Shutter Man - Richard Montanari - E-Book

Shutter Man E-Book

Richard Montanari

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Beschreibung

Seit Generationen sind die Farrens eine der gefürchtetsten Familien Philadelphias. Schutzgelderpressung, Einbruch, Schießereien, Mord - die Liste der Verbrechen ist lang und zieht sich durch Jahrzehnte. Als Detective Byrne in einer Mordserie ermittelt, führt die Spur wieder zu den Farrens. Und zurück in seine eigene Vergangenheit. Bereits damals wurde ein Farren mit einem Mord in Zusammenhang gebracht, der niemals aufgeklärt wurde. Können Byrne und Balzano heute für Gerechtigkeit sorgen?

»Stellen Sie sich darauf ein, die ganze Nacht wachzubleiben.« JAMES ELLROY

Nichts für schwache Nerven! Die spannungsgeladenen Thriller des Bestsellerautors Richard Montanari um das Ermittlerduo Byrne und Balzano:

Band 1: Crucifix
Band 2: Mefisto
Band 3: Lunatic
Band 4: Septagon
Band 5: Echo des Blutes
Band 6: Der Teufel in dir
Band 7: Der Abgrund des Bösen
Band 8: Tanz der Toten
Band 9: Shutter Man
Band 10: Mord am Heiligen Abend

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Zitat

Prolog

ERSTER TEIL: Devil’s Pocket

1

ZWEITER TEIL: Im Schatten der Kathedrale

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DRITTER TEIL: Sídhe

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VIERTER TEIL: Billy, der Wolf

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Danksagungen

Über den Autor

Alle Titel des Autors

Impressum

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Über dieses Buch

Seit Generationen sind die Farrens eine der gefürchtetsten Familien Philadelphias. Schutzgelderpressung, Einbruch, Schießereien, Mord – die Liste der Verbrechen ist lang und zieht sich durch Jahrzehnte. Als Detective Byrne in einer Mordserie ermittelt, führt die Spur wieder zu den Farrens. Und zurück in seine eigene Vergangenheit. Bereits damals wurde ein Farren mit einem Mord in Zusammenhang gebracht, der niemals aufgeklärt wurde. Können Byrne und Balzano heute für Gerechtigkeit sorgen?

Richard Montanari

Shutter Man

Der Tod kennt dein Gesicht

Aus dem amerikanischen Englisch von Jan F. Wielpütz

Für Dominic und Mary

Denn es kommt, das Menschenkind,Kommt zu Wassern, Wildnis, WindMit einer Fee an seiner HandAus einer Welt so voller Tränen,dass es sie nie verstand.

William Butler Yeats

Wer bist du?Ich bin Billy, der WolfWarum hat Gott gemacht, dass du die Gesichter der Menschen nicht mehr erkennen kannst?Damit ich ihre Seelen sehe.

Philadelphia, 2015

Als der schwarze SUV zum zweiten Mal am Haus der Rousseaus vorbeifuhr, einem gepflegten Bau im Kolonialstil im Stadtteil Melrose Park, legte Laura Rousseau gerade letzte Hand an die Lammkeule. Ihr Mann Angelo feierte heute seinen vierzigsten Geburtstag. Obwohl er kein großes Aufheben um diesen Tag machen wollte, hatte er Laura seit Wochen vom Lammbraten seiner Mutter vorgeschwärmt. Angelo Rousseau hatte viele Begabungen. Feingefühl gehörte nicht dazu.

Laura hatte in der Küche gerade den frischen Rosmarin klein geschnitten, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Schritte näherten sich durch den Flur. Es war ihr Sohn Mark, siebzehn Jahre alt, Schulsprecher und Kapitän der Leichtathletikmannschaft. Trotz seiner Größe und seines kräftigen Körperbaus bewegte sich der Junge mit der Leichtigkeit eines Tänzers. Er hatte gute Chancen, bei den nächsten US-Meisterschaften im Tausendfünfhundertmeterlauf anzutreten.

Mark betrat die Küche, als Laura den Lammbraten in den Ofen schob und die Garzeit einstellte.

»Wie war das Training?«, fragte sie.

»Gut.« Mark nahm eine Packung Orangensaft aus dem Kühlschrank und setzte zum Trinken an, als er den missbilligenden Blick seiner Mutter bemerkte. Er lächelte, holte ein Glas aus dem Schrank und goss den Saft ein. »Ich habe heute meine Rundenzeit um eine Sekunde verbessert.«

»Mein schneller Junge«, meinte Laura. »Wie kommt es, dass du trotzdem einen Monat brauchst, um dein Zimmer aufzuräumen?«

»Keine Cheerleader.«

Laura lachte. »Sieh doch mal im Kühlschrank nach, ob noch Eier da sind. Ich brauche welche für die Apfeltaschen. Bitte sag mir, dass wir noch welche haben.«

Mark durchforstete den Kühlschrank, schob Plastikdosen, Milchpackungen und Joghurtbecher beiseite. »Nee«, sagte er. »Null Eier.«

»Tja.« Laura seufzte. »Keine Eier, keine Apfeltaschen. Aber sie sind nun mal die Lieblingsspeise deines Vaters.«

»Kein Problem, ich gehe schnell welche holen.«

Laura sah auf die Uhr. »Lass gut sein. Ich bin heute noch gar nicht rausgekommen. Ein bisschen Bewegung wird mir guttun.«

»Nicht, dass du sie nötig hättest.«

»Was?«

Mark grinste. »Meine Freunde sagen, ich hätte die heißeste Mom der Stadt.«

»Das meinen die doch nicht im Ernst?«

»Carl Fiore sagt, du siehst aus wie Téa Leoni aus California Clan.«

»Carl Fiore braucht eine Brille.«

»Trotzdem hat er recht.«

»Hör mal, wenn es dir wirklich nichts ausmacht, noch mal zum Supermarkt zu gehen …«

Mark lächelte und deutete auf die Digitaluhr des Küchenherds. »Stopp die Zeit.«

*

Fünfundvierzig Minuten später trat Laura aus der Dusche und betrachtete sich im Badezimmerspiegel, der vom Wasserdampf beschlagen war. Das Spiegelbild war verschwommen und verwischte die vielen kleinen Unzulänglichkeiten ihrer Haut.

Vielleicht hat Carl Fiore doch recht, ging es ihr durch den Kopf. Vielleicht bin ich die heißeste Mom der ganzen Stadt.

Nachdem sie sich abgetrocknet und ihr Haar geföhnt hatte, war der Spiegel wieder klar, und die echte Laura Rousseau, die selbst bald vierzig wurde, war zurück.

Sie legte den Föhn in den Badezimmerschrank, als ihr mit einem Mal auffiel, wie still es war. Normalerweise war das Haus abends um diese Zeit voller Leben: Mark hörte in seinem Zimmer Musik oder spielte am Computer, und Angelo schaute sich im Arbeitszimmer eine Sportsendung an.

Eigenartig.

Laura trat hinaus auf den Flur. »Liebling?«

Stille. Eine schale, beunruhigende Stille.

Sie ging zur Treppe, stieg langsam hinunter – und blieb abrupt stehen.

Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder. Unter ihr, in dem Teil des Erdgeschosses, den man von hier oben sehen konnte, standen zwei Männer und schauten zu ihr hinauf. Für Freunde von Mark waren sie zu alt, für Kollegen oder Kunden von Angelo zu grobschlächtig. Laura kannte sie auch nicht aus der Nachbarschaft. Beide mussten in den Dreißigern sein. Der eine hatte einen Bürstenhaarschnitt, der andere trug das Haar schulterlang.

Hier stimmte etwas nicht. Ganz und gar nicht.

»Laura Rousseau«, sagte der mit dem Bürstenhaarschnitt. Es war eine Feststellung, keine Frage. Der Fremde kannte sie.

»Ja«, rutschte es Laura heraus.

Der Mann mit den langen Haaren schaltete das Licht in der Diele ein. Laura sah, dass im Hosenbund seiner Jeans eine Waffe steckte. Der andere Mann hielt jetzt ein Rasiermesser in der Hand.

»Ihre Familie wartet im Wohnzimmer auf Sie«, sagte der Langhaarige.

Sie traten zur Seite, als Laura das letzte Stück der Treppe hinunterrannte und ins Wohnzimmer stürmte.

Geradewegs in die Hölle.

Ihr Mann und ihr Sohn saßen schlaff und vornübergebeugt auf den Esstischstühlen in der Zimmermitte, Füße und Hände mit Isolierband gefesselt, Augen und Münder zugeklebt.

Der Boden zu ihren Füßen war in Blut getränkt.

Laura bemerkte, wie kräftige Hände sie auf einen Stuhl zwangen, während sich die Welt um sie herum in rasendem Wirbel drehte.

»Was … haben Sie … getan«, brachte sie erstickt hervor. Die Worte klangen leise und dumpf in Lauras Ohren, wie aus weiter Ferne.

Der Langhaarige kniete sich vor sie. »Erkennen Sie mich?«

Angst und Grauen explodierten in Lauras Innerem, schienen ihren Verstand in tausend Stücke zu reißen. Sie zitterte am ganzen Körper. Übelkeit würgte in ihrer Kehle.

Das ist kein Albtraum, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr wurde übel. O Gott, das passiert wirklich!

Der Langhaarige zog ein Foto aus der Tasche, hielt es neben Lauras Gesicht. In diesem Moment sah sie irgendeine Regung in seinen kalten blauen Augen. Abscheu? Auf jeden Fall zögerte der Mann einen Moment.

»Zieh das hier an«, befahl sein stoppelhaariger Kumpan.

Wie in Trance drehte Laura sich zu ihm herum und sah, dass er eine ihrer Blusen in der Hand hielt, die mit dem Wasserfallausschnitt. Nachdem Laura sie angezogen hatte, betrachtete der Langhaarige erneut das Foto. Diesmal nickte er, stand auf, ging langsam um Laura herum. Dann fesselte er sie mit Isolierband an den Stuhl. Als er fertig war, legte er ihr die Hände auf die Schultern.

»Ich traf einen Fremden am gestrigen Tag«, sagte er. »Ich gab ihm zu essen. Gab ihm zu trinken. Und spielte Musik für ihn.«

Durch einen Schleier aus Tränen warf Laura einen Blick auf ihren toten Sohn. Mark, oh Mark … In ihrer Vorstellung war er mit einem Mal wieder der kleine Knirps, der seine ersten Schritte in diesem Zimmer wagte und sich mit einer kleinen Hand am Sofa abstützte.

»Im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit segnete er mich und meine Familie …«

Laura betrachtete ihren toten Ehemann, Angelo David Rousseau, die Liebe ihres Lebens, ihr Fels in der Brandung. Den Heiratsantrag hatte er ihr an seinem Geburtstag gemacht, auf den Tag genau vor neunzehn Jahren. Du bist das einzige Geburtstagsgeschenk, das ich haben will, hatte er gesagt.

»Und die Lerche sprach mit einem Trillern:Oft, oft, oft, wandelt Christus in fremder Gestalt.«

Der Mann nahm die Hände von Lauras Schultern und trat vor sie hin.

»Oh, so oft, so oft, so oft wandelt Christus in fremder Gestalt.«

In der Stille war ein metallisches Klicken zu hören, als der Mann seine Waffe durchlud. Er drückte die Mündung auf Lauras Herz.

Erkennen Sie mich?

In der letzten Sekunde ihres Lebens erinnerte sich Laura Rousseau tatsächlich, wo sie das Gesicht des Mannes schon einmal gesehen hatte.

In ihren Albträumen.

ERSTER TEILDevil’s Pocket

1

Philadelphia, 2. Juli 1976

Der Mann im zerknitterten weißen Anzug schleppte sich wie ein verwundetes Tier über den Platz, die losen Schuhsohlen mit schwarzem Isolierband umwickelt, die Hose auf halbmast. Er trug eine Brille aus dunklem Drahtgestell.

Sein Name war Desmond Farren.

Obwohl der Mann noch keine vierzig war, hatte sein Haar bereits eine schmutziggraue Färbung angenommen. Er trug es lang und mit beinahe geometrischer Genauigkeit zu einem Mittelscheitel gekämmt. Auf der rechten Seite seines Kopfes, dicht über dem Ohr, war ein kleiner runder, nahezu perfekter Fleck aus schlohweißem Haar.

Desmond Farren setzte sich auf die Bank vor dem Schuhgeschäft. Seine strichmännchenhafte Silhouette verblasste vor den bunten Plakaten, die hinter ihm im Schaufenster hingen: 50 % Rabatt auf ausgewählte Artikel. Strandsandalen – ein Paar bezahlen, das zweite gratis!

Von irgendwoher erklang aus einem Radio Elton Johns »Philadelphia Freedom« – ein Song, der in der Stadt der brüderlichen Liebe zu einer Art Hymne geworden war.

Auch hier, in Devil’s Pocket.

Auf einer anderen Bank, dem Mann im schmuddeligen weißen Anzug genau gegenüber, saßen vier Jungen und genossen die ersten Tage der Sommerferien. Sie alle waren noch keine vierzehn; keiner von ihnen hatte bereits die Körpergröße, die er als erwachsener Mann erreichen würde.

Für Jimmy Doyle, Ronan Kittredge, Dave Carmody und Kevin Byrne war Devil’s Pocket ihr Revier.

Die Jungen beobachteten, wie Desmond Farren ein schmutziges, verrotztes Taschentuch hervorzog, mit dem er sich zuerst die Nase putzte und dann den Nacken abwischte, ehe er es wieder in der Hosentasche verschwinden ließ.

Jimmy legte die Hand auf Ronans Schulter und wies mit dem Daumen auf Farren. »Dein Schwulifreund ist heute ja gar nicht im Büro.«

»Sehr witzig, ha-ha-ha«, sagte Ronan. »Guck dir an, was er da macht. Ist das nicht der Slip von deiner Schwester, in den der Typ gerade rotzt?«

Die Jungen lachten, schenkten dem Mann im weißen Anzug aber keine weitere Beachtung.

Doch Jahre später würden sie sich an diesen unschuldigen Augenblick im Hochsommer erinnern – als schicksalhaften Wendepunkt.

Denn von diesem Tag an war ihr sorgloses Leben für immer vorbei.

*

Folgt man dem Schuylkill River von seiner Mündung in den Delaware in nördlicher Richtung, gelangt man in einen kleinen Stadtteil Philadelphias, der im Schatten der South Street Bridge liegt. Hier drängen sich die Behausungen von ungefähr siebzig Familien am Ostufer des Flusses – eine Ansammlung verwitterter Holzreihenhäuser, asphaltierter Spielplätze, kleiner Krämerläden und Gebäuden aus dunkelrotem Backstein, so alt wie die Stadt selbst. Das Viertel trägt den Namen Devil’s Pocket.

An schwülen Julitagen, wenn die Sonne die Farbe von den Fassaden der Holzhäuser brannte und die Hitze vom rostigen Blech der Autos aufstieg, die auf dem kochenden Asphalt der Christian Street standen, kleideten sich die Frauen von Devil’s Pocket in trägerlose Sommerkleider aus Baumwolle und schoben spitzenbesetzte Stofftaschentücher unter die Träger ihres Büstenhalters. Die Männer trugen weiße T-Shirts und Arbeitshosen, in deren engen Taschen sich Zigarettenschachteln abzeichneten, und ihre Springerstiefel und die Hosenaufschläge waren mit dem Staub der Ziegelei bedeckt.

Die Kneipen, von denen es hier in jedem Straßenzug ein halbes Dutzend gab, schenkten gutes Bier und irischen Whiskey aus, und das ganze Jahr über, nicht nur während der Fastenzeit, gab es freitags Fish Fry – panierten oder frittierten Fisch mit Pommes frites. An Sonntagen fanden Potluck Dinners statt, mehrgängige Büfetts, zu denen jeder Teilnehmer irgendeine Speise mitbrachte.

Einer vorherrschenden Theorie zufolge hatte Devil’s Pocket seinen Namen in den 1930er-Jahren von einem Gemeindepfarrer erhalten, der gesagt hatte: »Die Kinder in diesem Stadtteil sind so schlimm, die stehlen selbst dem Teufel das Kleingeld aus der Tasche.«

*

»Schaut mal, wer da ist.« Kevin Byrne wies zur Straßenecke.

Die anderen Jungen drehten sich gleichzeitig um. An der Ecke, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, stand Catriona Daugherty.

Catriona war das einzige Kind einer alleinerziehenden Mutter, die als Pflegerin im Veteranenheim der Navy arbeitete. »Catie«, wie sie auch genannt wurde, war elf Jahre alt, ein hübsches Mädchen mit saphirblauen Augen und hellblondem Haar, das sie immer sorgfältig zusammenband. Meist hielt sie eine Blume in der Hand, und sei es nur ein Löwenzahn vom Straßenrand.

Catriona, munkelte man, sei ein bisschen schwer von Begriff. In Devil’s Pocket allerdings sagte das niemand; dort wusste jeder, wie gefährlich eine solche Äußerung sein konnte, vor allem, wenn Jimmy Doyle in der Nähe war. Außerdem war Catriona Daugherty ein ganz normales Mädchen, zwar still und in sich gekehrt, aber keineswegs begriffsstutzig.

»Hey, Catie!«, rief Jimmy.

Catriona warf ihm einen verstohlenen Blick zu und errötete. Die Jungen kicherten. Sie alle wussten, dass Catriona in Jimmy verschossen war. Allerdings war sie erst in der sechsten Klasse, was Jimmy eher zu ihrem Beschützer machte, nicht zu ihrem Liebhaber. Vielleicht würde sich das eines Tages ändern, aber das lag in ferner Zukunft, wenn überhaupt. Nach den Maßstäben der Jungen war Catie ein kleines Mädchen. Jeder wollte sie beschützen, aber Jimmy war ihr auserwählter Ritter.

»Hi«, erwiderte Catriona leise.

Jimmy stand von der Bank auf und ging zu ihr. Catriona wich einen Schritt zurück und stolperte dabei über die Bordsteinkante. Rasch packte Jimmy ihren Arm und zog sie zurück auf den Bürgersteig.

»Was machste denn so?«, fragte er.

Catriona holte tief Luft. »Ein Eis kaufen?«

Ihre Großmutter stammte aus Irland, und Catriona verbrachte im Sommer die meiste Zeit bei ihr, weshalb sie sich den seltsamen irischen Zungenschlag angewöhnt hatte, der jede Aussage wie eine Frage klingen ließ.

»Haste ’ne Lieblingssorte?«, wollte Jimmy wissen.

Sie errötete abermals. »Erdbeere?«

»Hey! Ich auch!« Jimmy griff in die Hosentasche und zog eine Rolle Geldscheine hervor, alles Ein-Dollar-Noten, nur der äußere Schein war ein Zehner. »Haste genug für ’n Eis?«

Catriona schaute zu dem Laden, vor dem sie stand. »Mom kauft mir eins?«

In diesem Moment sah Kevin Byrne, der größte der vier Freunde, wie jemand aus dem Gemüseladen kam und zielstrebig auf sie zuhielt. Es war Mrs. Daugherty, Catrionas Mom. Sie war jünger als die Mütter der anderen Schulkinder in Devil’s Pocket, was vielleicht der Grund dafür war, dass sie sich jugendlich kleidete, beinahe so wie die jungen Mädchen, die den vier Jungs immer heftiger den Kopf verdrehten. Und Mrs. Daugherty war stets für einen Scherz zu haben.

»Hallo, Jimmy Doyle«, sagte sie.

Jimmy ließ blitzartig die Geldrolle verschwinden und erwiderte den Gruß.

»Ihr Jungs macht doch keine Scherereien?«, fragte Mrs. Daugherty.

»Doch, klar, sonst wär’s ja langweilig«, antwortete Jimmy grinsend.

»Zwing mich nicht, deine Mutter anzurufen, Mr. Doyle. Da kenne ich nichts, das weißt du!«

Jimmy hielt beide Hände hoch, die Handflächen nach außen. »Schon okay. Ich bin artig. Großes Ehrenwort.«

»Na klar. Und ich bin Miss America.« Mrs. Daugherty lächelte, hob mahnend den Zeigefinger und drückte ihrer Tochter das Eis in die Hand.

»Lass es dir schmecken, Catie«, sagte Jimmy.

»Ja, Jimmy?«

Catriona entschwand mit ihrer Mutter die Straße hinunter. Jimmy blickte ihr seufzend hinterher, bis Ronan ihm auf die Schulter tippte. Er wies auf die Einkaufstasche, die Jimmy den ganzen Morgen mit sich herumgetragen hatte. »Sind sie da drin?«, fragte er. »Hast du sie bekommen?«

»Hast du daran gezweifelt?« Jimmy griff in die Tasche und holte vier nagelneue Walkie-Talkies hervor, die er ein paar Tage zuvor aus einem Radio Shack in der Innenstadt hatte mitgehen lassen.

»Und jetzt?«, fragte Ronan.

»Jetzt«, sagte Jimmy, »besorgen wir uns Batterien, damit wir die Dinger benutzen können.«

*

F&B Variety an der Christian Street war ein altmodischer Krämerladen, den es länger gab, als die Leute sich erinnern konnten – was auch für die drei alten Männer galt, die vor dem Geschäft auf Gartenstühlen saßen und abwechselnd auf das Footballteam der Eagles, das Baseballteam der Phillies und die Basketballer der Sixers schimpften.

Drinnen hatte sich der Laden, von allen kurz F&B genannt, seit dem Tag seiner Eröffnung nicht verändert. Im Angebot waren Lebensmittel, Wasch- und Reinigungszeug und eine kleine Auswahl an Geschenkartikeln und Souvenirs, Freiheitsstatuen aus Plastik zum Beispiel oder Wackelkopffiguren, die entfernte Ähnlichkeit mit Sportstars hatten.

Im hinteren Teil des Ladens standen Regale mit Taschenbüchern und Comics; außerdem gab es dort einen kleinen Gang, der von der Kasse aus nicht einzusehen war und deshalb dem alten Flagg, dem stets miesepetrigen Ladenbesitzer, verborgen blieb. Hier gab es Zubehörartikel, darunter Batterien. Und weil Sommer war – und weil tragbare Radios sich in diesem Jahr wie warme Semmeln verkauften –, hielt das F&B einen großen Vorrat an Batterien parat.

Ronan – so sah der Plan der Jungen vor – würde sich an der Kasse anstellen und einen Dollarschein in Kleingeld wechseln lassen, wenn er an der Reihe war. Kevin sollte währenddessen vor dem Regal mit den Comics herumlungern und sich möglichst verdächtig verhalten, was ihm nicht schwerfallen würde. Er war der größte der vier Jungen und sah am bedrohlichsten aus.

Während Dave die ganze Aktion durch das Schaufenster von draußen überwachte, würde Kevin ein paar Comics vom Regal stoßen und damit die Aufmerksamkeit des alten Flagg für ein paar Sekunden auf sich ziehen.

Der Plan ging auf. Die paar Sekunden Ablenkung waren alles, was Jimmy brauchte. Er war ein Naturtalent.

Nach dem Coup verließen die drei Jungs in aller Seelenruhe den Laden, trafen sich an der Straßenecke mit Dave, der Schmiere gestanden hatte, und gingen gemeinsam zur Catherine Street. Dort angekommen, setzte Dave sich auf die Treppenstufen eines Reihenhauses und öffnete die Batteriefächer der Walkie-Talkies.

In wenigen Minuten würden sie auf Sendung sein.

Doch bevor Jimmy die Batterien aus der Tasche holen konnte, erschien neben ihm ein Schatten auf dem Bürgersteig. Es war der alte Flagg. Er hatte alles beobachtet.

Charles Flagg war Mitte sechzig und ein Widerling erster Güte. Er steckte die Nase gern in anderer Leute Angelegenheiten und hatte nicht einmal davor zurückgeschreckt, eine überflüssige Bürgerwehr zu gründen, nur um noch tiefer im Privatleben der Bewohner von Devil’s Pocket schnüffeln zu können. Obendrein war er ein eitler Pfau. Glaubte man den Gerüchten, ging er in der Innenstadt zur Maniküre.

»Mach deine Taschen leer«, forderte er Jimmy auf. »Na los!«

Jimmy trat einen Schritt zurück. Für eine Sekunde sah es so aus, als wollte er die Flucht ergreifen. Aber genau wie die anderen Jungen hatte er den Streifenwagen des Philadelphia Police Departments gesehen, der an der nächsten Straßenecke parkte. Kein Zweifel, dass der alte Flagg ihn ebenfalls gesehen hatte.

Jimmy blieb keine Wahl. Er griff langsam in die Seiten- und Gesäßtaschen seiner Hose und holte die gestohlenen Neun-Volt-Batterien hervor, die alle noch in der Verpackung steckten. Auf jeder von ihnen klebte eines der kleinen orangefarbenen F&B-Preisetiketten.

Flagg nahm die Batterien an sich.

»Dich kenne ich doch«, sagte er dann zu Jimmy. »Du bist ein Doyle. Ich kenne Tom, deinen Vater.«

Jimmy ballte die Hände zu Fäusten. »Er ist nicht mein Vater!«

Flagg runzelte die Stirn. »Was?«

»Er ist nicht mein Vater. Er hat mich bloß adoptiert.«

Flagg zuckte mit den Schultern, blickte an Dave vorbei und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger die Straße hinunter in Richtung einer schmierigen Spelunke, in der sich ein großer Teil des Lebens von Tommy Doyle abspielte, Jimmys Stiefvater, dessen Existenz ein endloser, monotoner Wechsel von Arbeit, Kneipe und Schlafen war.

»Ich kann mir vorstellen, wo ich Tommy finde«, sagte Flagg. »Du bleibst hier, Freundchen, sonst alarmiere ich die Cops da drüben.« Er zeigte auf den Streifenwagen. »Kapiert?«

Jimmy nickte. Was blieb ihm anderes übrig?

Die nächsten drei Minuten verbrachten die Jungen schweigend. Jeder versuchte, sich eine plausible Geschichte einfallen zu lassen, wie sie an die Batterien gekommen waren. Dave, der Klügste von ihnen, hatte sonst immer eine Idee parat, aber heute war auch er ratlos.

Jimmy war geliefert.

Eine Minute später sahen sie, wie Jimmys Stiefvater aus dem schattigen Eingang der Kneipe trat.

Tommy Doyle war eins dreiundachtzig groß, mit breiten Schultern und Händen, so groß wie ein Baseballhandschuh. Mit reichlich Schlagseite überquerte er schwankend die Straße. In der rechten Hand hielt er eine filterlose Lucky Strike, die fast heruntergebrannt war.

Als Doyle die Straßenecke erreichte, wehte der Wind seine Fahne schon aus einigen Metern Entfernung zu den Jungen. Schwankend blieb er stehen und zeigte mit dem Finger auf Jimmy. »Wag es ja nicht, dich zu bewegen«, sagte er mit schwerer Zunge. Dann deutete er der Reihe nach auf die anderen drei Jungen. »Keiner von euch bewegt sich.«

Wenn man ihn morgens nach dem ersten oder zweiten Bier antraf, konnte Tommy Doyle der freundlichste Mensch auf Erden sein. Wie damals, als Kevin Byrnes Mutter mit ihrem Dodge in einer Schneewehe stecken geblieben war und Doyle fast eine Stunde damit verbrachte, den Wagen freizuschaufeln, mit nichts anderem als einem verbogenen Nummernschild, das er im Rinnstein gefunden hatte.

Erwischte man Jimmy Doyle jedoch auf dem falschen Fuß, konnte es ein böses Ende nehmen. Wie etwa für seine Frau, der er mit einem Faustschlag den Kiefer gebrochen hatte, nur weil an einem Teller, den er aus dem Schrank genommen hatte, noch ein kleines bisschen Senf klebte.

Kevin, Ronan und Dave schauten betreten zu Boden, um den Blicken Flaggs und Doyles zu entgehen. Nur Jimmy schaute seinem Stiefvater fest in die Augen.

»Was hast du vorzubringen, Junge?«, fragte Doyle.

Jimmy schwieg. Die Worte schienen starr und unbeweglich in seinem Mund zu stecken.

Doyle hob drohend die Hand. Jimmy zuckte nicht einmal mit der Wimper.

»Ich hab dir eine verdammte Frage gestellt!«, blaffte Doyle.

Jimmy schien durch seinen Stiefvater hindurchzublicken, als wäre der Mann Luft. »Es tut mir leid«, flüsterte er.

Doyles Hand traf Jimmys rechte Gesichtsseite mit der Wucht eines Huftritts. Die Jungen sahen, wie Jimmys Augen nach hinten rollten, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Unsanft prallte er gegen die Hauswand hinter ihm, doch irgendwie gelang es ihm, auf den Füßen zu bleiben.

»Nimm die beschissene Kartoffel aus dem Mund, Junge!«, tobte Doyle. »Wenn du noch mal so nuschelst, schlag ich dich zu Brei, hier, vor aller Augen, ich schwör’s bei Gott!«

Jimmys Augen füllten sich mit Tränen. Er schaute zum alten Flagg, holte tief Luft und rief dann so laut, dass jeder in Devil’s Pocket es hätte hören können: »Es tut mir leid!«

Doyle wandte sich Flagg zu, griff in die Gesäßtasche und zog sein Portemonnaie heraus.

»Wie viel?«, fragte er.

Flagg schaute ihn verwirrt an; dann starrte er auf die Batterien in seiner Hand. »Dafür?«

»Ja, dafür.«

»Nicht der Rede wert. Ich hab sie ja wieder.«

»Ich habe gefragt, wie viel.«

Flagg zuckte die Schultern und wog die Batterien in der Hand. »Vier Bucks für alle zusammen.«

Doyle zog einen Fünfer aus dem Portemonnaie und reichte ihn dem alten Mann. »Der Rest ist Trinkgeld.«

»Die Firma dankt«, sagte Flagg.

Doyle schnappte sich die Batterien, riss die Verpackungen auf, ging zum Rinnstein und warf die Batterien eine nach der anderen in den Gully.

Mit rotem Gesicht, das Kinn voller Speichel, kam er zurück zu den Jungen und warf die leeren Verpackungen seinem Stiefsohn entgegen.

»Morgen gehst du mit mir zur Arbeit«, sagte er. »Deine Kumpels auch.«

Tommy Doyle arbeitete bei einer Abbruchfirma, verdingte sich an Sommerabenden und Wochenenden aber zusätzlich als Gärtner.

Dave schien widersprechen zu wollen, aber ein Blick Jimmys genügte, um ihm die Lippen zu versiegeln.

Doyle deutete auf Kevin, Dave und Ronan. »Morgen früh, pünktlich um sieben, steht ihr an der Ecke Sechsundzwanzigste und Christian Street. Taucht ihr nicht auf, komme ich euch besuchen. Zu Hause.«

*

Vollgestopft mit süßem Gebäck, erschienen Ronan und Kevin um Viertel vor sieben am Treffpunkt. Ronans Vater – ein Cousin von Paddy Byrne, dem Vater von Kevin – arbeitete für ein Unternehmen, das Zuckergebäck herstellte, und die beiden Jungen hatten in Erwartung der harten Arbeit, die vor ihnen lag, so viele Mini-Donuts mit Puderzucker verschlungen, wie sie nur konnten, denn sehr wahrscheinlich mussten sie ohne Mittagessen auskommen.

Dave erwartete die beiden Freunde bereits. Er trug frisch gewaschene und gebügelte Jeans, fraglos das Verdienst seiner ahnungslosen Mutter. Wer sonst käme auf die Idee, eine Hose zu waschen und zu bügeln, wenn deren Besitzer den ganzen Tag im Dreck knien musste?

»Kommt mal mit«, raunte Dave, als wollte er den anderen ein Geheimnis anvertrauen. »Das müsst ihr euch ansehen.«

Die Jungen gingen die Sechsundzwanzigste Straße hinunter, vorbei an einem Umspannwerk, bis sie eine unbebaute Fläche an der Ecke Montrose Street erreichten. Dave betrat das Grundstück und sprang auf einen alten, verrosteten Müllcontainer, der an der Backsteinmauer einer verfallenen Garage stand. Er löste ein paar Steine aus der Mauer, griff in die schmale Öffnung, zog eine Butterbrottüte hervor und sprang vom Container. Vorsichtig öffnete er die Tüte und präsentierte seinen Freunden deren Inhalt.

Ein vernickelter Revolver Kaliber .38.

»Jesus!«, entfuhr es Ronan.

»Und alle verdammten Heiligen«, ergänzte Dave.

»Ist das deiner?«, fragte Kevin.

Dave schüttelte den Kopf. »Jimmys. Er hat ihn mir gezeigt. Er hat früher mal Donny gehört.«

Donal Doyle, Jimmys älterer Stiefbruder, war in Vietnam gefallen. Manche sagten, dieser Schicksalsschlag sei der Tropfen auf den heißen Stein gewesen, der Tommy Doyle zum Säufer gemacht hatte.

»Ist er geladen?«, wollte Ronan wissen.

Dave entsicherte die Waffe, ließ die Trommel aufschnappen und rotieren. Sechs Kammern, fünf Patronen. Vorsichtig schloss er die Trommel wieder und drehte sie so, dass der Hammer auf der leeren Kammer auflag.

»Wow«, sagte Ronan.

Kevin schwieg.

In diesem Moment hörten sie das Röhren eines defekten Auspuffs. Tommy Doyle kam mit seinem Pick-up die Straße hochgefahren.

Dave steckte die Waffe zurück in die Butterbrottüte, kletterte auf den Container und verbarg den Revolver wieder im Hohlraum in der Mauer.

Kurz darauf saßen die Jungen neben einem missmutigen Jimmy auf der Rückbank des verrosteten Ford F-150, der von seinem Stiefvater gesteuert wurde. Jimmy hatte ein Pflaster auf der geschwollenen linken Wange, doch keiner der Jungen sprach ihn darauf an.

*

Es war ein schwüler Tag mit wolkenverhangenem Himmel, wie geschaffen für die Myriaden von Moskitos, die über die Einwohner Philadelphias herfielen. Die Jungen arbeiteten im Garten eines der großen Anwesen in Lafayette Hill, die etwas abseits der Straße lagen.

Gegen zehn Uhr brachte ihnen die Dame des Hauses, eine korpulente, gut gelaunte Frau, eisgekühlte Limonade. Die Jungen waren sich einig, dass keiner von ihnen je etwas Besseres getrunken hatte.

Jimmy schob den großen Rasenmäher vor sich her, wobei er zweimal den makellos getrimmten Spiraea-Sträuchern an der Seite des Hauses gefährlich nahe kam. Beide Male schoss sein Stiefvater einen giftigen Blick auf ihn ab.

Die kalte Limonade war den Jungen an diesem heißen Tag wie ein Geschenk des Himmels erschienen, aber die Worte, die Bobby Anselmo, Tommy Doyles Partner, gegen halb drei am Nachmittag sagte, waren noch viel köstlicher: »Packen wir zusammen, Jungs. Feierabend für heute.«

Eine gute halbe Stunde später sprangen die Jungen an der Ecke Naudain und South Taney Street von der Ladefläche des Pick-up. Jimmy war stocksauer. Nicht, weil er beim Stehlen erwischt worden war und sich hatte entschuldigen müssen oder weil er seine Freunde in die Sache hineingezogen hatte – dazu waren Freunde schließlich da. Nein, das Problem war vielmehr, dass er den ganzen Tag von seinem Stiefvater vor den Augen seiner Kumpels beschimpft und erniedrigt worden war. Irgendwann, da waren sich die Jungs sicher, würde Jimmy es seinem Alten heimzahlen. Aber noch nicht.

Die anderen kannten Jimmys miese Laune. Meist war sie der Vorbote einer verrückten Mutprobe oder einer waghalsigen Zurschaustellung seines Draufgängertums. Möglicherweise war es diesmal ein weiterer Diebstahl, noch größer und gewagter als im Laden vom alten Flagg, der Jimmy in die Schusslinie seines Stiefvaters gebracht hatte.

Schweigend marschierten die Jungen die South Taney Street in Richtung Park hinunter. Als sie die Kreuzung an der Lombard Street erreichten, geschah etwas Unerwartetes. Ronan blieb unvermittelt stehen und streckte den Arm aus. »Hey, guckt euch das an. Was ist das denn für eine Nummer?«

Alle blickten in die Richtung, in die Ronans Finger wies. An einer Ecke des Parks stand jemand hinter einem Baum.

Die Jungen erkannten schnell, um wen es sich handelte. Der zerknitterte weiße Anzug. Die zuckenden Bewegungen. Es war Desmond Farren. Der Verrückte, der mit sich selbst redete und zehn Meilen gegen den Wind stank. Dem Vernehmen nach hatte sich bei der Geburt die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt und ihm die Luft abgeschnürt.

Die Jungen sahen, wie Farren sich im Abstand von ein paar Sekunden immer wieder zur Seite beugte, hinter dem Baum hervorspähte und den Kopf dann so schnell wieder einzog wie eine ängstliche Schildkröte. Aus irgendeinem Grund schien sein ganzer Körper sich zu bewegen, obwohl der Mann sich keinen Zentimeter von der Stelle rührte.

Kurz entschlossen gingen die vier Jungen hinüber in den Park, neugierig, was den verrückten Des Farren so sehr in Bann schlug.

Dave sah es als Erster. »Oh Mann! Sagt mir, dass ich richtig sehe, was da abgeht.«

»Heilige Scheiße.« Kevin stöhnte auf.

Es war nur zu offensichtlich, weshalb Des Farren sich bewegte, obwohl er sich nicht von der Stelle rührte.

»Holt der sich einen runter?«, fragte Jimmy.

»Hölle, ja! In aller Öffentlichkeit!« Das war Ronan.

Sie gingen ein Stück näher heran. Dann erkannten sie, was Des Farren sich aus seinem Versteck hinter dem Baum anschaute und was ihn so auf Touren brachte.

Keine zehn Meter vor ihm auf der Wiese saß Catriona Daugherty. Sie trug ein zitronengelbes Kleid, kurze weiße Söckchen und weiße Lacklederschuhe, die sie vermutlich zur Kommunion bekommen hatte. Sie hockte mit gekreuzten Beinen auf dem Rasen und schien sich ihres heimlichen Beobachters gar nicht bewusst zu sein.

»Du kranker Irrer!«, zischte Ronan.

Des Farren wirbelte erschrocken herum und erblickte die Jungen. Ansatzlos sprintete er aus dem Stand in Richtung der rettenden Sträucher. Jimmy setzte ihm nach, holte ihn nach wenigen Schritten ein, sprang ihm von hinten in die Beine und schickte ihn zu Boden.

Sekunden später hatten die Jungen Les Farren gepackt und schleiften ihn zwischen die Sträucher.

Jimmy fand als Erster die Sprache wieder. »Schnapp dir seine Brille, Kevin.«

Kevin tat wie geheißen und nahm Farren die Brille ab.

Ohne Vorwarnung ließ Jimmy sich auf die Knie fallen und schlug dem Mann zweimal ins Gesicht. Es waren schnelle, wirksame Schläge. Farrens Nase zerplatzte wie ein Gummiballon, der mit Blut gefüllt war. Das Geräusch berstender Knochen schien durch den ganzen Park zu hallen.

Benommen versuchte Farren, sich auf die Seite zu rollen, doch die Jungen packten seine Arme und Beine und drückten ihn zu Boden.

Jimmy durchsuchte den Mann und leerte seine Taschen. Farren hatte Kleingeld im Wert von einem Dollar bei sich. In der Gesäßtasche seiner Hose steckten ein Busausweis und ein Taschentuch in olivgrüner Tarnfarbe. Dann war da noch ein Taschenkamm, dem ein halbes Dutzend Zähne fehlten.

»Was hast du da hinten getrieben?«, wollte Jimmy wissen.

Farrens Lippen zitterten. Er brachte kein Wort hervor.

»Ich frag dich noch einmal, du Stück Dreck«, zischte Jimmy. »Ein letztes Mal.« Er hockte sich rittlings auf den bebenden Mann, die Hände zu Fäusten geballt. »Was hast du da hinten getrieben, Arschloch?«

»Nichts«, keuchte Farren. »Nichts!«

»Du hast Catriona begafft«, sagte Jimmy.

»Wen?«

Jimmy hielt drohend die Faust hoch. »Lüg mich nicht an. Du weißt, von wem ich rede. Das Mädchen. Du hast sie beobachtet und dir einen abgewichst.«

»Hör mal, ich …«

»Du hast die Kleine begafft und dabei mit deinem kümmerlichen kleinen Schwanz gespielt, du krankes Schwein!«

»Du spinnst ja!«

»Gib’s zu, dann lass ich dich vielleicht am Leben. Streite es nicht ab, sonst schlag ich dich zu Brei, du miese Ratte. Ich schwör’s!«

»Ich hab nichts getan!«

»Weißt du, wo du bist?«, fragte Jimmy.

Farren starrte ihn verständnislos an.

»In unserem Park«, sagte Jimmy. »Du wirst jetzt verschwinden! Und lass dich hier nie wieder blicken, du Wichser.«

»Das erzähle ich meinen Brüdern!«, stieß Farren wild hervor.

Mehr brauchte es nicht.

Wieder ballte Jimmy die Faust zum Schlag, hielt dann aber inne, griff in die Hosentasche, zog ein Springmesser mit Perlmuttgriff heraus und ließ es aufschnappen.

»Jimmy«, sagte Kevin besorgt. »Lass gut sein.«

Des Farren schluchzte: »Das … sag ich … meinen Brüdern.«

Jimmy stach die Spitze der Klinge in den Oberschenkel des Mannes. Nicht tief, aber tief genug. Des Farren kreischte. Blut breitete sich auf dem Stoff seiner schmutzigweißen Anzughose aus.

»Das reicht, Jimmy«, rief Kevin. »Er hat genug.«

Jimmy zögerte einen Moment. »Scheint mir auch so«, sagte er schließlich. »Solltest du dich jemals wieder hier im Park blicken lassen und Catriona nur noch ein einziges Mal begaffen, schneid ich dich in Stücke und werf dich meinem Hund zum Fraß vor. Und was dann noch von dir übrig ist, schmeiß ich in den verdammten Fluss. Hast du kapiert, Drecksack?«

Schweigen.

»Hast du mich verstanden?«

Nichts.

»Zieh ihm die Hose aus«, sagte Jimmy zu Dave.

»Ich hab kapiert, hab kapiert, hab kapiert!«, schrie Des Farren.

Jimmy erhob sich und klappte das Springmesser zu.

Dave seufzte vor Erleichterung.

Bevor Jimmy ging, wandte er sich noch einmal Farren zu. »Wag es ja nicht, deinen Brüdern irgendwas über die Sache hier zu erzählen. Wenn du das tust, war es dein letzter Fehler. Du kennst mich nicht. Du kennst meine Familie nicht. Aber ich kenne euch. Ihr Farrens seid irischer Abschaum. Ihr hättet nicht den Hauch einer Chance.« Jimmy bückte sich nach dem Busausweis des Mannes und reichte ihn Kevin. »Und wenn einem meiner Freunde irgendetwas zustößt, komme ich dich besuchen. Nachts. Und ich komme nicht allein. Verstanden?«

Des Farren nickte, rollte auf die Seite und hielt sich schluchzend das Bein, das zur Hälfte rot war von seinem Blut.

Jimmy wandte sich an Kevin. »Gib ihm seinen Scheiß zurück.«

Kevin ließ den Busausweis und die Brille neben Farren ins Gras fallen.

»Und jetzt verpiss dich«, zischte Jimmy.

Des Farren kam langsam auf die Beine und humpelte über die Wiese in Richtung Devil’s Pocket. Er drehte sich nicht um.

Die vier Jungen standen eine Zeit lang schweigend nebeneinander. Schließlich fragte Dave in die Stille hinein: »Jimmy?«

»Ja?«

»Seit wann hast du ’n Hund?«

Sie brachen in Gelächter aus, doch es war ein freudloses Lachen.

Während die Jungen beobachteten, wie Des Farren taumelnd zwischen den Bäumen verschwand, fragte sich jeder von ihnen, was als Nächstes geschehen würde. Denn eines wusste jeder in Devil’s Pocket: Niemand legte sich mit Des Farren an. Er war der älteste der drei Farren-Brüder. Die Brüder betrieben eine heruntergekommene Kneipe auf der Montrose Street, einen Schuppen namens »Stone«, den Liam Farren eröffnet hatte, als er in den frühen 1940ern als Einwanderer nach Devil’s Pocket gekommen war.

Das wahre Geschäft der Familie aber war nie diese Spelunke gewesen, sondern Erpressung, Einschüchterung und brutale Gewalt, die Hausbesitzern und Geschäftsleuten gleichermaßen Angst einjagte.

Neben dem Eintreiben von Schutzgeldern hatten sich die Farren-Brüder eine stadtweite Reputation als Einbrecher aufgebaut. Ernsthafte Konkurrenz drohte ihnen lediglich von der berüchtigten K&A-Gang, einem kriminellen Zusammenschluss, der seine Operationen von Kensington und Allegheny im Norden der Stadt aus betrieb. Doch selbst die K&A-Gang wagte sich wegen der Farrens nicht bis nach Devil’s Pocket.

Insbesondere Danny Farrens Brutalität war legendär. Man erzählte sich, er habe vor ein paar Jahren einen Mann von einem Hausdach in Point Breeze geworfen, allerdings erst, nachdem er ihm mit der Scherbe einer zerbrochenen Bierflasche ein Auge herausgeschnitten hatte. Überflüssig zu erwähnen, dass es keine Zeugen gab, die Danny auf dem Hausdach gesehen hatten.

Eine andere Geschichte besagte, dass Danny und Patrick Farren einmal einem Gast nach Hause gefolgt waren, weil er in ihrer Spelunke angeblich eine Kellnerin beleidigt hatte. Zur Strafe hielt Danny den Mann fest, während Patrick ihm mit einer Gartenschere die kleinen Finger und Zehen amputierte.

Es wunderte jedenfalls niemanden, dass Danny und Patrick Farren seit dem Teenageralter Stammgäste im Gefängnis waren. Doch so oft sie eingebuchtet wurden, so schnell kamen sie wieder auf freien Fuß. Trotz ihrer zahlreichen Verbrechen waren sie kein einziges Mal verurteilt worden, nicht einmal für die schlimmsten Grausamkeiten.

Auch das war einer der Gründe, warum sich niemand mit Des Farren anlegte, mochte er noch so verrückt sein und stinken wie ein Komposthaufen. Noch nie hatte sich jemand an Des herangewagt.

Bis heute.

Und Jimmy hatte Des Farren nicht nur bedroht, er hatte ihn mit dem Messer verletzt.

Mit diesem Gedanken gingen die vier Jungen schweigend zur Straße zurück, wo ihre Wege sich trennten, ohne dass sie ein weiteres Wort verloren.

Das war nicht nötig.

*

Der Morgen des 4. Juli war heiß und schwül. Schon um sechs Uhr nachmittags standen die Gäste in Zweierreihen vor den irischen Pubs in Devil’s Pocket. Hubschrauber der großen Nachrichtensender kreisten über der Stadt. Das ganze Land sprach über Philadelphia, ja, die ganze Welt. Boston, New York und Washington waren ein Nichts im Vergleich zu Philly – und die Bewohner sagten das auch jedem, der es hören wollte, oder auch nicht.

Philadelphia, die bedeutendste Stadt in der amerikanischen Geschichte, feierte gemeinsam mit den USA ihren zweihundertsten Geburtstag. Sogar Präsident Ford stattete der Independence Hall anlässlich des »Bicentennial« einen Besuch ab. Vor zweihundert Jahren hatten die USA ihre Unabhängigkeit erklärt, und das pochende Herz des Landes, die Stadt der brüderlichen Liebe, pulsierte noch heute vor Energie.

Von alledem bekamen die vier Freunde Jimmy, Dave, Ronan und Kevin nur wenig mit.

Jimmy hatte die Nacht auf der Couch im Wohnzimmer verbracht, einen Baseballschläger griffbereit, das Springmesser aufgeklappt neben sich, falls Danny oder Patrick Farren durch die Tür stürmten. Aber das war nicht geschehen.

Heute, am Abend des 4. Juli, trafen sich die Freunde am südlichen Ende des Schuylkill River Parks, wo sich eine riesige Menschenmenge gebildet hatte, um das Feuerwerk zur 200-Jahr-Feier zu bestaunen.

Früher am Tag hatten sie Daves Vettern, zwei Typen namens Big George und Little George, damit beauftragt, die Batterien aus dem Gully zu angeln. Big George hatte das Eisengitter mühelos hochgewuchtet, und Little George hatte die Batterien tatsächlich wiedergefunden – in einwandfreiem Zustand. Nun gehörten sie wieder den vier Freunden.

Während alle dem großen Finale des Feuerwerks entgegenfieberten, bemerkten die Jungen, dass zwischen den Bäumen am westlichen Rand des Parks irgendetwas vor sich ging. Als sie sich vorsichtig einen Weg dorthin bahnten, sahen sie die flackernden Lichter eines Streifenwagens. Zwei Beamte in Uniform standen vor dem Fahrzeug und unterhielten sich mit einer gebeugt dastehenden Frau. Es war Mrs. Shaugnessy, Catrionas Mutter. Ein Mann in einem braunen Anzug hatte den Arm um sie gelegt. Die Frau weinte, ihre Schultern zuckten, und ihr Mund war in einem stummen Schrei der Verzweiflung weit aufgerissen.

Und dann, im Lichtkegel der Scheinwerfer des Streifenwagens, sahen die Jungen, was geschehen war. Sahen den regungslosen kleinen Körper im Gras.

Catriona trug dasselbe zitronengelbe Kleid wie am Tag zuvor, doch ihr Haarband war verschwunden.

»O Gott.« Jimmy wehrte sich gegen die Tränen, die ihm in die Augen stiegen. »Wenn ich den Mistkerl kriege, der das getan hat, schneide ich ihm die Eier ab!«

»Er ist hier«, flüsterte Dave.

»Wer?«, fragte Jimmy.

»Dieser kranke Irre. Des Farren. Nur der kann es gewesen sein. Ich hab den Hurensohn vorhin noch gesehen.«

»Wo?«, fragte Kevin.

»Drüben, bei den Gleisen.«

»Das will ich sehen!«, zischte Jimmy. »Los, kommt.«

Sie liefen, so schnell sie konnten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Als sie die Gleise erreichten, sahen sie ihn. Es war ein gespenstisches Bild. Des Farren saß regungslos da und starrte zum blassen Mond hinauf, während hinter ihm das Feuerwerk am Himmel flackerte. Farren hielt eine einzelne rosafarbene Rose in der Hand.

»Ich sag den Cops Bescheid«, meinte Dave und wandte sich zum Gehen.

»Nein.« Jimmy packte Daves Arm. »Du und die anderen, ihr sorgt dafür, dass der Kerl hier bleibt.«

Daves Augen weiteten sich. »Wie sollen wir das anstellen?«

Jimmy knöpfte sein Walkie-Talkie vom Gürtel los. »Hiermit. Jetzt machen die Dinger endlich mal Sinn. Ihr behaltet den Dreckskerl im Auge. Sobald er sich bewegt, verständigt ihr mich.«

Dave blickte Jimmy verwirrt an. »Willst du denn nicht die Polizei verständigen? Willst du ihnen nicht sagen, bei was für einer Schweinerei wir Farren gestern erwischt haben?«

»Damit dieser Penner den Cops verraten kann, dass ich ihm die Nase gebrochen habe? Ich bin doch nicht verrückt. Seine Brüder halten wahrscheinlich sowieso schon nach mir Ausschau.« Jimmy legte Dave die Hände auf die Schultern. »Ihr drei beobachtet ihn. Folgt ihm, wenn er von hier verschwindet. Verliert ihn nicht aus den Augen. Egal, wohin er geht, egal, was er tut – verständigt mich über Funk.«

»Die Dinger reichen doch gar nicht so weit«, wandte Dave ein.

»Versucht es trotzdem«, erwiderte Jimmy. »Bleibt an ihm dran.«

»Wo gehst du hin?«, fragte Kevin.

»Ich bin bald zurück.«

Sekunden später, als die letzten Feuerwerksraketen den Himmel über Philadelphia erhellten, drehte Kevin Byrne sich zu der Stelle um, wo eben noch seine Freunde gestanden hatten.

Sie hatten sich bereits auf den Weg gemacht.

*

Die zweite Juliwoche brach sämtliche Hitzerekorde. Am heißesten Tag, dem neunten Juli, wurde die Leiche eines Mannes im Schuylkill River gefunden, direkt unter der South Street Bridge. Nach Angaben der Polizei war er mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet worden. In seinem Schädel steckte eine Kugel vom Kaliber .38. Die Tatwaffe war nicht auffindbar.

Die Polizei identifizierte den Toten als Desmond Malcolm Farren, genannt Des. Keine Frau, keine Kinder, kein fester Arbeitsplatz.

Das Philadelphia Police Department leitete eine Mordermittlung ein. In Anbetracht der vielfältigen kriminellen Aktivitäten der Farren-Familie ging man davon aus, dass Des’ Mörder auf irgendeine Weise mit seinen Brüdern Danny und Patrick in Verbindung gebracht werden könne oder mit dem kriminellen Vermächtnis ihres verstorbenen Vaters Liam.

Ob es nun stimmte oder nicht, der Täter wurde nie gefasst.

ZWEITER TEILIm Schatten der Kathedrale

2

Philadelphia, 2015

Sie fuhren zweimal um den Häuserblock und hielten Ausschau nach Leuten, die nach Leuten wie ihnen Ausschau hielten. Doch sie entdeckten niemanden.

Es war kurz vor vierundzwanzig Uhr, in einer lauen, für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Frühlingsnacht. Trotzdem hatten nur wenige Leute die Fenster geöffnet, erst recht nicht in den Parterre- und Souterrainwohnungen – und das, obwohl in den meisten Häusern die Fenster mit Eisenstangen gegen Einbrecher gesichert waren.

Doch manchmal reichten Gitter nicht aus, um das Böse fernzuhalten. In North Philly hatte es den Fall eines Vergewaltigers gegeben, der darauf spezialisiert war, durch Fenster mit abnehmbaren Klimaanlagen in die Wohnungen seiner Opfer einzusteigen. Die Polizei hatte ihn schließlich gefasst, aber nur, weil er es versäumt hatte, zum richtigen Zeitpunkt aufzuhören.

Billy fragte sich, ob er jemals würde aufhören können.

Als sie am Straßenrand hielten, schaltete der Fahrer die Scheinwerfer des Pick-ups aus. Aus der Ferne drangen die blechernen Klänge eines Kofferradios zu ihnen.

Die beiden Männer beobachteten die Straße. In den Häusern und Wohnungen erloschen nach und nach die Lichter. Rollläden wurden heruntergelassen, Türen verschlossen und verriegelt. Irgendwann in der Nacht erlosch auch das Flimmern des letzten Fernsehers.

Wenn für die eine Stadt der Tag zu Ende ging, erwachte die andere zum Leben.

Billys Stadt.

Der Fahrer des SUV, der neben Billy saß, deutete auf das Haus, vor dem sie angehalten hatten. Die Fassade war offenbar erst kürzlich renoviert und mit roten Klinkersteinen versehen worden. Vor jedem Fenster stand ein Blumenkübel in voller Blüte.

»Er ist wach«, sagte der Fahrer.

Billy musterte ihn, erkannte ihn aber nicht. Das Verlangen, auf einem der Fotos in seiner Jacke nachzusehen, um das Gesicht des Fahrers zu suchen, war überwältigend, doch er widerstand der Versuchung.

»Jetzt?«, fragte er.

»Noch nicht.« Der Fahrer schüttelte den Kopf. Er war in Billys Alter. Im Unterschied zu Billy, der die Haare schulterlang trug, war das sandfarbene Haar des Fahrers militärisch kurz geschnitten. Er hatte harte stahlblaue Augen und eine hässliche Narbe auf der rechten Wange, die unter dem Auge begann und gerade nach unten verlief.

Billy wusste nicht mehr genau, woher diese Narbe stammte; die Erinnerung war so verschwommen wie alles andere in seinem Leben. Dem ersten Leben. Es war, als sähe er jedes Erlebnis, jedes Ereignis in diesem ersten Leben wie durch eine Milchglasscheibe – ein diffuses Theaterstück aus der Vergangenheit, die Figuren gefroren in weißem Eis.

Billy hatte eine ähnliche Narbe wie der Fahrer. Er hatte sich damals das Gesicht mit der Scherbe einer Teetasse zerschnitten. Jedenfalls hatte dieser Arzt es ihm gesagt. Folie à deux, hatte der Mann es genannt. Symbiotischer Wahn.

Genau wie der Fahrer war Billy nicht ins Krankenhaus gegangen, um seine Wunde versorgen zu lassen. Männer ihres Schlages taten so etwas nicht. Es wäre unpraktisch gewesen und hätte nur zu unnötigen Fragen geführt. Billy war nur ein einziges Mal im Krankenhaus gewesen, aber das für längere Zeit. Damals hatte sein erstes Leben geendet, und die Verletzungen, die dazu geführt hatten, konnten von den Ärzten weder mit Verbänden noch mit Nadel und Faden geheilt werden. Es waren Wunden anderer Natur gewesen.

Aber das war viele Jahre her. Billy sah sich selbst nicht so, wie andere ihn sehen mussten. Und fühlte sich nicht so alt, wie er in Wirklichkeit war. In diesem Leben war er sechsundzwanzig. Davor hatte es zehn andere Jahre gegeben – als ein anderer Mann.

Der Fahrer zog noch einmal an seiner Zigarette und drückte sie dann sorgfältig im Aschenbecher aus.

»Bereit?«, fragte er.

Wortlos öffnete Billy die Beifahrertür des SUV und trat hinaus in die Nacht.

*

Sie standen unter dem Vordach des Hintereingangs. Es war schummrig, denn sie hatten die Birne aus der Lampe über ihnen geschraubt. Der Fahrer schaute Billy an und nickte. »Jacke«, sagte er leise.

Billy öffnete seine Jacke. Auf dem rechten Innenfutter waren sechs Fotos befestigt, in drei Reihen zu jeweils zwei Bildern. Der Fahrer deutete auf das zweite Foto in der oberen Reihe. Das Porträt war bei Tageslicht aufgenommen worden, vor einer Betonwand voller Graffiti und anderer Kritzeleien, wie man sie im Innenhof eines Gefängnisses oder einer Hinterhofwerkstatt findet.

Der Mann auf dem Foto trug einen Blaumann, darunter ein hellblaues Hemd, bis zum Hals zugeknöpft. Auf der rechten Brustseite war ein Gewirr aus roten Fäden zu sehen, was darauf hindeutete, dass sich dort ein Namensschild befunden hatte.

Der Mann auf dem Foto war genauso gekleidet wie der Fahrer, der nun neben Billy stand.

Er war der Fahrer.

Billy las laut den Namen, der in großen schwarzen Buchstaben am unteren Rand des Fotos zu lesen stand. »Sean.«

»Ja, Billy«, sagte der Fahrer. »Sean. Und jetzt mach schnell.«

Eine Hand auf dem Griff seiner Makarow-Pistole, drückte Billy auf den Knopf der Türklingel.

Wenige Sekunden später hörten sie, wie im Innern des Hauses die Sicherheitskette von links nach rechts geschoben und die Tür aufgeschlossen wurde.

Der Mann, der öffnete, war älter, als Billy erwartet hatte. Er trug einen zitronengelben Baumwollmorgenmantel, darunter einen dunkelblauen Pyjama. Billy entdeckte einen braunen Fleck auf dem rechten Aufschlag des Morgenmantels.

Gelber Morgenmantel. Blauer Pyjama. Fleck.

Billy betrachtete den Mann von oben bis unten. Er hielt nichts in den Händen. Er hatte, wie Billy auffiel, lediglich Schmutz unter den Fingernägeln.

Billy hatte sich angewöhnt, die Hände der Leute zu betrachten, ehe er mit ihnen sprach. Betrachte die Hände eines Mannes, und du siehst den ganzen Mann, hatte sein Vater immer gesagt.

Vielleicht ist er Gärtner, dachte Billy, oder Handwerker. Wobei ein Mann in seinem Alter vermutlich im Ruhestand war. Möglicherweise hatte er einen Hobbyraum im Keller. Billy machte sich in Gedanken eine Notiz, dass er nachschauen würde, wenn ihm die Zeit dazu blieb – auch wenn er sich wahrscheinlich schon nicht mehr daran erinnern würde, wenn sie dieses Haus verließen, wie er wusste. Manchmal vergaß er Dinge fast schon in dem Augenblick, in dem er sie sich einprägte.

»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte der alte Mann. Mit einem Lächeln schaute er sie abwechselnd an.

»Unser Wagen springt nicht an.« Billy deutete über die Schulter auf die Straße hinter dem unbebauten Grundstück. Der SUV stand im Schatten abseits der Straßenlaternen.

»Ah, ja, verstehe. Seid ihr neu in der Gegend?«

»Ja, Sir«, antwortete Billy.

Der alte Mann beugte sich vor, blickte nach rechts die Straße hinunter, dann nach links. In der Häuserzeile brannten noch vereinzelt Nachtlichter oder Sicherheitslampen über den Eingängen der Läden.

»Habt ihr keine Handys?«, fragte der alte Mann.

Sean hielt die leere linke Hand hoch, während die rechte den Griff der Waffe in seiner Tasche umklammerte. »Kein Guthaben mehr. Ich hatte vergessen, mein Handy aufzuladen.«

Der Mann nickte verständnisvoll. »Ist mir eine Freude, euch Jungs zu helfen. Wartet kurz hier. Ich hole das Schnurlostelefon. Dann könnt ihr anrufen, wen immer ihr wollt. Ich habe eine Flatrate. Ihr könnt gerne …«

Ehe der alte Mann den Satz beenden konnte, schob Billy ihn grob zur Seite und drang ins Haus ein. Er sah, wie Sean den Mann packte und von der Tür weg ins Innere zerrte.

Billy schaute sich um. Die Küche und das Esszimmer waren klein, wie für ein Reihenhaus dieses Zuschnitts üblich. Rechts standen ein Herd und ein Kühlschrank, links die Spüle und Geschirrschränke. Auf der Kühlschranktür war mit einem Magnet in Gestalt einer Banane die Bestellkarte eines Pizzalieferdienstes befestigt.

Ein schmaler, kurzer Flur führte zum Wohnzimmer. Auf halbem Weg, auf der rechten Seite, befanden sich ein kleines Badezimmer, bei dem eine Renovierung überfällig war, und zwei Treppen, von denen die eine in den oberen Stock führte, die andere in den Keller.

Billy holte einen Stuhl aus dem Esszimmer und stellte ihn mitten ins Wohnzimmer. Dann schritt er die Fenster ab und vergewisserte sich, dass die Jalousien heruntergelassen waren, sodass man von der Straße aus kein Licht im Haus sehen konnte. Vorsichtshalber überprüfte er auch die Eingangstür. Sie war verschlossen.

Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte Sean sich bereits um den Alten gekümmert. Er saß auf dem Stuhl, die Gesichtszüge erschlafft, die Augen offen, aber leer und ausdruckslos. Mit wenigen Handbewegungen öffnete Sean seinen Matchsack und holte das Isolierband hervor. Er riss ein Stück ab und klebte es dem Alten auf den Mund. Sekunden später hatte er ihm die Hände hinter dem Rücken gefesselt und seine Beine auf Knöchelhöhe an die Stuhlbeine gebunden.

Billy kniete sich vor den alten Mann auf den Boden und wartete, bis dessen verschwommener Blick sich auf ihn richtete. Das Gesicht des Alten kam ihm nicht bekannt vor. Aber er wusste, ein Foto dieses Mannes befand sich in seinem Buch. Er würde es sich später ansehen, bevor sie gingen.

»Ist noch jemand im Haus?«, fragte er.

Der alte Mann blickte ihn stumm an. Offenbar hatte er einen Schock erlitten. Hinter ihm, in der Ecke, erblickte Billy eine grüne Sauerstoffflasche. Um das Auslassventil herum war ein dünner Schlauch gewickelt, an dessen Ende sich eine Nasenkanüle befand. Asthma?, fragte sich Billy. Jetzt, aus der Nähe, konnte er den pfeifenden Atem des Alten hören.

»Ich brauche eine Antwort«, sagte Billy. »Schütteln Sie den Kopf für ein Nein und nicken Sie für ein Ja.« Er beugte sich nahe an das rechte Ohr des Mannes. »Ich frage Sie noch einmal. Ist noch jemand im Haus?«

Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf.

»Erwarten Sie in nächster Zeit Besuch?«

Wieder ein Kopfschütteln.

»Gut«, sagte Billy. »Wir werden tun, was wir tun müssen, und dann lassen wir Sie in Frieden.«

Nun, da der alte Mann gefesselt und geknebelt war, nahm Billy das Zimmer in Augenschein. Es war ohne Zweifel die Höhle eines Rentners, mit rustikalen Möbeln und flauschigen Teppichen. Der Fernsehsessel war deutlich abgenutzter als die Couchgarnitur, die aus einem zwei- und einem dreisitzigen Sofa bestand, die beide mit grün kariertem Stoff bezogen waren. Auf dem Wohnzimmertisch lag eine ungeöffnete Tüte Pfefferminzbonbons, daneben stand ein kleines Arsenal an bernsteinfarbenen Pillendosen. Von den aufgestapelten Zeitschriften war keine aktuell; bei jeder war der Adressaufkleber ausgeschnitten worden.

Wieder betrachtete Billy den alten Mann.

Gelber Morgenmantel. Blauer Pyjama. Fleck.

»Er ist es nicht«, sagte er.

Sean schaute zu dem Alten, dann zu Billy. »Natürlich ist er es.«

Billy griff in die Tasche und zog das zerfledderte Buch mit den Fotos heraus. Die Personen auf diesen Bildern waren auf den ersten Blick jedes Mal Fremde für ihn. Dennoch hatte jede dieser Personen ein Gesicht, einen Namen und eine Verbindung zu ihm. Jeder glühte rot und rund in der Dunkelheit seiner Erinnerung wie ein Zigarettenanzünder bei Nacht.

Billy fand das Foto, nach dem er suchte. Es war mit einem Tropfen von dem Klebstoff auf der Seite befestigt, den sie als Kinder in der Schule benutzt hatten. Damals, in seinem ersten Leben.

»Sieh es dir an«, sagte Billy. »Er ist es nicht. Das ist nicht der, den wir suchen.«

Sean nahm das Foto, ging damit zu dem alten Mann und hielt es neben dessen Gesicht. »Natürlich ist er es. Wie ich gesagt habe.«

Billy suchte in seiner Erinnerung nach dem Augenblick, als er den Mann zum ersten Mal gesehen und das Foto geschossen hatte. Aber da war nichts. Nur eine leere weiße Leinwand.

»Wir machen einen Fehler«, sagte er. »Und es wird nicht funktionieren, wenn wir einen Fehler machen.«

Der alte Mann begann zu zittern. Mit erstaunlicher Schnelligkeit riss Sean ihm das Isolierband vom Mund. Der Alte japste nach Luft.

»Wo ist Ihr Schlafzimmer?«, fragte Sean.

Der alte Mann öffnete den Mund und brachte mühsam ein paar Silben hervor. »Erst … erst …«

»Erster Stock?«, fragte Sean, der seine Ungeduld nicht verbergen konnte. Ohne die Antwort abzuwarten, rannte er die Treppe hinauf, wobei er mit jedem Schritt drei Stufen auf einmal nahm.

Billy zog einen Stuhl heran, setzte sich vor den alten Mann und fragte sich, wie es zu diesem Irrtum gekommen war.

Nur wenige Augenblicke vergingen, bis Sean mit einem Bündel Kleider über dem Arm ins Wohnzimmer zurückkam. Er ließ sie zu Boden fallen, zog seine halb automatische Pistole unter dem Gürtel hervor und legte sie auf den Wohnzimmertisch. Seine rechte Hand glitt in die Jackentasche. Als er sie wieder hervorzog, hielt sie ein Rasiermesser. Sean klappte es auf und durchtrennte mit wenigen glatten Schnitten das Klebeband, mit dem er die Hände und Beine des Alten gefesselt hatte.

»Aufstehen«, befahl er.

Der alte Mann rührte sich nicht.

Sean nahm die Halbautomatik vom Tisch und drückte dem Alten die Mündung auf den Hinterkopf. »Steh auf, oder ich spritz dein dämliches Gehirn auf den Teppich.«

Der alte Mann versuchte aufzustehen, doch Billy erkannte, dass seine Beine nicht mehr genügend Kraft hatten. Er hielt dem Mann die Hand hin, und der nahm die Hilfe entgegen. Billy spürte, wie weich die Haut auf dem Handrücken des alten Mannes war. Womit auch immer er seinen Lebensunterhalt verdient hat, ging es Billy durch den Kopf, er war kein Handwerker.

Sean kramte in dem Kleiderbündel, das er auf den Boden hatte fallen lassen, und zog ein blaues Hemd und eine burgunderfarbene Krawatte hervor. Im Flur fand er am Mantelbrett ein marineblaues Jackett.

»Los, zieh das an!«, verlangte er von dem Alten.

Mit arthritischer Langsamkeit zog der alte Mann das Oberteil seines Pyjamas aus und streifte mühsam das Hemd über. Seine Hände zitterten, und seine von der Gelenkerkrankung knotigen Finger bewegten sich ganz langsam. Anschließend zog er das Jackett über, schaffte es aber nicht mehr, die Krawatte zu binden.

Billy half ihm. Dann trat er einen Schritt zurück.

Sean hielt das Foto neben den Alten. Es war jenes Foto, auf dem der Mann genau dieselbe Kleidung trug wie jetzt.

Jenes Foto, das Billy, wie er sich nun erinnerte, von diesem Mann gemacht hatte, als er aus dem Gerichtsgebäude an der Filbert Street gekommen war.

Blaues Jacket. Blaues Hemd. Burgunderfarbene Krawatte.

Es war der Richtige.

»Du weißt, was zu tun ist«, sagte Sean.

Billy griff in die rechte Tasche seiner Jeans, zog einen Zettel heraus, entfaltete ihn und las die Anweisungen. Sie waren in Großbuchstaben geschrieben.

In der anderen Hosentasche steckte ein Taschentuch.

Darauf stand nur ein Wort.

Es war in Blut geschrieben.

*

Billy wanderte im zweiten Stock in den Schatten umher und schnüffelte wie eine neugierige Ratte in jeder Schublade, jedem Schrank, jedem Regal.

Hinter den Schranktüren befanden sich Kartons, und in den Kartons befanden sich Ordner – das Leben eines Mannes, das Zeugnis seines Wirkens auf dieser Welt, verschachtelt wie eine russische Matrjoschkapuppe. Eine der Kisten enthielt ein vergilbtes Fotoalbum, in dem die Bilder mit altmodischen Gummiklebeecken auf den schwarzen Papierseiten befestigt waren. Manche Fotos fehlten, andere waren dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen, sodass man nur noch mit Mühe etwas darauf erkennen konnte.

In einem weiteren Karton entdeckte Billy das gerahmte Bild eines jungen Mannes in Marineuniform, der den Arm um die Taille einer jungen Frau legte, die ein geblümtes Kleid mit Schulterpolstern trug. Billy hatte den Mann schon einmal gesehen, konnte sich aber nicht erinnern, wo das gewesen war.

Als er endlich gefunden hatte, wonach er suchte, hörte er hinter sich ein Geräusch. In einer flüssigen Bewegung zog er die Makarow, wirbelte herum und hielt die Waffe schussbereit mit gestrecktem Arm vor sich, die Hände ruhig wie immer.

Der verdammte Alte hatte gelogen! Er erwartete doch Besuch, und der stand nun vor Billy.

Billy richtete die Waffe auf den Fremden. Er spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er hatte schon oft den Abzug einer Waffe betätigt, doch jedes Mal wurde ihm übel bei dem Geräusch von Metall, das mit einem dumpfen, nassen Geräusch Fleisch zerfetzte oder mit scharfem Krachen Knochen zersplitterte.

Trotzdem. Wenn er abdrücken musste, würde er es tun. In diesem Punkt war seine Erinnerung eindeutig. Er hatte nie gezögert.

Der Fremde hob die Hände über den Kopf.

»Jacke«, sagte er.

Das Wort.

»Die Jacke, Billy.«

Billy schnellte hoch, drückte die Mündung der Makarow auf die Stirn des Mannes. »Woher kennst du meinen Vornamen?«

Der Mann richtete den Blick auf den Boden und schwieg.

»Beweg dich nicht!«, warnte Billy ihn, trat einen Schritt zurück und öffnete die rechte Seite seiner Jacke. Eines der Fotos auf dem Futter zeigte den Mann, der vor ihm stand, in Blaumann und hellblauem T-Shirt.

»Sean?«, sagte Billy. »Sean!«

Der Name des Mannes war Sean. Sean Patrick Farren, Billys Zwillingsbruder. Billys Name lautete Michael Anthony Farren. Genauer gesagt, sein Taufname, der auch in seiner Geburtsurkunde stand und den er bei Tageslicht benutzte.

In den Schatten, wo das Lied des Todes darüber entschied, wer lebte und wer starb, war er Billy, der Wolf.

Es wurde Zeit für den letzten Akt.

*

Als Sean das Rasiermesser aufklappte, kniete sich Billy vor den alten Mann und betrachtete dessen Gesicht. Es war ausdruckslos, leer. Aber das würde nicht lange so bleiben.

»Sie sollten wissen, dass alles eine Bedeutung hatte, Sir«, sagte Billy sanft. »Glauben Sie mir. Ich war auf der anderen Seite, ich weiß es.«

Er wartete auf Antwort, erhielt aber keine.

»Es ist einfach … alles. Jeder Morgen, jeder Nachmittag und jeder Abend, seit diesem Tag im Jahr 1960 … ein Palindrom, das vorwärts wie rückwärts den gleichen Sinn ergibt. Aber nur als Ganzes ist es makellos.«

Er legte eine Hand auf die zitternde Schulter des alten Mannes und ließ ihm einen Moment Zeit, den Rest an Würde zusammenzuraffen, den er noch aufbringen konnte.

»Gleich werde ich alles sehen«, sagte Billy. »Jeden Augenblick Ihres Lebens. Bereuen Sie irgendetwas?«

Der alte Mann nickte. »Sehr viel.«

»Wie jeder von uns.« Billy nahm die Hände des Alten, schloss die Augen und sog die Essenz des Mannes in sich auf, sein Wesen, sein Ich, und dann …