Sigmund Freuds Zwanzigstes Jahrhundert - Hermann Glaser - E-Book

Sigmund Freuds Zwanzigstes Jahrhundert E-Book

Hermann Glaser

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ausgehend von den kulturphilosophischen und gesellschaftskritischen Schriften wird die »Seele« des Zeitalters beschrieben, wie sie sich in den politischen, sozialen und kulturellen Bewegungen um die Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg manifestiert – und wie sie Freuds Theorie selber bestimmte: Er war ein Bürger dieser Zeit; er deutete seine Zeit als Bürger. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 891

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hermann Glaser

Sigmund Freuds Zwanzigstes Jahrhundert

Seelenbilder einer Epoche Materialien und Analysen

FISCHER E-Books

Inhalt

EinleitungPsychoanalyse und politische Psychologie Sigmund Freud und seine ZeitZur Methode: Assoziative Hermeneutik oder Warum die Welt so läuft, wie sie läuftZum Problem: Psychoanalyse, politische Psychologie, psychoanalytische Soziologie oder Begründung für die Übertragung Freudscher Kategorien auf die GesellschaftskritikZur Person: Ein Heldenleben oder Leben und Denken eines jüdischen RevolutionärsDie ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne NervositätPubertät Die Welt im Zwielicht [Teil 1]Die Amerikanisierung des LebensNervöse CharaktereDas Geld und die TranszendenzNeurasthenie als Folge unbewältigter TriebkonflikteDie sexuelle Obsession der ZeitBürgerliche Fluchtbewegungen Das WohnzimmerHeimatkunstDie Salonmalerei · FidusJugend in WienProgenitive Moral und GründerzeitelanVentilsitten · Psychologie des SeitensprungsPubertät Die Welt im Zwielicht [Teil 2]Bürgerträume um die JahrhundertwendeZote und PornographieProstitutionBoheme und DandyismusEinsame MenschenDie Sexualnot der JugendDas Kind als »Delegierter« der ElternDer JugendstilDie JugendbewegungDie Geburt der Stärke aus dem Geiste der SchwächeFreuds BiedermeierglückEcce homo · Der Tod des NeurasthenikersZeitgemäßes über Krieg und TodWaffengang Die vorletzten Tage der MenschheitDas Ende aller SicherheitTodesferne – Die Krankheit zum TodeWahnwitz als LebensmusikRegressiver TriumphDie »Ideen von 1914«Die dreifache Enttäuschung des Sigmund FreudDas tiefe Verlangen nach dem FurchtbarenAusblutungsstrategieAktion VatermordBrief an den Vater · Keine AntwortVon der vaterlosen Gesellschaft zur BrudergesellschaftMassenpsychologie und Ich-AnalyseAm Scheideweg · Das Individuum und seine GefährdungDas Ringen um Lebensordnung im Zeitalter der MassenDie Weimarer Republik: Rekonstruktion von Individualismus angesichts sich formierender MassenDer methodische Bruch in Freuds MassenpsychologieEs ist der einzelne, der die Zukunft trägtDie Großartigkeit von Gebärde und PoseDie Zwanziger Jahre als kulturelles KaleidoskopSturz und SchreiWozzeck und SteppenwolfDer Untergang des AbendlandesAufruf und Empörung ArbeiterseeleDie Mystifikation des ArbeitersTopoi antidemokratischen DenkensLiebe den MenschenDer böse häßliche MenschMasse als RegressionEthische MassenIdentifizierung, Herdentrieb, UrhordeWendepunktDas Unbehagen in der KulturEuphorie · Der Normaltag geht zu EndeKleiner Mann – was nun?Die Welt der AngestelltenRamponiert, aber zurechtgebogenDie Zukunft einer IllusionDie verordneten TräumeDie kleinen Ladenmädchen gehen ins KinoDer milde, berauschende Empfindungscharakter der SchönheitHerz auf Taille · | Im ElfenbeinturmDer Geist als Widersacher der SeeleDer Rationalist der IrrationalistenHomo homini lupusVon Spießern, Kleinbürgern und KleinstädternAppell an die VernunftDas zerbrochene HausWarum Krieg?Agonie · Spätes Ende und gleiches LeidExodosDiktatur der Vernunft? Mythologie und Antinomie der RatioAggressivität und FriedenserziehungEin Jahrhundert der AngstDie neue Ethik des StandhaltensAnmerkungenNamenregister

Einleitung

Psychoanalyse und politische Psychologie Sigmund Freud und seine Zeit

Dieses Buch erzählt von einem großen Mann und einer armen Zeit; von einem armen Mann in einer Zeit, die in vielem groß war, der aber dann, als sie sich selbst groß wähnte, alles in Scherben zerfiel; es erzählt, wie diese Zeit sich als die Zeit des großen Mannes erwies, und der Mann als Mann der armen Zeit.

Sigmund Freud war ein großer Mann. Er prägte dieses Jahrhundert, indem er es analysierte. Auf der Couch der Psychoanalyse wurde nicht nur die Seele des einzelnen entschleiert und der Blick in die Tiefen des individuellen Unterbewußtseins getan; die soziologischen Abhandlungen Freuds, um die es in diesem Buche vornehmlich geht, eröffnen die Seelenlandschaft dieses Jahrhunderts, von der ihr Deuter freilich meinte, sie sei Ausdruck kollektiver Seelenstruktur schlechthin. Was Freud erforschte, war ihm in vielem eingegeben. Sein Bewußtsein durchdrang das geschichtliche Sein; dieses Sein bestimmte aber auch sein Bewußtsein. Er war ein Bürger dieser Zeit; er deutete seine Zeit als Bürger.[1]

Von der Seele einer Epoche zu sprechen – im Widerspruch zu mancher sozialpsychologischen Erkenntnis unserer Tage – ist der Mentalität der zu beschreibenden Epoche in besonderem Maße adäquat. Sie glaubte so sehr an kulturelle Psychogenesen, daß dieser Glaube als Teil ihrer kulturellen Wirklichkeit verstanden werden kann. – »Novalis sagte: ›Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.‹ Freud sagte: Jede Gesellschaft ist ein umfangreicher Mensch. Er hat daraus nie ein wissenschaftliches Dogma gemacht, wie man ihm vorwarf. Er hat nur zugesehen, ob diese Sicht nicht einiges Neue ins Gesichtsfeld bringt.« (Ludwig Marcuse)[2]

Daß jede Gesellschaft ein »umfangreicher Mensch« sei, führt zu wichtigen sozialpsychologischen Einsichten, kann aber auch Ausgangspunkt für einen unter Umständen gefährlichen politischen Anthropomorphismus sein; die gesellschaftlichen Bedingtheiten der »Seelenbilder« bedürfen deshalb eines besonderen Augenmerks.

Indem referiert wird, was Freud mit seinen gesellschaftsanalytischen Schriften einfühlend und erklärend zutage förderte, indem diese Traktate selbst interpretiert und kritisch betrachtet sowie assoziativ dazu Manifestationen der Zeit (exemplarische Zeugnisse, deren Legitimation vor allem in ihrer Wirkung und Wirkungsgeschichte begründet liegt) herangezogen werden, entsteht ein in sich verschränkter, sich überlagernder, ergänzender, aber auch relativierender hermeneutischer Gesamtzusammenhang. Anregungen zum Nachdenken über das Bewußtsein und Unterbewußtsein dieses Jahrhunderts sollen vermittelt, Überlegungen zu einer zukunftsorientierten Therapie vorgelegt werden. Die Seelenbilder dieser Epoche dürften für die gesellschaftliche Entwicklung des Einzelwesens wie der Gesamtheit (für die soziale Ontogenese wie Phylogenese) von erhellender Bedeutung sein; versäumte Möglichkeiten von »Befreiung« sind durch »Trauerarbeit« zu wieder-holen, nachzuholen; der Blick für das Wahrhaben von Emanzipation ist auf diese Weise zu schärfen.

Die im Denkansatz derart skizzierte Methode mag von manchem als eigenwillig, eigenartig, ja fragwürdig (ich hoffe: frag-würdig) empfunden werden; sie näher zu begründen, ist Aufgabe dieser Einleitung, die sich darüber hinaus mit dem Problem »psychoanalytischer Soziologie« und (in Überleitung zu den Hauptkapiteln) mit der Person Freuds in ihrem zeitgeschichtlichen »Stellenwert« beschäftigt. Wen die Ergebnisse der Methode mehr interessieren als ihre Fundierung, kann ohne Bedenken diese Einleitung übergehen.

Die dieser Einleitung folgenden Hauptkapitel – sozialpsychologisches Kaleidoskop insgesamt – sind in ihrer Plausibilität »direkter« zugänglich, wobei das zeitgenössische Quellenmaterial in ausführlich zitierten Kernstellen vorgestellt wird. Jedem Kapitel ist eine Zusammenfassung des Gedankengangs vorgeschoben, in der die Überschriften der Unterkapitel, die »Leitlinien« markierend, meist wörtlich erwähnt werden. Der Anmerkungsteil ist nicht als eine systematische Literaturübersicht zum Themenkreis zu verstehen; er führt neben den Quellenangaben lediglich Werke auf, denen sich der Verfasser bei seiner Arbeit besonders verpflichtet fühlt.

Obwohl Freud mit seinen Theorien oft genug auf einem verabsolutierenden und verabsolutierten Standpunkt beharrte, ist seine Psychoanalyse, auf gesellschaftspolitische und sozialpsychologische Tatbestände und Vorgänge übertragen, ein hervorragendes Instrument, Verunsicherung zu bewirken und damit »Falsifikation« (im Sinne von Karl Popper) zu betreiben. Damit der Mensch aus seinen Fehlern lernt, genügt es eben nicht, daß er über sie stolpert; damit Erfahrung Lernprozesse zu initiieren und Dogmatik abzubauen vermag, bedarf es einer kritischen Einstellung, die mit Hilfe »versuchsweiser Theorien« verhindert, daß wir mit unseren »Fehlern« untergehen, die diese vielmehr in Form abstrahierter Aufbereitung (eben als Theorie) korrigierbar macht. Die Psychoanalyse kann helfen, daß uns bewußt wird, was uns – als Zoon politikon – unbewußt zum Straucheln bringt.

Freuds vorwiegend individualpsychologisch gemeinten Erkenntnisse sind sozialpsychologisch gleichermaßen, ja wohl noch mehr relevant: als systematische Methode der Introspektion, die den Versuch unternimmt, Motivationen, Begründungen zu erfahren; und zwar auf einer anderen Ebene als nur der bewußt rationalen. Freuds Bemühen war es, »Handlungs- und Erinnerungszusammenhänge zu rekonstruieren, Triebschicksale zu verfolgen, Phantasien in ihrer Herkunft zu begreifen, nicht zuletzt seelische Fixierungen, die die Entwicklung der Persönlichkeit blockieren, abzubauen« (Alexander Mitscherlich)[3] – dergestalt mit kreativer Einfühlungsphantasie dem »unvorstellbaren Substrat Seele« (in unserem Zusammenhang der Kollektivseele) sich nähernd.

Das Unterfangen dieses Buches zielt auf eine »Zeitbiographie« Freuds, wobei »Biographie« im Sinne Hans-Ulrich Wehlers vorwiegend in einem das Persönliche transzendierenden Sinne verstanden sei – ausgerichtet auf den die Persönlichkeit »durchscheinenden« »Zeitgeist«. »Die historische Forschung sollte auf die gesellschaftlichen, überindividuellen Motive und Einflüsse, nicht jedoch auf die sogenannten individuellen Motive abzielen. Deshalb besitzt die analytische Sozialpsychologie für den Historiker ungleich größere Bedeutung als die Individualanalyse.«[4]

Freilich steht im »Hintergrund« dieser Freud-Zeit-Biographie bzw. dieses Freud-Zeit-Psychogramms immer auch die Person dieses Mannes, der mit seiner Existenz die Zeit in sich aufnahm und sich ihr zugleich entzog, sie personifizierte und sich von ihr distanzierte – in der Konvergenz von Anpassung und Revolte den Stein wälzte und dabei, auf seine Art, die nicht die Art seines Jahrhunderts war, glücklich schien; so wie Sisyphos in der Stunde der Wahrheit, da er sein Schicksal durchschaut, glücklich ist. – »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden ›himmlischen Mächte‹, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?«, heißt es am Ende von Freuds Schrift »Das Unbehagen in der Kultur«.[5]

Auf dem Weg zum Jahr 2000 begleitet diese Wahrheit die Menschheit enger denn je. Der Widerstreit zwischen Eros und Thanatos ist nach wie vor unentschieden. Als Freud starb, waren Auschwitz, Dresden, Hiroshima noch nicht geschehen. Doch es hätte ihn nicht verwundert, daß sie geschehen konnten.

Zur Methode: Assoziative Hermeneutik oder Warum die Welt so läuft, wie sie läuft

Das zeitbiographische Interesse an Freud lenkt die Aufmerksamkeit auf jene einzigartige »Kombination von Eigenschaften und Begabungen«, die ihn zu seiner rigorosen Selbstexploration und zu seinen Entdeckungen disponiert hat; »auf die Intensität, Präzision und Geduld der Beobachtung bei gleichzeitigem Sichversagen jeder affektiven Parteinahme, die aggressive Neugier angesichts ›unheimlicher‹ und, nach dem Zeitgeschmack, ›anstößiger‹ Phänomene, die Detailwut, die noch die trivialsten psychischen Äußerungen für würdig befand, untersucht zu werden, die Konsequenz, Themen über lange Zeiträume festzuhalten und das zunächst wilde empirische Material theoretisch zu durchdringen.« (Ilse Grubrich-Simitis)[6]

Diese Fähigkeiten hat Freud vor allem auch in seinen soziologischen Abhandlungen entwickelt, die erhellen helfen, warum Menschen, wie Karl Marx in der »Deutschen Ideologie« schreibt, zwar Geschichte machen, aber nicht wissen, daß und wie sie sie machen. Aufklärung über »Motivation« – Hebung ins Bewußtsein, was vom Unterbewußtsein her einwirkt (»Wo ES war, soll ICH werden!«[7]) – fördert die Hoffnung, daß die Menschen, wenn sie eines Tages wissen, wie sie ihre Geschichte machen, sie diese anders und besser machen.[8]

Solches Unterfangen läßt sich auch mit einem anderen Marx-Zitat anschaulich umreißen: man müsse die »versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt«. Dies hat Sigmund Freud getan. Die »eigene Melodie« seiner Zeit war eine verborgene Melodie; indem er ihre Partitur entdeckte bzw. entschlüsselte, sie zum Tönen brachte, hat er die erstarrte Gesellschaft zum Tanzen gebracht: sie durch Enttabuierung, Entideologisierung, Entmythologisierung zumindest »aufgelockert«. Vor allem aber hat er erkannt, daß nicht »Geschichte« als solche Aufgaben stellt und löst; (sie hat keine Vernunft »an sich«, ist weder »Geist« noch »Macht«); daß nicht »Geschichte« als Abstraktion, als einheitliche substantielle »Wesenheit« am Werke ist, sondern stets wirkliche Menschen handeln, Hindernisse erstellen oder überwinden, individuelles oder allgemeines Leid schaffen oder verringern.[9]

Nicht ein hoch über den Köpfen der Menschen schwebendes objektives Bewußtsein interessiert eine materialistische Deutung (von einem solchen Desinteresse aus gesehen war Freud durchaus »Materialist«), sondern das Bewußtsein in den Köpfen wirklicher Menschen – wie es da hineingelangt und wodurch es bedingt ist. Damit die Deformationen des subjektiven Geistes, z.B. durch bürgerliche Scheinmoral, nicht auf Dauer und »unwandelbar« vergesellschaftet werden, ist es notwendig, durch Aufklärungsstrategien, zu denen die Psychoanalyse der Gesellschaft vorrangig gehört, die Versteinerung der Verhältnisse zu verhindern. Die Entwicklung des Individuums zum gesellschaftsfähigen Bürger wie die soziale Phylogenese, die Entwicklung der Gesellschaft zu einem höheren Stadium von Aufgeklärtheit, bedarf »helfender« wissenschaftstheoretischer Verfahren. Diese müssen die Beziehungen zwischen individuellem und gesellschaftlichem Bewußtsein aufzeigen und dabei die Menschennatur mit ihrer gesellschaftlichen Ausprägung sowie ihre gesellschaftliche Ausprägung mit den utopisch-heuristischen Vorstellungen von Menschennatur (aber auch mit dem »überwundenen« Vorstellungen, auf die man stets zurückfallen kann) vergleichen. Dies macht die Dynamik der Psychoanalyse wie der psychoanalytischen Gesellschaftsdeutung aus.

So wie die Psychoanalyse des einzelnen muß auch die Analyse der kollektiven Psyche als Prozeß sich vollziehen. »Der psychoanalytische Prozeß ist durch einen besonders intensiven Austausch von Wahrnehmungen der äußeren und Wahrnehmungen der inneren Realität eines Menschen [wie der Gesellschaft] gekennzeichnet. Wahrnehmungskorrektur sowie Wahrnehmungserweiterung – nach innen wie nach außen – sind technische Grundleistungen der Analyse.« Um die kritische Wahrnehmung der unbewußten Anteile unserer individuellen wie kollektiven Psyche dergestalt zu ermöglichen, bietet die Freudsche Analyse die Möglichkeit, die Abwehr gegen konfliktschaffende unbewußte Inhalte zu schwächen und sie damit durchlässiger zu machen. »Das Bewußtsein kann uns offenbar über die in ihm auftauchenden Inhalte nicht das aussagen, was wir gerade erfahren möchten. Es ist korrekt zu sagen, daß die Nutzung der absichtslosen, der ›freien‹ Einfälle, die Durchlöcherung der sonst geschlossenen Abwehrtaktik des Ich gegenüber unbewußten Inhalten ermöglicht hat.« (Alexander Mitscherlich)[10]

Eine derart für die Fülle der Phänomene der Wirklichkeit, im besonderen für die Manifestation des subjektiven Geistes sich öffnende wie offene politische Psychologie gleicht dem, was Freud im Kontext seiner Theorie »Metapsychologie« nannte. Eine Darstellung, so schlug er vor, solle »metapsychologisch« heißen, wenn es gelingt, einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen zu beschreiben.[11]

In diesem Sinne bedient sich die Betrachtungs- bzw. Darstellungsweise dieses Buches der »freien« Assoziationsmethode der Psychoanalyse, betreibt sie sozusagen »assoziative Hermeneutik«. Sie versucht, das menschliche Selbstsein und das »Zeitsein« dieses Jahrhunderts dadurch zu deuten, daß sie wechselseitig die »Zufälle« der Zeit (ihre geistigen und kulturellen Manifestationen) und die »Einfälle« der Freudschen gesellschaftskritischen Traktate zur gegenseitigen Evokation bringt; die Ergebnisse dann »vereint«, verknüpft, zu »Netzen« des Verständnisses verknotet, also assoziiert.

Das Herbeiströmen der Assoziationen ist allerdings nicht wirklich »frei«; (bei der Individualpsychologie ja auch nicht, dort determiniert durch die »Logik« des unbewußten Geschehens). Zufälle sind Zu-Fälle, »Fälle«, die aus der geschichtlichen Konstellation zufallen. Und gleichermaßen sind die »Einfälle« dieses großen Denkers »notwendige« Einfälle, weil sie, und dies macht dieses Jahrhundert zu Sigmund Freuds Jahrhundert, aus der Konvergenz von Person und Zeit (aus der »Summe« der Identifikationen wie Distanzierungen, Erfahrungen wie Aussparungen, »Erträgen« wie Defizits«) sich ergeben – aus der inneren Gleichgestimmtheit von Zeit und Personalität, aus der dem Genie eigentümlichen Unio mystica von Sein und Bewußtsein, Bewußtsein und Zeit, welche die Betrachtung von Freuds Leben und Werk zum faszinierenden Abenteuer macht. Fahrt in die Gründe und Abgründe unserer kollektiven Existenz; zugleich Ausblick auf Gegenwart und Zukunft und auf bessere Möglichkeiten ihrer Bewältigung.[12]

Die »assoziative Hermeneutik« wird in diesem Buch konkret so praktiziert, daß in den Gedankengang der Freudschen Traktate die Phänomene der Zeit, in der jene entstanden, also in die »Einfälle« die »Zufälle« (und umgekehrt), »verwoben« werden. Ein derartiges Assoziationsmuster läßt als Textur einen Sinn- bzw. Begründungszusammenhang durchscheinen, der Geschichte (die Geschichte dieses Jahrhunderts) als metapsychologischen Vorgang besser verständlich macht. Die »Erinnerung« bedient sich dabei des kulturellen »Steinbruchs« der Epoche: Dokumente vielfältiger Art, Dichtungen, Kunstwerke, philosophische und politische Schriften, geistige und literarische Stömungen und sonstige Artikulationen des objektiven wie subjektiven Geistes werden »ausgegraben«, herbeigetragen und miteinander sowie mit den Freudschen Gedanken in Beziehung gesetzt. Gerade die geistesgeschichtlichen bzw. kulturellen Zeugnisse geben, weil in ihnen die Wirklichkeit der Zeit konzentriert wie komprimiert, vor allem aber sublimiert in Erscheinung tritt, besondere Aufschlüsse über das, was Zeitgeist bzw. Zeitseele genannt werden mag. – Von der Geschichte des modernen Frankreichs, meinte Karl Marx, habe er aus den Romanen Balzacs mehr erfahren, als aus allen Geschichtsbüchern seiner Zeit.[13]

Diese Freud-Zeit-Biographie will insgesamt, in Form eines sozialpsychologischen Beitrags, ein Teil von dem sein, was Alexander Mitscherlich als den eigentlichen Kern der Psychoanalyse herausstellt: »Kampf um Erinnerung«.[14]

Und zwar Erinnerung:

an die kulturpubertäre Phase der Jahrhundertwende, mit ihren Endzeit- und Übergangsproblemen, ihrer Sensibilität und ihren Neurosen, ihren Hoffnungen und Wahnvorstellungen;

an den Ersten Weltkrieg, von dem eine irregeleitete Gesellschaft Befreiung erhoffte, und darüber die vorletzten Tage der Menschheit heraufbeschwor;

an die Zeit zwischen den beiden Kriegen: Scheideweg, der dem Ich keinen Weg zur Lösung und Erlösung mehr eröffnete, sondern das Ich auf Regression verwies und so zum Es hinabbeförderte;

an den Normaltag vor dem Aufstand der niederen Dämonen; wie dieser Normaltag zuende ging; wie das Unbehagen in der Kultur und der ihm inhärente triebdynamische Stau mit dem Barbarei Nationalsozialismus in die schrecklichste Barbarei umschlug.

Und am Ende wieder Krieg. Agonie. Gleiches Leid. Ist das Lehrstück der Vernunft, das Sigmund Freud mit seinem Werk entwarf (in dem Kern- und Grund-Satz gipfelnd, daß es keine Instanz über der Vernunft gäbe, jedoch auch umdüstert von der persönlichen Einsicht, daß er mit seinen Erkenntnissen keinen Trost zu bringen vermochte), umsonst geblieben? Blickt man vom heutigen Standort unseres Bewußtseins auf die vorfreudianische Zeit zurück, so scheint es jedoch, daß sein Werk, indem es die Seele dieses Jahrhunderts »vernünftig« deutete, in sich selbst Trost ist. »Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf, aber er bedeutet an sich nicht wenig. An ihn kann man noch andere Hoffnungen anknüpfen. Der Primat des Intellekts liegt gewiß in weiter, weiter, aber wahrscheinlich doch nicht in unendlicher Ferne.«[15]

Sigmund Freud schrieb diese Sätze gegen Ende seiner Untersuchung »Die Zukunft einer Illusion« 1927. Die sozialpathologische Bilanz dieses Zeitalters, das in seinem letzten Drittel weiterhin auf Terror und Folter, Krieg und Zerstörung sich »zurückgeworfen« sieht, ermuntert zu einem solchen Optimismus zwar nicht; vielleicht aber hat, da durch Sigmund Freud die Menschen in die Lage versetzt wurden, ihre Erfahrungen und Schicksale besser verstehen zu können, die Hoffnung auf die »Erziehung des Menschengeschlechts« eine größere Chance denn je zuvor.

Zum Problem: Psychoanalyse, politische Psychologie, psychoanalytische Soziologie oder Begründung für die Übertragung Freudscher Kategorien auf die Gesellschaftskritik

Dieses Buch will und kann sich auf die wissenschaftliche Diskussion um die Psychoanalyse im engeren Sinne, als individualpsychologische Methode der Diagnose und Therapie, nicht einlassen; es nimmt sie freilich zur Kenntnis.[16] Es konzentriert sich aus den beschriebenen Gründen auf die sozialpsychologischen Schriften Freuds.

In einem Brief an seine Verlobte schreibt Sigmund Freud 1882: »Die Gegenwart kann man nicht genießen, ohne sie zu verstehen, und nicht verstehen, ohne die Vergangenheit zu kennen.«[17] Ein solcher Satz kann das Motto jeglicher politischen Psychologie abgeben: Identität soll durch Ein-sicht in (Seelen-)Geschichte ermöglicht bzw., wenn diese zerstört oder gefährdet ist, wieder hergestellt werden. Freuds Feststellung, auf die individualpsychische Situation bezogen, wirft bei sozialpsychologischer Anwendung freilich das Problem des »Transfer« auf – inwieweit die Psychoanalyse des Individuums für die Psychoanalyse der Gesellschaft, die Deutung der Lebensläufe von Personen sowie ihrer Psychogramme für die Deutung der Psychostrukturen von Völkern, Kollektiven, Gesellschaften und Zeiten fruchtbar gemacht werden kann. Kernfrage der Methodenreflexion politischer Psychologie ist es somit, auf welche Weise und inwieweit der »Kampf um die Erinnerung« (als groß angelegter und großartiger Versuch, das versunkene oder verdrängte Erlebnis des einzelnen wieder ans Tageslicht aufklärenden Bewußtseins zu bringen) auch transponiert werden kann auf Vorgänge kollektiven Bewußtseins. Solche Übertragung ist um so wichtiger, als kollektives Bewußtsein in einem besonderen Maße die »Fähigkeit« des Vergessens besitzt und somit auch der psychoanalytischen Therapie im besonderen bedarf. Die »Selbstreflexion als die Verinnerlichung eines therapeutischen Diskurses« (Jürgen Habermas)[18], die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, seinen Beschädigungen und Hoffnungen, das Bemühen um Identität, wie sie durch den Ausfall von Erinnerung erschüttert und durch die Hereinnahme und Aufarbeitung von Erinnerung gefestigt wird – all dies ist, gesellschaftspolitisch gesehen, Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung; ein Ringen um Wahrheit, wie sie sich eben nicht aus dem Hinnehmen der Materialität von Geschichte, sondern aus der Bewußtmachung sozialpsychischer Genealogien ergibt. Der Heilungswunsch einer Gesellschaft bzw. kollektiver Gruppen ist allerdings meist schwach ausgeprägt oder verdrängt oder unterdrückt; der Widerstand der durch »Wahrheit« in ihrer Herrschaft gefährdeten Klasse(n) stark entwickelt. »Der revolutionäre Kampf ist keineswegs eine psychoanalytische Behandlung im großen Maßstab. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen emanzipatorischer Praxis ergibt sich schon daraus, daß dem Patienten geholfen wird, sich von dem ihm angetanen Zwang zu befreien, während der herrschenden Klasse der Versuch, sich vom gesellschaftlichen Zwangszusammenhang zu lösen, allein als eine Bedrohung der Herrschaft erscheinen muß, die sie über die anderen Klassen ausübt. Die Entgegensetzung stellt sich hier weitaus schärfer als im Fall der Psychoanalyse dar. Die unterdrückte Klasse zweifelt nicht nur die Gesprächsfähigkeit der herrschenden Klasse an, sondern hat auch gute Gründe für die Annahme, daß jeder ihrer Versuche, mit der herrschenden Klasse in einen Dialog einzutreten, dieser bloß als Gelegenheit dient, ihre Herrschaft abzusichern.« (H.J. Giegel)[19]

Doch so wie in der Individualanalyse, ist auch bei psychoanalytischer Soziologie die Intensität des im Leiden oder aus dem Leiden erwachsenden Heilungswunsches (dann der Gesellschaft) maßgebend für das Gelingen der Selbstreflexion als therapeutischem Diskurs. Emanzipation bedeutet dabei Loslösung vom Verhaftetsein, in welcher Form es sich auch ausprägt; Durchbruch zu einer »offenen« Humanität. Zugespitzt stellt Josef Rattner, in Absage an die – seiner Meinung nach – elitäre, in ihrem Entstehungsgrund bourgeoise Psychoanalyse fest: »Nur als Sozial- und Kulturkritik ist die Psychoanalyse auch in Zukunft noch entwicklungsfähig.«[20]

Die Psychoananlyse Freuds hat sich auf drei Ebenen entwickelt: als diagnostisches Verfahren, als therapeutische Methode, als theoretische Disziplin. Alle drei Ebenen eignen sich für soziologische wie sozialpsychologische Übertragung, wobei es eben – der Begriff der »assoziativen Hermeneutik« weist darauf hin – darum geht, die »Einfälle« Freuds und die Zu-fälle der Zeit so zu deuten, daß der verborgene Sinn (der Zeit) »erraten« werden kann. Psychoanalyse als Tiefenpsychologie bedeutet dementsprechend psychoanalytische Tiefensoziologie; sie ist der Versuch, zwar keine »Einheitlichkeit der Welterklärung« zu liefern, wohl aber eine gewisse Einheitlichkeit der jeweiligen Zeitseele zu postulieren (und in der Analyse zu verifizieren). Die bruchlose Rekonstruktion von Gesellschaft aus der Immanenz des Psychischen ist nicht beabsichtigt; die Bedingtheiten von Gesellschaft, etwa durch Arbeit, Organisation und Herrschaft, dürfen nicht gering geachtet werden; wohl aber ist es sinnvoll, die Einwirkungen des »Über-« oder »Unter«-Baus des Seelischen auf die Entfaltung des Zeitgeschehens stärker als bislang in den Mittelpunkt der Beobachtung wie Beachtung zu rücken. »Die psychoanalytische Theorie hat von Anbeginn versucht, die Wechselwirkung von Psychischem und Gesellschaftlichem, wenngleich unter dem Primat der Psychologie, zu bestimmen. Auf den verschiedenen Stufen ihrer methodologischen, theoretischen und schließlich metatheoretischen Konsolidierung hat sie diesen Problemzusammenhang thematisiert, neu formuliert, neuen Versuchen der Bestimmung unterworfen. Grundthema ist immer, wie Gesellschaftliches im Verhältnis zu psychischen Faktoren gefaßt werden kann, ob Gesellschaftliches selbst nichts anderes ist als eine spezifische Konstellation psychischer Faktoren.« (Bruno W. Reimann)[21]

Die Psychoanalyse, die die seelischen Krankheiten des Individuums als Folge von Verdrängungen deutet, verweist damit bereits auf sozialpathologische Tatbestände: nämlich auf die Unfähigkeit von Gesellschaft (Gruppen oder Klassen), das aus kollektiver Existenz Verdrängte wieder ins Bewußtsein zurückzuholen und in rationaler »Verarbeitung« zu bewältigen. – Indem die Psychoanalyse innere Zwänge aufzulösen versucht, ist sie eine Psychologie der Freiheit, die am Individuum die geistig-seelischen Voraussetzungen für Emanzipation schlechthin demonstriert. »Die Psychoanalyse nimmt am Individuum eine Demaskierung seines Bewußtseins vor, einen Abbau auf seine triebhafte Existenzbasis, die, an ihrer richtigen Auswirkung durch die Vorurteile der Gesellschaft verhindert, teils auf dem Wege der Neurose, teils auf dem der geistigen Umsetzung und Sublimierung, jedenfalls aber auf eine dem Individuum undurchsichtige Weise zur Herrschaft kommt. In der Wieder-holung des einmal Verdrängten besteht die Kunst des Arztes. Denn das Eigentliche verbirgt sich in Symbolen. Das Bewußtsein redet eine indirekte, eine ideologische Sprache. Arzt und Patient müssen zugleich deuten und realisieren können.« (Helmuth Plessner)[22] Dadurch kann auch die Gesellschaft lernen, die Brüchigkeit ihrer Oberflächenrationalität, im besonderen das Wesen von Herrschaft als rationalisierte Triebdynamik, zu durchschauen. Überbau ist eben nicht nur das Produkt sozioökonomischer Bedingtheiten, sondern auch Produkt von seelischen Tiefenvorgängen, die sich als Ideologie präsentieren.[23] Ideologiekritik bedarf entsprechend nicht nur der Analyse des ökonomischen Unterbaus, sondern auch der Analyse der »Tiefenschicht« des Zeitgeistes bzw. der Zeitseele und ihres vor- und unterbewußten Wurzelgrundes.

Die Psychoanalyse hat der politischen Psychologie Kategorien geliefert, mit deren Hilfe das kollektive Verhalten in seinen Strukturen wie Mechanismen transparenter und damit verständlicher gemacht werden kann:

sie hat die gewaltige Kraft des Es erkannt und aus dem Wissen ob solcher Gewalt die Forderung, daß wo Es war, Ich werden solle, erhoben;

sie hat im Geflecht menschlicher Motivationen die Ich-Triebe, vor allem den Sexualtrieb und den ihm entgegengesetzten Todestrieb, als dominierende, für Destruktion anfällige oder a priori destruierende Prinzipien entdeckt;

sie hat dem Ich in seinem Bemühen, inmitten einer fremden und feindlichen Umwelt sich im Gleichgewicht zu erhalten, stabilisierende (wenn auch in sich selbst wiederum »gefährliche«) Techniken wie Identifizierung, Projektion, Sublimierung, Reaktionsbildung, Rationalisierung, Isolierung, Regression erschlossen.[24]

In seiner Sehnsucht nach Anlehnung, Sicherung und Unterstützung, in seiner Furcht vor Einsamkeit und Verlorenheit sowie vor den Anforderungen der Freiheit, ist das Ich politischen Zwecken leicht gefügig zu machen, über seine Triebe und über anerzogenes Sozialverhalten leicht zu manipulieren. Politische Psychologie will, durch die Stärkung sinnvoller Ordnungsvorstellungen, ideologische Scheinordnungen zerstören helfen. Sinnvolle Ordnung von Kollektiven muß jedoch konvergieren mit dem Lebenssinn des einzelnen, der in seinen Grundrechten zu akzeptieren ist und der die Möglichkeit für humane Entfaltung zu erhalten hat.

Indem die Psychoanalyse die Tabus offenlegte, die menschliches Verhalten und Handeln bestimmen und meist beeinträchtigen, wurden auch politische Zwänge offenbar, die sich zwar durch Rationalisierung zu legitimieren, in Wirklichkeit jedoch mit Hilfe irrationaler Repression vor kritischer Befragung abzuschirmen suchen. Gerade weil die vernünftigen Strebungen des Menschen nach Freiheit und Glück in unserer Zeit immer stärker werden, wird, in Gegensteuerung dazu, durch einseitige Herrschaftsinteressen der Versuch unternommen, die Tabus und Triebverbote immer mehr auszuweiten. Nicht mehr Individuen, auch nicht mehr identifizierbare individuelle Gruppen sind dann die wirklichen Elemente der Politik, sondern vereinheitlichte bzw. gleichgeschaltete Totalitäten. »Diese technisch-administrative Kollektivierung erscheint als Ausdruck der objektiven Vernunft, das heißt als die Form, in der das Ganze sich reproduziert und erweitert. Alle Freiheiten sind durch sie vorbestimmt und vorgestaltet – unterworfen nicht so sehr der politischen Gewalt, als den rationalen Forderungen des Apparats. Dieser umgreift die öffentliche und die private Existenz der Individuen, der Verfügenden sowohl wie der, über die verfügt wird, umgreift Arbeitszeit und Freizeit, Dienst und Erholung, Natur und Kultur. Damit aber greift der Apparat in das Innere der Person selbst ein, in ihre Triebe und in ihre Intelligenz, und zwar anders, als dies auf früheren Stufen der Entwicklung geschehen ist; nämlich nicht mehr primär als brutal-äußere, personale oder natürliche Gewalt, nicht einmal mehr als das freie Wirken der Konkurrenz, der Wirtschaft, sondern als die vollkommen vergegenständlichte Vernunft, die als technologische doppelt vernünftig und methodisch kontrolliert – und gerechtfertigt ist. Deshalb sind die Massen nicht mehr einfach die Beherrschten, sondern die Beherrschten, die nicht mehr widersprechen, oder deren Widerspruch selbst wieder in die Positivität eingeordnet wird, als kalkulierbares und manipulierbares Korrektiv, das Verbesserungen im Apparat erfordert. Was früher einmal ein politisches Subjekt war, ist Objekt geworden, und die früher unversöhnbaren antagonistischen Interessen scheinen in ein wirkliches Kollektivinteresse übergegangen zu sein.« (Herbert Marcuse)[25]

Politische Psychologie will solches Kollektivinteresse als Schein-Interesse entlarven, den Subjekten die Fähigkeit des Widerspruchs, der Gesellschaft ihre Dialektik zurückgeben – also versuchen, Eindimensionalität aufzusprengen und die in unbefriedigender Arbeit »gefesselte« Triebenergie für eine dem Humanen dienende, das Unbehagen in der Kultur aufhebende libidinöse Kultur freizusetzen.

Mit Fred Weinstein und Gerald M. Platt kann man die Aufgaben einer psychoanalytischen Soziologie bzw. einer soziologisch orientierten politischen Psychologie auf die Forderung bringen, daß sie

historisch zu verfahren und die Phänomene der äußeren Welt in einem »inneren« (psychogenetischen) Problemzusammenhang umfassend zu würdigen habe;

die psychoanalytischen Kategorien in adäquater Form auf die Gesellschaft und deren Analyse übertragen müsse;

die emotionalen individuellen Bedürfnisse in der richtigen Relation zu den sozialen Handlungen und Konstellationen sehen sollte.[26]

E contrario formuliert: die der Psychoanalyse eigene ahistorische Betrachtungsweise und die ihr inhärente Mißachtung wie Abwertung »äußerer« Phänomene, vor allem sozioökonomischen Ursprungs, ist in der politischen Psychologie zu überwinden. Nicht aufrecht zu erhalten ist auch der von Freud betonte unveränderliche Inhalt der menschlichen »Wünsche« gegenüber den offensichtlich wechselnden Gesellschaftsstrukturen und Institutionsformen. Vielmehr werden diese Wünsche vom jeweiligen Unterbau bzw. (nicht-marxistisch formuliert) vom jeweiligen »Zeitstil« mit geprägt. Die Gesetzmäßigkeiten von »Natur« können nicht als gleichbleibende Dominanten des »soziopsychischen Aggregats« herangezogen werden. Die Variabilität gesellschaftlich bestimmter seelischer Verhaltensweisen ist höher einzuschätzen als die biologische Konstante; die soziale Realität, auch außerhalb der Familie, ist von entscheidender Bedeutung. Die Reduktion sozialpsychologischer Vorgänge auf die Vorgänge der Kindheit und der Familie ist zu einseitig; notwendig ist die Ausweitung der Analyse auf andere Gruppen- und Kollektivbeziehungen.

Soziale Prozesse sind nicht nur Widerspiegelung innerer Vorgänge; die inneren Vorgänge sind häufig Internalisierung sozialer Prozesse. Das Funktionieren bzw. die Dysfunktionalität des »Regelkreises«, der individuelles und kollektives Verhalten zusammenschließt, sollte im besonderen ein Thema politischer Psychologie sein.[27]

Solche Entgrenzung der Freudschen Psychoanalyse ist nicht als ihre Überwindung, sondern als ihre »Fortschreibung« zu betrachten; oder – wie Herbert Marcuse meint – lediglich eine Frage der »richtigen« Rezeption: »Die Diskussion der Freudschen Theorie vom Standpunkt der politischen Wissenschaft und Philosophie bedarf der Rechtfertigung – um so mehr, als Freud immer wieder den naturwissenschaftlich-empirischen Charakter seiner Arbeit betont hat. Die Rechtfertigung muß eine zweifache sein: sie muß erstens zeigen, daß die Freudsche Theorie ihrer eigenen Begrifflichkeit nach der politischen Fragestellung offen ist und entgegenkommt – mit anderen Worten: daß ihre anscheinend rein biologische Konzeption im Grund eine gesellschaftlich-historische ist … Sie muß zweitens zeigen, inwiefern einerseits Psychologie heute ein wesentlicher Teil der politischen Wissenschaft ist und andererseits die Freudsche Trieblehre – und nur um sie handelt es sich hier – entscheidende Tendenzen der heutigen Politik auf ihren – verdeckten – Begriff bringt.«[28]

Die damit vorgetragene Behauptung, daß die Freudsche Psychoanalyse ihrer eigenen Begrifflichkeit nach die Fragestellung politischer Psychologie entweder impliziere oder zumindest antizipiere, ihre biologische Konzeption nur eine scheinbare, in Wirklichkeit eine gesellschaftlichhistorische sei, wird freilich in der Diskussion um das Freudsche Denken immer wieder entschieden bestritten.

Im extremsten Angriff wird die Freudsche Psychoanalyse als Phänomen des Bürgertums im Zeitalter imperialer Expansion und industrieller Revolution hingestellt und in Bausch und Bogen als Inventarstück jener Zeiten abgeschrieben. Da ihr Radius auf gesellschaftliche Eliten beschränkt bleibe, könne sie eine wirkliche Sozialanalyse überhaupt nicht leisten.[29]

Freud, der fast ausschließlich Leute der bürgerlichen Wiener Mittelklasse behandelt habe, versuche (wegen seiner einseitigen Verhaftung in der Bourgeoisie vergeblich!) Probleme des Menschlichen wie der Menschheit zu klären – unter völliger Mißachtung der Sozial- und Seelenprobleme der lohnabhängigen Klasse. Freuds Geschichtskonstruktion erweise sich als nichts anderes als eine gigantische Projektion der Weltanschauung und Lebenshaltung des frühen Bürgertums auf die Vor- und Urgeschichte der Menschheit. Freuds Bild des »Urvaters« trage in Wahrheit die Züge eines pater familias, dessen Macht im feudalen Familienverband noch nicht durch die soziale und ökonomische Entwicklung außerhalb des Verbandes angekränkelt sei; die Urhorde habe alle denkbare Ähnlichkeit mit dem äußeren (sozialen) und inneren (psychischen) Aufbauprinzip der feudalen Familie; der »Vatermord« finde nach dem klassischen Ablaufgesetz aller politischen Revolutionen statt, die das Bürgertum an die Macht gebracht haben.

Freuds Kulturtheorie spiegle die neurotisierenden Leiden des protestantischen Geistes auf dem Weg kapitalistischer Akkumulation. Seine Aggressionstheorie bringe das Wolfsgesetz der kapitalistischen Konkurrenz auf einen blinden anthropologischen Begriff. Nicht die Neurose als Abweichung von der unbewältigten Norm sei die eigentliche Krankheit; krank sei die Gesellschaft, die Neurose eine, wenn auch unvollkommene Form gesunder Verweigerung.[30]

Mit Blick auf die amerikanische Szene hat Th. W. Adorno schon 1955 vor der Indienstnahme der Psychoanalyse für eine utilitaristische Lebenspraxis, die sich unter gegebenen Umweltbedingungen häuslich einrichte und mit Hilfe der »Couch« an die jeweiligen gesellschaftlichen Normen anzupassen suche, gewarnt. Sie werfe die Subjekte auf ihr beschränktes Selbst zurück. »Der Kultus der Psychologie, die man der Menschheit aufschwatzt, und der unterdessen aus Freud ein fades Volksnahrungsmittel bereitet hat, ist das Komplement der Entmenschlichung, die Illusion der Ohnmächtigen, ihr Schicksal hinge von ihrer Beschaffenheit ab.«[31]

Solche kritischen Einwände treten immer wieder verdichtet beim Vergleich der marxistischen Analyse mit der Psychoanalyse, als den herausragenden Theoriesystemen unserer Zeit, in Erscheinung. Marx wollte den äußeren, Freud den inneren Menschen befreien. Sind beide Denk- und Handlungsansätze ohne den jeweils anderen möglich? Lassen sie sich verbinden? Sind sie unvereinbar? Ist die Entfremdung bei Marx ohne die Entpersönlichung bei Freud (und vice versa) denkbar? Ist die Zerstörung des Seelischen letztlich Folge sozioökonomischer Konstellation, oder der gesellschaftliche Unterbau letztlich bedingt durch das Überich-Bewußtsein, das seinerseits dem archetypischen »Menschheitsdrama« zugehört und sich lediglich in unterschiedlicher historischer Form ausprägt?[32]

Wenn Freud die »äußeren« Gründe seelischer Prozesse übersah, verkannte oder verdrängte – blieb ihm dann auch die sozialpsychologische Sprengkraft seiner individualpsychologisch entwickelten Kategorien fremd? Fehlt nicht Marx die Vorstellung der Internalisierung ebenso wie jedes andere Bewußtsein für psychische Prozesse? War er nicht blind dafür, daß materialistische Determiniertheit oft nur scheinbar gegeben, in Wirklichkeit Ausdruck seelischer Motorik oder seelenenergetischer Defizits ist?

»Die Frage weitet sich, besonders unter dem Aspekt des Verhältnisses von historischem Materialismus und Psychoanalyse zu einer grundlegenden Kontroverse zweier Disziplinen aus, die sich nicht auf die Ambitionen einzelner Theoretiker reduzieren läßt. Vielmehr geht es um einen grundlegenden Sachverhalt: um den Primat sozioökonomischer oder psychischer Faktoren im Gesamtprozeß von Vergesellschaftung. Es geht um nicht geringeres als die Frage, ob Soziologie als angewandte Psychologie verstanden werden müsse, oder ob umgekehrt die Psychoanalyse als theoretische Disziplin im Rahmen einer umfassenden Theorie der Vergesellschaftung und der Konstitution von Gesellschaft zureichend bestimmt werden kann.« (Bruno W. Reimann)[33]

Die Diskussion über die Vereinbar- bzw. Unvereinbarkeit von Marxismus und Psychoanalyse – unter dem Kürzel »Sexpol«, Sexualökonomie und Politik, geführt – erstreckt sich über Jahrzehnte; sie erreichte in der Sexpol-Bewegung zwischen den beiden Weltkriegen ihren ersten Höhepunkt (mit dem Ziel, die verdinglichte, die konkreten Bedürfnisse der Massen verkennende Praxis der Kommunisten zu korrigieren); und in dem antiautoritären Aufstand der Sechziger Jahre eine weitere Kulmination (hier als Vehikel linker Aufklärung mit praktisch-politischem Ziel verstanden).[34]

Die Geschichte der Sexpol-Bewegung begann mit Erfahrungen an Wiener Sexualberatungsstellen in den Jahren 1926/30. Es entstand daraus die »Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und -forschung in Wien« (1929/30). Ausgerichtet darauf, die »Sexualnot der Werktätigen« unter bürgerlicher Repression zu beseitigen, übte sie starke Kritik an der bürgerlichen Ehe als sexualideologischer Institution; sie forderte die kostenlose Verteilung von Empfängnisverhütungsmitteln an Minderbemittelte, breite Propaganda der besten Geburtenregelungsmethoden, restlose Abschaffung des Abtreibungsparagraphen, umfassende Gewährung von Schwangerschaftsurlaub u.a. Die internationale Sexpol-Bewegung richtete ihren hoffnungsvollen Blick zunächst auf die gesellschaftspolitische Entwicklung in der Sowjet-Union. In der Sexualpolitischen Plattform des »Deutschen Reichsverbandes für proletarische Sexualpolitik« 1931 hieß es z.B.: »Stellt man die innere Unfähigkeit des Kapitalismus, die Sexualfrage zu lösen, den enormen Fortschritten und Reformen der Sowjet-Union gegenüber, so bleibt dem Sexualreformer, er mag politisch stehen wie er will, nichts anderes übrig, als sich auf den Boden der sowjetischen Sexualreform zu stellen. Das kann er nur unterlassen, wenn er entweder Tatsachen nicht sehen will, oder aber, wenn er sich dem Zwang des Kapitals unterwirft und opportunistisch wird.«[35]

In Rußland waren zwar bis 1927 alle wichtigen Arbeiten Sigmund Freuds übersetzt worden, doch wurde, je mehr die Revolution bürokratisch erstarrte, die Psychoanalyse zunehmend aus dem öffentlichen Bewußtsein, teilweise mit starker Polemik gegen Freud, verdrängt. Schon Lenin hatte Freuds Erkenntnisse eine »bürgerliche Grille« genannt, also den revolutionären Charakter der Psychoanalyse nicht erkannt. »Ich bin mißtrauisch gegen diese sexuellen Theorien der Artikel, Abhandlungen, Broschüren usw., kurz, gegen die Theorien jener spezifischen Literatur, die auf den Mistbeeten der bürgerlichen Gesellschaft üppig emporwächst. Ich bin mißtrauisch gegen jene, die stets nur auf die sexuelle Frage starren wie der indische Heilige auf seinen Nabel.«[36] Als die stalinistische Reaktion den bürgerlichen Gesetzen wieder zur Geltung verhalf, im besonderen im Bezug auf Familie, Erziehung, Heirat und Sexualmoral strenge Gebote einführte (was zur spezifischen Ausprägung der bolschewistischen »Roten-Plüsch-Mentalität« führte), war sie veranlaßt, die Beschäftigung mit den Theorien Freuds, die vor allem auch einen Schlüssel zur politischen Bedeutung der Sexualunterdrückung lieferten, zu verbieten.[37]

Im Lager der beiden Sexpol-Bewegungen lassen sich zwei stark voneinander abweichende Standorte feststellen:

die radikalen Antifreudianer;

die um Vermittlung zwischen Marxismus und Psychoanalyse bemühten »Gemäßigten« bzw. die marxistischen Freudianer, die die gesellschaftliche Dimension der Psychoanalyse von vorneherein als gegeben sehen.

Die Antifreudianer bejahen das Diktum von Karl Kraus, daß die Psychoanalyse die Krankheit sei, für deren Heilung sie sich halte – in dem Sinne nämlich, daß die Psychoanalyse einen Mystifikationszusammenhang herstelle, der die bürgerliche Herrschaft und ihr Instrumentarium stabilisiere und die Anpassung an diese Herrschaft fördere. Sie bringe also keine Heilung der Anpassungsneurosen, sondern verstärke sie im Gegenteil.[38] Für den Analytiker sei der Patient unmündig, nur Objekt der Behandlung.[39] Dieses Factum brutum gelte auch im übertragenen sozialpsychologischen Sinne. »Wie die meisten der kleinbürgerlichen Reformisten ist Freud nicht damit zufrieden, die Individuen an die bestehende Ordnung anzupassen, indem er sie so gesund und arbeitsfähig wie möglich macht; er geht sogar so weit, eine soziale Prophylaxe als Heilmittel für die augenblicklichen Schäden anzubieten, für – wie er sich ausdrückt – das ›immense neurotische Elend, das über die Welt verbreitet ist‹. Anders gesagt: Freud vollendet seine reformistische Demarche und schlägt konsequent vor, die Räder zu ölen, die das Individuum zermalmen.« (Jean-Marie Brohm)[40] Eine radikal-linke Psychoanalyse müsse Freud vor sich selbst retten; die bürgerlich überlagerten Erkenntnisse Freuds für die proletarische Revolution wieder-holen. Die »Anpassungsanstalt« für »falsche« gesellschaftliche Forderungen sei in eine Bewegung zu verwandeln, die das emanzipatorische Potential zu erwecken und für das »richtige« Bewußtsein einzusetzen vermöge. Nach einem Besuch des Psychoanalytikers Igor A. Caruso in Brasilien schrieb eine Analysandin in ihrem Protokoll (und das Zitat kann die Sexpolkritik auch in Hinblick auf den europäischen Raum resümieren): »Ich fürchte, daß Caruso Brasilien verlassen wird, ohne bemerkt zu haben, welche mächtigen Kräfte in der brasilianischen Jugend verborgen sind. Er wird zu diesen Kräften keinen Zugang haben, weil er zu einer anderen Generation gehört … und weil er mit seiner Wissenschaft nur jene Leute erreicht, die nicht in der Zukunft und in der sozialen Erneuerung engagiert sind«.[41]

Die »Vermittler« betonen, daß die revolutionäre Methode Freuds eine Überwindung der herrschenden positivistischen und mechanistischmaterialistischen Ideologie bedeute und sein völlig neuer Versuch des Menschenverständnisses auch den Marxismus vor dogmatischer Unterbau-Überbau-Erstarrung zu bewahren vermöge.[42] Auch wenn das Gesellschaftliche weniger psychisch, sondern vielmehr das Psychische mehr gesellschaftlich zu erklären sei, so beachte Marx beim Gattungswesen Mensch dessen Seele zu wenig. Marx versuche nicht, Radikales oder Wesentliches in den psychoaffektiven Tiefen zu erkennen. »Folglich fehlt seinem Menschenbild: die Angst (ein Kardinalbegriff, der das moderne Denken durchzieht von Kierkegaard bis Freud und Heidegger), der Machtwille (immer implizit in der Marxschen Geschichtsinterpretation enthalten, niemals hervorgehoben), die Poesie, der Wahnsinn und das Mysterium.« (Edgar Morin)[43]

Der Marxschen Betrachtungsweise des Menschen gehe entsprechend das Erstaunen über die Natur des Menschen ab – daß er nämlich eine Schimäre sei, nicht nur Produzent. »Der Mensch als Produzent sieht den genießenden, konsumierenden Menschen nur als verwirrten und entfremdeten Satelliten, desgleichen den homo ludens, den imaginativen oder mythologischen Menschen. Die Entfremdung, die Träume und Mythen entstehen läßt, wird als Verarmung begriffen; der Traum ist nichts weiter als Auflösung, niemals Wiederbelebung der Wirklichkeit. Entfremdung ist immer Abdrift, Abtreiben nach der gleichen Seite, niemals Austausch und Beteiligung. Sicherung von Macht und Entwicklung einer Technik erscheinen dem Marxschen Menschen immer als wahrer, authentischer und ›wirklicher‹ als die Ekstase oder Verehrung.«[44]

Der Vorwurf gegen die Psychoanalyse, sie sei keine Gesellschaftstheorie, bedeute eine abstrakte Negation.[45] Werde nämlich das Subjekt – auch in Gestalt seiner ebenso biologisch wie gesellschaftlich vermittelten Zerstörtheit – über seine gesellschaftliche Vermittlung hinaus nicht zugleich auch als eigenständig, sondern nur als eine in dieser gesellschaftlichen Vermittlung aufgehende Größe betrachtet, gehe daraus praktisch eine Form theoretisch sanktionierter Unmenschlichkeit hervor.

»Die Frage nun, was ›vorher‹ da war, die ökonomische Entfremdung oder die anthropologische, ist eine Scheinfrage, denn die Wechselbeziehungen zwischen der endogenen psychischen Organisation des Menschen und seiner Ökonomie (im Unterschied zur bloßen Ökologie der Tiere!) sind wesentliche Kennzeichen seiner Gattung … Statt einen Gegensatz zwischen der historisch-materialistischen und der psychoanalytischen Erkenntnis dogmatisch zu behaupten, sollte man gerade an dieser Überschneidungsfläche die tiefe Verwandtschaft beider anthropologischer Entwürfe suchen. Freilich scheint (und vielleicht eben nur ›scheint‹, mangels befriedigender Massenuntersuchungen) der Konflikt zwischen libidinösen Strebungen und sozialen Forderungen für den neokapitalistischen Bourgeois typischer zu sein als der Konflikt zwischen Hunger und Besitz, der vor allem das Los des Menschen in der unterentwickelten Welt sein könnte. Manche Daten aber sprechen dafür, daß diese Gegensätzlichkeit mehr in aprioristischen Erwartungen existiert als in der Wirklichkeit, weil alle zwischenmenschlichen Beziehungen, also auch die erotischen, an der wirtschaftlich-sozialen Repression schwer verkümmern. Jedenfalls berechtigt uns nichts zu der pauschalen Behauptung, die Bewohner der südamerikanischen Elendsquartiere seien weniger neurotisch als der österreichische Kleinbürger; wahr ist jedoch, daß man, bevor man in die Elendsquartiere psychoanalytische (oder andere) Missionare aussendet, für menschliche Lebensbedingungen sorgen muß. Soziale Umwälzungen und psychoanalytische Therapie können sich tatsächlich in gewissen sozialen Lagen ausschließen, doch sind sie beide Notwendigkeiten unserer Zeit, die durch die Entfremdung der menschlichen Person durch das herrschende System bedingt werden. Die Entfremdung – ob nur ökonomisch bedingt oder darüber hinaus auch anthropologisch – ist ein spezifisch humanes Merkmal, das mit der Unmöglichkeit der harmonischen Triebentwicklung durch Befriedigung des Bedürfnisses und noch mehr des Wunsches des schon bei seiner Geburt abhängigen Menschen einhergeht.« (Igor A. Caruso)[46]

Politische Psychologie, die sich nicht in fruchtlosen Antagonismen festlaufen will, müßte sowohl den dogmatischen Freudianismus als auch den dogmatischen Marxismus transzendieren, sich als »Prozeß« begreifen. In diesem Sinne zielt die »Neo-Psychoanalyse« auf eine Weiterentwicklung der Lehre Freuds, dessen bürgerliche Begrenzungen überwunden und dessen Erkenntnisse – teilweise (je nach »Schüler« oder »Schule«) – mit marxistischem Denken verknüpft werden sollen.[47]

Einer der ersten »Abweichler« von der Bahn der orthodoxen Psychoanalyse war Alfred Adler, der bei seinem Bruch mit Freud 1911 im Rahmen seiner »Individualpsychologie« um einen, wenn auch nur andeutungsweise entwickelten Sozialhumanismus sich bemühte. Vor allem seine Lehre von den Minderwertigkeitsgefühlen, die als Folge unzulänglicher Erziehung in der gegenwärtigen Kultur neurotische Fehlentwicklungen (mit Machtwahn als Kompensationserscheinung) bewirkten, wurde der Schlüssel für viele politische und sozialpsychologische Phänomene – etwa die Störungen des Gemeinschaftsgefühls oder autoritäre bzw. totalitäre Herrschaftsausübung betreffend.[48]

C.G. Jung ist im Zusammenhang politischer Psychologie nur am Rande zu erwähnen, da sein von Freud sich abhebender Denkansatz, im Seelischen einen ganzheitlich, polar geordneten Organismus mit mythischer bzw. archetypischer Bedeutungstiefe zu sehen und damit den Freudschen Sexualismus zu relativieren, bewußt oder unbewußt »unpolitisch« angelegt war. Jung interessierte sich mehr »für den einzelnen Menschen als für Politik im großen ganzen«.[49] Nicht aus der Rationalität, sondern gerade im Gegenteil: aus der »Einkehr zu den inneren irrationalen und schöpferischen Impulsen des Unbewußten« erhoffte er sich Rettung für den Massenmenschen der Zeit. »Im Brennpunkt dieser Wandlung steht ein neues archetypisches Menschenbild, das aus dem kollektiven Unbewußten aufsteigt, ein Symbol, welches das innerste Selbst des einzelnen mit dem der ganzen Menschheit zu vereinen glaubt, ein neues Anthroposbild.«[50]

Für die politische Psychologie ist jedoch von Wichtigkeit, daß Jung mit aller Deutlichkeit herauszustellen sucht, daß die Gesellschaft und der Staat von der geistigen-seelischen Verfassung derjenigen abhingen, aus denen sie sich zusammensetzten. Wenn in der Welt Verwirrung und Unordnung herrschten, dann müsse das, wie er sagt, »einen ähnlichen Zustand im Geist des Individuums widerspiegeln«. Auch wenn das Individuum oft bewußt das Gefühl haben mag, daß es mehr oder weniger bedeutungslos und das Opfer unkontrollierbarer Kräfte sein, so »hat es einen gefährlichen Schatten und Gegenspieler in sich, der als unsichtbarer Helfer in die finsteren Machenschaften der politischen Ungeheuer verwickelt ist«.[51]

Das Individualpsychologische, auf das Freud seine Sozialpsychologie zurückführt, müsse freilich stets im Gattungswesen Mensch, im Archetypischen, verankert bleiben. Es sei nicht beweisbar, daß Leben und Welt rational seien. »Wir haben im Gegenteil begründete Vermutung, daß sie auch irrational sind, mit anderen Worten, daß sie in letzter Linie auch jenseits von menschlicher Vernunft begründet sind … Darum gelten die Ratio und der in ihr begründete Wille nur eine kurze Strecke.« [52] Die primitiven Instinkte des Menschen seien mächtig und drückend (»äußerlich ist man quasi ein Kulturmensch und innerlich ein Primitiver«[53]); sie würden, wenn nicht durch Gesetz und Autorität in Schranken gehalten, das Individuum und die Gesellschaft schnell vernichten; in Jungs Augen sind jedoch Autorität und Gesetz auch innere Bedürfnisse der Psyche, die sich aus den Mustern und Ansprüchen ergeben, die sie ererbt hat.

Wilhelm Reichs Bemühen zielte auf eine neue universale Gesellschaftskritik. »Ich möchte ausdrücklich betonen, daß die Sexualökonomie kein Additionsprodukt aus Marxismus und Psychoanalyse ist.«[54] Die Sexualökonomie als »dialektisch-materialistische Lehre von der Sexualität und ihrem Grundgesetz« (mit einer Orgasmuslehre im Mittelpunkt) habe freilich den Marxismus zum Vater und die Psychoanalyse zur Mutter.

Reich will im Rahmen seiner politischen Psychologie im besonderen die Beziehungen zwischen Charakter und Gesellschaft aufweisen: »Im größeren Zusammenhang der Frage nach der soziologischen Funktion der Charakterbildung müssen wir unser Interesse auf den zwar bekannten, aber in seinen Details noch wenig durchschauten Tatbestand richten, daß bestimmten gesellschaftlichen Ordnungen bestimmte durchschnittliche Strukturen der Menschen zugeordnet sind, oder anders ausgedrückt, daß jede Gesellschaftsordnung sich diejenigen Charaktere schafft, die sie zu ihrem Bestand benötigt. In der Klassengesellschaft ist es die jeweils herrschende Klasse, die mit Hilfe der Erziehung und der Familieninstitution ihre Position sichert, indem sie ihre Ideologien zu den herrschenden Ideologien aller Gesellschaftsmitglieder macht. Es bleibt aber nicht nur bei der Durchsetzung der Ideologien in allen Mitgliedern der Gesellschaft. Es handelt sich nicht um ein Übertünchen mit Einstellungen und Anschauungen, sondern um einen tiefgreifenden Prozeß in jeder heranwachsenden Generation dieser Gesellschaft, um eine der Gesellschaftsordnung entsprechende Abänderung und Bildung psychischer Strukturen, und dies in allen Schichten der Bevölkerung.«[55]

Da die unfreie repressive Gesellschaft die Freiheit des genitalen, d.h. auf sexuelle Entfaltung gerichteten Charakters verhindere, ergebe sich eine Deformation des Menschen, der in der kapitalistischen Kultur nur die Wahl zwischen starker Aggression und Selbsterniedrigung habe. Psychoanalyse böte die Möglichkeit von Ideologiekritik, da sie, kraft ihrer Methode, in der Lage sei, die triebhaften Wurzeln der gesellschaftlichen Tätigkeit der Individuen aufzudecken, und kraft ihrer dialektischen Trieblehre berufen sei, »die psychische Auswirkung der Produktivkräfte im Individuum, das heißt die Bildung der Ideologien im Menschenkopfe im Detail zu klären.«[56]

Die Neo-Psychoanalyse beanstandet am Menschenbild Freuds, daß dieser im Menschen von Natur aus ein bösartiges Wesen sehe; bei ihm sei das Leben ein erbarmungsloser Kampf aller gegen alle; die Frau dem Mann gegenüber minderwertig. Freud stelle fest: Kriege habe es immer gegeben; Triebe müßten unterdrückt, kontrolliert und bezwungen werden; das Wesentliche am Menschen werde mit seiner Anlage (in der Konstitution) bereits vorgegeben, das Leben von dunklen, unbegreifbaren Mächten gelenkt; eine Welt der Freiheit, der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität erweise sich als Illusion; die Geschichte werde von großen Männern gemacht.

Andere Kulturen jedoch – die Neo-Psychoanalyse orientiert sich dabei an ethnischen Studien, etwa von Margaret Mead und Ruth Benedict[57] – zeigten einen ganz anderen Ausgang des ödipalen Konflikts: er werde dort gelöst durch Kommunikation, gerechte Güterverteilung, Zwang ohne Herrschaft (vor allem unter dem Einfluß mütterlicher Herrschaft), Aggression ohne Gewalt.

Der Freudsche Determinismus sei Teil einer kapitalistischen bzw. spätkapitalistischen Gesellschaft, die »versteinerte Verhältnisse« benötige, um Herrschaft (die eigene nämlich) »unangreifbar« zu machen, d.h. durch die Tabuisierung sogenannter »Naturgesetzlichkeit« abzusichern. Die Neo-Psychoanalyse versucht, mit Hilfe der Ethnopsychoanalyse (im nachfolgenden, solche Bestrebungen zusammenfassenden Text handelt es sich um ein Zitat aus einer Fallstudie über die westafrikanischen Kulturen der Dogon und Agni!) sich die Freiheit revolutionären Denkens und Handelns zurückzugewinnen, die »Starrheit« des bourgeoisen kulturpessimistischen Denkens in die Beweglichkeit eines gesellschaftsrevolutionären Optimismus umschlagen zu lassen. »Der Ausgang des Konflikts, der aus dem Zusammenstoß übergeordneter sozialer Interessen mit individuell-egoistischen des Kindes entstanden ist, zeigt natürlich die Züge der Gesellschaft besonders deutlich. Man kann sagen, daß er in unserer Welt den Kampf, zu dem der ödipale Konflikt geworden ist, perpetuiert, die aggressive Forderung nach Unterordnung und Leistung verinnerlicht. Wenn die Autorität des Vaters die gültigen Regeln der Gesellschaft zusammenfaßt, diese die Familienstruktur bestimmen und die vorerst erwünschte Identifikation mit seiner Autorität gelingt, ist ein vom Ich und der Außenwelt getrenntes Überich konstituiert, das dem Ich gegenübersteht …

Gleich wichtig ist in allen drei Kulturen, daß der Umgang mit der menschlichen Umwelt, die dafür wichtigsten Funktionen des Ich und die Funktionsweise des Überich, mit dem Ausgang des ödipalen Konflikts festgelegt sind und später nicht oder nur schwer geändert werden. Nur die Inhalte und Normen des Überich, Ziele und Ideale können später noch modifiziert oder ausgetauscht werden. Der Umstand, daß wir den Dogon wie den Agni ein Gruppen-Ich und ein Clan-Gewissen zuschreiben, mag daran erinnern, daß die fest etablierten Funktionen dieser Strukturen bei ihnen weit deutlicher und in bedeutsamerer Weise von der Kooperation der Sozietät abhängig sind, um ihre Aufgabe zu erfüllen. So verschieden beide Sozietäten auch sind, so unterscheidet sich ihre seelische Ausrüstung für ein bestimmtes soziales Verhalten von der europäischen doch in gleicher Weise: Der Umgang mit dem Besitz von materiellen Werten kann bei beiden nicht mittels aggressiven Festhaltens geübt oder durch eine am egoistischen Besitzen orientierte Moral geregelt werden. Sie sind für eine kapitalistische Gesellschaftsform psychologisch nicht disponiert. Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß gesellschaftliche Prozesse von ihren Trägern ›beeinflußt‹ werden. In Frage steht nur die Wirkungsweise und das Gewicht dieses Einflusses. Die Wirkung erworbener psychischer Funktionen auf die Produktion selber und auf die gesellschaftliche Organisation kann mittels der psychoanalytischen Methode aufgedeckt werden. Ihr Gewicht und Ausmaß wird man leichter erkennen, wenn man verschiedene Gesellschaftsgefüge miteinander vergleicht.

Spätestens nach dem Untergang des ödipalen Konflikts sind Kinder spezifisch sozialisiert. Die Angehörigen einer Klasse oder Sozietät sind kein unbeschriebenes Blatt. Ihre Gesellschaft hat, im Rahmen der materiellen Möglichkeiten und der biologischen Anlage, dauerhafte Strukturen produziert, die wirksame Funktionen ausüben. Bei der Ausbildung dieser Funktionen sind biologische Triebkräfte zur Qualität sozialer Wirksamkeit umgeschlagen. An den Beispielen haben wir zu zeigen versucht, daß nicht nur ›das Sein das Bewußtsein‹ bestimmt. Es gibt Grenzfälle, die man noch als direkte natürliche oder vernünftige Folge primärer Bedürfnisse und Interessen ansprechen kann. Die Komplexität und die vielfältige Determination der beschriebenen psychosozialen Phänomene lassen aber nicht zu, sie als bloße Auswirkungen der Erfahrung, des Lernens oder als Erfindungen zu beschreiben. Unser Ansatz spaltet den Überbau gleichsam in zwei Teile: den einen, den Inhalt bewußter und unbewußter Ziele, Normen und Ideale mögen wir als Überbau der Produktions- und der daraus resultierenden Herrschafts-Verhältnisse gelten lassen. Den anderen, den dynamisch wirksamen, genetisch ableitbaren, sozietätsspezifischen Teil des Überbaus werfen wir in den Strudel der Spirale, erkennen ihm im dialektischen Gang der Entwicklung den Rang eines Agens und Reagens zu. Aus der Quantität und Zeitlichkeit der frühkindlichen Entwicklung wirkt er auf die Qualität und Geschichtlichkeit der Evolution.« (Paul Parin)[58]

Erich Fromm hält Karl Marx für einen tieferen und vielschichtigeren Denker als Sigmund Freud. Marx sei fähig gewesen, »ein geistiges Erbe des Aufklärungshumanismus und des deutschen Idealismus mit der Realität wirtschaftlicher und sozialer Tatsachen zu verbinden und damit die Fundamente für eine neue Wissenschaft vom Menschen und von der Gesellschaft zu legen, die empirisch und gleichzeitig vom Geist der westlichen humanistischen Tradition erfüllt ist.« Doch wäre es naiv, Freuds Bedeutung zu ignorieren, weil er nicht die Höhen eines Marx erreichte. »Er ist der Gründer einer wahrhaft wissenschaftlichen Psychologie und seine Entdeckung unbewußter Prozesse und der dynamischen Natur charakterlicher Züge ist ein einzigartiger Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen, die für alle künftige Zeit das Bild vom Menschen verändert hat.«[59]

So verschieden sie in ihrem »Psychogramm« auch waren – vereint hat sie der unnachgiebige Wille zur Befreiung des Menschen, der unbeugsame Glaube an die Wahrheit als dem Werkzeug solcher Befreiung und die Ansicht, daß die Bedingung für die Befreiung in der Fähigkeit des Menschen läge, die Ketten der Illusion zu zerbrechen. Der gemeinsame Boden, dem das Denken von Marx und Freud entstammte, könne durch drei kurze Sätze ausgedrückt werden (wovon die beiden ersten von Marx als seine Lieblingsmaximen bezeichnet wurden):« 1. De omnibus est dubitandum (An allem ist zu zweifeln). 2. Nihil humanum a mihi alienum puto (Nichts Menschliches ist mir fremd). 3. Und die Wahrheit wird euch frei machen.

Der erste Ausspruch bringt zum Ausdruck, was man ›die kritische Stimmung‹ nennen könnte. Diese Stimmung ist für die moderne Wissenschaft charakteristisch. Aber während der Zweifel in den Naturwissenschaften hauptsächlich auf das Zeugnis der Sinne, des Hörensagens und der überlieferten Meinungen geht, bezieht sich der Zweifel im Denken von Marx und Freud besonders auf die Gedanken, die der Mensch von sich selbst und von anderen hegt … Er glaubte, daß unsere individuellen Gedanken nach den von einer jeweiligen Gesellschaft entwickelten Ideen geformt sind und diese Ideen durch die besondere Struktur und Funktionsweise der Gesellschaft bestimmt werden. Eine wachsame, skeptische, zweiflerische Einstellung zu allen Ideologien, Ideen und Idealen ist für Marx charakteristisch. Er verdächtigt sie immer, daß sie wirtschaftliche und soziale Interessen verschleierten und sein Skeptizismus war so stark, daß er es kaum je fertigbrachte, Worte wie Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit zu benutzen – eben um der Tatsache willen, daß sie so leicht zu mißbrauchen sind, und nicht weil Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit nicht die höchsten Werte für ihn waren.«[60]

Freud habe in derselben »kritischen Stimmung« gedacht. Seine ganze psychoanalytische Methode könne man als die Kunst des Zweifelns beschreiben. Beeindruckt von gewissen hypnotischen Experimenten, die zeigten, in welchem Umfang eine Person im Trancezustand an die Wirklichkeit des offenkundig Unwirklichen glauben könne, entdeckte er, daß die meisten Ideen von Personen, die sich nicht im Zustand der Trance befänden, ebenfalls nicht der Wirklichkeit entsprächen, und daß andererseits der größte Teil des Wirklichen nicht bewußt sei. Marx hielt die gesellschaftlich-wirtschaftliche Struktur einer Gesellschaft für die Grundwirklichkeit, während Freud diese in der Libido-Organisation des Individuums erblickte. Aber beide hätten sie dasselbe unversöhnliche Mißtrauen gegenüber den Klischees, Ideen, Rationalisierungen und Ideologien, die in den Köpfen der Menschen steckten und die Grundlage dessen bildeten, was diese fälschlich für Realität hielten.

»Dieser Skeptizismus gegenüber dem ›gewöhnlichen Denken‹ ist unlösbar mit einem Glauben an die befreiende Kraft der Wahrheit verbunden. Marx wollte den Menschen von den Ketten der Abhängigkeit, der Entfremdung, der Versklavung an die Wirtschaft befreien. Was war seine Methode? Nicht, wie weithin geglaubt wird, Gewalt. Er wollte die Geister der Mehrheit der Menschen gewinnen … Er wollte nicht mit Hilfe demagogischer Überredung, indem er halbhypnotische Zustände erzeugte, hinter denen die Furcht vor dem Terror stand, sondern durch einen Appell an den Realitätssinn, durch die Wahrheit Einfluß ausüben. Die der ›Waffe der Wahrheit‹ zugrunde liegende Annahme ist bei Marx dieselbe wie bei Freud: daß der Mensch mit Illusionen lebt, weil diese Illusionen das Elend des wirklichen Lebens ertragbar machen. Wenn er die Illusionen durchschauen kann, das heißt, wenn er aus seinem Zustand des Halbtraumes erwacht, kann er zu Verstand kommen, sich seiner eigenen Kräfte und Fähigkeiten bewußt werden und die Wirklichkeit auf eine solche Weise verändern, daß Illusionen nicht mehr notwendig sind. Das ›falsche Bewußtsein‹, das heißt, das entstellte Bild der Wirklichkeit, schwächt den Menschen. Befindet er sich in Berührung mit der Realität, hat er ein entsprechendes Bild von ihr, wird er stärker. Daher glaubte Marx, daß seine wichtigste Waffe die Wahrheit war, die Enthüllung der Wirklichkeit hinter den Illusionen und Ideologien, die sie verdecken.

Während die Wahrheit für Marx eine Waffe zur Herbeiführung einer gesellschaftlichen Veränderung war, diente sie Freud als Waffe zur Herbeiführung einer individuellen Veränderung; Bewußtheit war in Freuds Therapie das Hauptmittel. Wenn, nach Freud, der Patient in den fiktiven Charakter seiner bewußten Ideen Einsicht gewinnen kann, wenn er die Realität hinter diesen Ideen begreifen kann, wenn er das Unbewußte bewußt machen kann, wird er die Kraft gewinnen, sich von seinen irrationalen Haltungen zu befreien und sich zu wandeln. Freuds Ziel ›Wo Es war, soll Ich sein‹ läßt sich nur durch die Bemühung der Vernunft lösen, die Fiktionen zu durchdringen und sich der Realität bewußt zu werden. Es ist genau diese Funktion von Vernunft und Wahrheit, die der psychoanalytischen Therapie ihre einzigartige Note unter allen Behandlungensweisen verleiht. Jede Analyse eines Patienten ist ein neues und originelles Forschungsabenteuer. Obgleich es natürlich stimmt, daß es allgemeine Theorien und Grundsätze gibt, die sich anwenden lassen, gibt es kein Modell, keine ›Formel‹, die sich auf den einzelnen Patienten anwenden ließe oder ihm, wenn angewandt, von Nutzen wäre. Genauso wie für Marx der politische Führer Sozialwissenschaftler sein muß, muß für Freud der Therapeut ein Wissenschaftler sein, der Forschungsarbeit zu leisten vermag. Für beide ist Wahrheit das wesentliche Mittel zur Umwandlung der Gesellschaft beziehungsweise des Individuums; Bewußtheit ist der Schlüssel zur sozialen und individuellen Therapie. Die von Marx getroffene Feststellung ›Die Forderung, die Illusion über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf‹, hätte auch von Freud getroffen werden können. Beide wollten den Menschen von den Ketten seiner Illusionen befreien, um ihm die Möglichkeit zu geben, aufzuwachen und als freier Mensch zu handeln.«

Das dritte, beiden Systemen gemeinsame Hauptelement, sei ihr Humanismus. Humanismus in dem Sinn, daß jeder Mensch die gesamte Menschheit repräsentiere; daraus folge, daß ihm nichts Menschliches fremd sein könne. Marx wurzle in dieser Tradition, für die Voltaire, Lessing, Herder, Hegel und Goethe einige der hervorragendsten Vertreter seien. Freud habe seinen Humanismus hauptsächlich in seiner Konzeption vom Unbewußten zum Ausdruck gebracht. Er nahm an, daß alle Menschen dieselben unbewußten Bestrebungen teilten und sie einander daher verstehen könnten, wenn sie einmal wagten, in die Unterwelt des Unbewußten zu tauchen. So konnte er die unbewußten Phantasien seiner Patienten ohne Empörung, Richterlichkeit oder Überraschung untersuchen. Der »Stoff, aus dem Träume gemacht sind«, aber auch die ganze Welt des Unbewußten, wurde genau deshalb Untersuchungsobjekt, weil Freud ihre tief menschlichen und universalen Eigenschaften erkannte.

In Erich Fromms Denken spielt der Begriff des »Sozialcharakters« eine wichtige Rolle; er versteht darunter die gemeinsame Grundhaltung und -einstellung ganzer Gesellschaftsschichten, die durch den Kulturprozeß zustandekommen. Der individuelle Charakter sei nur eine persönliche Ausgestaltung des sozialen: ähnliche Lebensbedingungen und spezifische Formungen, die von ökonomischen, politischen und allgemeinkulturellen Einflüssen ausgingen, erzeugten mit Nachdruck eine Abwandlung der menschlichen Natur, die als feste Struktur importiert und für kollektiv-psychologische Beurteilungen als gültige Konstante eingesetzt werden könne. Während die Psychoanalyse den individuellen Charakter in seinen Gründen und Abgründen deute, müsse die Sozio-Psychoanalyse in Übernahme und Weiterentwicklung der individualpsychologischen Kategorien den Sozialcharakter beschreiben und verständlich machen. »Sozialcharakter« sei ein weiterer gemeinsamer Nenner, der das Marxsche und das Freudsche Denken integriere. Kulturen und Ideologien wurzelten im allgemeinen im Gesellschaftscharakter. – Fromm nimmt an, »daß der Gesellschaftscharakter durch den Existenzmodus der betreffenden Gesellschaft geformt ist; daß seine dominierenden Charakterzüge zu produzierenden Kräften werden und formend auf den Gesellschaftsprozeß einwirken … Ökonomische Kräfte sind stark und wirksam, doch müssen wir sie als objektive Voraussetzungen, nicht als psychologische Begründungen betrachten. Psychologische Kräfte sind stark und wirksam, aber wir müssen sie in ihrer historischen Bedingtheit erkennen. Ideen sind stark und wirksam, doch muß man sehen, wie sie im gesamten Charakter der Gruppenmitglieder wurzeln. Trotz der wechselseitigen Abhängigkeit wirtschaftlicher, psychologischer und ideologischer Kräfte besitzt doch jede derselben auch eine gewisse Unabhängigkeit. Dies gilt vor allem von der wirtschaftlichen Entwicklung, die von objektiven Faktoren wie Technik, Rohstoffen, geographischer Lage abhängig, sich in weitem Umfang nach eigenen Gesetzen vollzieht. Die psychologischen Kräfte werden zwar von den äußeren Lebensbedingungen geformt, aber auch sie haben einen, nur ihnen eigenen Dynamismus; das heißt: sie sind Ausdruck menschlicher Bedürfnisse, die zwar umzuformen, aber nicht auszutreiben sind. In der ideologischen Sphäre finden wir eine ähnliche Autonomie; sie beruht auf den Gesetzen der Logik und dem im Verlauf der Menschheitsgeschichte erworbenen Wissen.«[61]

Der Sozialcharakter resultiere aus der dynamischen Anpassung der Menschennatur an die betreffende Gesellschaftsordnung; Veränderungen in der Gesellschaftslage hätten auch Veränderungen im Sozialcharakter zur Folge; das hieße: neue Bedürfnisse, neue Besorgnisse. Die neuen Bedürfnisse ließen neue Ideen erstehen und machten den Menschen für diese empfänglich. Und diese suchten nun ihrerseits den neuen Sozialcharakter zu festigen, zu verstärken und die menschlichen Handlungen zu bestimmen. Gesellschaftliche Bedingungen beeinflußten ideologische Erscheinungen mittels des Charakters. Charakter andererseits sei nicht das Ergebnis passiver Anpassung an gesellschaftliche Bedingungen, sondern einer dynamischen Anpassung aufgrund von Elementen, die entweder der menschlichen Natur eingeboren seien, oder als Resultat historischer Entwicklung hier inhärent würden.

Damit wird das »Überbaudenken« Freuds genauso legitimiert, wie die Unterbau-Überbau-Relation bei Karl Marx; die aus der Introspektion erwachsende revolutionäre Gesinnung genauso, wie die Sprengkraft gesellschaftlich-ökonomisch begründeter Befreiung; beide seien aufeinander angewiesen, verstärkten sich gegenseitig. Emanzipation bedeute, da der Mensch ein Geschöpf der Natur und der Gesellschaft ist, die Loslösung von den Repressionen »natürlicher« wie sozialer Art. Zur Freiheit erwacht, sei der Mensch im Stande, vom biologischen wie gesellschaftlichen Umfeld sich abzuheben und dann, aus der Vereinzelung wie aus der Erfahrung der Angst heraus, zu sich selbst und zur Gemeinschaft zu finden. Damit aber zeichnet sich auch die Gefahr ab, daß der Mensch, in die Angst wie ins identitätslose Massen-Dasein »geworfen«, sich Ideologien und darauf gründenden totalitären Bewegungen überantwortet. Fromm hat im besonderen den Sozialcharakter des Kleinbürgertums beschrieben, das durch eine reflexionslose Verehrung der Autorität und durch hybride Verachtung weiter unten stehender Volksschichten charakterisiert sei.