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Hermann Glaser

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Beschreibung

Die ›Spießer-Ideologie‹ von Hermann Glaser wurde erstmals 1964 veröffentlicht und war eines der umstrittensten Bücher dieser Zeit. In Hunderten von Besprechungen wurde es gehaßt, getadelt, gelobt und gefeiert. Inzwischen hat es mehrere Auflagen erlebt und so gut wie nichts von seiner ursprünglichen Sprengkraft verloren. Dargestellt wird der geistesgeschichtliche Hintergrund, auf dem sich das Dritte Reich mit all seinem kleinbürgerlichen Muff und seiner grauenvollen Dynamik entwickeln konnte. Die Wegbereiter der Spießer-Ideologie – ein Begriff, den Glaser scharfsinnig einführte – standen nach Meinung des Autors von vornherein auf dem Niveau ihrer späteren epigonalen Aneigner. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Hermann Glaser

Spießer-Ideologie

Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorwort zur NeuausgabeI.II.III.»Ich lachte und lachte, [...]EinleitungKultur als FassadeAltmeister GoethePotsdam ist WeimarNackt und schönSchön, sauber, klarSchillersches PathosIIIIIIIVVVIVIISpießers RomantikIn der GartenlaubeLiedkitsch und KolportageGemüt im HeimMythos gegen LogosWiderwärtige IntelligenzWestliche DekadenzProfessoren und HeldenHelden, Händler, DemokratenSozialistische VolksverderberDeutscher KonservativismusFührertumDer Mensch als RaubtierVergoldete GermanenrasseBlut als RassesaftBlut und BodenNationales HochgefühlDas Wort »deutsch«Verdrängung und KomplexDas deutsche MädelDes deutschen Mädels HeldBiermystikHordenromantikOrientkomplexAntisemitismusDas unheimliche IdyllErstarrte KirchenAnhangBibliographieNamenregister

Vorwort zur Neuausgabe

I.

Nach einem Wort von George Santayana sind diejenigen, die sich des Vergangenen nicht erinnern, dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben. Die deutsche Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts belegt auf schmerzvolle Weise eine solche Feststellung. Der deutsche Sonderweg, der freilich mehr auf ein Sonderbewußtsein hinauslief – werden doch die Demokratisierungstendenzen im bürgerlichen Zeitalter bei den anderen westlichen Nationen überschätzt und damit die Ansätze zu republikanischer Identität in Deutschland unterbewertet –, die Andersartigkeit der Deutschen bestand vor allem darin, daß diese eben nicht nach dem Gesetz, wonach sie angetreten, »fort und fort gediehen«.

Die Deutschen seien ein metaphysisches Volk, meinte 1810 die französische Schriftstellerin Madame de Staël; während französische wie englische Bürger sich neben ihrem Broterwerb um die Wohlfahrt ihres Gemeinwesens kümmerten, lebten die Deutschen in der Welt der Ideen. »Hier sei ihr eigentliches Reich, doch es beruhe auf einer Art des Denkens, das nicht nüchtern auf den praktischen Zweck gerichtet sei, sondern das sich ›ins Unbestimmte verliere und in der Tiefe verschwinde‹. Die Liebe zur Freiheit sei den Deutschen fremd; was sie liebten, das seien die großen Gefühle, die formlosen Gedanken, und die Wirklichkeit suchten sie hinter den Ideen, nicht umgekehrt. Nicht pragmatisch Handelnde seien die Deutschen, sondern heimisch im Reich des Absoluten, nachdem sie ihre Wirklichkeit zu formen suchten: Das wurde der große Topos westlicher Deutschlandbilder der folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte, und Generationen von Diplomaten, Schriftstellern und Politikern blickten mit faszinierendem Schauder nach Deutschland, wo alles so anders war.« (Hagen Schulze)

Welche Täuschung! Die Welt der Ideen und Ideale: in ihr zu leben hätte Weltfremdheit, aber nicht Weltzerstörung bewirkt. Statt dessen bestand das Sonderbewußtsein darin, daß es geist-los, ideenleer, vom Guten, Schönen und Wahren (der Trias ästhetisch-ethischer Totalität) abgetrennt war. Der Erinnerungsverlust grassierte: vergessen wurden die großen humanen Entwürfe von Aufklärung, Klassik und Romantik; abhanden kam die Bereitschaft des Realismus, Wirklichkeit auszuhalten und zu ergründen; verworfen oder ins Getto abgedrängt wurde das soziale Engagement des Naturalismus wie die um einen neuen Menschen kreisenden Utopien des Expressionismus. Die deutsche Nation verspätete sich nicht nur bei dem Bemühen, Aufklärung zu verwirklichen; sie gab auf, was sie schon einmal erreicht hatte. Vergessen, verdrängt, bekämpft, was »so viel Anfang wie nie« bedeutet hatte. Der Liberalismus, in hoffnungsvollen Ansätzen ausgebildet, verfiel zunehmend dem Sog nationalstaatlicher Euphorie; die Emanzipation des Untertans zum Bürger blieb stecken und wurde schließlich rückgängig gemacht, wobei mit regressiver Dumpfheit, die in den Ideen von 1914 gipfelte, eine fatale Trennung von Geist und Politik einherging. »Bildungsbürgertum« bedeutete staatsbürgerliche Rückständigkeit; feudale Abhängigkeitsverhältnisse wurden repetiert, restauriert, hinter einer Fassade prunkvoll-steriler Ästhetik und affirmativer Kultur verborgen. »Die aufsteigenden bürgerlichen Gruppen hatten ihre Forderung nach einer neuen gesellschaftlichen Freiheit durch die allgemeine Menschenvernunft begründet. Dem Glauben an die gottgesetzte Ewigkeit einer hemmenden Ordnung hielten sie ihren Glauben an den Fortschritt, an eine bessere Zukunft entgegen. Aber die Vernunft und die Freiheit reichten nicht weiter als das Interesse eben jener Gruppen, das mehr und mehr zu dem Interesse des größten Teils der Menschen in Gegensatz trat. Auf die anklagenden Fragen gab das Bürgertum eine entscheidende Antwort: die affirmative Kultur. Sie ist in ihren Grundzügen idealistisch. Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. Hatten zur Zeit des kämpferischen Aufstiegs der neuen Gesellschaft alle diese Ideen einen fortschrittlichen, über die erreichte Organisation des Daseins hinausweisenden Charakter, so treten sie in steigendem Maße mit der sich stabilisierenden Herrschaft des Bürgertums in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener Massen und der bloßen rechtfertigenden Selbsterhebung: sie verdecken die leibliche und psychische Verkümmerung des Individuums.« (Herbert Marcuse)

Epigonale Romantik formierte sich im Zeichen des antirationalistischen, antiaufklärerischen, antidemokratischen, insgesamt antiwestlichen Affekts. Sozialdarwinistisch sich legitimierende Ausbeutung dominierte. War die reale Utopie humanen Fortschritts vergessen, konnte sich in dem dadurch entstehenden Vakuum Ungeist ausbreiten; es verblaßte der Vor-Schein der Idee vom besseren, menschenwürdigeren Dasein.

Am Ende seines Lebens (er starb 86jährig im Jahre 1903) war Theodor Mommsen von tiefer Verbitterung über die gesellschaftlichen und politischen Zustände des Reichs erfüllt. Das halbe Jahrhundert deutscher Geschichte, das er selbst miterlebt hatte, verglich er mit den revolutionären Hoffnungen des Jahres 1848 und kam zu dem Ergebnis, daß das Volk nichtswürdig und rückgratlos geworden sei, die Nation versagt habe, ein erbärmliches Bild abgebe. In der letzten Fassung seines Testaments heißt es: »Politische Stellung und politischen Einfluß habe ich nie gehabt und nie erstrebt; aber in meinem innersten Wesen und ich meine, mit dem Besten, was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und politischen Fetischismus nicht hinauskommt. Diese innere Entzweiung mit dem Volke, dem ich angehöre, hat mich durchaus bestimmt, mit meiner Persönlichkeit, soweit mir dies irgend möglich war, nicht vor das deutsche Publikum zu treten, vor dem mir die Achtung fehlt.«

Die Unfähigkeit, sich der Dichter und Denker zu erinnern, bereitete den Weg für die nationalsozialistischen Richter und Henker. Die »Vergeßlichkeiten« des 19. und 20. Jahrhunderts, die eine abgründige kulturelle Leere hinterließen, beförderten den Sturz in die totalitäre Barbarei.

Freilich, das kulturelle Vergessen war kein vollständiges Vergessen; nicht der kulturlose, sondern der halbgebildete Barbar betrat als Leitfigur die geschichtliche Arena. Das Sonderbewußtsein, das sich ausbildete und den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglichte, wird hier Spießer-Ideologie genannt.

II.

Der Deutsche werde sich von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität entwickeln, prophezeite Franz Grillparzer. Er behielt recht. Der Optativ »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« erfüllte sich nicht. Solche Unterscheidung »von allen Wesen die wir kennen«, galt für die Personage des Nationalsozialismus nicht. Ernst Niekisch hat das »Reich der niederen Dämonen« zornig, drastisch, aber in Hinblick auf die Dossiers seiner »Führer« durchaus realistisch beschrieben: »Das Dritte Reich ist die Gewaltkur, durch welche die bürgerliche Gesellschaft ihre verlorene Autorität zurückerobern möchte, die Schwindelfassade, mit deren Hilfe sie sich neues Prestige zu verschaffen sucht, die Selbstentlarvung, durch die sie ihre umheimlichsten Abgründe aufdeckt. Die nationalsozialistischen Machthaber bringen in ihrer Menschlichkeit zur Darstellung, was die bürgerliche Gesellschaft sachlich vom Dritten Reich verlangt und wie sie sich, als Drittes Reich, unvermeidlich dabei entblößt. Wenn es wahr ist, daß es in der Weltgeschichte, wie Nietzsche sagt, schon im allgemeinen auf die großen Verbrecher ankomme, ›eingerechnet jener vielen, welche eines großen Verbrechens fähig waren, durch Zufall aber es nicht taten‹ – dann hatten die verbrecherischen Naturen nunmehr im besonderen eine ›gute Zeit‹; ihnen insgesamt förmlich kam jetzt ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Der Nationalsozialismus brachte die umfassendste Gegenauslese in Fluß: man mußte in seiner Substanz morsch und moralisch angeknackt sein, um in die herrschende Schicht Aufnahme finden zu können. … Hitler, der gewöhnt ist, sich vor der Masse, die er betrügt, zu prostituieren, weiß nicht, was Würde ist. Weil er bloß sich im Auge hat, sieht er rings um sich nur seinesgleichen. Er ist ausschließlich der Prophet seiner selbst; kaum gab es je ein Volk, das eine Gestalt solch tyrannisch-unduldsamer Entleertheit und Entwertetheit auf seinen Thron erhoben hat. Alle niedrigen menschlichen Existenzweisen rangieren plötzlich an der Spitze, sie sind der Troß, der Hitler angemessen ist. Der Polizeiagent, der Falschspieler, der Lügner, der Defraudant, der Hochstapler, der Geldschrankknacker, der schwere Junge, der Ordensschwindler, der Abenteurer, der Quacksalber, der Sektierer, der kitschige Gemütsathlet, der Schauspieler, der Schwätzer, der Folterknecht, der Bauchaufschlitzer: das ist die Personage des Dritten Reiches, die die bürgerliche Gesellschaft aus ihren dunkelsten Löchern zu Hilfe gerufen hat; das ist die Menagerie wilder Tiere, denen sie die antifaschistischen Glaubenszeugen zum Fraße vorwirft.«

Allerdings legen sich die Desperados mit der zunehmenden Konsolidierung des nationalsozialistischen Staates und seiner Gesellschaft einen bürgerlichen Habitus zu. Vorherrschend ist nun die Banalität und Normalität des Bösen. Gerade dies ist das Ungeheuerliche am Nationalsozialismus: daß die furchtbarsten Verbrechen von Menschen ausgedacht, geplant, organisiert, exekutiert werden, deren Erscheinungsbild trivial ist. Das gilt selbst für die Sadisten und Mörder in den Konzentrationslagern. Als Beobachter beim Auschwitzprozeß notierte Horst Krüger 1964: »Wohlbeleibte, gutmütige Herren sitzen dort, etwas massig und aufgequollen, trinken Coca-Cola oder Sinalco, rauchen Zigaretten und führen miteinander Gespräche. Herren in der Pause einer Aufsichtsratssitzung. Zwei von ihnen scheinen gehbehindert zu sein, sie haben schwarze Spazierstöcke mit Gummifüßchen bei sich. Sie werden einiges durchgemacht haben. Der Älteste im tadellosen dunkelblauen Anzug hat ein etwas rötliches Gesicht, das Haar schlohweiß, und mein Kollege sagt: ›Das ist Mulka, Robert Mulka, SS-Obersturmbannführer und Adjutant des Lagerkommandanten Höß. Heute Exportkaufmann in Hamburg. Er wohnt hier im Frankfurter Hof, und in den verhandlungsfreien Tagen fährt er mit einem TEE rasch einmal nach Hamburg, um nach seinen Geschäften zu sehen. Die Anklage wirft ihm unter anderem vor, für die Einrichtung und Sicherung der Vergasungsanlagen und für die Herbeischaffung des für die Vergasung erforderlichen Zyklon B verantwortlich gewesen zu sein. Mitwirkung bei der Aussonderung an der Rampe, Mitwirkung beim Transport der zur Vergasung ausgesonderten Personen zu den Gaskammern mit Lastkraftwagen.‹

Und ich stehe da, bin sprachlos, blicke verstohlen hin und blicke wieder weg, möchte ja nicht aufdringlich wirken, möchte diese Gruppe nicht anstarren, wie man im Zoo seltsame wilde Tiere anstarrt, und bin fassungslos, daß Mörder so aussehen, so harmlos, so freundlich und väterlich. Aber dann wird mir bewußt, daß diese gutmütigen Herren ja keine gewöhnlichen Mörder sind, keine Affekttäter, die jemanden aus Leidenschaft oder Lust oder Verzweiflung umbringen. Das ist ja alles menschlich. Das gibt es. Aber das sind hier die modernen, bisher unbekannten Mörder, die Verwalter und Funktionäre des Massentodes, die Buchhalter und Knopfdrücker und Schreiber der Maschinerie: Techniker, die ohne Haß und Gefühle operieren, kleine Funktionäre aus dem großen Reich von Eichmann – Schreibtischmörder. Hier wird ein neuer Stil des Verbrechens sichtbar: der Tod als ein Verwaltungsakt. Die Mörder sind angenehme und korrekte Beamte.«

Auch die minuziöse Dokumentation, die Eberhard Fechner mit seinem Fernsehfilm über den Majdanek-Prozeß vorlegte, macht deutlich, daß beim Nationalsozialismus der Manichäismus von Gut und Böse nicht gilt. Aus den Gesichtern der Täter wie der Opfer blickt uns zuallererst der Alltag an. »Unvorstellbare Verbrechen werden von ihm zugedeckt, Lebensgewohnheiten, Redewendungen, Kleidung, Verhaltensweisen geben keine Auskunft darüber, welcher Seite sie angehören. Das ist eine lapidare Einsicht. Und eine simple Realität, die den Deutschen sofort nach 1945 das Vergessen und Verdrängen erleichtert hat: Man fragte sich nicht, wer neben einem in der Straßenbahn saß. Fechners unaufdringlicher, aber auch unerbittlicher Zeigegestus schafft es, im Lapidaren und Simplen das Abgründige der Geschichte deutlich zu machen.« (Klaus Kreimeier)

Bruder Eichmann. Hitler in uns. Verliert damit (angesichts der Banalität und Normalität des Bösen) der Faschismus den Charakter eines pompös, schicksalhaft und verheerend explodierenden Massenrausches? Den Alltagsmenschen hätte der Nationalsozialismus jedoch nicht derart mobilisieren und in Dienst nehmen, derart widerstandslos gleichschalten können, wenn seine Protagonisten (»Führer«) nicht Kitsch-Menschen par excellence gewesen wären. Zur Alltäglichkeit der Gewalt gesellte sich die Faszination der Gewalt. Menschenverachtung und Menschenvernichtung sind »überwölbt« von einer korrumpierten Ästhetik, bei der an die Stelle der Einheit von Sinn und Form die Einheit von Ideologie und Propaganda tritt. Vor allem Adolf Hitler, der auf der einen Seite in »Mein Kampf« die Mechanismen der Verführung und Manipulation zynisch offenlegte, beherrschte das Instrumentarium der Kitschpropaganda deshalb so vollkommen, weil er auf der anderen selbst ein »vollendeter« Kitsch-Mensch war. »In der Nacht standen wir mit Hitler auf der Terrasse des Berghofes und bestaunten ein seltsames Naturschauspiel«, berichtet Albert Speer in seinen »Erinnerungen« von der Nacht des 21. August 1939; »ein überaus starkes Polarlicht überflutete den gegenüberliegenden, sagenumwobenen Untersberg für eine lange Stunde mit rotem Licht, während der Himmel darüber in den verschiedensten Regenbogenfarben spielte. Der Schlußakt der Götterdämmerung hätte nicht effektvoller inszeniert werden können. Gesichter und Hände eines jeden von uns waren unnatürlich rot gefärbt. Das Schauspiel rief eine eigentümlich nachdenkliche Stimmung hervor. Unvermittelt sagte Hitler zu einem seiner militärischen Adjutanten gewandt: ›Das sieht nach viel Blut aus. Dieses Mal wird es nicht ohne Gewalt abgehen.‹« Eine für den Nationalsozialismus exemplarische Szene: Kitsch in höchster Vollendung. Der Mann – kommentiert Saul Friedländer –, der sich anschickt, die Welt zu erobern (und sein gerade abgeschlossener Pakt mit der Sowjetunion ist ein großer Schritt in dieser Richtung), steht da hoch oben in seiner Felsenburg, umgeben von einer grandiosen Gipfellandschaft. Er hat das Gesicht dem Nachthimmel zugewandt, den ein seltsames Rotlicht in die Farbe des Blutes taucht – er ist der Dichter am See, kurz vor dem Ausbruch des Sturmes, er ist der Mörder auf der Flucht unter einem fahlen, von Blitzen durchzuckten Himmel. Insgesamt eine »vergiftete Apotheose«!

»Weshalb liebt der deutsche Mensch Adolf Hitler so unsagbar?« fragte Robert Ley, und antwortete: »Weil er sich bei Adolf Hitler geborgen fühlt. Das ist es, das Gefühl des Geborgenseins, das ist es. Geborgen!« Rhapsodisch verkündete Hitler selbst: »Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt, daß ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück.« Das deutsche Volk konnte sich in Adolf Hitler geborgen fühlen, bot doch die von ihm propagierte und verkörperte Spießer-Ideologie die Möglichkeit, der Identitätskrise, die auch eine Modernitätskrise war, zu entkommen. »Die faschistische Herausforderung tauchte in der Zeit zwischen den Weltkriegen auf, als sich hektische soziale Modernisierungsprozesse, tiefgreifende ökonomische Krisen und der Zerfall des politischen Systems verkoppelten und zu einer komplexen Krisenerfahrung vor allem bei den desorientierten Zwischenschichten (dem alten und dem neuen Mittelstand, bei Erwerbslosen und sozial Gescheiterten sowie bei der jungen Generation, der die Sicherheit der Lebensperspektive verlorenging) führten. Die Wahrnehmung dieses Krisensyndroms erfolgte aber nicht mehr in bloß konservativen oder plebejisch-traditionalistischen Zügen, die die Kritik an der Moderne bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt hatten, sondern nahm in Verkettung utopischer und reaktionärer Elemente sowohl Ansätze des damals aktuellen Kulturpessimismus wie sozialbiologische Neuordnungsentwürfe auf. In der Substanz eklektisch, aber technisch ›auf der Höhe‹ beanspruchte der Faschismus, den irritierenden Herausforderungen der Zeit eine ›durchschlagend‹ neue Antwort zu geben.« (Detlev Peukert)

Der namenlose Gefreite des Ersten Weltkrieges, der »wunderhaft« zum unumschränkt herrschenden, aber auch uneingeschränkt geliebten Diktator der Deutschen aufsteigt, findet sich gespiegelt in einem Volk, das deshalb sein Volk ist bzw. wird, weil es jahrzehntelang auf die Rolle der Volksgenossenschaft (Du-bist-nichts-dein-Volk-ist-alles) konditioniert, »eingeschliffen« worden ist. Daß Führer und Geführte in Ekstase sich vereinigen, ist keineswegs ein »Wunder« dieser Zeit; es ist das systematisch geschaffene Werk der »Agenturen« der Gesellschaft, die darauf hingewirkt hatten, deutschen Geist und deutsche Kultur vergessen zu machen; so konnte autoritärer und totalitärer Ungeist, mit den Versatzstücken einer entleerten Kultur raffiniert operierend, sein Weltanschauungs-Psychodrom inszenieren. »Die Akteure zeigen eingeübte Bewegungen und äußern sich in einer einstudierten Sprache, beides in einem festgelegten Programm. Es vollzieht sich ein profaner Kult, nach dem Rhythmus einer ausgearbeiteten Liturgie. Hoffnungen und Ängste, Kräfte und Bedürfnisse, Leidenschaften und Phantasien können sich nicht frei äußern, sondern werden durch eine Regie domestiziert. Die Dressur der Seelen ist zugleich eine Dressur der Libido, freiwillig und gezwungen in einem.« (Jörg Bopp)

Selbstverständlich sind die politischen und sozioökonomischen Bedingtheiten wie Konstellationen des 19. und 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung für den Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen. Daß jedoch im Wilhelminismus eine weitreichende Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches erfolgte (wie Friedrich Nietzsche es formulierte) und die Wirrungen und Irrungen der Weimarer Republik in die »Bewegung« des Nationalsozialismus einmündeten, hängt, dies ist zumindest die These dieses Buches, mit den Strukturen des kulturellen Bewußtseins und Unterbewußtseins zusammen. Die Zerstörung des deutschen Geistes, die den Wesenskern der Spießer-Ideologie ausmacht, ermöglichte es den Nationalsozialisten, mit ihrer Metaphorik, ihren parareligiösen Topoi, ihrem Auftrittsstil und ihren ideologischen Wahnvorstellungen begeisterte Zustimmung zu erhalten; sie nutzten, was seit langem im kollektiven Psychogramm »angelegt« war. Die »Werte«, die Hitler ansprach – der Kampf als inneres Erlebnis, der Glaube an den Heroismus des Willens, das Entweder-Oder anstatt des Sowohl-als-auch, die Überlegenheit des Irrationalen gegenüber der Vernunft, die Vernichtung als das erste und letzte Prinzip (J.P. Stern) –, sie widersprachen nicht deutscher pervertierter »Kultur«-Tradition; sie machten ihren innersten Kern aus, denn dieser war entleert, nur noch Hülse.

Persönlichkeit und Individualität sollten ausgeschaltet, die Menschen als Reflexbündel vom Instinkt, vom Trieb, vom Rückenmark her manipuliert werden. Die gefühlsmäßige Einstellung der Masse bedinge ihre außerordentliche Stabilität, schrieb Hitler in »Mein Kampf«; der Glaube sei schwerer zu erschüttern als das Wissen, Liebe unterliege weniger dem Wechsel als Achtung, Haß sei dauerhafter als Abneigung, und die Triebkraft zu den gewaltigsten Umwälzungen auf dieser Erde habe zu allen Zeiten weniger in einer die Masse beherrschenden wissenschaftlichen Erkenntnis als in einem sie beseelenden Fanatismus und manchmal in einer sie vorwärts jagenden Hysterie gelegen. »Wer die breite Masse gewinnen will, muß den Schlüssel kennen, der das Tor zu ihrem Herzen öffnet. Er heißt nicht Objektivität, also Schwäche, sondern Wille und Kraft.« War dem Menschen in diesem Sinne das Herz geöffnet, war er zum Volksgenossen geworden.

Gottfried Benn, regressiven Strömungen gegenüber zunächst selbst anfällig, hat sehr bald die geist- und geschmacklose Dumpfheit der nationalsozialistischen Volksgenossenschaft erkannt: »Ein Volk in der Masse ohne bestimmte Form des Geschmacks, im ganzen unberührt von der moralischen und ästhetischen Verfeinerung benachbarter Kulturländer, philosophisch von konfuser idealistischer Begrifflichkeit, prosaisch dumpf und unpointiert, ein Volk der Praxis mit dem – wie seine Entwicklung lehrt – alleinigen biologischen Ausweg zur Vergeistigung durch das Mittel der Romanisierung oder der Universalisierung, läßt eine antisemitische Bewegung hoch, die ihm seine niedrigsten Ideale phraseologisch verzaubert, nämlich Kleinbausiedlungen, darin subventionierten, durch Steuergesetze vergünstigten Geschlechtsverkehr; in der Küche selbstgezogenes Rapsöl, selbstbebrütete Eierkuchen, Eigengraupen; am Leibe Heimatkurkeln, Gauflanell und als Kunst und Innenleben funkisch gegrölte Sturmbannlieder. Darin erkennt sich ein Volk. Ein Turnreck im Garten und auf den Höhen Johannisfeuer – das ist der Vollgermane. Ein Schützenplatz und der zinnerne Humpen voll Bock, das sei sein Element. Und nun blicken sie fragend die gebildeten Nationen an und erwarten mit einer kindlich anmutenden Naivität deren bewunderndes Erstaunen.«

III.

Das Buch »Spießer-Ideologie« wurde 1964 veröffentlicht. Es war eines der umstrittensten Bücher dieser Zeit, was sich in Hunderten von Besprechungen niederschlug. Nicht verwunderlich war, daß unter den Verächtern und Feinden des Buches sich vor allem diejenigen fanden, die eine rechtskonservative »Erneuerung«, also die Wiederherstellung des Überholten anstrebten. Das Erscheinen des Bandes fiel zusammen mit dem Aufstieg der NPD; manche fragten damals: »Erwacht Deutschland schon wieder?« Und manche freuten sich aufs Erwachen und begannen mit der »Abrechnung«. Die »Nestbeschmutzer« waren in jenen Tagen das besondere Objekt faschistoider Restauration.

Eine ganz andere Kritik wurde von den Vertretern »objektiver Wissenschaft« vorgetragen: sie beanstandeten den Mangel an Distanz, den Zorn, mit dem dieses Buch geschrieben sei. In der Tat: dieses Buch wurde im Zorn geschrieben; ich sehe bis heute nicht ein, warum dies eine Untugend sein soll. Wer aber meint, es sei eine – der kann den Text (zusätzlich) als Dokument verstehen: wie einer aus der Generation der Hitler-Jungen zurückblickt; freilich nicht autobiographisch, sondern sozialpsychologisch. Diese Generation hat sich nach 1945 einigermaßen engagiert um den Wiederaufbau bemüht, die Forderung nach Trauerarbeit nicht aufgegeben. Geistig-dialektische Entfaltung charakterisierte die Trümmerzeit, eine »Zeit der schönen Not«. Gesprächstrunkenheit. Illusionen, die sich überall auftaten und als kurz vor der Realisierung stehende Utopien verstanden wurden. Blick in den Abgrund einer vergangenen, furchtbaren Zeit. Glückhaftes Bewußtsein, daß nun alles besser werden, die Zeit einer neuen Aufklärung anbrechen könne. Dann die Enttäuschung, daß die Erneuerung nicht wirklich, sondern nur in Ansätzen stattfand; daß das Faschistoide sich nicht verloren hatte, sondern weiter am Werk war; immer wieder neue Wellen des Rechtsextremismus (aber auch eines »Linksfaschismus«), die zwar quantitativ begrenzt schienen, aber die Möglichkeit eines tiefen Einbruchs in demokratische Stabilität signalisierten.

Die Nahtstelle, da die Euphorie des Aufbruchs seit der »Stunde Null« in gesellschaftspolitische Skepsis überging, hat Hans Magnus Enzensberger wie folgt beschrieben: »Diese linke Intelligenz war literarisch fleißig und fruchtbar, doch politisch im tiefsten Sinn unproduktiv. Sie bestand in der Hauptsache aus gebrannten Kindern, aus Altsozialdemokraten, Neoliberalen und Spätjakobinern. Die einzige theoretische Basis, die sie verband, war eine unbestimmte Negation, nämlich der Antifaschismus. An das historische Trauma von 1945 blieb diese Intelligenz gebunden, fixiert an spezifisch deutsche Komplexe und Erscheinungen, von der Kollektivschuld bis zur Mauer, unfähig zu einem Internationalismus, der über die Rhetorik der Völkerverständigung hinausgegangen wäre. Moral ging ihr vor Politik. Der Sozialismus, dem sie anhing, blieb nebulos, schon aus Mangel an Kenntnissen; ihre soziologische Bildung war gering, ihre Auseinandersetzung mit dem Kommunismus neurotisch und vordergründig. Pazifismus und Philosemitismus waren vorherrschende Tendenzen; mit wissenschaftlichen, technologischen und ökonomischen Fragen hat sich diese Intelligenz wenig und spät beschäftigt.« Enzensberger bekannte sich, als er diese Sätze schrieb (1968), zur Protestgeneration, die mit Hilfe radikaler Gesellschaftskritik die weiterwirkende und, ihrer Meinung nach, immer stärker hervortretende Verquickung von Spätkapitalismus und Faschismus aufzudecken trachtete. Mit großem Elan wurde Strukturanalyse betrieben – wobei man auf den Umschlag von Ableitungslogik in politisches Handeln vertraute und abstrakter Begrifflichkeit zutraute, eine revolutionäre Massenbasis zu bilden. Der Marsch durch die Institutionen wurde freilich, noch ehe er richtig begonnen hatte, abgebrochen; die Systemzwänge erwiesen sich als zu stark; das Durchhaltevermögen war zu schwach, die Bequemlichkeit zu groß, der Opportunismus zu verführerisch. Die Bereitschaft zum starken und langsamen Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich, wie Max Weber idealtypisch politische Tätigkeit charakterisierte, war bei den Altliberalen und der ernüchtert heimgekehrten Kriegsgeneration eben doch mehr ausgeprägt als bei den Jungrevolutionären. Die Ideologiekritik der ersteren erfolgte jedoch oft genug von einem zu idealistisch-allgemeinen Ansatz aus; dementsprechend weist auch »Spießer-Ideologie« eine Reihe bedeutsamer weißer Flecken auf. Die sozio-ökonomischen Fragen zum Beispiel werden zu wenig beachtet; Herbert Marcuse etwa taucht im Literaturverzeichnis von 1964 nicht auf. Bestimmte Bereiche waren eben damals noch nicht aufgearbeitet. Der Vorteil gegenüber der Systemkritik bestand allerdings darin, daß die Erfahrung totalitärer Praxis nicht ins Strukturelle zurückgedrängt, sondern an Personen diskutiert wurde, deren Mangel an Haltung, Gesinnung und Gesittung mentale Verelendung in oft unvorstellbarem Ausmaß bewirkt hatte. Der Kleinbürger hätte nicht Spießer in meist abgründigem Sinne sein müssen, wäre nicht der deutsche Geist (ohne Anführungszeichen) ideologischer Verschüttung verfallen. Das haben jene am stärksten zu verantworten, die als »Stützen und Spitzen« der Gesellschaft die Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert bewirkten oder förderten, bzw. der Perversion keinen Widerstand entgegensetzten. Die allgegenwärtige Gewalt und Funktionalität des Nationalsozialismus beantwortet noch nicht die Frage, wie die Massenmobilisierung so durchgeführt werden konnte, daß die Massen sie nicht nur erduldeten, sondern auch mittrugen; und damit ihren eigenen Opfergang enthusiastisch begrüßten. Propaganda, Verführung und Angst erklären allein nicht die Stabilität des Systems. Den Nationalsozialisten gelang, sich der »Herzen des Volkes« zu bemächtigen. »Es mag gut sein, Macht zu besitzen, die auf Gewehren ruht. Besser aber und beglückender ist es, das Herz eines Volkes zu gewinnen und es auch zu behalten«, verkündete Joseph Goebbels 1934 auf dem Nürnberger Parteitag. Der Nationalsozialismus war »keineswegs eine nur aus ›ideologischer Verirrung‹ entfesselte Bewegung, die von einigen weltanschaulich fanatisierten Psychopathen angetrieben worden war und als katastrophale ›Verführung‹ über ein unschuldiges Volk hereinbrach« (Klaus Wolpert). Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus macht deutlich (und hier ist es besser, die Metapher »Herz« durch die Metapher »Rückenmark« zu ersetzen), in welch ungeheurem Maße es gelingen kann, die menschliche individuelle wie kollektive Triebnatur zu nutzen, auszunutzen, zu instrumentalisieren, zu pervertieren – wenn man sie zugleich mit einer Pseudosublimierung lockt.

Sigmund Freud hatte – obwohl angesichts anthropologischer wie historischer Wirklichkeit pessimistisch gestimmt – die hoffnungsvolle Forderung vertreten, daß wo ES ist, ICH werden könne. Die Nationalsozialisten brachten es fertig, das ICH abzuschaffen, es auf das ES zu reduzieren, ihm aber zugleich mit Hilfe eines Überich-Kults zu suggerieren, daß es nach wie vor Subjekt sei. Die Ästhetisierung der Barbarei läßt das Tier aus der Tiefe glauben, es sei ein Gott. Kultur dient dazu, die Illusion zu vermitteln, man handle als Geistwesen, während man von den Instinkten her manipuliert wird. In der narzißtischen Identifikation mit dem Führer war das Scheitern des Volksgenossen ein Scheitern des eigenen Ichs.

In der Erstauflage von »Spießer-Ideologie« hieß es am Ende: »Mit Aufatmen sehen wir die Konturen einer sittlichen Renaissance vor uns; mit Beklemmung registrieren wir, daß Wesenszüge des deutschen Spießertums ›in alter Frische‹ sich erhalten haben; mit Unbehagen blicken wir dann in die Zukunft: die Krise der Bundesrepublik hat noch nicht begonnen. Doch vielleicht bleibt diesem lädierten Lande die Krise einmal für ein paar Jahrzehnte erspart. So wird gerade in der deutschen politischen Anthropologie das ›Prinzip Hoffnung‹ eine nicht unerhebliche Rolle spielen müssen.« 1985 habe ich dem nichts hinzuzufügen.

Die Neuausgabe bringt den Text des Jahres 1964 unverändert; der Verfasser hat zwar, so möchte er in Anspruch nehmen, hinzugelernt; doch kann man in eine einmal abgeschlossene Textur schwerlich nachträglich etwas hineinweben. Ein Grund, von der Studie abzurücken, besteht nicht; die Nachfrage zeigt, daß der Band von vielen nach wie vor als notwendig empfunden wird. Inzwischen sind zu dem angesprochenen Problemkreis viele Detailuntersuchungen, Monographien und gesellschaftswissenschaftliche Analysen erschienen; was in »Spießer-Ideologie« gesagt, behauptet, auch teilweise nur vermutet wurde, ist dort in eigenständiger Weise detailliert dargelegt und ausgeführt; die Bibliographie wurde dementsprechend bis zur Gegenwart fortgeführt.

»Ich lachte und lachte, während der Fuß mir noch zitterte und das Herz dazu: ›Hier ist ja die Heimat aller Farbentöpfe!‹ – sagte ich.

Mit fünfzig Klecksen bemalt an Gesicht und Gliedern: so saßet ihr da zu meinem Staunen, ihr Gegenwärtigen! Und mit fünfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiele schmeichelten und nachredeten!

Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eigenes Gesicht ist! Wer könnte euch – erkennen! Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt vor allen Zeichendeutern! Und wenn man auch Nierenprüfer ist: wer glaubt wohl noch, daß ihr Nieren habt! Aus Farben scheint ihr gebacken und aus geleimten Zetteln.

Alle Zeiten und Völker blicken bunt aus euren Schleiern; alle Sitten und Glauben reden bunt aus euren Gebärden. Wer von euch Schleier und Überwürfe und Farben und Gebärden abzöge: gerade genug würde er übrigbehalten, um die Vögel damit zu erschrecken.

Wahrlich, ich selber bin der erschreckte Vogel, der euch einmal nackt sah und ohne Farbe; und ich flog davon, als das Gerippe mir Liebe zuwinkte.«

Friedrich Nietzsche[1]

Einleitung

Es gehört zu den Paradoxien dieses Versuchs, daß ihm ein Wort Nietzsches vorangestellt ist – eines Philosophen, von dem einige Gedanken, soweit sie Irr- und Wirrgedanken waren, die Gefährdung und Zerstörung des deutschen Geistes, deutscher Moral und Kultur wesentlich fördern halfen. Auf der anderen Seite hat gerade dieser Denker – dem Abgrund nahe – seinen Blick furchtlos in den Abgrund gerichtet und mit dessen Topographie begonnen.[2] Ein Drittes macht diese Gestalt exemplarisch: Leben und Werk verfielen einer Fehlinterpretation, die bis zur bewußten Fälschung reichte – ein Vorgang, wie wir ihn in der Geistes- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder antreffen. Der »Fall Nietzsche« kann somit stellvertretend die Betrachtungen der nachfolgenden Kapitel illustrieren.

Die letzten eineinhalb Jahrhunderte sind voll von geistiger Wirrnis gewesen: die vorliegende Untersuchung wird hierfür viele Beispiele bringen – und doch nur eine kleine Auswahl aus dem weltanschaulichen Gruselkabinett der jüngsten und weiter zurückliegenden Vergangenheit vorstellen können. Schaudern ergreift uns. »Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht«, heißt es schon in Büchners »Woyzeck«.

Die Begriffe der Fehlinterpretation und der Perversion spielen bei all diesen Untersuchungen eine große Rolle. Nicht der deutsche Geist – die Aufklärung, Klassik, Romantik oder eine andere Epoche – kann für das Jahr 1933 verantwortlich gemacht werden. Es waren weder die Romantik noch die Klassik oder eine andere Epoche für die deutsche Geschichte ein »Verhängnis« – echte Kultur kann nie ein Verhängnis sein! Auch boten Klassik und Romantik keineswegs mehr Ansätze zur Fehlinterpretation als andere Epochen. Man griff auf sie zurück, weil sie am naheliegendsten waren – die Spätromantik lief zeitlich sogar mit der epigonalen Romantik parallel – und weil es sich um Zeitabschnitte der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte handelte, die auf Grund ihres vielfältigen geistigen Reichtums sich besonders eindrucksvoll als Kulturfassade mißbrauchen ließen. – Das nationale Unglück beruhte auf der Tatsache, daß die Elemente der deutschen Kultur (im besonderen eben der Klassik und Romantik) pervertiert, ver-kehrt, ins Gegenteil gekehrt und dabei nominal beibehalten wurden. Es blieben Wortkadaver, die ihres Wahrheitsgehalts beraubt waren und nun mit Ressentiments ausgestopft wurden. Kultur wurde zur Fassade, der Logos (das Wort, die sinnvolle Rede und die Vernunft überhaupt) zerstört und durch einen wirren Mythos ersetzt, der selbst bereits eine Fehlinterpretation des Wortes Mythos darstellte. Dieser Vorgang der Verdrängung von Geist, Vernunft und Wahrheit schuf seelische Haltungen, die einer psychopathologischen Deutung bedürfen; wir treffen auf eine Ansammlung von Komplexen, die zu Wahnideen der verschiedensten Art führten.[3]

Das vorangestellte Nietzsche-Wort kann bis in Einzelheiten auf die geistige Absicht dieses Bandes bezogen werden; methodische wie inhaltliche Vorbemerkungen lassen sich somit am besten in den Rahmen einer Zitatexegese einfügen.[4]

 

»Ich lachte und lachte, während der Fuß mir noch zitterte und das Herz dazu: ›Hier ist ja die Heimat aller Farbentöpfe!‹ – sagte ich. Mit fünfzig Klecksen bemalt an Gesicht und Gliedern: so saßet ihr da zu meinem Staunen, ihr Gegenwärtigen! Und mit fünfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiele schmeichelten und nachredeten!«

Wer die Phänomene des »offiziellen« deutschen »Geistes« des 19. und 20. Jahrhunderts erkundet, fühlt sich auf der einen Seite in ein unerschöpfliches kulturelles Kabarett versetzt, zugleich überfällt denjenigen, der in diese Bereiche vorstößt, die als »Land der Bildung«, als »Land der Dichter und Denker« kaschiert wurden, ein Grauen: man erlebt Weltanschauungen – »auf Plüsch ersonnen und in den Gasöfen von Auschwitz und Theresienstadt praktiziert«. (P. Hühnerfeld)[5]

Der Begriff der »Weltanschauung« ist dabei nur mit Vorbehalt und am besten mit Anführungszeichen zu verwenden: es handelt sich meist um einen »Ideenbrei«. Nietzsche spricht von vollgeklecksten Gesichtern – und mit solchen »Farbenspielen« bieten sich uns die Kleinbürger (Spießer), gestern und heute, dar.[6] Der Begriff darf in unserem Zusammenhang nicht soziologisch (Beruf, Lebensstandard oder Einkommensverhältnisse betreffend) verstanden werden; er soll die psychologische und anthropologische Situation umreißen. »Kleinbürger« bedeutet einen ganz bestimmten Habitus geistig-seelischen Verhaltens, ein Verhaltensmuster, das wir Spießer-Ideologie benennen und dessen vielfältigen Einzelzüge im Verlaufe dieser Abhandlung beschrieben und belegt werden sollen. Insgesamt ist der Kleinbürger medioker und provinziell, fanatisch und brutal, engstirnig und ressentimentgeladen, aber auch »feinsinnig« und »innerlich«. Der Typ ist gegenwärtig geblieben, was jeder innerhalb seines eigenen Erfahrungsbereiches überprüfen kann. Die einzelnen Linien der Darstellung lassen sich bis in die Wohlstandsgesellschaft unserer Tage hineinverfolgen: Plüsch im Neonlichtzeitalter, Hitler immer noch in uns![7] Manche der zitierten Reden könnten auch heute gehalten sein – und ähnlich werden sie gehalten![8] Doch wird hier im allgemeinen das Präteritum bevorzugt: was bereits vergangen ist, kann leichter und handgreiflicher belegt werden; auf zeitgenössische Kulturkritik wurde somit verzichtet.

 

»Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eigenes Gesicht ist! Wer könnte euch – erkennen! Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt vor allen Zeichendeutern! Und wenn man auch Nierenprüfer ist: wer glaubt wohl noch, daß ihr Nieren habt! Aus Farbe scheint ihr gebacken und aus geleimten Zetteln.«

Die kleinbürgerlichen Masken zu erkennen und zu entlarven ist keine leichte Aufgabe. Auch bei der kleinbürgerlichen »Elite« ist die Mittelmäßigkeit nicht Schein – etwa propagandistische Anpassung an das Volk –, sondern Sein; nicht »beweglich«, abreißbar, sondern »existentiell«; den Vorwurf bewußter Heuchelei wird man nur selten erheben können; Lüge, Gemeinheit und Verbrechen, verlogener »Kunstsinn« und die unheimliche »idyllische Innerlichkeit« sind ganz »wahrhaftig«. – Als Zeichendeuter wird man bald dieses, bald jenes Zeichen falsch interpretieren, in seiner Bedeutung über- und manchmal wohl auch unterschätzen. Über die Herkunft der »Zettel« und Spruchbänder, in welche die kleinbürgerlichen Wesen gewissermaßen eingewickelt sind oder aus denen sie bestehen (man wickle sie auf – und es bleibt kein Kern, kein eigenes Sein – »wer glaubt noch, daß ihr Nieren habt!«), wird es verschiedene und voneinander wesentlich abweichende Meinungen geben. Die Provokationen dieser Arbeit mögen somit zugleich als Aufforderung zur Diskussion verstanden werden.

 

»Alle Zeiten und Völker blicken bunt aus euren Schleiern; alle Sitten und Glauben reden bunt aus euren Gebärden.« Die Bestimmung der Eigenart der kleinbürgerlichen Spezies ist keine Angelegenheit einer speziell deutschen Anthropologie. Wenn hier nur der deutsche Kleinbürger im Mittelpunkt der Betrachtung steht, so hat dies zunächst methodische Gründe: ein überschaubarer und uns als Deutsche besonders naheliegender Bereich wurde ausgewählt. Würde man zudem »Kleinbürger« als übernationalen anthropologischen Strukturbegriff nehmen, so könnte die unverwechselbare nationale Ausprägung des Kleinbürgerlichen nicht genügend gewürdigt werden. Vor allem aber darf nicht verschwiegen werden, daß kleinbürgerliches Wesen und Verhalten bei anderen Nationen nie dieses Ausmaß wie in Deutschland angenommen haben. Wir stehen vor der Erscheinung, daß die Masse der Bevölkerung den Weg ins geistige Verhängnis freudig beschritten hat, daß unser Volk über weltanschauliche Fragen nie wirkungsvoll geteilt war, sondern einigermaßen unisono die Perversionen der verschiedensten Art bejahte. Die Opposition, die gegen den »offiziellen« Strom schwamm, war als kleine Gruppe isoliert, in der inneren oder äußeren Emigration. Die großen gegenlaufenden Strömungen – etwa Realismus, Naturalismus, Expressionismus, Surrealismus (wobei auch diese Begriffe vor allem typologisch und anthropologisch, als Wesenshaltungen und nicht nur als Epochenbegriffe verstanden werden müssen) – wurden verdrängt, nicht anerkannt, verhöhnt. Das äußere Exil eines Büchner, Marx, Heine, das innere eines Stifter, Grillparzer, Fontane, das Verbot eines Hauptmann, die Verzweiflung eines Trakl sind in diesem Zusammenhang durchaus symptomatisch. In seinem »Politischen Testament« schreibt Theodor Mommsen: »In meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten, was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und politischen Fetischismus nicht hinauskommt. Diese innere Entzweiung mit dem Volke, dem ich angehöre, hat mich durchaus bestimmt, mit meiner Persönlichkeit, soweit mir das irgend möglich war, nichtvor nicht vor das deutsche Publikum zu treten, vor dem mir die Achtung fehlt.«[9]

Damit wird deutlich, warum in diesem Band vom deutschen Geist und der deutschen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts (ohne Anführungszeichen), die zu leugnen nur fanatischen Deutschenhassern einfallen kann, nicht die Rede ist. Die Betrachtung »beschmutzt« nicht das eigene »Nest«; sie beklagt, daß man sich in diesem »Nest« nicht einrichtete, sondern aus ihm herausfiel – aus der Kultur in die Barbarei! Mit anderen Worten: die voll ausgeprägten Leistungen und Errungenschaften des deutschen musischem wie politischen Geistes (es gehört zur Perversion des deutschen Geistes, daß man Worte wie »großartig«, »erhaben«, ursprünglich berechtigt pathetische Worte, kaum mehr gebrauchen kann!) waren »offiziell« nicht anerkannt. Mit dem Wort »offiziell«, das mehrfach Verwendung finden wird, soll der Massengeschmack umrissen werden, wie er vor allem durch die staatliche Autorität gelenkt, gestützt, gefördert oder – wegen des Mangels an Auswahl- und Vergleichsmöglichkeit, das heißt durch Unterdrückung eines pluralistischen Geschmacks – erst hervorgerufen wurde. Gerade in diesem Zusammenhang kann man von einer ungeheuerlichen Schuld der Verantwortlichen sprechen, die sich nicht darauf hinausreden können, Opfer einer unglückseligen geschichtlichen Konstellation geworden beziehungsweise in einer »Einbahnstraße« festgelegt gewesen zu sein. Sie haben bewußt die Wegweiser in falsche Richtung gestellt, die Merkmale des deutschen Geistes verdreht. Wer sich so als »Stütze der Gesellschaft« erwies, als »untertäniger« Richter, Pfarrer, Offizier, Beamter, Professor, Lehrer, Journalist, ist anzuklagen.

Warum dies alles geschah? Warum die Gedanken der Demokratie und der Liberalität, des evolutionären Sozialismus und des Kosmopolitismus, die Ideen der geistigen und seelischen Kultur, obwohl so viele Deutsche zu ihren Urhebern, Verfechtern und Vertretern gehörten, sich nicht durchsetzen konnten? Verschiedene Antworten sollen im Verlaufe dieser Arbeit gegeben werden; eine Klärung wird ohne Metaphysik letztlich nicht möglich sein; auf dieses Gebiet will der Verfasser sich jedoch nicht vorwagen. Es geht hier vorwiegend um Phänomenologie: »phainómenon« heißt das sich Zeigende, das Erscheinende, und »Zeichen« sollen beschrieben werden. Aus solcher Bestandsaufnahme müssen freilich moralische Impulse hervorgehen; Nietzsche fordert sie mit den Worten: »An meinen Kindern will ich es gutmachen, daß ich meiner Väter Kind bin; und in aller Zukunft – diese Gegenwart!«

Es handelt sich bei dieser Schrift – einem solchen Mißverständnis ist vorzubeugen – nicht um eine historische Arbeit, nicht um Geistesgeschichte, die chronologischem Prinzip verpflichtet wäre. Die erkannten Merkmale werden häufig ohne Rücksicht auf die zeitliche Aufeinanderfolge nebeneinandergestellt (auch immer wieder aufgegriffen, mehrfach, jeweils von anderem Aspekt her, dargestellt). Die These wird aufgestellt und soll bewiesen werden, daß die »Geschichte« des offiziellen deutschen Geistes innerhalb der letzten eineinhalb Jahrhunderte keine Entwicklung brachte, sondern einem monotonen Rotieren um gleichbleibende ideologische Verzerrungen und Lebenslügen glich: Fichte als NS-Professor, Menzel als neudeutscher Studentenführer, Jahn als Reichssportführer, aber auch Hitler als Gartenlaubenautor oder Rasse-Ganghofer, Rosenberg als Wagner-Epigone, Goebbels als eine Art Wilhelm III. – was hier noch als journalistischer Gag aussehen mag, wird im Verlaufe der Darstellung erhärtet werden.

 

»Wahrlich, ich selber bin der erschreckte Vogel, der euch einmal nackt sah und ohne Farbe; und ich flog davon, als das Gerippe mir Liebe zuwinkte.«

Nach einem Wort von Albert Camus (im »Belagerungszustand«) empört die Gemeinheit, während die Dummheit entmutigt. Die Betrachtung des 19. und 20. Jahrhunderts empört, entmutigt – und erschreckt. So kann sich der Verfasser bei seinen Beobachtungen und Beschreibungen keines nüchternen Tones befleißigen. Er liebt die deutsche Gemütlichkeit, den deutschen Geist und die deutsche Kultur; den Deutschen Goethe und den Deutschen Schiller zumal; er glaubt immer noch an die Idyllik der Biedermeierzeit (auf dem Grunde der Schwermut) und an die Mondscheintrunkenheit der Romantik (und ihr tiefsinnige Ironie); aber wenn sie »als Gerippe« uns »zuwinken«, »fliegt man davon«. Zu keinem dieser Werte kann man sich heute guten Gewissens, unbeschwert, bekennen. Wir haben zwar diese Kultur nicht verloren, aber die Freude an ihr; denn ehe wir zu ihr vorstoßen, müssen wir, ob wir wollen oder nicht, den ideologischen Schutt wegräumen oder durch weltanschauliche Rieselfelder waten.[10]

 

Der Nationalsozialismus bedeutete nach alledem keinen »Betriebsunfall« der deutschen Geschichte, sondern war Endpunkt eines weit langem breit und einladend angelegten Weges (die anderen Wege wurden nur von wenigen begangen!)[11] Mit der Machtergreifung Hitlers trat die Krise nicht ein, sondern nur zutage – nun für alle sichtbar und begünstigt durch die politisch-wirtschaftliche Lage. Es ist also abwegig, die politisch-wirtschaftlichen Verhältnisse der Weimarer Republik für das Entstehen und den Erfolg des Nationalsozialismus verantwortlich zu machen. Freilich zerstörten sie die Widerstandskräfte, so daß die Krankheit (deren lange Inkubationszeit in diesem Band beschrieben werden soll) rasch und besonders verheerend um sich greifen konnte. Die Krise wäre auch ohne Hitler zum Ausbruch gekommen, oder es hätte einer sehr langen Therapie bedurft, um die Giftkeime des 19. und 20. Jahrhunderts, die eine bereits weitreichende Verseuchung hervorgerufen hatten, zu beseitigen. Durch einen gewonnenen Krieg wären hierfür keine Kräfte frei geworden – der Wilhelminismus hätte seine Fortsetzung gefunden. Die vorhandenen antidemokratischen und antihumanitären Strömungen hätten jedoch dann aller Wahrscheinlichkeit nach nicht eine derartige Brutalität wie Hitlers Nationalsozialimus entfaltet.[12]

Hitler war ein Kleinbürger, umgeben von kleinbürgerlichen Paladinen: »Es waren keine Dämonen, die da wild sich abmühten und auch tatsächlich nach oben geschwemmt wurden, sondern fast ganz reguläre Mitbürger. Nicht im Anders-als-die-anderen lag der Kniff, sondern ganz im Gegenteil im Genau-so-wie-die-anderen … Nicht nur Männer können Geschichte machen, sondern auch kleine Strolche. Und in der Regel wird dann der Effekt noch weit größer sein, da das Gespür solcher Menschen die Vielfalt unbefriedigter Massenwünsche und -sehnsüchte zu geschichtemachender Dynamik in Gang zu setzen versteht. Um große Wellen schlagen zu lassen, bedarf es nur eines Steins.«(H. Heiber)[13] Die nationalsozialistische Weltanschauung war Spießer-Ideologie; so ist es sinnvoll, in die Betrachtung ständig Beispiele aus der Ära des Nationalsozialismus einzublenden und dabei vor allem »Mein Kampf« zur Analyse heranzuziehen. Ein Kommentar zu Hitlers »Mein Kampf«, eine Untersuchung seines anthropologischen, soziologischen und psychologischen Gehalts zeigt, daß dieses Buch nichts anderes war als ein Sammelbecken von Strömungen, die im 19. Jahrhundert vorwiegend aus der Fehlinterpretation von Romantik und Klassik aufstiegen, das deutsche Verhängnis seit langem vorbereiteten und schließlich in der Zerstörung deutscher Kultur, Gesittung und Politik gipfelten. Man hat die Meinung vertreten, Bedeutung und Einfluß von Hitlers »Mein Kampf« dürften nicht hoch eingeschätzt werden, da das Buch zwar viel verbreitet, aber kaum gelesen wurde.[14] Das mag stimmen; doch sollte man daraus eine zunächst paradox klingende Folgerung ziehen: das Buch war so erfolgreich, weil es überhaupt nicht mehr gelesen werden mußte! Lebensgefühl und Weltanschauung eines Großteils der deutschen Bevölkerung stimmten a priori mit dem überein, was in »Mein Kampf« dargeboten und propagiert wurde.[15] Der Inhalt des Buches (zudem in Tausenden von Broschüren, Zeitungen, Zeitschriften unters Volk gebracht) enthielt all das, was »Spießers Wunderhorn«, die Pandorabüchse kleinbürgerlicher Traktätchenverfasser, bereithielt: abgründige Gemeinheiten, kleinbürgerlicher Wortquark, in schiefe Metaphern geschlagene Ressentiments, endlose Tiraden, rhetorisch aufgeschminkte Platitüden und eine penetrante »Kunstsinnigkeit«.[16]

Ein Kommentar zu Hitlers »Mein Kampf« – wie er hier von Fall zu Fall vorgenommen werden soll – ergibt einen Spießerspiegel par excellence.[17] Hitler besaß die Genialität des Mittelmäßigen; seine Durchschnittlichkeit war überdurchschnittlich; so wurde seine Mediokrität zum Schicksal eines Volkes, das sich Schritt um Schritt von Theorie und Praxis der Humanität hatte abbringen lassen.

Kultur als Fassade

Der Kleinbürger hat kein Kulturbewußtsein – aber er fühlt sich als der eigentliche »Kulturträger« der Nation.

Kultur ist Fassade – und dennoch nicht Vortäuschung; hinter der Fassade ist nichts; die Fassade ist er selbst.

Die Barbarei ist in die Kunstsinnigkeit eingesprenkelt; Krieg und Kunst, Gemeinheit und Schönheit werden zu auswechselbaren Begriffen; die Schizophrenie wird nicht als solche empfunden; das gespaltene Wesen ist das Wesen des Kleinbürgers schlechthin.

Man verehrt Goethe, aber er ähnelt dem Soldatenkönig; man bewundert das Schöne, aber es ist nur die muskulöse Nacktheit; man ist für Sauberkeit, aber sie ist steril; man spricht hohe Worte, aber es sind hohle Worte; man strebt nach Idealen, aber es sind Spießeridole; man pflegt Innerlichkeit – in der Gartenlaube; die Lieder, die man singt, sind Kitsch; der Mythos, den man verehrt, ist Kolportage; das Gemüt im Heim liegt auf Plüsch.

Kultur ist Farce – die »Dichter und Denker« werden wichtiges propagandistisches Material in der Hand der »Richter und Henker«; der Kleinbürger merkt die Absicht – und »macht mit«; sieht er doch nun das eigene »Kulturbewußtsein« von seinesgleichen propagiert.

Altmeister Goethe

»Wir haben ja unsere Kultur, heißt es dann, denn wir haben ja unsere ›Klassiker‹; das Fundament ist nicht nur da, nein, auch der Bau steht schon auf ihm gegründet – wir selbst sind dieser Bau«[18] – Nietzsches Wort in den »Unzeitgemäßen Betrachtungen« markiert einen wichtigen Punkt der geistesgeschichtlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts: den Rückzug auf die Position des »Es-ist-erreicht« – »Es darf nicht mehr gesucht werden; das ist die Philisterlosung«; man »besaß« die Klassik, und sie verbürgte, daß man innerhalb der Kulturhierarchie ganz oben stand, daß man sich allen – und dies besonders nach dem Sieg über Frankreich 1870/71 (dessen Kultur man zwar als »Zivilisation« verachtete, aber doch insgeheim als Rivalin fürchtete) – als überlegen erwiesen hatte. Solchen Irrtum, daß die »deutsche Kultur nämlich in diesem Kampfe gesiegt habe«, bezeichnete Nietzsche als einen »höchst verderblichen Wahn, weil er imstande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches«.

»Klassiker Goethe« war einer der »hohlen Gipsköpfe«, die (um einen Ausspruch von Egon Friedell zu gebrauchen[19]) der deutsche Bürger voll Andacht auf seine Konsole stellte; man blickte zu ihm auf, denn er war »vorbildlich«; so gehörte er zum Inventar eines vorbildlichen Haus- und Ehestandes.[20] Darüber hinaus wurde er zum nationalen Götzen, in dessen Namen man sich stolz ein Volk der »Dichter und Denker« nennen konnte. Hermann Hesse hat ein solches Goethebild im »Steppenwolf« beschrieben: »Einen charaktervollen, genial frisierten Greis mit schön modelliertem Gesicht, in welchem weder das berühmte Feuerauge fehlte noch der Zug von leicht hofmännisch übertünchter Einsamkeit und Tragik …«[21] Das 19. Jahrhundert hat sich »redlich« bemüht, aus Goethe den »edlen Altmeister« oder »titanischen Geistesheroen« herauszumodellieren. Im Zuge des Ideologisierungsprozesses wurden die wichtigsten Züge des Goethischen Werkes – das Humanitätsstreben, das Primat der Idee bei allem Wirklichkeitsbezug, die Betonung des Sozietätsgedankens, vor allem auch sein Kosmopolitismus[22] – ins Kraftvoll-Brutale, Rassisch-Körperhafte, Völkisch-Nationale pervertiert.[23] Was klassisches Menschentum beinhaltete, welche sittlichen und idealen Ziele es sich setzte, war der offiziellen Interpretation des 19. Jahrhunderts kaum zugängig.[24] Der Goethe eines echtdeutschen Deutschlands war äquivalent »erzdeutsch« und »faustisch«; an den »Faust« klammerte man sich denn besonders, weil man hier das höchste Symbol seiner selbst – »stets strebend bemüht«, wissenschaftsgläubig, tatkräftig und landrodend (das »faustische« Zweiflertum und Schuldbewußtsein wurden im Zeichen nationalen Aufbruchs wegretuschiert!) – zu erkennen glaubte: bis hin zu Oswald Spenglers Gleichsetzung des Faustischen mit dem Nordisch-Deutschen schlechthin.[25]

Angesichts der anderen Werke war die Fehlinterpretation schwerer vorzunehmen[26]; die Iphigenie kaum in eine germanisch-wagnerianische Speerjungfrau umzuformen, wenn sie auch in der bildenden Kunst – durch Feuerbach etwa – in sentimentalen Kitsch überführt wurde. Zwar hatte die »Gartenlaube« 1879 in Erinnerung an »jene« Zeit (eben »jene Zeit« Goethischer aufgeklärter Humanität) in ihrer tränenseligen Sprache einen ihrer »Möge«-Wünsche angebracht: »Möge Goethes reine, edle ›Iphigenie‹ auch im neu beginnenden Jahrhundert über deutsche Kunst und Literatur ihre Segnungen ergießen«[27] (der Wunsch kam immerhin von einem Altliberalen, dem Herausgeber und Begründer der Zeitschrift, Robert Keil!) –, doch die wahre Situation der Zeit traf Julius Langbehn besser, wenn er beanstandete, daß sich Goethe hier den »Mantel eines fremden Stils« übergeworfen habe; die »Iphigenie« sei zudem ein »Greisenprodukt«; die Heldin gebärde sich griechisch – »sie würde besser tun, sich deutsch zu gebärden«.[28]

Stefan George und sein Kreis, in erster Linie Gundolf, haben dann den Weltbürger Goethe für die konservative Gegenrevolution erneut umgeprägt[29]; nun ist er der amoralische Heros, Angehöriger der Elite, Mitglied eines esoterischen Männerbundes (die Frauen gelegentlich fürs Lager!), Wegbereiter eines kommenden Reiches des Adels. Goethes Freundschaft mit Schiller wurde mystifiziert oder gar homosexualisiert.[30]

Reichspräsident und Reichsregierung mißbrauchten am 16. März 1932 Goethes hundertsten Todestag – wahrhaftig nicht um einen Goethe »von innen bittend«, wie es Ortega y Gassets Festvortrag wollte – »als Weckruf für das Einheitsbekenntnis des über die ganze Erde verstreuten Deutschtums«.[31] Das 1933 »erwachende« Deutschland brachte »Goethe und kein Ende« – während in Wirklichkeit, um ein Wort Max Kommerells zu verwenden, die »Jugend ohne Goethe« aufwuchs.[32] Der Rosenbergsche »Kampfbund für deutsche Kultur« hatte bezeichnenderweise seine erste große Tagung (Pfingsten 1930) in Weimar abgehalten und damit »an das Erbe des unsterblichen Geistesheroen angeknüpft«.[33] So stark wäre Goethes »menschliche, seine urdeutsche, seine erzdeutsche Natur« gewesen, »daß er alles verdeutschte, was er einatmete«, meinte Hermann Burte, physiologisch unscharf, aber ideologisch richtig.[34] »Wie wäre Schiller aufgeflammt, wie würde sich Goethe empört abgewendet haben«, stellt Hitler fest, als er die Ursachen des Zusammenbruchs von 1918 (u.a. die »verfaulte jüdische Kunst«, den »Bolschewismus der Kunst«, die »Prostituierung der Kunst«) beschreibt.[35] Im Zeichen des sieghaften Nationalsozialismus hatte sich die Verschmelzung des deutschen »Geistes« und des deutschen Kampfes vollzogen: »Zwischen uns sei Wahrheit«, »die Stimme der Wahrheit und der Menschlichkeit … es hört sie jeder« waren nun – im neuen »Büchmann« – mit den NS-geflügelten Worten: »Wer auf Hitlers Fahne schwört, hat nichts mehr, was ihm selber gehört«, »Vorsicht Gummiknüppel«, »Blut ist mehr als Gold«, volksgemeinschaftlich vereint.[36]

Potsdam ist Weimar

Die revolutionären Schöpfer der deutschen Demokratie nach 1918 hatten eine andere Vorstellung von der klassischen Geisteswelt als die offiziellen Traditionalisten: die Niederlage hatte auch eine Revision ästhetischer Urteile und Vorurteile nahegelegt; die Fehlinterpretation der Klassik sollte rückgängig gemacht werden. Indem man Weimar zum Sitz der Nationalversammlung erkor, bezog man sich zurück auf den Geist der Aufklärung und einer unverfälschten humanitären Klassik. Für einige Jahre war so Weimar wieder zu Weimar geworden – doch nur für eine Minderzahl; die reaktionäre »Blüte des deutschen Geistes« sehnte sich nach der bewährten Allianz von Weimar und Potsdam, von Klassik und Preußentum – oder besser, da die beiden Geistes- und Lebenshaltungen nicht in ihrer originellen, sondern umgedeuteten Form amalgamiert werden sollten: nach einer Verbindung von Klassizismus und Preußismus.[37] Der schöne Schein und die chauvinistische Härte waren seit längerem für den deutschen Bürger eine natürliche Einheit.[38]

Hitler und Goebbels, die ein besonderes Gespür für »archetypische« deutsche Bewußtseinshaltungen hatten, arrangierten dementsprechend den Tag von Potsdam (21. März 1933) als feierliche »Weimar«-Schau: neben dem großen Paradeaufmarsch der nationalen Verbände zeigte man patriarchalische Würde (im greisen »Altmeister« Hindenburg verkörpert), bürgerliche Honorigkeit (mit Hitlers Frack), religiös-ethische Gesinnung (durch Glockengeläut und das Glockenspiel »Üb immer Treu’ und Redlichkeit«). Man erinnerte sich der großen Meister – von Kant über Goethe und Schiller zu Dietrich Eckart; jeder nationale Deutsche merkte zudem, daß Hitler sich des »edlen, erhabenen klassischen Sprachguts« zu bedienen wußte.[39]

Am gleichen Tag noch – wenige Stunden später – gefährdete freilich Reichstagspräsident Hermann Göring in einer Parlamentssitzung die schöne kulturphraseologische Fassade, hinter der Hitler die anlaufenden Terrormaßnahmen vor seinen kleinbürgerlichen und bürgerlichen Anhängern zu verbergen suchte. Der »Führer« habe nun mit Potsdam – so führte Göring aus – den »Anbruch einer neuen Zeit« herbeigeführt: »Nun ist Weimar überwunden«; gemeint war das politische Weimar; doch schloß die Formulierung die Zerstörung des »falschen« kulturellen Weimar (welches das echte war) und die mit Potsdam vollzogene Umkreierung des »echten Weimar« (welches das falsche war) mit ein.[40]

Vor 1918 hatte hinsichtlich dieser symbolträchtigen Örtlichkeiten, die bald gegeneinander, bald miteinander standen, Sombart seiner Zeit das Stichwort zugerufen: »Militarismus ist der zum kriegerischen Geist hinaufgesteigerte heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Er ist ›Faust‹ und ›Zarathustra‹ und Beethoven-Partitur im Schützengraben. Denn auch die Eroika und die Egmont-Ouvertüre sind doch wohl echtester Militarismus.«[41] – Es lohnt sich, einen Augenblick bei solcher Kunstkritik zu verweilen[42], da sie (abgesehen von dieser »prominenten« Stelle, der man angesichts des üblichen »geistigen Waffendienstes« deutscher Professoren, Dichter und Denker[43] und der damit verbundenen Exaltiertheit verminderte Zurechnungsfähigkeit zubilligen könnte) in ähnlich militaristischer Form seit längerer Zeit im Schwange war. Klassik wurde gleichgesetzt mit spektakulärer Pose, mit Systematisierung, Gliederung, Organisation – galt als Bewältigung chaotischer Stoffe und undisziplinierter Menschen durch Schliff und Drill. Klassik war ästhetische Strategie und damit als eine Abart der Kriegskunst zu interpretieren – woraus dann folgerte, daß Kriegskunst Ausdruck klassischer Haltung wäre. So wird etwa Moltke als der große Künstler des Krieges, als der große Krieger unter den Künstlern gepriesen: »Dem Krieg wird ein künstlerischer Charakter nicht fehlen, solange er von Leuten wie Moltke geleitet wird«.[44] Das Volk der Dichter und Denker habe sich – Langbehn stellt dies mit Aufatmen fest – in ein Volk der Krieger und Künstler verwandelt: »Krieg und Kunst ist eine griechische, eine deutsche, eine arische Losung.«[45] Das Klassische sei dem Preußischen und damit dem Parademäßigen verwandt: »Der Liniensoldat hat seinen Namen von den großen und einheitlichen Linien, in welche sich die Truppen unter normalen Verhältnissen formieren; das klassische Kunstwerk führt seinen Namen mit Recht, wenn es seinen individuellen Charakter zur großen und einheitlichen Linienführung, in materieller und geistiger Hinsicht, erweitert.«[46] Die Wilhelminische Ära glaubte damit das Erbe antiker und deutscher Klassik anzutreten: die griechische Athene war Göttin des Krieges und der Kunst, Goethe und Schiller waren »germanische Heldengestalten«! Ein solches Erbe wurde weitergereicht von deutschbewußten Hochschulprofessoren, Lehrern, Schriftstellern, Verlegern, Pfarrern, bis die Reichsparteitagsaufmärsche die Langbehnschen Phantasien über Parade und Kunstwerk zu »gigantischer« Wirklichkeit werden ließen. »Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen« – so marschierte man nun auch für die deutsche Kultur. Dem Schöpfer des Liedes, Horst Wessel, legte denn auch der Goebbels-Biograph Wilfried Bade die für die NS-Kulturpolitik sehr aufschlußreichen und sinnigen Worte in den Mund: »Die SA marschiert nämlich für Goethe, für Schiller, für Kant, für Bach, für den Kölner Dom und den Bamberger Reiter … Wir müssen jetzt für Goethe mit Bierkrügen und Stuhlbeinen arbeiten. Und wenn wir gewonnen haben, nun, dann werden wir wieder die Arme ausbreiten und unsere geistigen Güter an unser Herz drücken.«[47]

Nackt und schön

Klassik hieß Nacktheit – auch diese Gleichsetzung (wie die von Weimar und Potsdam) war zwar wenig subtil, aber fürs einfache Gemüt überzeugend: der »kulturbewußte« Kleinbürger war sowohl in der Schule als auch beim Museumsbesuch stets auf diese »Tatsache« gestoßen. Während sonst Prüderie und verdrängte Sexualität, die vor allem die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend bestimmten, für jeweils »anständige« Bekleidung sorgten, konnte man angesichts von Marmor- und Gipstorsos wie -vollplastiken den Menschen in seiner unverhüllten Leiblichkeit besehen und bewundern; je mehr antik er war, desto weniger Schleier und Blätter mußten zur Bedeckung seiner gefährlichsten Blößen herangezogen werden. Da man die »normale« Nacktheit als solche nicht mehr zu erleben wagte, bot sich die klassizistische Ideologie (»die großen Griechen und ihr schöner Leib«) als Ersatz für ein gutes Gewissen an.[48] Die avantgardistischen, antibürgerlichen und somit meist sezessionistischen Kunstrichtungen kämpften sich Schritt um Schritt die Bildfläche für die entideologisierte Nacktheit frei (also nicht mehr »Venus«, sondern schlicht »Badende«!). Die »offizielle«, das heißt von einem breiten Publikum und vor allem von der staatlichen Autorität akzeptierte Kunst blieb der mythologischen Nacktheit verhaftet. Arnold Böcklins »Triton und Nereide« (1875) zeigt beispielsweise die verschiedenen Elemente, die Nacktheit erträglich und sogar verehrenswert machten, sehr deutlich auf: beim Weib gut ausgeprägte sekundäre Geschlechtsmerkmale unter verführerisch durchsichtigem Schleier; beim Mann ahnungsvoll-sehnsuchtsvoll erhobener, blondsträhniger Kopf; alles in mythologischer Verfremdung (Fischleib des Mannes) und doch streng naturalistisch.[49] – »Wie will ich mich freuen, wenn ich einmal unter Menschen komme, die nackend gehen und wo ich nackend gehen kann!«[50] – der Wunschtraum Heinses, des Sturm-und-Drang-Dichters, der für viele postpubertile Phantasien des 19. Jahrhunderts verantwortlich gemacht werden kann, blieb zunächst unerfüllt: es waren eben keine Menschen, denen die Nacktheit erlaubt wurde, sondern entrückte Götter oder Halbgötter, Lebewesen »goldener Zeitalter«, Bewohner des Olymps oder Walhallas, Allegorien von »Nacht«, »Tag«, »Sonne«, »tote Krieger« und so fort.[51] Das war auf der einen Seite eine Einschränkung des eigenen Trieblebens, bedeutete aber auf der andern eine Erhöhung des Leibes, die geradezu Bildungsroutine wurde, sich in einigermaßen abgeschmackten Metaphern (»erhabener Leib«, »göttlicher Busen«) niederschlug und somit dem künstlerischen und später dem realen Leibkult einen von vornherein in der Hierarchie der »Werte« hoch oben stehenden Platz (sozusagen mythoästhetischer Art) einräumte. Das galt für die Durchschnittspsyche – selbst Fotografien zur Werbung für Reformkleidung waren um die Jahrhundertwende meist kombiniert mit Abbildungen hellenischer Göttergestalten;[52] und das galt für die esoterischen Kreise der Männerbünde, deren Leibvergottung – etwa bei Hans Blüher[53] oder Stefan George[54] – ins völlig Maßlos-Geschmacklose stieg.

Der Gedanke der Kalokagathie (der Harmonie von Seele und Leib, des erwünschten Zusammenklangs einer schönen Seele mit einem schönen Körper), von der Klassik aus der Aufklärung übernommen und weiterentwickelt, erfuhr schon bald im 19. Jahrhundert eine zu stark aufs Körperhafte bezogene Auslegung. Die »schöne Leiblichkeit« war wichtiger als die Seele, von der Wieland meinte, daß sie durch den Flor des Körpers stets hindurchscheinen müsse. Verhängnisvoll unterstützt wurde eine solche Fehlinterpretation durch die Weltanschauung der Turnerbewegung, die sich um das lateinische Wort »Mens sana in corpore sano!« kristallisierte und über Schule, Turnverein, Korporation und Festvortrag tief ins Bewußtsein vor allem der akademischen Jugend drang. Dabei handelte es sich um eine besonders bösartige Fälschung; denn Juvenal, von dem das Wort stammt, hatte nie den Unsinn behaupten wollen, daß in einem gesunden Körper eine gesunde Seele wohne oder umgekehrt. Man solle – meinte er –, wenn ein Kind geboren werde, zu den Göttern beten: »Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano!« Im Hinblick auf die spätere Wirklichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts (besonders des Nationalsozialismus) wäre es angebracht gewesen, dieses »Orandum-est-ut-sit« besonders stark herauszustellen: man möge darum flehen, daß trotz eines gesunden Körpers ein gesunder Geist und eine gesunde Seele sich einstellten!

Ein schöner Körper wurde als Beweis für »moralische Sauberkeit« empfunden, alabasterne oder marmorne Weiße als seelische Reinheit interpretiert.[55] Angesichts wohlscheinender Proportionalität verstummte die Frage nach Beseelung und Durchgeistigung. Das »farbige Geschwätz« der mythologisch posierenden Kunst des Fin de siècle (blühende Wiesen mit blumenstreuender Flora, nackte Frauen an Quellen, durch Haine schreitende Halbgötter, Nymphen und Najaden hinter Büschen, in den Astgabeln die Faune) griff zwar vom Titel her noch Themen auf, die »Seelisches« anrührten – auch Gefährdung und Problematik bedeuteten. Doch Stucks Bild »Die Sünde« etwa – um von letzterem ein Beispiel zu geben – war nicht wirklich eine Auseinandersetzung mit der Sünde und ihrer »Schwerkraft«, sondern nur ästhetisch-erotische Attraktion: reizvoll – Boudoir- bzw. Schlafzimmerkunst. Stuck wollte eben »Schönes schaffen zum Schmucke des Lebens«.[56] Die ästhetische Pose griff dabei vom Bild auf den Maler über: er selbst wollte »schön« sein wie die Kunst, die er schuf. So haben Stuck und Lenbach einen besonderen Ritus des Malens entwickelt, der Räucherkerzen und Gehrock einschloß und sich in einem Atelier vollzog, das den Plüschwohnstil maßgebend beeinflußte (besonders berühmt Hans Makarts Wiener Atelier). Der prunkvolle Dekor umfaßte Samt, Seide, Waffen, Geschmeide, Brokat, Spitzen, Perserteppiche, Gobelins; der Schönheitswert solcher Utensilien war um so höher, je gehäufter sie in Erscheinung traten und je weniger man sie für irgend etwas praktisch gebrauchen konnte. Wer den »Festsaal« oder »Dom« der Kunst betrat, am »Altar der Kunst« niederkniete – für den konnte auch eine »schwarze Messe« zelebriert werden; wer die »Schönheit angeschaut mit Augen«, der war ihr »auf immerdar verfallen«; was von einem ästhetischen Schmelz überzogen war, erschien schön – auch das Niedrige oder Gemeine. Die »dekorative Kunst« dieser Zeit, die Nietzsche anprangerte, war somit eine zumindest potentiell höchst unmoralische Kunst, da sie den Schein zum Sein erhob, durch den Schein das eigentliche Sein (etwa der Sünde) ins Gegenteil verfälschte, »kunstvolle« Fassaden schuf, hinter denen sich die Kräfte der Barbarei formieren konnten.

Der an der bildenden Kunst ablesbare Vorgang der Perversion des Schönheitsbegriffes findet seine Entsprechung in der Literatur und Musik. Lyrik, Epik, Dramen wurden nach dem »Goldenen Schnitt« konstruiert: Stimmung, Handlung, Sprache sollten Manifestationen des Edlen, Erhabenen sein, freilich nicht des wirklich Edlen und Erhabenen: sie waren große Gebärde, die sich edel und erhaben gab. Stefan George, um einen der weniger Inferioren zu erwähnen, rückte die »Unbefleckten und Makellosen« in den Mittelpunkt seiner Dichtung. Nach Wolters ist Georges Algabal dem Gesetz der »Hoheit und Einzigkeit« unterstellt; er will nämlich lieber den Mord als die »leise, selbst ungewollte Antastung der Würde«.[57] Mit einem Kleid aus »blauer serer-seide / Mit sardern und safiren übersät / In silberhülsen säumend aufgenäht / Doch an den armen hat er kein geschmeide« – so läßt der Dichter seinen spätrömischen Kaiser-Helden auftreten.

»Er lächelte sein weisser finger schenkte

Die hirsekörner aus dem goldnen trog

Als leis ein lyder aus den säulen bog

Und an des herren fuss die stirne senkte.

Die tauben flattern ängstlich nach dem dache

›Ich sterbe gern, weil mein gebieter schrak‹

Ein breiter dolch ihm schon im busen stak

Mit grünem flure spielt die rote lache.«

Der sadistische Täter als Lichtgestalt dargeboten – weiter konnte der Ästhetizismus kaum getrieben werden! Das waren die dichterischen Allüren des Dandys (des mit einem épater le bourgeois von seiner Kleinbürgerlichkeit ablenkenden Parvenüs), der »Schöngeistigkeit« mit »Schönleiblichkeit«, »edel« mit Edelstein, »würdevoll« mit Zylinder, Gehrock, Monokel und Weihrauchkorn auf der brennenden Zigarette verwechselte.[58]

Diese »in selbstgefällige Form gefaßte Leere« (B. Brecht) taucht in der Musik bei Wagner auf, der sich nicht von ungefähr Ludwig II. so tief verbunden fühlte. Ob »Algabal«, Schloß Linderhof oder »Tristan« – sie sind gleichermaßen geprägt durch einen geradezu manischen Drang nach Schönheit, die mit einer Verdrängung der Wahrhaftigkeit Hand in Hand geht. Die unredlichen, weil betäubenden beziehungsweise verführerischen musikalischen Mittel, die Wagner aufwendet, hat Thomas Mann in seiner Novelle »Tristan« sehr überzeugend sichtbar gemacht – wobei er die Tonflut in Form einer Wortrhapsodie nachzeichnet: »O sink hernieder, Nacht der Leiber, gib ihnen jenes Vergessen, das sie ersehnen, umschließe sie ganz mit deiner Wonne und löse sie von der Welt des Truges und der Trennung … und es erfolgte zu Brangänens dunklem Habet-Acht-Gesang jener Aufstieg der Violinen, welcher höher ist als alle Vernunft …«[59] Wie schön (und nicht: wie wahr) ist der beim pseudogebildeten oder verbildeten Publikum provozierte Gefühlsreflex; auch in der Musik die Regression des Geistes zugunsten leiblich-sinnlicher Euphorie – eine Musik, die nicht klärt, sondern betastet!