschaftliches Sein bestimmt oder zumindest sehr stark mitbestimmt – wobei man freilich im Sinne von Marx dennoch jeweils nach der Wurzel des prägenden Bewußtseins fragen muß, um dann evtl. zu erkennen, daß es in der Tat durch ein zurückliegendes gesellschaftliches Sein festgelegt wurde. Auf unseren Zusammenhang übertragen: Bourgeois ist uns weniger ein sozialer und wirtschaftlicher, auf eine bestimmte Klasse bezogener Begriff, sondern vielmehr eine anthropologische Bezeichnung, die eine bestimmte seelische und geistige, historisch im 19. Jahrhundert verwurzelte Verhaltensweise umschreibt. Wer heute behauptet, daß es den Bourgeois ja nicht mehr gebe, antibürgerliches Denken somit anachronistisch sei, der verkennt oder verdrängt die Tatsache, daß das Bourgeoise heute die Bereiche des allgemeinen Denkens und Fühlens weitgehend usurpiert hat – nicht zuletzt bewirkt durch die Verbürgerlichung des Proletariers –; vor lauter Wald sieht man die Bäume nicht mehr. – Insgesamt begreifen wir die Bourgeoisie so, wie sie sich reproduziert: als Herrschaftsschicht im 19. Jahrhundert und als autoritäre, antiliberale, antidemokratische, antipluralistische, antikünstlerische, antisexuelle, triebverdrängende Ideologie der Vergangenheit und Gegenwart.

»Ideologie« ist der Versuch dieser herrschenden Schicht bzw. der herrschenden Schichten, in einer nicht-demokratisierten und inhumanen Gesellschaft die erworbenen Privilegien anthropologisch, psychologisch und soziologisch zu rechtfertigen bzw. »geistig« abzusichern. Ideologie ist, psychoanalytisch gesprochen, die »Rationalisierung« triebdynamischer Wünsche: Herrschaftsgruppen artikulieren darin und damit ihr triebenergetisches Primat. Somit dient die Ideologie der Aufrechterhaltung ungerechter, d.h. hierarchischer, die Gesellschaft in Herrschende und Dienende teilende Zustände; sie stellt sich der Verwirklichung des allgemeinen Glücks und damit der Herstellung einer vernünftigen Gesellschaft entgegen. »Die Vorurteile der Großen«, heißt es schon bei Helvetius, »sind die Gesetze der Kleinen«; und an einer anderen Stelle: »… die Erfahrung zeigt uns, daß fast alle Fragen der Moral und der Politik durch Macht und nicht durch Vernunft entschieden werden. Wenn die Meinung die Welt beherrscht, dann ist es auf die Dauer der Mächtige, welcher die Meinungen beherrscht.« »Ideologie« ist Rechtfertigung; sie setzt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes voraus, den es zu verteidigen gilt, wie eine Ahnung von der Idee der Gerechtigkeit selbst; sonst bestände keine ideologische, und das ist auch apologetische Notwendigkeit. In der Ideologie verschränken sich das Wissen und die Erfahrung eines objektiven gegesellschaftlichen Zustandes mit dem falschen Bewußtsein, daß dieser Zustand notwendig sei, vermischt sich das Wahre und Unwahre, weshalb die Ideologiekritik die Ideologie mit der (anthropologischen, soziologischen und psychologischen) Wirklichkeit zu konfrontieren hat, also gewissermaßen den Schleier, der zwischen der Gesellschaft und ihrer Einsicht (in ihr eigenes Wesen bzw. in das Wesen des Menschen) liegt, zerreißen muß. Da aber die Ideologie kaum mehr besagt, als daß es so ist, wie es ist, »schrumpft auch ihre eigene Unwahrheit zusammen auf das dünne Axiom, es könnte nicht anders sein, als es ist. Während die Menschen dieser Unwahrheit sich beugen, durchschauen sie sie insgeheim zugleich. Die Verherrlichung der Macht und Unwiderstehlichkeit bloßen Daseins ist zugleich die Bedingung für dessen Entzauberung. Die Ideologie ist keine Hülle mehr, sondern das drohende Antlitz der Welt. Nicht nur kraft ihrer Verflechtung mit Propaganda, sondern der eigenen Gestalt nach geht sie in Terror über. Weil aber Ideologie und Realität derart sich aufeinander zu bewegen; weil die Realität mangels jeder anderen überzeugenden Ideologie zu der ihrer selbst wird, bedürfte es nur einer geringen Anstrengung des Geistes, den zugleich allmächtigen und nichtigen Schein von sich zu werfen; sie aber scheint das Allerschwerste[10].«

Schließlich soll noch ausdrücklich – obwohl dies im Wesen einer Monographie sowieso begründet liegt – darauf verwiesen werden, daß die Darstellung insofern »einseitig« ausgerichtet ist, als sie im Rahmen der skizzierten Themenstellung allein dieser Frage (eben der Bedeutung triebdynamischer Vorgänge im gesellschaftlichen und politischen Raum) sich zuwendet und andere Aspekte, etwa wirtschaftlicher oder geisteswissenschaftlicher Art, außer acht läßt. Trotz des monographischen Aspektes dieser Schrift sind wir freilich der grundsätzlichen Überzeugung, daß jede aufgeklärte Politik scheitern muß, wenn es ihr nicht gelingt, die sexuelle Revolution zu meistern. Der Titel des Buches »Eros in der Politik« ist somit – auch wenn wir uns bewußt sind, daß es sich hier nur um Prolegomena handeln kann – umfassender gemeint; er ist mehr als der Titel einer »Abhandlung über einen einzigen Gegenstand«; er verweist, da auch Sexualität für den Menschen mehr ist als nur eine seiner Attitüden, auf die Substanz menschlichen Daseins und Handelns – im Sinne des Schlußwortes von Sigmund Freuds Abhandlung »Das Unbehagen in der Kultur«, wonach Eros als eine der »himmlischen Mächte« die furchtbaren Gefahren abwenden könnte, denen die Menschheit sich gegenübersieht (wenn es sich bei diesem Eros wirklich um Eros und bei der Politik wirklich um Politik handelte). Diese Sätze sollen somit das Motto unserer Untersuchung sein: »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden ›himmlischen Mächte‹, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen[11]?«

Die sexuelle Revolution

Die sexuelle Revolution hat politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, vor allem sozialpsychologische Ursachen; die Säkularisierung des religiösen Empfindens, die Errungenschaften der modernen Medizin und die Reizintensität der Konsum- und Plakatwelt spielen dabei eine große Rolle. Das teilweise Fehlen ideeller und sozialer Ziele förderte die Sexualisierung; auf der anderen Seite werden Sozialisierungstendenzen, die stets mit einem gewissen Maß von Extraversion verknüpft sind, durch die starke Sexualisierung[12] mit ihrer narzißhaften Ausrichtung geschwächt und unterbunden. – Die sexuelle Revolution wird bestimmt durch ein sexualutopisches Idyll, das intensive sinnliche Lust verspricht, aber gerne ideologisch kaschiert wird, um es der Kritik des abendländisch-christlichen (triebfeindlichen) Gewissens zu entziehen. – Oder aber puritanische Oppression steigert die Triebsehnsucht in einem solchen Maße, daß diese – die Grenzen der Unterdrückung durchbrechend – zur Dominante des gesellschaftlichen Lebens wird, ohne daß deshalb freilich die Spannung zwischen Trieb und Norm überwunden oder der bürgerliche wie proletarische Ambivalenzkonflikt gelöst werden kann. – Die Wohlstandssexualität verdrängt die Triebangst durch Hygienisierung; die scheinbare Harmonie ist Oberflächenglanz bzw. sexualtechnische Perfektion.

Paradies à la Tahiti

Ruf der Sinnlichkeit

Das Jahr 1771 markiert ein wichtiges Datum in Hinblick auf die Genealogie modernen Sexualverhaltens. Louis Antoine Bougainville legt seinen Bericht über eine Weltreise vor, die ihn auch nach Tahiti geführt hatte. Die Menschen dort lebten in einer sexuellen Freiheit sondergleichen; keine Moralvorschriften engten sie ein, keinerlei Gewissensbisse bedrückten sie. Die Gesellschaft des Rokoko, die sich bei aller sexuellen Libertinage durch den tradierten Moralkodex immerhin insoweit beeinträchtigt fühlte, daß sie seine Übertretung gewissen gesellschaftlichen »Spielregeln« unterwarf, erlebte hier das Modell eines Naturzustandes par excellence. In seinem »Nachtrag« zu Bougainvilles Reise hat Diderot dann in Form eines »Gesprächs zwischen A und B über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen«, eine Exegese des Reiseberichts geliefert, die zu Anfang unseres Betrachtungszeitraumes bereits wesentliche Fragen sozialpsychologischer und sozialpathologischer Art im Spannungsfeld von Sexualität und Politik, Erotik und Gesellschaft anschneidet[13]. Der Tahitianer, so heißt es bei Diderot, stehe dem Anfang der Welt, der Europäer ihrem Greisenalter nahe: »Der Abstand, der ihn von uns trennt, ist größer als der Abstand zwischen dem neugeborenen Kind und dem Menschen in der Auflösung des Alters[14].« An den fernen Gestaden herrsche ein paradiesisches Dasein; aus der Unschuld erwachse Glück; der reine Trieb der Natur ermögliche ein Glück in der Lust und die Lust als Glück. Die Vorstellungen von der glücklichen Existenz des Menschen sind ganz auf seine Sexualität bezogen: Die Tahitianerin gebe sich den »leidenschaftlichen Regungen« und »glühenden Umarmungen« des jungen Tahitianers ohne weiteres hin; ungeduldig erwartet sie den Augenblick, da sie im heiratsfähigen Alter sich entschleiere und ihren Busen entblöße. Sie sei stolz darauf, Begierden zu erregen und die verliebten Blicke des Unbekannten, aber auch die ihrer Eltern und Brüder an sich zu ziehen. Ohne Furcht und Scham, inmitten eines Kreises unschuldiger Freunde, beim Klange der Flöten und bei Tänzen nehme sie die Liebkosungen desjenigen hin, für den ihr junges Herz und der »heimliche Ruf ihrer Sinnlichkeit« sie bestimme[15]. Von solcher Naivität wird auch der Kaplan der Bougainvillschen Schiffsbesatzung überwältigt. Sein tahitianischer Gastgeber Oro führt ihm Weib und drei Töchter nackt zu und sagt: »Du hast zu Abend gegessen, du bist jung, du fühlst dich wohl. Wenn du allein schläfst, wirst du schlecht schlafen; der Mann bedarf nachts einer Gefährtin an seiner Seite. Hier ist mein Weib, dort sind meine Töchter. Wähle diejenige, die dir gefällt. Doch wenn du mir einen Gefallen erweisen willst, dann wirst du meiner jüngsten Tochter den Vorzug geben, weil sie noch keine Kinder hat[16].« So verbringt der »gute Kaplan« seine Nächte, wobei ihn sein schlechtes Gewissen lediglich verschiedene Male: »Aber meine Religion, aber mein Stand!« rufen läßt.

Parfümierter Sensualismus

Die mit Pikanterie vorgestellten Szenen exemplifizieren den in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts um sich greifenden aufgeklärten Standpunkt, wie er sich in Traktat und Essay, in Roman und Lyrik widerspiegelt. »Der Gedanke der Erbsünde ist der gemeinsame Gegner, in dessen Bekämpfung sich die verschiedenen Grundrichtungen der Aufklärungsphilosophie vereinigen. Hier steht Hume an der Seite des englischen Deismus, wie Rousseau an der Seite Voltaires steht: Die Einheit des Zieles, dem die Aufklärung zustrebt, scheint eine Zeitlang alle Differenz und Divergenz hinsichtlich der Mittel, mit denen es zu erreichen ist, zu überwiegen[17].« Das Rousseausche »Zurück zur Natur« lautet bei Diderot: »Verhalten wir uns wie jener gute Kaplan, der in Frankreich Mönch war, in Tahiti dagegen Wilder[18].«

Der »Sauvage« ist eine Idealgestalt, auf die sich der Glückshunger der Zeit wirft, ein Lieblingsobjekt des utopischen Sehnens; die Vorstellungen vom Wildsein sind dabei ganz aus dem zivilisatorischen Kalkül des »Mondain« heraus entwickelt und ins Spielerische versetzt. Der landschaftlichen und klimatischen Harmonie entspricht eine geistig-seelische Gelöstheit, in der die Menschen ihren Körper mit Lust genießen; der Orgasmus wird zur angenehmen täglichen Praxis. Es waltet das anakreontische Ideal: eine mit Witz und Sentimentalität durchsetzte Leiblichkeit, die mit dem Seelischen kokettiert, aber letztlich doch nur an der physiologischen Seite der Lust interessiert ist. – Die Literatur dieser Zeit hat zwar immer wieder versucht, den Sensualismus zu sublimieren, im Begriff der Kalokagathie die Einheit von Leib und Geist zu konstruieren oder im Rückgriff auf die Antike zu rekonstruieren. Doch war der Erfolg solchen Bemühens recht problematisch; Wielands Werke etwa sind geistreiche Erotik – aber in seinen Romanen sind die »schönen Seelen«, die er durch leibliche Transparenz sichtbar zu machen sucht, vor allem durch sekundäre Geschlechtsmerkmale charakterisiert, d.h. die Transparenz ist meist nichts mehr als eine durchsichtige, sich verschiebende und rutschende Gewandung, die statt der Psyche einen schönen Busen enthüllt. – Im besonderen Maße ist natürlich die zeitgenössische Trivialliteratur durch einen parfümierten Sensualismus und Hedonismus charakterisiert[19]. Als symptomatisches Beispiel sei Moritz August von Thümmel mit seiner »Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich«[20] erwähnt. Der Roman stellt eine Mischung von zeitkritischen und anakreontischen Szenen dar, wobei die letzteren nach dem beschwingten Motto ausgerichtet sind: »… und alle Herzen, alle Mieder / und alle Fenster offenstehen …« Da ist etwa die Episode von Caverac: ein idyllisches französisches Dörfchen, in dem der Held bei einfachen Landleuten logiert und der Bauer zur Zerstreuung und Aufwartung des Gastes die hübsche Nichte aus dem Nachbarort holt. Auch hier die »tahitianische« Atmosphäre: Sonnenauf- und -untergänge, sich in leichten Lüften wiegende Bäume, süße Düfte, sprudelnde Silberquellen, voller Liebeslust glänzende Augen, Liebe atmende Münder, leichtverhüllte Busen, schmelzende Zärtlichkeit – »O du, wie soll ich dich nennen, Kind der unverfälschten Natur? O wüßtest du, meine Margot, das ganze Geheimnis dieser Stunde, diese schönste Beute, die ich jemals dem Amor abjagte[21]!« Die Linie, die sich von Bougainvilles und Diderots Tahiti über Gauguins Noa-Noa bis zu den polynesischen Sehnsuchtsträumen der modernen Revue- und Musikfilme und den weiblichen Hawaii-Idolen bei James Bond zieht, durchquert im Zickzack die verschiedensten Niveauschichten; oft genug verläuft sie in den Bereichen des Kitsches[22]. Um welche geographischen Gegenden es sich im einzelnen auch handelt – Tahiti ist in unserem Zusammenhang vor allem als anthropologisches Stichwort zu verstehen[23] –, die Szenerien spiegeln gleichbleibende Sexualvorstellungen und -wünsche: Kopulation ohne Scham, unter freiem Himmel, am hellen Tag oder in sternerleuchteter Nacht – Hymen und Blumenkorso, wie es Diderot schon beschrieb: »Man streute für euch beide Blätter und Blumen auf den Boden; die Musikanten stimmten ihre Instrumente; nichts störte eure Wonne, nichts hinderte die Ungezwungenheit euerer Liebkosungen. Man sang das Hochzeitslied, jenes Lied, das dich aufforderte, Mann zu sein, und unsere Tochter, Weib zu sein: hingebungsvolles, sinnliches Weib[24].«

Unbehagen in der Kultur

Dieses arkadische bzw. tahitianische Sexual- und Sozialparadies ist bereits bei Bougainville und Diderot mit einem akzentuiert aggressiven Kulturpessimismus verknüpft. Der Sehnsucht nach polynesischen Glückseligkeitsgefilden entspricht der Angriff auf die moralische Verwahrlosung und Sittenanarchie Europas. Die Vorwürfe konzentrieren sich dabei in der Feststellung, daß hier die geschlechtliche Lust keine reine und ungetrübte Freude darstelle, sondern der zivilisatorischen Bosheit ausgeliefert sei, die alles verpeste und verderbe. Dem tahitianischen Greis, der bei der Abfahrt Bougainvilles als Wortführer der ans Ufer geeilten Massen auftritt, wird von Diderot die für das Ende des 18. Jahrhunderts charakteristische antikulturelle Brandrede in den Mund gelegt: Kultur und Zivilisation hätten den reinen Trieb der Natur zerstört, Ausschweifung und Laster geschaffen; fremde, »rasende Leidenschaften« seien erregt worden, die tahitianischen Frauen seien in den Armen der Eindringlinge »toll« geworden; Haß und Grausamkeit würden um sich greifen. Die Schönheit der Sinne und der Sinnlichkeit müßte sinnlicher Versklavung weichen[25]. Statt, wie der Tahitianer, es als etwas Gutes zu empfinden, wenn man sich dem höchsten Drange der Natur hingebe, habe die Kultur dazu geführt, daß die Menschen – durch imaginäre Tugenden und Laster in ihrer freien natürlichen Entwicklung gehemmt – dem Bösen bzw. der Grausamkeit verfielen.

Die Laszivität des Rokoko und die häufig sexualpathologisch bestimmten Grausamkeiten der Französischen Revolution mußten das Augenmerk analytischer Geister auf das Problem der Perversion richten, für die man (axiomatisch gebunden an den Glauben, daß der ungekünstelte, naive Mensch der gute Mensch sei) die Kultur verantwortlich machte. – Der Marquis de Sade wandte sich in seinen Schriften freilich gegen diese Sentimentalisierung der Natur, indem er den Exzeß als Orgie entfesselter Natürlichkeit interpretierte[26]. Seine »schwarzen« Romane wollten die These vom guten natürlichen, vom natürlich-guten Menschen ad absurdum führen; bukolische Schwärmerei verfälsche den Menschen, der seiner natürlichsten Anlage nach eine Sexualbestie sei. Lust sei vor allem Grausamkeit dem wehrlosen Schwachen gegenüber; Begierde sei letztlich zerstörerische Begierde. Sade hat allerdings, wesensmäßig bestimmt und getrieben von dem, was er darstellte, seinen anti-kulturkritischen und naturrealistischen Denkansatz dadurch verfälscht, daß er seine Sexualpathologie zur Sexualideologie machte: »Es gibt nichts Schöneres, nichts Größeres als das Geschlecht, und keine Heilung ohne das Geschlecht.« Die Analyse der Natur-Anarchie führt im Sadismus und Masochismus zu deren Verherrlichung. Sade zielte auf das Tier im Menschen und stellte sich dann selbst in den Dienst dieses Tieres, indem er mit seiner Pornographie dem Tierischen (d.h. dem, was man seinerzeit und auf lange Zeit als »tierisch« verstand) das »Futter« zum Aufgeilen hinwarf[27]. In einer Zeit, in der Guillotinieren und Foltern zu Aphrodisiaka wurden, gab de Sade in seinen Schriften einen Katalog nahezu aller sexualpathologischer Möglichkeiten – ein Programm von Sex, Blut und Grausamkeit, das in der »satanischen« Fiktion[28] und apokalyptischen Wirklichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts, von 1789 über 1917 und 1933 bis in die Gegenwart hinein, seine Gültigkeit nicht verlor. Was de Sade in schrankenloser Phantasie sich ausdachte, das Peitschen, Zerteilen der Opfer, das Aufschneiden der Brüste, der Scheide, des Afters, der Lustmord in seinen verschiedensten Varianten, wird in den totalitären Konzentrations- und Vernichtungslagern Wirklichkeit. –

Diese Bestialität ahnt der naive Tahitianer bei Diderot. Die Begriffe verkehren sich – die Wildheit des Wilden ist Harmonie und Glückseligkeit, die Zivilisation jedoch gebiert Blutrausch und Grausamkeit. Solches Unbehagen in und an einer Kultur, in welcher der Grundsatz glücklichen Lebens: das »naturalia non sunt turpia«, nicht gilt, mußte gerade im 19. Jahrhundert um sich greifen, da nun aus den verschiedensten Gründen das Natürliche tabuisiert und durch Prüderie verdrängt wurde[29]. Das Unbehagen in einer Kultur, welche die Triebkräfte des Menschen bekämpfte oder zerstörte, wurde zum Angelpunkt von Sigmund Freuds psychoanalytischer Philosophie, die kein Tahiti als deus ex machina mehr kennt, sich aber um so mehr der dunklen Strahlkraft des Bösen bewußt bleibt und diese bewußt macht.

Im Dienst der Rasse

Das tahitianische Idyll bei Diderot ist keineswegs zweckfrei. Die Lobpreisung des Genusses (um des Genusses willen) genügt dem aufgeklärten Intellektuellen, der nach Fortschritt strebt, nicht. Was zunächst lediglich als Erfüllung erotischer Träume erscheint, wird schließlich – in dem Bestreben, überall das Nützliche zu entdecken – als Auswirkung eines Fruchtbarkeitsgesetzes interpretiert, als eugenische Weisheit der Natur. Der »gute Kaplan«, der die Naturfrische tahitianischer Frauen genießt, ist Objekt bzw. Werkzeug eines rassisch bestimmten Willens. »Ihr kommt zu uns«, wird ihm von den Eingeborenen gesagt, »wir überlassen euch unsere Frauen und Töchter, ihr wundert euch darüber; ihr bezeigt uns dafür eine Dankbarkeit, die uns zum Lachen bringt … Unsere Frauen und Töchter kamen zu dir und entzogen deinen Adern Blut. Wenn du eines Tages fortgehst, wirst du uns Kinder hinterlassen … Wir haben sehr viel Brachland; uns fehlen Fäuste und Arme; wir haben sie von dir verlangt. Wir müssen Verluste gutmachen, wie sie durch Seuchen entstehen, und haben dich benutzt, um die Leere auszufüllen, die sie hinterlassen werden. Wir müssen nahe Feinde bekämpfen, brauchen Krieger dafür und haben dich gebeten, sie uns zu verschaffen. Die Zahl unserer Frauen und Töchter ist zu groß im Verhältnis zur Zahl der Männer; deshalb haben wir dich zur Mitarbeit herangezogen. Unter diesen Frauen und Töchtern waren einige, von denen wir keine Kinder bekommen konnten, und die überließen wir zuerst euerer Umarmung. Wir müssen einem Nachbarn, der uns bedrückt, eine Abgabe an Männern entrichten. Du und deine Kameraden werden uns davon entbinden; denn in fünf oder sechs Jahren werden wir ihm euere Söhne schicken, wenn sie nicht soviel taugen wie unsere eigenen. Obwohl wir kräftiger und gesünder sind als ihr, haben wir doch bemerkt, daß ihr uns an Intelligenz übertrefft, und so haben wir einige unserer schönsten Frauen und Töchter sofort dazu bestimmt, den Samen einer Rasse zu empfangen, die besser ist[30].« Es ist erstaunlich (und bislang zu wenig beachtet worden), wie gerade in der Aufklärung unter dem »vernünftigen« Gebot des Pragmatismus Gesichtspunkte der Eugenik eine Rolle zu spielen beginnen[31] und damit auch rassisches Denken um sich greift[32]. Bei Thümmel, um das erwähnte Beispiel aus der Trivialliteratur noch einmal aufzugreifen, werden solche Überlegungen in die übliche Rokoko-Laszivität verpackt. Eine Episode des Buches kreist um einen klugen Regenten, der in einem Stiftungsbriefe bestimmt habe, daß jeder seiner Nachfahren vor der Hochzeitsnacht zusammen mit seiner Braut einige Zeit in Andacht in einer dionysischen Kapelle verbringe, die mit aufreizenden Bildern versehen ist. Der »kluge Fürst« sei auf diesen Gedanken gekommen, da er mit seinen »gesunden Augen« sah, daß der Acker nur kümmerliche Ernten treibe, wenn er mit dem Korne, das er jährlich einbringt, besät werde – »sah in der Wirtschaft des Tierreiches, wie tief selbst die vollkommensten Rassen herabsinken, wenn man sie zwingt, sich untereinander zu vervielfältigen«. – Durch den Anblick kunstvoll gestalteter Sinnlichkeit solle jeder, der ins fürstliche Paradebett steigt, Leben und Wärme ins »alte Geblüt bekommen«[33]. Es handelt sich hier um die Ansätze einer Ideologie des »gesunden Blutes«, des Geschlechtsaktes als vaterländischer Pflicht, die über Darwinismus[34], Imperialismus, Kolonialismus, im SS-Staat ihren Höhepunkt erreichte, wobei gerade bei Himmler die Reminiszenzen an einen sexuellen Feudalismus eine nicht unbedeutende Rolle spielten. Vor allem in und aus der Plüschwelt des späten 19. Jahrhunderts erstand der Wunsch nach kraft- und saftstrotzenden Sexualsubjekten und -objekten, nach »Rassemenschen«, wie sie vornehmlich in der Blut- und Bodendichtung beschrieben und propagiert wurden – fruchtbare, national ausgerichtete Brunft, in der das Wallen des Blutes mit dem raunenden Strom der Geschichte zusammenfließt[35].

Umgedrehter Puritanismus

Kahlschlagunternehmen Sex

Sebastian Haffner hat die einleuchtende These aufgestellt, daß die sexuelle Revolution einen »umgedrehten Puritanismus« darstelle[36]. Sie komme aus den angelsächsischen Ländern, wo die Puritaner im 16. und 17. Jahrhundert als erste darauf verfallen seien, in einem gewaltigen Kahlschlagunternehmen Liebe und Liebesspiel auf das zu reduzieren, was heute Sex genannt werde. »Sie als erste wischten alles, was Dichter als Liebe und Leidenschaft besangen, als Tand und Torheit von der Tafel und ließen nur ›Sex‹ übrig – die sozusagen abstrakte Fleischeslust, die sie nun mit recht innigem Ingrimm in ihrer ganzen nackten, entzauberten Häßlichkeit ins Auge fassen konnten, um ihr desto entschlossener abzusagen und sich von ihr zu reinigen.« Für den Puritaner sind die Triebe böse; die Frau wird als Sexualobjekt entsprechend abgewertet. Sie ist ein »Gefäß der Sünde«, der man sich zwar nicht entziehen kann, die jedoch – »gebraucht und verbraucht« – aus dem Bereich des Wesentlichen ins Dunkel der Beziehungslosigkeit zurückgestoßen wird. Die Triebhaftigkeit wird als »Natur« – als von der Natur oktroyiert – empfunden; dies bewirkt eine ständige Okkupiertheit des Bewußtseins mit sexuellen Fragen, was jedoch meist mit einem aggressiv-trüben Moralkodex kaschiert wird: Die Entrüstung über das Sexuelle muß dazu dienen, die intensive Beschäftigung mit der Sexualität vor dem eigenen schlechten Gewissen zu rechtfertigen. Arthur Miller hat in seinem Stück »Hexenjagd« auf sehr eindrucksvolle Weise die sozialpathologischen Folgen eines derart gestörten bzw. pervertierten Verhältnisses zur Sexualität geschildert. Nach der Phase der Akkumulation durchbricht die verdrängte Triebenergie die hinderlichen, hindernden Regulationen (seien sie nun gesellschaftlicher oder religiöser Art); sie richtet sich (oder wird gerichtet) auf bestimmte Gruppen, die funktional schwach sind oder in der Minorität sich befinden – Gruppen, die als Sündenböcke für die eigene »Sündhaftigkeit« dienen, die man bekämpft, um sich nicht selbst bekämpfen zu müssen, die man schließlich vernichtet, um sich selbst erhalten zu können (wobei die Wiederherstellung des asketischen Zustandes sadistische Lust vermittelt). »Man konnte«, heißt es bei Miller, »seinen Nächsten als Hexe ausschreien und sich dabei völlig im Recht fühlen. Alte Rechnungen konnten auf der Ebene eines himmlischen Kampfes zwischen Luzifer und dem Herrgott beglichen werden; Argwohn und Neid des Armen wider den Reichen konnten in der allgemeinen Ahndung hervorbrechen – und das geschah[37].« Was hier am Beispiel neuenglischer Theokratie an einem Ort in Massachusetts (1692) aufgezeigt wird[38], stellt eine bestimmte Bewußtseinsstruktur dar, die uns im Verlauf dieser Betrachtung verschiedentlich noch begegnen wird. Da sich die Verketzerung, Bekämpfung und Vernichtung des anderen nicht nur als individuell-lustvolle Angelegenheit erweist, sondern dabei zugleich wichtige politische und gesellschaftliche »Rechnungen« mit beglichen werden können, kommen der Aktivierung der Triebkräfte und der Aktivierung der sexuellen Entrüstungsgefühle, die miteinander in Wechselbeziehung stehen, gerade bei autoritären und totalitären Regimen eine besondere Bedeutung zu.

Askese als Denaturierung

Das Gebot asketischer Lebenshaltung ist verknüpft mit dem Bewußtsein der Naturüberwindung und der Menschenerhöhung. Indem der Mensch dem Gebot der Enthaltsamkeit sich unterstellt, kompensiert er diese Denaturierung durch das Bewußtsein sozialer Autorität: anders als die anderen zu sein. – »Man kann sich nicht im Schlaraffenland und in der civitas dei zugleich aufhalten[39].« Ein solches Junktim zwischen Askese und Herrschaftsanspruch bedarf der religiösen Abstützung, da dadurch der Triebverzicht auf anderer Ebene, in der Ekstase oder im Fanatismus, wieder »eingeholt« werden kann; dies ist besonders gefährlich, da sowohl Ekstase wie Fanatismus in Anspruch nehmen, etwas »Höheres« zu sein, und die zugrunde liegende Askese so die entsprechende Transzendierung erfährt. Der durch die puritanische Leugnung der »sinnlichen Kultur« bzw. durch die Fundierung der puritanischen Kultur auf »Triebverzicht« und einem System von triebverdrängenden Widerständen hervorgerufene komplementäre Triebstau führt zu ventilierten oder explosionsartigen aggressiven Abreaktionen, durch die sich diese Kultur entweder selbst aufhebt oder in Frage stellt. Grundsätzlich gilt, daß eine Politik, die sich zum Prinzip der Askese als gesellschaftsdisziplinärem Element bekennt und damit auch die Liebe von Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit zu »reinigen« sucht, auf Sand gebaut ist, der periodisch von der angesammelten Triebenergetik weggeschwemmt wird – es sei denn, sie werfe sich von vorneherein in die Flut meist bösartiger Hysterien. So sehr es richtig ist, daß die alleinige Herrschaft der Triebe den Menschen der Kultur entzieht, da er damit sich selbst aus der Hand gibt, sein Ich ans Es verliert, so wenig erkennt der Puritanismus, daß die Verdrängung des Es lediglich die Kehrseite der Denaturierung darstellt, also die Anarchie über den Umweg der Unterdrückung und dadurch noch vehementer hervorgerufen wird. Falsche Normen schlagen ins Abnorme um – der »Puritaner« totalitärer Prägung wird uns in extremster Form als Kommandant von Auschwitz entgegentreten.

Sobrietas

Wenn der Puritaner mit seiner Natur zum Ausgleich gekommen ist, die Angst vor der Sexualität sich löst bzw. bewältigt wird (z.B. mit Hilfe der Umorientierung und Ableitung der Triebdynamik auf den wirtschaftlichen Sektor), zeigt er einen Charakter von hoher ethischer Qualität, zugleich freilich auch, was die Beziehungen der Geschlechter zueinander betrifft, von nüchterner Farblosigkeit. Nie dürfen die Reize und der Zauber der Welt die Oberhand über vernünftiges Denken gewinnen. Nicht daß Adam Appetit auf die verbotene Frucht hatte, war seine Sünde, wohl aber, daß er seinem Willen nachgab und aß. Die mit einer ständigen Selbstprüfung verbundene »Sobrietas« spielt die Hauptrolle in der puritanischen Laienethik, die, von den asketischen Idealen des kirchlichen Mittelalters abgeleitet, auf alle Bereiche übertragen wird. Der verheiratete Stand wird zum Heilmittel gegen die Wollust; in der Ehe ist kein Platz für den Geschlechtstrieb; es ist somit verständlich, daß der Puritaner ein tiefgründendes Mißtrauen gegen Ehen hat, deren Grundlage die gegenseitige Neigung oder gar die Leidenschaft ist. – Eine derartige Entsinnlichung des Verhältnisses der Geschlechter zueinander bedeutet auf der einen Seite Stabilität, auf der anderen Neutralisierung der Ehe. Die Gemeinschaft der stillen, tugendhaften, häuslichen Gattin und des durch das sorgende Dasein seines Weibes saturierten Gatten entbehrt aller erotischen Stimulanzien und damit auch im gesellschaftlichen Bereich der Initiativen, die vielfach sinnlicher Dialektik entspringen. In der positiv-puritanischen Familie wird die Frau durchaus ernst genommen und einigermaßen gut behandelt – aber nicht als Frau, sondern als Hausfrau[40]. Je mehr ein solches puritanisches, später ganz allgemein als bürgerlich zu bezeichnendes Familienideal sich durchsetzte oder propagiert wurde – aus den verschiedensten Gründen propagiert wurde, nicht zuletzt wegen der dadurch zu erwartenden bzw. zu bewirkenden konservativ-lethargischen Gleichgültigkeit der Menschen gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber –, um so mehr mußte als Reaktion auf diese Entsinnlichung der Drang nach sexueller Emanzipation entstehen. Zeichen hierfür ist etwa im 19. Jahrhundert das sehr starke Zunehmen der Prostitution, wobei durch diese Art des nebenehelichen Verkehrs des Mannes die Triebstauungen einerseits ventiliert, zum anderen die für die damalige Zeit spezifischen, das heißt a-sexuellen Interessen der Familie scheinbar wenig berührt und gefährdet, ja zum Teil sogar stabilisiert wurden (da Ehe und Familie noch mehr sich entsexualisierten)[41].

Prostitution als Ventilsitte

Schelsky spricht davon, daß es zu der »institutionellen Weisheit« einer Gesellschaft gehöre, ein hochgespanntes Moralsystem sich »geordnet« entladen zu lassen. A. Vierkandt hat die entsprechenden Einrichtungen »Ventil«-Sitten genannt; sie verschafften den erregten Leidenschaften im Gegensatz zum an sich gültigen gesellschaftlichen Normsystem Abfluß, »fassen sie aber zugleich in eine Form und verhüten dadurch uferloses Überwallen mit zerstörerischen Wirkungen«. Wiederum nach Schelsky ist die Prostitution zweifellos »eine solche speziell auf die absolute patriarchalische Monogamie ausgerichtete institutionelle Ventil-Sitte, welche die durch die rigorose Sexualmonopolisierung dieser Eheform angehäuften Spannungen neutralisieren soll. Zwischen der faktischen Durchsetzung der Sexualnormen, der absoluten Monogamie und der Verbreitung und Konventionalisierung der Prostitution besteht also eine verursachende Korrelation; es sind daher nicht zuletzt gerade die Kreise, für die, bei einem späten Heiratsalter der Männer, der Ehebruch im hohen Maße entehrend und die Forderung nach Jungfräulichkeit der Braut unaufgebbar war, die den Bordellbesuch zu einer gesellschaftlichen Konvention machen, wie wir es etwa am Offizierstum, Akademikertum usw. der hochbürgerlichen Prüderie-Phase um die Jahrhundertwende studieren können[42].« Von dieser Jahrhundertwende berichtet Stefan Zweig: »Von der ungeheueren Ausdehnung der Prostitution in Europa bis zum Weltkriege hat die gegenwärtige Generation kaum mehr eine Vorstellung. Während heute auf den Großstadtstraßen Prostituierte so selten anzutreffen sind wie Pferdewagen auf der Fahrbahn, waren damals die Gehsteige derart durchsprenkelt mit käuflichen Frauen, daß es schwerer hielt, ihnen auszuweichen, als sie zu finden … In jeder Preislage und zu jeder Stunde war damals weibliche Ware offen ausgeboten, und es kostete einem Mann eigentlich ebenso wenig Zeit und Mühe, sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder Nacht zu kaufen wie ein Paket Zigaretten oder eine Zeitung … [Die Prostitution] stellte gewissermaßen das dunkle Kellergewölbe dar, über dem sich mit makellos blendender Fassade der Prunkbau der bürgerlichen Gesellschaft erhob[43].« Die Prostitution nennt August Bebel eine »notwendige soziale Institution der bürgerlichen Welt«: »Die Ehe stellt die eine Seite des Geschlechtslebens der bürgerlichen Welt dar, die Prostitution die andere. Die Ehe ist der Avers, die Prostitution der Revers der Medaille … Die Männerwelt hat stets die Benutzung der Prostitution als ein ihr von ›Rechts wegen‹ zukommendes Privilegium betrachtet. Um so härter und strenger wacht und urteilt sie, wenn eine Frau, die keine Prostituierte ist, einen ›Fehltritt‹ begeht … Kraft seiner Herrschaftsstellung zwingt sie der Mann, ihre heftigsten Triebe gewaltsam zu unterdrücken, und macht von ihrer Keuschheit ihr gesellschaftliches Ansehen und die Eheschließung abhängig. Durch nichts kann drastischer, aber auch in empörenderer Weise die Abhängigkeit der Frau von dem Manne dargetan werden als durch diese grundverschiedene Auffassung und Beurteilung der Befriedigung desselben Naturtriebs. Die Verhältnisse liegen für den Mann besonders günstig. Die Natur hat die Folgen des Zeugungsaktes der Frau zugewiesen, der Mann hat außer dem Genuß weder Mühe noch Verantwortung. Diese vorteilhafte Stellung gegenüber der Frau hat jene Zügellosigkeit in den geschlechtlichen Anforderungen gefördert, durch die sich ein großer Teil der Männerwelt auszeichnet. Da aber viele Ursachen vorhanden sind, welche die legitime Befriedigung des Geschlechtstriebs verhindern oder ungenügend erreichen lassen, ist die Folge Befriedigung desselben in der Wildnis. Die Prostitution wird also zu einer notwendigen sozialen Institution für die bürgerliche Gesellschaft, ebenso wie Polizei, stehendes Heer, Kirche, Unternehmerschaft[44].« Fast ein Jahrhundert später stellt A. C. Kinsey fest: »Aus dem Versuch, den Konflikt zwischen der sexuellen Natur des Mannes und den von ihm der Frau auferlegten Haltungen zu lösen, ist die traditionsreiche Einrichtung der hetero-sexuellen Prostitution entsprungen, die durch die ganze Geschichte hindurch und in den meisten Teilen der Welt verbreitet und anerkannt war. Ein beträchtlicher Teil des vorehelichen Koitus der Männer in den meisten orientalischen, nordafrikanischen, kontinental-europäischen, mediterranen und südamerikanischen Kulturen wird anscheinend lieber mit Prostituierten ausgeführt als mit Mädchen, die die Absicht haben, gesellschaftlich einigermaßen angesehene Männer zu heiraten. Die strenge Art, mit der Mädchen aus gesellschaftlich geachteten Familien von Eltern oder Betreuerinnen in Spanien oder den lateinamerikanischen Ländern bewacht werden, zwingt den Mann, mit den sexuellen Verhaltensweisen der Prostituierten und ihren Koitus-Methoden besser vertraut zu werden, als er es je mit dem Mädchen sein wird, das er heiratet. So streng verbietet die Sitte dem Mädchen aus besseren Familien vorehelichen Koitus, daß wir Berichte spanischer und einiger anderer europäischer Männer haben, denen es schwerfällt, mit ihren Ehefrauen Koitus zu haben, weil sie ihnen mit ähnlicher Achtung gegenübertreten wie ihren Müttern, Schwestern oder allen anderen unverheirateten ›anständigen‹ Frauen. Entsprechend fahren manche Männer in solchen Kulturen auch nach der Ehe fort, einen großen Teil ihres Koitus lieber bei Prostituierten oder einem sogenannten Verhältnis zu suchen als bei ihrer Ehefrau[45].«

Wenn Schelsky davon spricht, daß die Befürworter der Prostitution zu allen Zeiten und mit innerem Recht diese Einrichtung mit moralischen Argumenten begründet hätten, so versäumt er es, den diesen »moralischen« Argumenten zugrunde liegenden Ideologiebegriff zu entlarven. Gerade die Prostitution macht die Leere und Doppelbödigkeit des herrschenden Moralsystems deutlich, dessen Rigorismus und Spiritualität lediglich ein Instrument für die Versklavung jener Kreise darstellt, die dann auch das »Menschenmaterial« für die Prostitution (so wie früher die Mädchen und Frauen der Unterworfenen zunächst für die nomadisch-kriegerischen Sieger sexuelles Freiwild darstellten) zu liefern haben. Der Begriff der »Ventil-Sitten« verharmlost die Verlogenheit der puritanisch-bürgerlichen sexualmoralischen »Ideale«, da er nicht deutlich genug macht, daß es sich bei den Ventil-Sitten um den eigentlichen existentiellen Kern und bei der rigoristischen Moral lediglich um die repressive Verhüllung der institutionalisierten gesellschaftlichen Unmoral handelt[46].

Der romantische Protest

Die Neutralisierung der Sexualität in der ehelichen Gemeinschaft widersprach nicht nur der menschlichen Natur, sondern lief auch der abendländischen Kulturtradition zuwider, die in Literatur und Kunst seit Jahrhunderten hohe Gefühls-, Gemüts- und Persönlichkeitsansprüche an den Liebespartner entwickelt und gepflegt hatte, »jene verfeinerte Erotik des amour passioné, die im allgemeinen Sozialisierungsprozeß der Moderne aus der Grundhaltung erst nur der europäischen Oberschichten zur Liebeserwartung weitgehend aller Gesellschaftsschichten geworden ist«[47]. Die damit in Zusammenhang stehenden, aus der Trivialisierung hervorgehenden erotischen Klischees eines romantisch hochgezüchteten, allumfassenden Liebesideals mußten in einer, aus moralischem Rigorismus heraus entsinnlichten Ehe und für ein Familienleben, das auf Grund der wirtschaftlichen Misere seit Ende des 18. Jahrhunderts mit außerordentlich viel Alltags- und Haushaltssorgen belastet war, tiefe, wenn auch vielfach unbewußte Enttäuschungen bewirken. Dadurch entstand eine neue Motivschicht des Ehebruchs; und es erfolgte die Romantisierung der Prostitution, was unausgegorenen sexuellen Sehnsüchten entsprach und zugleich das sich regende Gewissen beruhigte und entlastete.

In diesem Zusammenhang ist auch auf den sexuell-romantischen Protest einzugehen, der sich gegen bestimmte Tendenzen der ebenfalls aus dem Sobrietas-Ideal entwickelten aufgeklärten Haltung wendet. Natürlich können Aufklärung und Puritanismus nicht gleichgesetzt werden. Beim Aufklärer ist die Dominante der Vernunft so stark entwickelt, daß es zu eigentlichen Verdrängungen und daraus sich entwickelnden explosiven Reaktionen bzw. Abreaktionen (wie sie Hexenjagd oder Prostitution darstellen) nicht kommt. Außerdem hat der Aufklärer – unbelastet durch religiöse Tabus und bestimmt durch einen aus Theodizee-Vorstellungen stammenden säkularisierten Optimismus – gewisse Kristallisationskerne für »natürliches Verhalten« in seinem physiologisch-psychologischen Haushalt belassen; das spiegelt sich etwa in der zeittypischen Lobpreisung anakreontisch-arkadischen Daseins (mit entsprechenden Schäferstündchen)[48]. Vom Sexualpsychologischen her gesehen haben jedoch Puritanismus und Aufklärung die Tatsache gemeinsam – der Puritanismus in Form der Verdrängung, die Aufklärung im Sinne »vernünftiger«, d.h. »beherrschter« Lebensführung –, daß ihr Menschenbild entsexualisiert, entsinnlicht ist, so daß die antithetische Reaktion sowohl auf den Puritanismus wie auf die Aufklärung in sexueller Intensivierung, als Bekenntnis zur Sinnlichkeit des Menschen sich äußert[49]. Da zudem sowohl die Strömung des Puritanismus wie der Aufklärung (die erstere mit starken Zügen der Verkrampfung, die zweite aus anthropologischer wie philosophischer Naivität heraus) das Gute, moralisch Hochstehende des entsexualisierten Menschen betonen, verbindet sich die Reaktion und Gegenaktion, der romantische Protest[50]