Shitsingle - Reinhard "Zwakkelmann" Wolff - E-Book

Shitsingle E-Book

Reinhard "Zwakkelmann" Wolff

0,0

Beschreibung

"Shitsingle" erzählt von Schlaffke, dem Einzelgänger und Punk-Musiker, der in der niederrheinischen Provinz hängen geblieben ist. Er nutzt den Corona-Lockdown dazu, einige sinnfreie Dinge zu erledigen, sich sein Heimatdorf anzuschauen und vor allem zurückzublicken. Es geht um Alltäglichkeiten, Alkoholexzesse, Peinlichkeiten, Pleiten, Panikattacken, Punk, eine Handwerksausbildung, Auftritte mit seinen Bands Schließmuskel und Zwakkelmann, Aufeinandertreffen mit Campino, den Ärzten, Helge Schneider sowie normal Sterblichen, den Tod, gescheiterte Liebesbeziehungen und das Single-Leben an sich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 225

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Reinhard Wolff

SHITSINGLE

ANEKDOTEN EINES VOLLIDIOTEN

Originalausgabe

© 2021 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

[email protected]; http://www.hirnkost.de/

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Juli 2021

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; [email protected]

Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/

Layout:www.benswerk.com

Lektorat: Klaus Farin

ISBN:

PRINT: 978-3-948675-21-9

PDF: 978-3-948675-23-3

EPUB: 978-3-948675-22-6

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

Unsere Bücher kann man auch abonnieren:

https://shop.hirnkost.de/

Mitwirkende

(in der Reihenfolge ihres Auftritts):

Eisenpimmel, Zwakkelmann, Frei.Wild, Tocotronic, Dieter Bohlen, Neil Diamond, Deep Purple, Helge Schneider, Udo Jürgens, Kerstin Ott, Schließmuskel, The Beatles, The Who, Einstürzende Neubauten, Jan Delay, Xavier Naidoo, Charles Bukowski, Mickey Rourke, Terrorgruppe, Loriot, The Clash, Dead Kennedys, The Gun Club, Heino, Der Wahre Heino, Die Toten Hosen, Bad Brains, Johnny Ramone, Dire Straits, Mark Knopfler, The Beach Boys, Brian Wilson, Elvis Presley, Mariah Carey, Genesis, Die Ärzte, Simply Red, Winston Churchill, Shane MacGowan, The Pogues, Johnny Cash, The Kinks, Eagles, Die Mimmis, Die Abstürzenden Brieftauben, Mike Krüger, Frenzy, Die Suurbiers, The Waltons, Campino, Ton Steine Scherben, Abba, Die Flippers, Scorpions, Violent Femmes, The Toy Dolls, Nirvana, Green Day, Franz Schubert, The Untertones, The Ramones, Heinrich Heine, Wolf Maahn, Wolfgang Niedecken, Slime, ZK, Bela B, Farin Urlaub, Milo Aukerman, Descendents, Joe Strummer, Blood on the Saddle, Greg Davis, The Bangles, Konrad K., Brian Connolly, The Byrds, The Turtles, Trio, Die Kinskis, Uwe Faust, Alfred Hitchcock, Rio Reiser, Motörhead, Amigos, Keith Moon, Peter Hein, Fehlfarben, UK Subs, Bad Religion, Charlie Harper, Jello Biafra, Dream Theater, Matthias Reim, Die Kassierer, Axl Rose, Mick Jagger, Slayer, Françoise Hardy, Frédéric Chopin, Lee Hazlewood

Inhalt

Mit Verlaub, Zwangsurlaub

Eingang

Ein Esel in Wesel

Pinkeln in Hamminkeln

Tanken in Gedanken

Fahr Rad malad

Rumsfeld

Die Gewohnheit leid

Verpeilt im Supermarkt

Geschwindigkeit light

Spezielle Baustelle

Lärmbelustigung Delay

Eine schwere Lehre

Durchgefallen

Gitarre in Händen plus Rückblenden

Stubenrocker

Kalla-Balla

Maustreiber

Als Pausenclown downtown

Zopfarsch

Pleiten bestreiten

Well, kein Hotel

Brauner Shitstorm auf Videoplattform

Rückblicke und Missgeschicke

Stoffel trifft Walti

Lagerfeuer-Spaß im Gras

Blank im Pfarrhaus

Der Flugscheißer

Eskapade Besteckschublade

Prominente Peinlichkeiten

Western von gestern

Blut auf dem Sattel

Hubert & Johnny

Dusselige Kuh

Solche Momente

Friedemann

Anna-mnese

Augenblick mal

Müder Kick im Blick

Kacklette

High Leid

Rock’n’Roll-Protokoll in Dur und Moll

Warten am Kindergarten

Eiter bis wolkig

Nur eine kleine Tour

Rodeo-Ausritt zu dritt

Rodeo-Auftritt – ein Hit

Ausgang

Mit Verlaub, Zwangsurlaub

Eingang

Die Tür fiel ins Schloss. Er atmete durch. Corona-Zwangspause auf unbestimmte Zeit.

Was sollte er davon halten? Es war seltsam und beängstigend zugleich. Mit solch einem fatalen, unsichtbaren Gegner hatte wohl niemand gerechnet. Außer vielleicht irgendwelche Wissenschaftler. Nach dieser einschneidenden Krise würde sich einiges ändern.

Dank Corona kam es in weiten Teilen der Welt zu einer Entschleunigung, die einer Vollbremsung glich. Abgesehen von den negativen Folgen, die natürlich verheerend waren und berechtigterweise im Fokus standen, blieb der Natur jetzt Zeit, sich vom Menschen zu erholen. So profitierte der Mensch letztendlich wieder davon.

Das Virus konnte nur gemeinsam überwunden werden. So viel stand fest. Egoismus war da fehl am Platze. Und an dieser Stelle dachte er an sich. Auch wenn die Zukunft ungewiss erschien, freute er sich, frei zu haben. Anstatt sich mit den Problemen anderer herumzuschlagen, konnte er sich nun auf sein kleines Kackleben konzentrieren. Wie viele Menschen, die nichts wirklich können, arbeitete er im sozialen Bereich.

Durch die von oben verordnete Pause blieb ihm endlich Zeit, weiter an seinem Buch zu schreiben. Es vielleicht sogar endlich zu Ende zu bringen. Zum letzten Mal erlebte er solch einen Leerlauf während seiner Studienzeit.

Er hatte nur die Befürchtung, dass ihn wieder diese elende Einsamkeit einholen würde. Die Einsamkeit, der er gut entfliehen konnte, während er seinem Job nachkam.

Nicht der Alltag, auch nicht politische oder ökologische Entwicklungen waren es, die ihn aus dem Gleichgewicht brachten. Nein, Zwischenmenschliches, die Liebe erschütterte ihn in seinen Grundfesten.

Wenn er so wie heute nach einem Arbeitstag zu Hause ankam, war er meist froh, keinen Menschen mehr um sich haben zu müssen. Sich was zu essen zu machen und in den Fernseher oder Computer zu glotzen. Schlichtweg seine Ruhe zu haben. Frei nach Eisenpimmel: „Füße hoch, Fernseher an, Arschlecken.“

Und dann war da ja noch die Musik, der er seit Ewigkeiten nachging. Meist erfolglos. Unglaublich, wie lange er seine Mitmenschen schon mit seinem beknackten Output nervte.

Seit frühester Jugend nannten ihn die meisten seiner Freunde „Schlaffke“. Ein Spitzname, den sein Vater irgendwann ob seines schmächtigen Körperbaus kreierte und den seine Kumpels dankend übernahmen.

In Bälde sollten einige Konzerte mit seiner Band anstehen, die aber nun reihenweise abgesagt wurden. Er wollte sich davon aber nicht runterziehen lassen und war gewillt, das Beste draus zu machen. Früher hätte es ihn sicher mehr frustriert. Wie viele seiner Künstler- bzw. Musikerkollegen konnte er sich entspannt zurücklehnen. Geld hatte ihm die Musik unterm Strich nie wirklich eingebracht. Er verdiente seine Brötchen woanders.

Um Facebook, Instagram & Co. machte er momentan einen Bogen. Grund waren ungelogen die vielen, selbst ernannten Virologen. Schick gereimt.

Und ständig dieses Gequatsche. Viel zu viele Menschen geben heutzutage zu allen erdenklichen Themen ihren Senf ab. Vornehmlich in asozialen Schwätz-, Pardon, Hetzwerken, dachte Schlaffke. Auch er schoss bisweilen aus der Hüfte und ließ sich zu voreiligen Schlüssen verleiten. Dabei ist es manchmal klüger, sich zurückzuhalten und zu schweigen. Besser abwarten und Kaffee trinken, anstatt in Panik und blinden Aktivismus zu verfallen. Gerade in dieser schnelllebigen Zeit, in der beinah täglich eine neue Sau durch das virtuelle Dorf getrieben wird.

Ungeachtet dessen hingen seine Gedanken wieder an seiner Ex-Freundin, die, wie die Bezeichnung „Ex“ explizit verrät, nicht mehr seine Freundin war. Sie hatte sich bereits vor Jahren verabschiedet. Seitdem war er aus dem Tritt geraten und fiel regelmäßig in unterschiedlich tiefe Löcher. Aber er versuchte, diesen Löchern so gut es ging auszuweichen, was bisweilen auch gelang. Seine Beschäftigungstherapie lautete: Songs und Geschichten zu schreiben, Lieder aufzunehmen, Konzerte zu geben, sich am Leben und seinen Facetten aufzureiben, sich zu besaufen, Peinlichkeiten zu begehen und in der Vergangenheit zu schwelgen.

Negative Erfahrungen, wie beispielsweise eine schmerzhafte Trennung, sind für die Kreativität förderlich. Werden die düsteren Stimmungen allerdings zu heftig, geht gar nichts mehr. Dann kann man auch nicht mehr kreativ sein.

Glücklicherweise hatte sich seine Verfassung zum Positiven gewandelt. Allerdings war das sehr formabhängig. Es gab immer noch miese Tage, an denen er zu kämpfen hatte.

„Einsamkeit light“, ein alter Zwakkelmann-Song, kam ihm in den Sinn:

Manchmal kommt sie hoch – die Einsamkeit

Fliegt durch den Raum und setzt sich zu mir

Dazu eine Prise Selbstmitleid

Und es ist an der Zeit, dass ich mich verlier

Ich merke, wie sinnlos das Leben ist

Ohne jemanden, dem ich vertrau

Denn das, was man wirklich schmerzlich vermisst

Zeigt sich in solchen Momenten genau

Das Zimmer hier ist mein Untergang

Ein Sarg mit einer geöffneten Tür

Wenn ich bloß wüsste, wie ich es anfang

Dass ich wieder Leben in mir verspür …

Davon mal abgesehen war er das Alleinsein gewöhnt. Die meiste Zeit seines Lebens brachte er als Single zu. Und das gar nicht mal schlecht. Auch wenn ihm natürlich klar war, dass das Singledasein nicht das Nonplusultra war. Das Tor zum Paradies blieb einem letztendlich versperrt.

Aber besser halbwegs zufrieden allein vor sich hinleben als unglücklich zu zweit.

Und was hatte er mit seiner Ex für aufreibende Grabenkämpfe ausgetragen! Zumindest blieben ihm diese nun erspart.

Da er jemandem eine Zwakkelmann-CD vorbeibringen wollte, fuhr er ins angrenzende Wesel. Er gedachte, sie ihm in den Briefkasten zu schmeißen.

Ein Esel in Wesel

Ein angenehmer Frühlingstag. Schlaffke irrte ziellos durch die Fußgängerzone der trostlosen Stadt. Er suchte nach der Wohnung seines Bekannten. Mal wieder hatte er die Orientierung verloren.

Trotz der Pandemie rannten noch jede Menge Leute durch die Straßen. Plötzlich sah er überall nur noch grässliche, hässliche Menschen.

Eine feiste Frau mit einem aufgedunsenen Gesicht an einer Metzgerei, einen braungebrannten Schnösel mit Goldkettchen neben einem Handyladen, einen muskulösen Stiernacken im Frei.Wild-Shirt und ein schreiendes Kind mit aufgerissenem Mund vor einem Eiscafé. Unwillkürlich musste er an den Zwakkelmann-Song „Grässliche hässliche Menschen“ denken:

Es gibt so grässliche hässliche Menschen

Gut – auch ich bin nicht gerade schön

Doch manchmal lauf ich entnervt durch die Straßen

Und kriege insgeheim einen Fön …

Wenn doch bloß überall schon Maskenpflicht herrschen würde. Die vielen Eindrücke überforderten ihn. Ihm wurde schwindelig.

Warum tat er sich das an? Eigentlich hasste er Städte. Vor allem tagsüber.

Auf einer Reklame las er anstatt „Trauringe“ „Traurige“ und bei dem Wort „Eheschließung“ wiederum „Erschießung“. Typisch für seine negative Denkweise. Er musste lachen.

Kurz darauf sah Schlaffke in einem Schaufenster sah Schlaffke in einem Schaufenster Fotos junger Paare, die gestellt in kitschigem Ambiente posierten. Alle Protagonisten natürlich in edlem Zwirn. Die Frauen in eleganten Kleidern und die Männer in feinen Anzügen. Klamotten, die sofort Ablehnung in ihm hervorriefen.

Schlaffke fühlte sich meilenweit davon entfernt. Diesen Status würde ich wohl nie im Leben erreichen. Der Zug war längst abgefahren. Das stand fest. Mag sein, dass auch eine Portion Missgunst mitschwang.

An wie vielen Hochzeitsfeiern hatte er wohl schon teilgenommen? Die meisten Paare hatten sich längst wieder scheiden lassen. Da gab es welche, die sich mit Pauken und Trompeten das Ja-Wort gegeben hatten und heute kein Wort mehr miteinander sprachen.

Okay, als junger Mann hatte er auch die Vorstellung von einer Hochzeit mit allem Pipapo. Inzwischen erschien es ihm nur noch albern.

Schlaffke latschte weiter. Wie unsagbar langsam sich die Menschen vorwärtsbewegten! Ständig versperrte einem jemand den Weg. Eine alte Tocotronic-Zeile fiel ihm ein: „Gehen die Leute auf der Straße eigentlich absichtlich so langsam?“ Eine durchaus berechtigte Frage.

Aber zum Glück hielten die meisten Menschen in Corona-Zeiten Abstand. Er empfand es als Wohltat.

Schlaffke blieb an einem weiteren Schaufenster stehen und erblickte einen schwarz gekleideten Typen mit Mütze. Wer war dieser abgehangene dürre Kerl mittleren Alters? Was für ein Verlierer-Typ!

Irgendwie kam er ihm bekannt vor …

Ach, das war ja seine blöde Visage! Er hatte in einen Spiegel geschaut.

Meine Güte, diese schäbige schwarze Jacke trug er nun schon so lange! Ihm war bis dato nie aufgefallen, was er darin für schmale Schultern hatte – wie unvorteilhaft sie ihn kleidete. Kein Wunder, dass mit Frauen wenig lief.

Letztens sah er zufällig einen Boxkampf im Fernsehen. Als der Reporter über einen der Boxer bemerkte, dass dieser 40 Jahre alt sei, dachte Schlaffke sofort: „Was will der alte Sack da noch im Ring?“ Dann wurde ihm klar, dass er selbst die 40 überschritten hatte.

Da er plötzlich Pissreiz bekam und auf die Schnelle natürlich nirgendwo eine Toilette aufzufinden war, beendete er seinen überaus erfolgreichen Ausflug. Die CD konnte er auch per Post verschicken. Schlaffke eilte zu seinem Wagen und setzte sich hinein.

Vor einer roten Ampel stellte sich ein fetter Amischlitten neben ihn. Es war ein Dodge Charger aus den frühen 1970ern. Was für ein göttliches Gefährt!

Wie viele Jungen hatte Schlaffke sich als Kind für Autos interessiert, mit seinen Freunden gerne Quartett gespielt. 12 Zille, sticht! Vielleicht rührte daher sein Faible für Oldtimer aus den 1960er- und 70er-Jahren. Wie die Musik hatten die Autos damals noch Klasse. Aber diese Kisten waren leider nicht mehr zeitgemäß. In ihrer Blütezeit lag der Klimawandel noch in weiter Ferne. Nichtsdestotrotz freute sich Schlaffke jedes Mal, wenn er solch eine Karre sah. Doch musste er keine sein Eigen nennen. Es reichte ihm, wenn ihm ab und zu eine begegnete oder er sich Videos davon anschauen konnte.

Das tiefe Pöttern des Motors verriet, welch unbändige Kraft unter der Motorhaube lag. Aber der gestylte Kerl hinterm Steuer machte ihm zu sehr einen auf dicke Hose. Lachhaft, wie er, mit Kippe im Mund und Sonnenbrille auf der Nase, seinen tätowierten Arm aus dem Fenster baumeln ließ und cool in der Gegend rumglotzte.

Schlaffke wollte nicht, dass der Typ was von seiner Bewunderung für den Wagen mitbekam. Er versuchte, das Muscle-Car so unauffällig wie möglich in Augenschein zu nehmen. Aber das aufgesetzte Gebaren seines Halters machte alles zunichte.

Auch wenn Schlaffkes schmächtigen Körper kein einziges Tattoo zierte, hatte er nichts gegen Tätowierungen. Von ihm aus konnten die Leute sich zupflastern, wie sie wollten. Ihn nervte nur dieses alberne, offensichtliche Zurschaustellen – dieses großspurige Gehabe bestimmter Typen.

Mag sein, dass er dem Fahrer unrecht tat. Vielleicht war er ja ein netter Kerl und das alles wie so oft nur Fassade. Mehr als dessen Fassade bekam er ja auch nicht zu sehen.

Irgendwie trug Schlaffke eine Menge Vorurteile mit sich herum. Aber wer tat das nicht?

Pinkeln in Hamminkeln

Henry Miller (oder war es Arthur?) schrieb mal, dass Menschen, die häufig pinkeln müssen, geistig aktiv wären. Demnach musste Schlaffke über ein immens lebendiges, rund um die Uhr arbeitendes Superhirn verfügen und ein völlig verkopfter Mensch sein.

Seine Blase schrie permanent danach, entleert zu werden. Und das konnten alle aus seinem näheren Umfeld bestätigen. Wenn es irgendwo hinging, war immer Schlaffke der Erste, der fragte: „Können wir an der nächsten Raste rausfahren? Ich muss pissen.“

Ob seines unseligen Harndrangs sah Schlaffke sich auch jetzt gezwungen, einen Rastplatz anzusteuern. Er parkte seine Kiste vor einem überquellenden Müllcontainer und überlegte, in den angrenzenden Wald zu pinkeln. Da sich dort aber Menschen aufhielten, entschied er sich für die elegantere Variante und begab sich zu einem verlassenen Toilettenhäuschen in der Mitte des Rastplatzes. Es hatte glücklicherweise nicht geschlossen. Auf dem Lande hielten sich die Corona-Beschränkungen in Grenzen.

Als er die Toilettenanlage enterte, kam ihm ein Kerl mit ausladender Plauze entgegen. Es sah aus, als hätte er einen Fußball verschluckt. Er trug eine kurze Hose, die ihm zum Ausgleich oben fast bis unter die Achseln reichte. Der lustige Plauzenmann war gerade damit beschäftigt, sich grunzend den Hosenstall zuzuziehen. Für einen Moment wurde Schlaffke in eine beißende Schweißwolke gehüllt. Vom berühmten „social distancing“, von dem jetzt alle sprachen, konnte hier keine Rede sein.

Zum Glück hatte der Plauzenmann bereits sein Geschäft erledigt. So blieb Schlaffke die Peinlichkeit erspart, neben ihm urinieren zu müssen. Er konnte nämlich nicht pinkeln, wenn jemand neben ihm stand. Eine weitere heitere Phobie, unter der er litt.

Die Toilette war zwar menschenleer, stank dafür aber nach menschlichen Exkrementen und sah alles andere als einladend aus. Das linke Pissoir schien außer Betrieb zu sein. Man hatte es notdürftig mit Paketband zugeklebt. Das rechte wiederum war besprenkelt mit rotgelben Flecken. Welch lauschiges Plätzchen.

Um sich nicht übergeben zu müssen, steuerte Schlaffke die Behindertentoilette an. Die sah zwar auch nicht viel besser aus, aber dort konnte er zumindest ungestört pinkeln, ohne dass sich ein übergewichtiger Trucker zu ihm gesellte.

Schlaffke musste an den Song „Notdurftverrichtungs-Zeitanalyse“ denken:

Ich muss noch mal eben pissen …

Und dann geht’s los

Ich frag mich, wie oft man im Leben pinkeln muss?

Wie viel Zeit verbringt man auf einem Ort wie dem Lokus? …

Das waren die großen philosophischen Fragen, dachte er, während er Wasser ließ.

Ihm fiel Onkel Erhards Pissgeschichte ein, der während einer Urlaubsreise nach Italien mit seiner Familie über etliche Stunden nicht die Möglichkeit hatte, zu pinkeln. Als er dann endlich mit seinem Wagen den ersehnten Campingplatz in Italien erreichte und in einem Gebüsch seine zum Bersten gefüllte Blase entleeren wollte, wurde er sogleich von einem übereifrigen Mitarbeiter des Campingplatzes zur Strecke gebracht. Das heißt, der leicht untersetzte Italiener schrie Onkel Erhard aufs Übelste an. Dieser hatte an einer falschen Stelle geparkt. Außerdem war es dort nicht erlaubt, zu pissen.

Es muss ein Bild für die Götter gewesen sein, wie Onkel Erhard ungeniert seiner Blase freien Lauf ließ, während ihn besagter Mitarbeiter auf Italienisch anschrie.

Ob Schlaffke in diesem Falle hätte pinkeln können? Wohl eher nicht.

Tanken in Gedanken

Irgendwas Sinnvolles musste er heute noch machen. So entschloss Schlaffke sich, zum Tanken ins angrenzende Holland zu fahren. Dort lief alles laxer ab. Beispielsweise herrschte in den Niederlanden bis dato keine Maskenpflicht.

Eh er sich versah, stand er auch schon in einer der Autoschlangen, die sich vor den Tanksäulen gebildet hatten. Selbstverständlich befand er sich in jener Schlange, in der es am langsamsten voranging. Der Klassiker.

Schlaffkes Blick fiel auf einen korpulenten deutschen Spießbürger, der sich erst einmal umständlich Plastikhandschuhe überstreifte. Wahrscheinlich, um sich auch ja nicht die Hände mit Sprit zu beschmutzen. Vielleicht auch aus hygienischen oder gesundheitlichen Gründen.

Anschließend drehte der Spießer in Zeitlupe den Tankverschluss seines silberfarbenen Audis auf. Dann nahm er bedächtig den Stutzen in die Hand und führte ihn in die Tanköffnung. Während der Sprit in den Tank lief, gaffte er Schlaffke stumpf an. Es sah aus, als würde er gerade pissen. Schlaffkes Vater hätte gesagt: „Der glotzt, als würde er noch 5 Mark von mir kriegen.“

Er hasste diesen rotgesichtigen Glotzkopf auf der Stelle! Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis dieser fertig war. Und natürlich kam dieser unsägliche Unsympath nicht auf die Idee, seine Karre vor dem Bezahlen, wie es in den Niederlanden üblich ist, wegzusetzen. Nein, er ließ seine auf Hochglanz gewienerte Limousine an der Tanksäule stehen und blockierte somit den gesamten Ablauf.

Jetzt quetschte er seinen massigen Körper hinter das Lenkrad seines Nobelgefährts und fummelte am Handschuhfach herum. Schlaffke indes kochte vor Wut in seinem Wagen. Mit Verwünschungen wie „Beweg deinen Arsch, sonst blas ich dir den Marsch“ versuchte er sich Kinski-mäßig Luft zu machen. Unwillkürlich ging ihm „Tourette-Syndrom“ durch den Kopf:

Prollmops – Dummfick – Mistbock

Fettklops – scheiß Tic – Krautrock

Glotzkopp – Müllsack – Drecksvieh

Kotz Job – Fistfuck – Asi

Tourette-Syndrom …

Zum Glück drang nichts von seinen Tiraden nach draußen. Solche Wutanfälle arteten bei ihm nur aus, wenn er allein im Auto hockte, was ja meist der Fall war.

Er wusste, es war schwachsinnig, sich über solche Nichtigkeiten aufzuregen. Aber verdammt noch mal, er hatte in seinem Leben einfach zu viel Zeit mit unnützem Warten verbracht! Es nervte schlichtweg gewaltig. Er war es leid, sich in irgendwelchen Warteschleifen aufzuhalten. Zu häufig hatte er das Gefühl, von seinen Mitmenschen ausgebremst zu werden. Die meiste Zeit im Leben stand man irgendwo blöde in der Gegend rum und hoffte darauf, es würde irgendwie weitergehen.

Gemächlich teckelte der Spießer nun Richtung Kasse, derweil die Schlange immer länger wurde. Bis er endlich bezahlte, sah Schlaffke ihn noch lange glotzend vor den Regalen stehen. Der hatte wirklich die Ruhe weg.

Weitere quälende Minuten später schlurfte der Lahmarsch wieder zu seinem Wagen, zwängte sich unsportlich hinters Lenkrad und machte endlich die Biege. Was hatte ihn diese Schnarchnase Nerven gekostet! Irgendwie ging ihm heute alles unwahrscheinlich auf den Wecker. Schlaffke tankte seine Kiste voll, kaufte noch einige Pakete Kaffee und machte sich vom Acker.

Deutsche im Ausland, immer wieder peinlich. Auf dem Rückweg fiel Schlaffke eine Anekdote aus seiner Jugend in den frühen 1980ern ein, als er mit seinen Freunden eine Radtour nach Holland unternahm. Damals waren gebatikte Bundeswehrjacken der letzte Schrei. Im Nachbarland kamen diese Leibchen nicht besonders gut an. Das hing damit zusammen, dass auf den Ärmeln teilweise noch die Deutschland-Embleme zu erkennen waren. So wurde seine Clique auf offener Straße angepöbelt und bedroht.

Zunächst waren sie sich keiner Schuld bewusst. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, dass sie sich mit den Jacken als Deutsche zu erkennen gaben. Dabei waren sie, die Jungpunks, alles andere als Patrioten.

Apropos Jacken. Knapp 30 Jahre nach dem Bundeswehrjacken-Trauma blamierte Schlaffke sich bei einer ganz anderen Jacken-Geschichte. Er hatte sich nämlich in Oberhausen eine neue Jacke gegönnt. Das Teil war schwarz, schlicht und schick. Außerdem schien es ihm gut verarbeitet zu sein und war runtergesetzt.

Als er die Jacke seinem alten Freund und Schlagzeuger Echtmeier vorführte, fing dieser sogleich an zu lachen.

„Du hast dir nicht … oder?“

Verunsichert stammelte Schlaffke:

„Wie, wieso …? Was ist denn?“

Echtmeier bekam einen Lachkrampf, der mehrere Minuten anhielt.

Schlaffke hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte. Sah die Jacke so lächerlich an ihm aus? Er kam sich ziemlich blöd vor, wie er da angewurzelt im Raum vor Echtmeier stand.

„Wie meinst du das?“, hakte er noch mal nach.

Wieder schüttete Echtmeier sich aus vor Lachen. Dann rückte er endlich mit der Sprache raus. Er erklärte ihm, dass es sich dabei um eine Jacke von Camp David handeln würde. Und dass Camp David die uncoolste Klamottenmarke der Welt sei. Camp David würden nur schnöselige Mittfünfziger ohne Geschmack tragen. Peinliche Snobs mit Cabrio, die zum Beispiel auf Sylt gerne die Welle machen würden. Die aber im Grunde genommen nicht genug Kohle hätten, um wirklich auf die Jacke, Pardon, Kacke hauen zu können. Nicht umsonst gäbe es eine Dieter-Bohlen-Camp-David-Kollektion.

Echtmeier kannte sich immer schon besser mit Klamotten aus als er.

Ein paar Tage später ließ Schlaffke sich von einer Schneiderin die Logos der Jacke entfernen. Firmenlogos auf Klamotten fand er eigentlich schon immer blöd.

Fahr Rad malad

Zu Hause setzte er sich, um ein wenig runterzukommen, auf sein altes Hollandrad und fuhr durch die Gegend. Er hatte so was länger nicht getan. Vor allem nicht nachmittags an einem stinknormalen Werktag, da er dann meist arbeiten musste. Schnell wusste er auch warum.

Da sah er sie nämlich wieder, die ach so intakte glückliche Kleinfamilie. Der vor Kraft strotzende Mann breitbeinig vorneweg, agil trampelnd mit einer schlecht gelaunten Ehefrau und keifenden Kindern im Schlepptau. Den selbstgerechten Spießbürger vor seinem Eigenheim, der sein Auto wusch und vorwurfsvoll glotzte. Hatte Schlaffke ihn nicht gerade noch an der Tanke gesehen? Den sportiven Greis mit Fahrradhelm auf der grauen Birne.

Warum sah er alles immer so negativ? Eventuell war er zu lange als Single durchs Leben geirrt und hatte sich an hirnrissigen Dingen aufgerieben.

Schlaffke fühlte sich bisweilen schlicht und ergreifend einsam und wusste nichts so recht mit sich anzufangen. Alles erschien ihm sinnlos. Sogar mittlerweile das Musikmachen, was ihm bis dato stets so wichtig war. Immer häufiger fragte er sich, warum er diesen ganzen Aufwand betrieb? Der mehr als bescheidene Erfolg konnte es nicht sein. Die Kohle noch weniger. Im Gegenteil, man zahlte bei der Musik ja noch drauf. Vielleicht hatte er einfach nichts auf dem Kasten und befand sich in einer Sackgasse. Eventuell war das Musikmachen schon immer nur eine Art Beschäftigungstherapie für ihn gewesen, damit er nicht durchdrehte. Nichts von bleibendem Wert, weil ihm schlichtweg das Talent fehlte.

Schlaffke erinnerte sich an ein uraltes Gedicht, das er mit Anfang 20 schrieb.

Felsbrockenschlacht

Ein bedeutungsloser Pfad zog sich spiralförmig empor

durch eine Felsenlandschaft ins Nichts.

Und meist warf er sich selbst Steinbrocken in den Weg.

Dann wieder kamen diese Brocken

von unsichtbarer Hand getrieben

kackfrech in seine Quere.

Und immer galt es, diese Hürden zu überwinden.

Das brauchte er.

Oder sollte er sich direkt resigniert hinsetzen?

In der Musik steckte so unglaublich viel Zeit und Kraft, die er womöglich besser anderweitig hätte investieren sollen.

Wobei er dadurch ja auch jede Menge Menschen kennenlernte und tolle, unvergleichliche Dinge erlebte. Eigentlich wäre es längst mal wieder an der Zeit für eine neue Beziehung gewesen. Aber dazu fehlte ihm der Mumm. Oder die Gelegenheit.

Wie sollte das auch funktionieren? Er lebte ja fast wie ein Eremit. Wenn er sich mal aus dem Haus bewegte, dann nur, um schnell irgendwelche Dinge zu besorgen, sich die Beine zu vertreten oder zum Arbeiten. Oder, wenn es hochkam, zum Musikmachen und Saufen.

Es war stets derselbe Kreislauf. Er schaffte es nicht, ihn zu durchbrechen. Und jetzt in diesen verwirrenden Zeiten war es noch weniger möglich.

Oft hatte man ihm geraten, Urlaub zu machen. Was anderes zu sehen, den Horizont erweitern. Sein letzter richtiger Urlaub lag Jahrzehnte zurück. Aber sollte er allein irgendwo in den Süden fliegen und sich dort blöd an einen Strand legen? Man nahm sich doch immer selbst mit. Das ergab für ihn keinen Sinn. Viel zu viele Menschen reisten dämlich in der Weltgeschichte rum und verpesteten damit die Umwelt. Sollte er sich denen anschließen? Nein, kein Bedarf. Zum Glück war Urlaub machen momentan eh nur schwer möglich. Es freute ihn, dass die Billig-Vielfliegerei nun erst mal ein Ende hatte. Hoffentlich würde sich in der Hinsicht auch dauerhaft was ändern.

Und was tat Schlaffke indes? Er vergeudete seine Zeit auf Facebook & Co. oder irgendwelchen dubiosen Erotikseiten. Oder er schrammelte auf der Gitarre, schrieb halbgare Lieder und lebte so in den Tag hinein. Oder besoff sich bis zur Besinnungslosigkeit. Ja, der verdammte Alkohol hatte garantiert seine Spuren hinterlassen. Besoffen ging es einem meist gut. Aber nach dem Saufen war man unterminiert.

Die üblen Nachwirkungen zogen sich auch immer länger hin. Nach einem Vollsuff brauchte er mittlerweile mehrere Tage, um im Schädel wieder halbwegs normal zu werden.

„Ja, vielleicht bin ich einfach asozial“, Zwakkelmanns größter Hit, schoss ihm durch den Kopf:

Ich seh am Morgen schon Gespenster

Putze selten meine Fenster

Trinke Kaffee – rauche viel

Hab selten ein gescheites Ziel

Ich hocke ständig vorm PC

Finde einfach nicht den Dreh

Verirre mich auf Pornoseiten

Lass mich viel zu oft verleiten

Ja – vielleicht bin ich asozial …

Trag oft dieselbe Unterhose

Fresse Scheiße aus der Dose

Und in Nobelrestaurants

Verliere ich die Contenance

Soff als Kind schon aus der Flasche

Lüg mir einen in die Tasche

Höre 3-Akkorde-Lieder

Komm zum Punkrock immer wieder

Ja – vielleicht bin ich asozial …

Hatte der Punk ihn versaut? Sicher nicht ausschließlich. Da spielten noch andere Faktoren mit rein.

Nichtsdestotrotz tat es gut, sich die Umgebung anzuschauen. Ein sanfter Wind wehte, und er fühlte sich plötzlich gar nicht so übel auf seinem Fahrrad.

Je älter man wird, umso mehr weiß man die Natur zu schätzen, dachte er. Und man begibt sich wieder häufiger zurück zu seinen Wurzeln. Mit Kindern empfand man so was sicher noch intensiver. Damit konnte er aber nicht dienen.

Die Natur hat was total Beruhigendes an sich. Sie stellt keine Ansprüche – ist einfach nur da. Und was tut der Mensch? Er beschneidet sie an allen Ecken und Kanten, beutet sie aus und macht sie sich zum Untertan.

Gab es überhaupt noch unberührte Flecken in Deutschland? Wollte man sich in einem Wald irgendwo in Ruhe hinsetzen, dauerte es nicht lange und schon marschierte eine Armada fitter Greise in bunten Sportoutfits mit Nordic-Walking-Stöcken auf. Oder sie kamen behelmt auf Hightech-Fahrrädern durchs Unterholz gebrettert. Vor der Hochgeschwindigkeits-Leistungsgesellschaft gab es kein Entrinnen.

Wahrscheinlich gab Schlaffke ein ziemlich jämmerliches Bild ab, wie er in seinen ausgewaschenen schwarzen Klamotten auf einem verrosteten Fahrrad durch die Gegend fuhr. Ein kaputter Topf mit einem defekten Deckel. Von wegen: Auf jeden Topf passt ’n Deckel.

Sein alter Kumpel Tom kam ihm in seinem grauen Golf entgegen. Von Weitem erkannte er ihn schon an seinem Fahrstil. Tom bewegte sich stets im Schneckentempo voran. Außerdem zu weit links der Fahrbahn. Schlaffke betitelte ihn deshalb gerne als den „Rallyefahrer“.

Tom kannte er schon lange. Er gehörte zu den wenigen alten Freunden, die wie Schlaffke immer noch als Single durch die Gegend irrten. Auch er hatte keine Kinder. Tom erkrankte vor etlichen Jahren an MS und war mittlerweile Frührentner. Er lebte noch zurückgezogener als Schlaffke, was sicherlich ein Kunststück war. So verfügte er noch nicht einmal über einen PC, geschweige denn einen Internetanschluss. Ein paar Mal versuchte Tom, sich mit Computern vertraut zu machen. Das Projekt war jedoch jedes Mal kläglich gescheitert.