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Stephen King

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Beschreibung

"Das Beste, was Stephen King je geschrieben hat." The New York Times

Schriftsteller Paul hat seine Serienheldin Misery sterben lassen. Nach einem Autounfall hält die Krankenschwester Annie – Pauls "größter Fan" – den verletzten Autor gefangen und zwingt ihn weiterzuschreiben.

Oscar für Kathy Bates in der Verfilmung "Misery".

"Man fühlt sich von Zeile zu Zeile immer mehr hineingezogen, wird süchtig von der Droge Spannung." Die Welt

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DAS BUCH
In einem Schneesturm hat der Autor Paul Sheldon einen schweren Autounfall, bei dem er sich beide Beine bricht. Die ehemalige Krankenschwester Annie Wilkes findet Paul und bringt ihn zu sich nach Hause, wo sie ihn auch versorgt. Es stellt sich heraus, dass Annie Paul Sheldons größter Fan ist. Sie verfolgt seine Romane mit der Heldin Misery Chastain geradezu fanatisch. Paul, der Misery in seinem neuesten Manuskript sterben lässt, gibt seiner Wohltäterin Annie den ungedruckten Roman aus Dankbarkeit für ihre Hilfe zu lesen. Doch dann verändert Annie ihr Verhalten gegenüber Paul: Ihre Wutausbrüche wegen Kleinigkeiten häufen sich, und Paul begreift, dass er einer Geisteskranken ausgeliefert ist. Außer sich vor Zorn über den Tod ihrer Lieblingsfigur Misery, zwingt Annie Paul, für sie – und nur für sie – einen Roman zu schreiben, in dem Misery weiterlebt. Und Paul muss einsehen, dass das auch für ihn die einzige Überlebenschance bedeutet, denn Annie hat, wie er in ihrer Abwesenheit herausfindet, ein entsetzliches Geheimnis …
DER AUTOR
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, veröffentlichte schon als Student Kurzgeschichten. Sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit über 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Die großen Werke des Autors erscheinen im Heyne Verlag.

Die OriginalausgabeMISERYerschien bei Viking, New York

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 1987 by Stephen King, Tabitha King, Arthur B. Greene, Trustee

Copyright © 1987, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Somchai Som, Manbetta, Sasa-71)

Redaktion: Momo Evers

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-05385-7V006

www.heyne.de

Inhaltsverzeichnis
 
GÖTTIN AFRIKA
 
Teil eins – ANNIE
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
 
Teil zwei – MISERY
Kapitel 1 – MISERYS RÜCKKEHR
KAPITEL 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6 – MISERYS RÜCKKEHR
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
 
Teil drei – PAUL
Kapitel 1
KAPITEL 32
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
KAPITEL 37
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
 
Teil vier – GÖTTIN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
 
Dieses Buch ist für Stephanie und Jim Leonard, die wissen, warum.
 

GÖTTIN AFRIKA

Ich möchte mich für die Hilfe von drei Medizinern bedanken, die mir mit dem fachlichen Teil dieses Buches geholfen haben. Es sind:
Russ Dorr, PA Florence Dorr, RN Janet Ordway, MD und Doktorin der Psychiatrie
Sie haben, wie immer, bei den Dingen geholfen, die eigentlich gar nicht auffallen. Wenn Sie einen dicken Fehler finden, dann ist der von mir.
 
Selbstverständlich existiert kein Medikament namens Novril, aber es gibt verschiedene Medikamente auf Codein-Basis, die damit vergleichbar sind, und unglücklicherweise sind Krankenhäuser und Apotheken manchmal nachlässig, wenn es darum geht, solche Medikamente unter strengem Verschluss zu halten und genau darüber Buch zu führen.
 

Teil einsANNIE

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

1

ummmr nnnnss
rrfnn ummr nnnnss
fnnn
Diese Laute: auch im Nebel.

2

Aber manchmal wurden die Laute schwächer – wie die Schmerzen -, zurück blieb nur der Nebel. Er erinnerte sich an Dunkelheit: Undurchdringliche Dunkelheit war da vor dem Nebel gewesen. Bedeutete das, dass er Fortschritte machte? Es werde Licht (und sei es auch dunstig und verschwommen), und das Licht war gut, und so weiter, und so weiter? Hatten diese Laute in der Dunkelheit existiert? Er kannte auf keine dieser Fragen eine Antwort. War es überhaupt sinnvoll, sie zu stellen? Auch darauf wusste er die Antwort nicht.
Die Schmerzen waren irgendwo unter den Lauten. Die Schmerzen waren östlich der Sonne und südlich von seinen Ohren. Mehr wusste er nicht.
Eine gewisse Zeitspanne, die sehr lang zu sein schien (und es daher auch war, da die Schmerzen und der stürmische Nebel alles waren, das existierte), waren diese Laute die einzige äußere Realität. Er hatte keine Ahnung, wer er war und wo er war, und es kümmerte ihn auch nicht. Er wünschte sich, er wäre tot, aber durch den schmerzgetränkten Nebel, der seinen Verstand wie eine sommerliche Sturmwolke erfüllte, wusste er nicht, dass er es wünschte.
Im Laufe der Zeit stellte er fest, dass es Zeitspannen des Nichtschmerzes gab und dass diese zyklischer Natur waren. Und zum ersten Mal, seit er aus der völligen Schwärze aufgetaucht war, welche dem Nebel vorausging, hatte er einen Gedanken, der unabhängig von seiner wie auch immer beschaffenen momentanen Situation existierte. Dieser Gedanke galt einem abgebrochenen Pfahl, welcher am Revere Beach aus dem Sand herausragte. Seine Mutter und sein Vater hatten ihn, als er noch ein Kind war, häufig zum Revere Beach mitgenommen, und er hatte stets darauf bestanden, dass sie ihre Decke an einer Stelle ausbreiteten, von wo er diesen Pfahl im Auge behalten konnte, der für ihn immer wie ein einzelner herausragender Fangzahn eines begrabenen Monsters ausgesehen hatte. Er saß gern da und sah zu, wie die Flut kam und den Pfahl bedeckte. Stunden später dann, wenn Sandwiches und Kartoffelsalat aufgegessen und Vaters großer Thermosflasche die letzten Tropfen Kool-Aid entlockt worden waren, kurz bevor Mutter sagte, es wäre an der Zeit, zusammenzupacken und wieder heimzufahren, da zeigte sich der verrottete Pfahl erneut – anfangs nur eine zwischen den einlaufenden Wellen kurz aufscheinende Spitze, dann mehr und mehr. Wenn sie ihre Abfälle in die große Tonne mit der Aufschrift HALTET DEN STRAND SAUBER geworfen hatten und Paulies Spielsachen zusammengesucht waren
(das ist mein Name Paulie ich bin Paulie und heute Abend wird Mama Johnson’s Babyöl auf meinen Sonnenbrand reiben, dachte er im Innern des Brummschädels, in dem er jetzt hauste)
und sie die Decke zusammengelegt hatten, war der Pfahl fast vollständig wieder aufgetaucht, seine schwärzlichen, schlammglatten Seiten waren von schaumigen Gischtwölkchen umgeben. Das liegt an den Gezeiten, hatte sein Vater ihm zu erklären versucht, aber er hatte immer gewusst, dass es an dem Pfahl lag. Die Gezeiten kamen und gingen, der Pfahl blieb. Nur konnte man ihn manchmal nicht sehen. Ohne den Pfahl gab es keine Gezeiten.
Diese Erinnerung kreiste, kreiste schwindelerregend wie eine schwerfällige Fliege. Er versuchte zu greifen, was immer sie bedeuten mochte, aber für eine lange Zeit unterbrachen ihn die Laute.
fnnn
lesssss llllsss
mmmr nnnnss
Manchmal hörten die Laute auf. Manchmal hörte er auf.
Seine erste wirklich klare Erinnerung an dieses Jetzt, an dieses Jetzt außerhalb des stürmischen Nebels, war die an das Aufhören, an die plötzliche Erkenntnis, dass er nicht mehr atmen konnte, und das war recht so, das war gut, das war eigentlich wunderbar; er konnte eine bestimmte Menge Schmerzen ertragen, aber genug war genug, und er war froh darüber, dass es nun vorbei war.
Dann wurde ein Mund über seinen gestülpt, ein Mund, der ohne jeden Zweifel einer Frau gehörte, trotz der harten, speichellosen Lippen, und der Atem aus dem Mund dieser Frau drang tief in seinen Mund ein, blies die Kehle hinunter und blähte die Lunge, und als die Lippen zurückgezogen wurden und die Penetration ihres Atems endete, da roch er seine Wärterin zum ersten Mal, roch sie mit dem Ausströmen des Atems, den sie in ihn gezwängt hatte, wie ein Mann ein Teil von sich in eine unwillige Frau zwängen mochte, ein scheußlicher Geruch, eine Mischung aus Vanilleplätzchen und Schokoladeneis und Hühnersoße und Erdnussbuttertoffee.
Er hörte eine Stimme schreien: »Atmen Sie, gottverdammt! Atmen Sie, Paul!«
Die Lippen senkten sich wieder herab. Der Atem blies wieder seine Kehle hinunter. Blies hinunter wie der Sogwind, der einer schnellen U-Bahn folgt und Zeitungsblätter und Bonbonpapier mit sich wirbelt, und die Lippen wurden zurückgezogen, und er dachte: Um Himmels willen, lass nichts davon durch die Nase raus, aber er konnte nicht anders, und oh, dieser Gestank, dieser Gestank, dieser verdammte GESTANK.
»Atmen Sie, gottverdammt!«, kreischte die unsichtbare Stimme, und er dachte: Das werde ich, alles, aber bitte mach das nicht mehr, dring nicht mehr mit diesem stinkenden Atem in mich ein, und er versuchte es, aber bevor er richtig damit anfangen konnte, drückte sie erneut die Lippen auf seine, Lippen, die so trocken und tot waren wie Streifen gesalzenen Leders, und sie vergewaltigte ihn wieder mit ihrem Atem.
Als sie die Lippen dieses Mal wegnahm, ließ er ihren Atem nicht entweichen, sondern stieß ihn hinaus und sog gierig von sich aus Luft ein. Stieß sie aus. Wartete darauf, dass sich seine Brust wieder von sich aus hob, wie sie es sein ganzes Leben lang getan hatte, ohne sein Zutun. Als sie es nicht tat, reagierte er mit einem weiteren keuchenden Atemzug, und dann schließlich atmete er wieder von selbst, und er tat es, so schnell er konnte, um ihren Geruch und Geschmack aus sich herauszubekommen.
Gewöhnliche Luft hatte noch niemals so köstlich geschmeckt.
Er begann wieder in den Nebel zurückzusinken, aber bevor die trüber werdende Welt völlig verschwunden war, hörte er die Stimme der Frau murmeln: »Puh! Das war knapp!«
Nicht knapp genug, dachte er und schlief ein.
Er träumte von dem Pfahl, und das fühlte sich so wirklich an, dass er fast glaubte, er könne die Hand ausstrecken und mit der Handfläche über die grünschwarze rissige Oberfläche streichen.
Als er zu seinem vorherigen Zustand des Halbbewusstseins zurückkehrte, gelang es ihm, die Verbindung zwischen dem Pfahl und seiner momentanen Situation herzustellen – als könnte er sie auf einmal mit der Hand greifen. Die Schmerzen waren nicht wie die Gezeiten. Das war die Lektion des Traumes, der in Wirklichkeit eine Erinnerung war. Die Schmerzen schienen nur zu kommen und zu gehen. Die Schmerzen waren wie dieser Pfahl, manchmal überspült und manchmal sichtbar, aber immer da. Wenn die Schmerzen nicht die dichte, steingraue Wolke durchdrangen, die ihn umgab, und ihn quälten, dann war er dafür voll stummer Dankbarkeit, aber er ließ sich nicht mehr zum Narren halten – sie waren immer noch da und warteten nur darauf zurückzukehren. Und es war nicht nur ein Pfahl, es waren deren zwei; die Schmerzen waren die Pfähle, und ein Teil von ihm wusste, lange bevor dieses Wissen seinem Verstand tatsächlich zugänglich war, dass es sich bei den Pfählen um seine eigenen zerschmetterten Beine handelte.
Aber es dauerte noch eine lange Zeit, bis es ihm möglich war, die getrocknete Schicht Speichel aufzubrechen, die seine Lippen zusammenklebte, und zu krächzen: »Wo bin ich?«, in Richtung der Frau, welche mit einem Buch in der Hand neben dem Bett saß. Der Name des Mannes, der das Buch geschrieben hatte, war Paul Sheldon. Er identifizierte ihn ohne Überraschung als seinen eigenen.
»Sidewinder, Colorado«, sagte sie, als es ihm schließlich möglich war, die Frage zu artikulieren. »Mein Name ist Annie Wilkes. Und ich bin …«

3

Dunkelheit. Dann die Schmerzen und der Nebel. Dann die Erkenntnis, dass die Schmerzen, obschon konstant, manches Mal doch durch einen unbehaglichen Kompromiss begraben wurden, den er für Erleichterung hielt. Die erste wirkliche Erinnerung: aufzuhören und vom stinkenden Atem der Frau zurück ins Leben vergewaltigt zu werden.
Die nächste wirkliche Erinnerung: ihre Finger, die ihm in regelmäßigen Abständen etwas in den Mund stopften, etwas Ähnliches wie Contac-Erkältungskapseln, aber ohne Wasser lagen sie einfach nur in seinem Mund, und wenn sie sich auflösten, nahm er einen unglaublich bitteren Geschmack wahr, der ein klein wenig an Aspirin erinnerte. Es wäre gut gewesen, diesen bitteren Geschmack auszuspucken, aber er wusste es besser. Denn dieser bittere Geschmack war es, der die Flut über den Pfahl hinwegspülen ließ
(PFÄHLE es sind PFÄHLE es sind ZWEI okay es sind zwei na gut jetzt sei still einfach nur still psssst ssssst)
und ihn eine Zeit lang vergessen sein ließ.

4

Der vorausschauende Teil seines Verstandes sah sie schon, bevor er wusste, dass er sie sah, und musste sie bereits verstanden haben, bevor er wusste, dass er sie verstand – weshalb sonst hätte er so harte, unheilvolle Bilder mit ihr assoziiert? Wann immer sie das Zimmer betrat, musste er an die Gottheiten denken, welche von abergläubischen Afrikanern in den Romanen von H. Rider Haggard angebetet wurden, und an Steine, und an Untergang.
Die Vorstellung von Annie Wilkes als afrikanisches Götzenbild aus Sie oder König Salomons Diamanten war albern und auf seltsame Weise zutreffend zugleich. Sie war eine große Frau, die, abgesehen von der beachtlichen, aber abweisenden Rundung ihres Busens unter dem grauen Strickpullover, den sie immer trug, überhaupt keine weiblichen Kurven zu haben schien – keine konturierte Rundung von Hüften oder Pobacken oder auch nur Waden unter der endlosen Abfolge von Wollröcken, die sie im Haus trug (sie zog sich in ihr unsichtbares Schlafzimmer zurück und zog Jeans an, wenn sie Arbeiten draußen zu erledigen hatte). Ihr Körper war groß, jedoch nicht großzügig. Sie vermittelte ein Gefühl von Verklumpungen und Barrieren anstatt von einladenden Öffnungen oder gar offenen Stellen oder Nischen.
Am meisten aber vermittelte sie ihm das beunruhigende Gefühl von Festigkeit, als besäße sie keinerlei Blutgefäße oder innere Organe; als wäre sie nur von einer Seite zur anderen und von oben bis unten eine massive Annie Wilkes. Mehr und mehr war er davon überzeugt, dass ihre Augen, die sich zu bewegen schienen, lediglich aufgemalt waren und sich nicht mehr bewegten als die Augen von Porträts, deren Blicke einen in dem Zimmer, in dem sie hängen, scheinbar in jeden Winkel verfolgen. Er hatte den Eindruck, würde er die ersten beiden Finger einer Hand zum V formen und in ihre Nasenlöcher bohren, so würde er kaum mehr als wenige Millimeter eindringen können, bevor er gegen ein solides (wenn auch etwas nachgiebiges) Hindernis stoßen würde, ja, dass sogar ihr grauer Strickpullover und die altmodischen Hausröcke und verblichenen Jeans für draußen Teile dieses massiven, faserigen, blutgefäßlosen Körpers waren. Daher war der Eindruck, sie könnte ein Götzenbild in einem leidenschaftlichen Roman sein, eigentlich keineswegs überraschend. Wie eine Göttin gab sie ihm nur eines: ein Gefühl des Unbehagens, welches sich zunehmend zum Entsetzen hin steigerte. Alles andere nahm sie, ebenfalls wie eine Göttin.
Nein, Moment, das war nicht ganz fair. Sie gab in der Tat noch etwas anderes. Sie gab ihm die Tabletten, welche die Flut über die Pfähle hinwegspülen ließen.
Die Tabletten waren die Flut; Annie Wilkes war die lunare Macht, die sie ihm in den Mund drückte wie Strandgut, das auf einer Welle angeschwemmt wurde. Alle sechs Stunden brachte sie ihm zwei, anfangs tat sich ihre Anwesenheit lediglich als ein Fingerpaar kund, welches in seinem Mund herumstocherte (und er lernte recht bald, begierig an diesen stochernden Fingern zu saugen, obschon sie einen bitteren Geschmack hatten), später dann kam sie in ihrem Strickpullover und einem von ihren halben Dutzend Röcken, für gewöhnlich mit einer Taschenbuchausgabe eines seiner Romane unter dem Arm. Nachts erschien sie ihm in einem fusseligen rosa Morgenrock, ihr Gesicht glänzend durch irgendeine Creme (er konnte den Hauptbestandteil dieser Creme ganz eindeutig erkennen, wenngleich er die Flasche niemals gesehen hatte, aus der sie sie entnahm; der schafartige Geruch von Lanolin war stark und aufdringlich), und rüttelte ihn aus seinem betäubten, traumbedrängten Schlaf, die Tabletten in einer Hand; der pockennarbige Mond rekelte sich im Fenster über einer ihrer massiven Schultern.
Nach einer Weile – nachdem seine Besorgnis zu groß geworden war, um sie noch länger zu missachten – gelang es ihm herauszufinden, was sie ihm einflößte. Es war ein schmerzstillendes Mittel auf Codeinbasis namens Novril. Der Grund dafür, dass sie ihm die Bettpfanne so selten bringen musste, war nicht nur der, dass er von einer Diät lebte, die fast ausschließlich aus Flüssigkeit und Gelee bestand (zuvor, als er sich in der Wolke befand, hatte sie ihn intravenös ernährt), sondern auch, dass Novril bei Patienten, die es einnahmen, zu Verstopfung führte. Eine weitere Nebenwirkung deutlich ernsterer Natur war Atemlähmung bei empfindlichen Patienten. Paul war nicht besonders empfindlich, auch wenn er fast achtzehn Jahre lang starker Raucher gewesen war, aber sein Atem hatte trotzdem zumindest einmal aufgehört (vielleicht noch öfter, in dem Nebel, an den er sich nicht erinnern konnte). Das war, als sie ihn Mund zu Mund beatmet hatte.
Es konnte sich um einen Zwischenfall gehandelt haben, wie sie sich eben manchmal zutragen, aber später begann er zu argwöhnen, dass sie ihn mit einer versehentlichen Überdosis fast umgebracht hatte. Sie hatte nicht so viel Ahnung von dem, was sie tat, wie sie selbst glaubte. Das war nur eines der Dinge an Annie, das ihm Angst machte.

5

Die Dunkelheit war den Schmerzen und der Sturmwolke vorausgegangen; er begann sich an das zu erinnern, was der Dunkelheit vorausgegangen war, als sie ihm erzählte, was ihm zugestoßen war. Das war, kurz nachdem er die traditionelle Wenn-der-Schläfer-erwacht-Frage gestellt und sie ihm geantwortet hatte, dass er sich in der kleinen Stadt Sidewinder in Colorado befand. Des Weiteren hatte sie ihm erzählt, dass sie jeden seiner acht Romane mindestens zweimal gelesen hätte, ihre persönlichen Favoriten, die Misery-Romane, sogar vier-, fünf-, vielleicht sechsmal. Sie wünschte nur, er würde sie schneller schreiben. Sie sagte, sie hätte kaum glauben können, dass ihr Patient wirklich der Paul Sheldon war, selbst nachdem sie seinen Ausweis in der Brieftasche gesehen hatte.
»Wo ist übrigens meine Brieftasche?«, fragte er.
»Ich habe sie sicher für Sie verwahrt«, sagte sie. Ihr Lächeln brach plötzlich zu einer argwöhnischen Wachsamkeit zusammen, die ihm ganz und gar nicht gefiel – es war, als würde man eine tiefe, beinahe von Sommerblumen verdeckte Kluft auf einer strahlenden, fröhlichen Wiese entdecken. »Glauben Sie, ich hätte etwas daraus gestohlen?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Es ist nur, dass …« Es ist nur, dass sich darin mein ganzes restliches Leben befindet, dachte er. Mein Leben außerhalb dieses Zimmers. Außerhalb der Schmerzen. Außerhalb der Art und Weise, wie die Zeit sich zu dehnen scheint wie der lange rosa Faden eines Kaugummis, den ein Kind sich aus dem Mund zieht, wenn es sich langweilt. Denn genau so ist es in der letzten Stunde, bevor es die Tabletten gibt.
»Nur was, Mister Man?«, beharrte sie, und er stellte besorgt fest, dass der argwöhnische Gesichtsausdruck zunehmend finsterer wurde. Die Kluft wurde breiter, als würde hinter ihrer Stirn ein Erdbeben wüten. Er konnte das konstante, schrille Heulen des Windes draußen hören, und plötzlich sah er sie im Geiste, wie sie ihn aufhob und über ihre massive Schulter warf, wo er wie ein über eine Steinmauer geworfener Leinensack hängen würde, wie sie ihn hinaustrug und in eine Schneeverwehung warf. Dort würde er erfrieren, aber bevor das geschah, würden seine Beine pulsieren und schreien.
»Es ist nur, mein Vater hat mir immer eingeschärft, meine Brieftasche stets im Auge zu behalten«, sagte er und war selbst erstaunt, wie mühelos ihm diese Lüge über die Lippen kam. Sein Vater hatte eine Lebensphilosophie daraus gemacht, Paul nur insoweit Beachtung zu schenken, wie es absolut nötig war, und sofern Paul sich erinnern konnte, hatte er ihm in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Rat gegeben. An Pauls vierzehntem Geburtstag hatte sein Vater ihm ein in Folie eingeschweißtes Red-Devil-Kondom gegeben. »Tu das in deine Brieftasche«, hatte Roger Sheldon gesagt, »und wenn du im Autokino mit jemandem rumknutschst und dabei erregt wirst, dann nimm dir einen Moment Zeit, wenn du erregt genug bist, zu wollen, aber noch nicht erregt genug, dass dir alles egal ist, und zieh das über. Es gibt schon zu viele Mistkerle auf der Welt, und ich möchte nicht zusehen, wie du mit sechzehn zur Armee gehen musst.«
Jetzt fuhr Paul fort: »Ich glaube, er hat mich so oft ermahnt, auf meine Brieftasche zu achten, dass es mir wirklich in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wenn ich Sie beleidigt habe, dann tut mir das wirklich aufrichtig leid.«
Sie entspannte sich. Lächelte. Die Kluft schloss sich. Die Sommerblumen wiegten sich wieder fröhlich. Er stellte sich vor, wie er die Hand durch dieses Lächeln hindurchstieß und nichts als federnde Dunkelheit fand. »Sie haben mich nicht beleidigt. Sie ist an einem sicheren Ort. Warten Sie – ich habe etwas für Sie.«
Sie entfernte sich und kam mit einem dampfenden Teller Suppe zurück. Gemüse schwamm darin. Er war nicht imstande, viel zu essen, aber er aß mehr, als er zuerst für möglich gehalten hatte. Sie wirkte zufrieden. Während er die Suppe aß, erzählte sie ihm, was geschehen war, und als sie es erzählte, erinnerte er sich an alles, er dachte sich, dass es gut war, zu wissen, wie er zu seinen zerschmetterten Beinen kam, aber die Art und Weise, wie er dieses Wissen erfuhr, war abstoßend – als wäre er eine Person in einem Buch oder einem Theaterstück, eine Person, deren Erinnerung nicht wie Geschichte wiedergegeben, sondern wie Literatur erfunden wurde.
Sie war mit dem Geländewagen nach Sidewinder gefahren, um Futter für ihre Tiere und ein paar Lebensmittel einzukaufen … und um die Taschenbücher in Wilsons Drogerie durchzusehen – das war am Mittwoch vor mittlerweile fast zwei Wochen gewesen, und die neuen Taschenbücher wurden immer dienstags geliefert.
»Ich hatte sogar an Sie gedacht«, sagte sie und löffelte Suppe in seinen Mund; dann wischte sie professionell mit einer Serviette ab, was ihm übers Kinn lief. »Deswegen ist es ja ein so bemerkenswerter Zufall, verstehen Sie? Ich hatte gehofft, Miserys Kind wäre endlich als Taschenbuch erschienen, aber ich hatte kein Glück.«
Es war ein Sturm aufgezogen, sagte sie, aber bis zum Nachmittag dieses Tages waren die Meteorologen sich sicher gewesen, dass er nach Süden weiterziehen würde, in Richtung New Mexico und zum Sangre de Cristo.
»Ja«, sagte er und erinnerte sich tatsächlich, als er es sagte. »Sie meldeten, er würde abdrehen. Darum bin ich überhaupt erst aufgebrochen.« Er versuchte, seine Beine zu bewegen. Die Folge war ein jäher Schmerz, und er stöhnte.
»Tun Sie das nicht«, sagte sie. »Wenn Sie Ihre Beine zum Sprechen bringen, Paul, dann werden sie nicht mehr verstummen … und ich kann Ihnen erst in zwei Stunden wieder Tabletten geben. Ich gebe Ihnen ohnehin schon zu viel.«
Warum bin ich nicht in einem Krankenhaus? Das war eindeutig die Frage, die er stellen wollte, aber er war sich nicht sicher, ob es eine Frage war, die sie beide ausgesprochen wissen wollten. Jedenfalls noch nicht.
»Als ich zur Futtermittelhandlung kam, sagte Tony Roberts zu mir, dass ich besser auf die Tube drücken sollte, wenn ich vor dem Sturm noch nach Hause wollte, und ich sagte …«
»Wie weit sind wir von der Stadt entfernt?«, fragte er.
»Ein gutes Stück«, antwortete sie unbestimmt und sah zum Fenster. Es folgte eine eigentümliche Zeitspanne des Schweigens, und Paul hatte Angst vor dem, was er in ihrem Gesicht sah, denn was er sah, war nichts; das schwarze Nichts einer Kluft in einer alpinen Wiese, eine Schwärze, wo keine Blumen wuchsen, wo ein Sturz ewig dauern konnte. Es war das Gesicht einer Frau, die vorübergehend losgelöst von allen Belangen und Orientierungspunkten ihres Lebens war, eine Frau, welche nicht nur die Erinnerung vergessen hatte, von der sie gerade erzählen wollte, sondern die Existenz von Erinnerungen an sich. Er hatte einmal eine Nervenheilanstalt besucht – das war schon Jahre her, als er für Misery recherchiert hatte, das erste von den vier Büchern, die in den vergangenen acht Jahren für sein Haupteinkommen gesorgt hatten – und da hatte er diesen Blick gesehen … besser gesagt, diesen Nichtblick. Das Wort, mit dem er definiert wurde, lautete Katatonie, doch für das, was ihm Angst machte, gab es kein so präzises Wort – es war vielmehr ein vager Vergleich: In diesem Augenblick glaubte er, dass ihre Gedanken genauso geworden waren wie ihr physisches Selbst: massiv, faserig, ohne Lebenskanäle und ohne Öffnungen.
Dann wurde ihr Gesicht allmählich wieder klar. Die Gedanken schienen in sie zurückzufließen. Doch dann dachte er, dass fließen nicht ganz richtig war. Sie wurde nicht aufgefüllt, wie ein Bassin oder ein Gezeitenbecken; sie lief warm. Ja … sie lief warm wie ein kleines elektrisches Gerät. Ein Toaster oder vielleicht ein Heizkissen.
»Ich sagte zu Tony: ›Der Sturm wird nach Süden abdrehen. ‹« Sie sprach anfangs langsam, beinahe benommen, aber dann erreichten ihre Worte wieder einen normalen Tonfall und den Fluss eines Gesprächs. Aber jetzt war er wachsam. Alles, was sie sagte, hörte sich ein wenig seltsam an, ein wenig neben der Spur. Wenn man Annie zuhörte, dann war das, als hörte man ein Lied, das in der falschen Tonart gespielt wurde.
»Aber er sagte: ›Er hat seine Meinung geändert.‹
›Ach je!‹, sagte ich. ›Dann schwinge ich mich besser auf mein Pferd und reite los.‹
›Ich würde in der Stadt bleiben, wenn Sie können, Miss Wilkes‹, sagte er. ›Sie sagen jetzt im Radio, dass da ordentlich was auf uns zukommt, und niemand ist darauf vorbereitet.‹
Aber ich musste selbstverständlich zurück – außer mir ist niemand da, um die Tiere zu füttern. Die nächsten Nachbarn sind die Roydmans, und die wohnen Meilen von hier entfernt. Außerdem können die Roydmans mich nicht leiden.«
Als sie die letzten Worte aussprach, schielte sie ihn verschlagen an, und als er nicht antwortete, klopfte sie auf gebieterische Weise mit dem Löffel gegen den Rand der Schüssel.
»Fertig?«
»Ja, danke, ich bin satt. Es hat sehr gut geschmeckt. Haben Sie denn viel Vieh?«
Weil, dachte er bereits, wenn das der Fall ist, dann hast du sicher Hilfe dabei. Wenigstens einen Lohnarbeiter. »Hilfe« war auf jeden Fall das Zauberwort. Es schien jedenfalls das Zauberwort zu sein, da er gesehen hatte, dass sie keinen Ehering trug.
»Nicht sehr viel«, sagte sie. »Ein halbes Dutzend Legehennen. Zwei Kühe. Und Misery.«
Er blinzelte.
Sie lachte. »Sie werden mich nicht für besonders nett halten, eine Sau nach der tapferen und wunderschönen Frau zu nennen, die Sie erfunden haben. Aber das ist ihr Name, und ich wollte nicht respektlos sein.« Nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte, fügte sie hinzu: »Sie ist sehr freundlich.« Die Frau rümpfte die Nase, und einen Moment lang wurde sie zur Sau, bis hinab zu den störrischen Barthaaren, die vereinzelt auf ihrem Kinn wuchsen. Sie quiekte und grunzte wie ein Schwein: »Oiink! Oiiink! Chrrr-Chrrr!«
Paul sah sie mit aufgerissenen Augen an.
Sie bemerkte es nicht; sie war wieder abwesend, ihr Blick war unscharf und nachdenklich. Nichts spiegelte sich in ihren Augen, nur die Lampe auf dem Nachttisch, und diese zweimal, in Form zweier undeutlicher Abbilder.
Schließlich zuckte sie ein wenig zusammen und fuhr fort: »Ich kam etwa fünf Meilen weit, dann setzte der Schneefall ein. Es ging schnell – wenn es hier einmal anfängt, geht es immer schnell. Ich kroch mit eingeschalteten Scheinwerfern dahin, und da sah ich Ihr Auto umgestürzt neben der Straße liegen.« Sie sah ihn missbilligend an. »Sie hatten Ihre Scheinwerfer nicht eingeschaltet.«
»Ich wurde von dem Unwetter überrascht«, sagte er und erinnerte sich in diesem Augenblick daran, wie er überrascht worden war. Er erinnerte sich jedoch noch nicht daran, dass er gleichzeitig sehr betrunken gewesen war.
»Ich habe angehalten«, sagte sie. »Wäre es an einer bergauf gelegenen Stelle gewesen, hätte ich es wahrscheinlich nicht getan. Nicht gerade sehr christlich, ich weiß, aber es lag bereits über eine Handbreit Schnee auf der Straße, und nicht einmal mit Allradantrieb kann man sich sicher sein, wieder anfahren zu können, wenn die Räder erst einmal stillstehen. Es ist viel einfacher, zu sich selbst zu sagen: ›Oh, wahrscheinlich konnten sie aus dem Wagen herausklettern und haben jemanden gefunden, der sie mitgenommen hat‹, und so weiter, und so weiter. Aber es war auf der Kuppe des dritten großen Anstiegs hinter dem Hof der Roydmans, und dort ist es ein ganzes Stück lang flach. Daher hielt ich am Straßenrand an, und kaum war ich ausgestiegen, hörte ich ein Stöhnen. Das waren Sie, Paul.«
Sie bedachte ihn mit einem sehr seltsamen mütterlichen Grinsen.

6

Er lag in jenem Zimmer, das möglicherweise ein ungenutztes zweites Schlafzimmer war, und sie saß die nächsten zwanzig Minuten an seiner Seite und redete. Während sein Körper die Suppe verarbeitete, nahmen die Schmerzen in den Beinen wieder zu. Er zwang sich dazu, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagte, aber damit war er nur teilweise erfolgreich. Sein Verstand hatte sich zweigeteilt. Mit einer Seite hörte er ihrem Bericht darüber zu, wie sie ihn aus dem Wrack seines 74er Camaro gezogen hatte – das war die Seite, wo die Schmerzen pulsierten und pochten wie zwei alte abgesplitterte Pfähle, welche zwischen den Wellen der zurückweichenden Flut gerade eben sichtbar zu werden begannen. Mit der anderen konnte er sich im Boulderado-Hotel sehen, wo er seinen neuen Roman zu Ende schrieb, der – Gott sei Dank für diese kleine Gnade – nicht von Misery Chastain handelte.
Er hatte alle möglichen Gründe, nicht über Misery zu schreiben, aber einer überragte alle anderen, schwer gerüstet und unerschütterlich. Misery – Gott sei Dank für diese große Gnade – war endlich tot. Sie war fünf Seiten vor dem Ende von Miserys Kind gestorben. Im ganzen Haus war kein Auge trocken geblieben, als das geschah, auch Pauls nicht – aber seine Tränen waren das Resultat hysterischen Gelächters gewesen.
Als er sein neues Buch beendete, einen zeitgenössischen Roman über einen Autodieb, hatte er sich daran erinnert, wie er den letzten Satz von Miserys Kind getippt hatte: »Und so verließen Ian und Geoffrey gemeinsam den Friedhof von Little Dunthorpe; sie gaben sich in ihrem Kummer gegenseitig Halt und waren entschlossen, wieder zurück ins Leben zu finden.« Während er diese Zeile schrieb, hatte er so heftig gekichert, dass es ihm schwergefallen war, die richtigen Tasten zu treffen – er hatte mehrmals verbessern müssen. Gott sei Dank für das gute alte IBM-Korrekturband. Er hatte ENDE darunter geschrieben, und dann war er durch das Zimmer gehüpft – eben jenes Zimmer im Boulderado-Hotel – und hatte geschrien: Endlich frei! Endlich frei! Großer allmächtiger Gott, ich bin endlich frei! Das dumme Weib ist endlich in die ewigen Jagdgründe eingegangen!
Der neue Roman trug den Titel Schnelle Autos, und als er den beendet hatte, hatte er nicht gelacht. Er saß einfach einen Augenblick vor der Schreibmaschine und dachte: Damit hast du vielleicht gerade den nächstjährigen American Book Award gewonnen, mein Freund. Und dann nahm er …
»… einen kleinen Bluterguss an Ihrer rechten Schläfe, aber das sah nicht weiter schlimm aus. Es waren Ihre Beine … ich sah auf der Stelle, wenngleich das Licht immer schwächer wurde, dass Ihre Beine nicht …«
… das Telefon und bestellte beim Zimmerservice eine Flasche Dom Pérignon. Er erinnerte sich: Während er darauf wartete, ging er in dem Zimmer auf und ab, dort, wo er seit 1974 jedes seiner Bücher zu Ende geschrieben hatte; er erinnerte sich daran, dass er dem Kellner einen Fünfzigdollarschein als Trinkgeld gegeben und ihn gefragt hatte, ob er den Wetterbericht gehört hatte; er erinnerte sich daran, dass ihm der zufriedene, geschmeichelte und grinsende Kellner gesagt hatte, der Sturm, der sich momentan auf sie zu bewegte, solle nach Süden abdrehen, nach New Mexico; er erinnerte sich daran, wie kalt sich die Flasche angefühlt hatte, erinnerte sich an das leise Plopp des Korkens, als er ihn herauszog; er erinnerte sich an den trockenen, herb-säuerlichen Geschmack des ersten Glases; wie er seine Reisetasche geöffnet und sein Flugticket nach New York betrachtet hatte; er erinnerte sich, wie er aus einer Laune des Augenblicks heraus beschlossen hatte …
»… dass ich Sie am besten sofort nach Hause bringe! Es war eine Heidenarbeit, Sie zum Auto zu schleppen, aber ich bin eine große Frau – wie Sie vielleicht bemerkt haben -, und ich hatte einen Stapel Decken auf der Rückbank. Ich schaffte Sie hinein und wickelte Sie ein, und schon da dachte ich, trotz des schwindenden Lichts, dass Sie mir bekannt vorkamen! Ich dachte mir, vielleicht …«
… den alten Camaro aus dem Parkhaus zu holen und einfach nach Westen zu fahren, anstatt das Flugzeug zu nehmen. Was zum Teufel erwartete ihn schon in New York? Die Stadtwohnung, verlassen, kahl, abweisend, möglicherweise ausgeraubt. Scheiß drauf!, dachte er und trank noch mehr Champagner. Nach Westen, junger Mann, nach Westen! Der Einfall war so verrückt gewesen, dass er irgendwie schon wieder Sinn ergab. Nichts mitnehmen als etwas Wechselkleidung und sein …
»… Tasche, die ich gefunden habe. Die habe ich auch eingeladen, aber sonst habe ich nichts gesehen, und ich hatte Angst, Sie könnten mir wegsterben oder so, also heizte ich meiner Old Bessie ordentlich ein und brachte …«
… Manuskript von Schnelle Autos, und dann ab nach Vegas oder Reno oder vielleicht sogar in die Stadt der Engel. Er erinnerte sich auch daran, dass ihm der Einfall anfangs ein wenig albern vorgekommen war – eine Reise, die der Junge von vierundzwanzig Jahren, der er gewesen war, als er seinen ersten Roman verkauft hatte, vielleicht unternommen hätte, aber doch nicht ein Mann, dessen vierzigster Geburtstag schon zwei Jahre zurücklag. Nach einigen weiteren Gläsern Champagner erschien der Einfall überhaupt nicht mehr albern. Er wirkte beinahe nobel. Eine Art Große Odyssee nach Irgendwo, eine Methode, sich nach den Fantasiegefilden des Romans wieder an die Wirklichkeit zu gewöhnen. Und so war er …
»… vollkommen ohne Besinnung! Ich war mir sicher, dass Sie sterben würden … Ich meine, ich war mir sicher! Daher zog ich Ihre Brieftasche aus Ihrer Hosentasche, holte den Führerschein heraus und sah den Namen, Paul Sheldon, und ich dachte mir: ›Oh, das muss ein Zufall sein‹, aber das Bild auf dem Führerschein sah auch wie Sie aus, und da bekam ich solche Angst, dass ich am Küchentisch Platz nehmen musste. Zuerst dachte ich, ich würde ohnmächtig werden. Nach einer Weile fing ich an zu überlegen, dass das Bild vielleicht auch nur ein Zufall war – diese Führerscheinfotos sehen ja nie jemandem ähnlich -, aber dann fand ich Ihre Mitgliedskarte der Writers Guild und eine vom P.E.N., und da wusste ich, Sie waren …«
… in Schwierigkeiten geraten, als es anfing zu schneien, aber lange vorher war er noch in die Bar des Boulderado gegangen und hatte George zwanzig Dollar Trinkgeld gegeben, damit er ihm eine zweite Flasche Dom besorgte, und die hatte er getrunken, während er auf der I-70 in die Rockies fuhr, unter einem metallgrauen Himmel, und irgendwo östlich vom Eisenhower-Tunnel war er von der Schnellstraße abgebogen, weil die Straßen frei und trocken waren, der Sturm nach Süden abdrehte, also zum Teufel damit, und er Angst vor dem gottverdammten Tunnel hatte. Er hatte eine alte Bo-Diddley-Aufnahme auf dem Kassettenrekorder unter dem Armaturenbrett abgespielt, und daher hörte er kein Radio, bis schließlich der Camaro ernstlich anfing zu rutschen und zu schlittern, und erst da wurde ihm klar, dass es sich hier nicht um einen harmlosen Inlandwind handelte, sondern um die Ausläufer des Sturms. Vielleicht zog der Sturm doch nicht nach Süden ab; vielleicht raste der Sturm direkt auf ihn zu, und er steckte bis über beide Ohren in Schwierigkeiten,
(so wie du jetzt in Schwierigkeiten steckst)
aber er war gerade betrunken genug gewesen zu glauben, dass er ihm noch entkommen konnte. Daher hatte er nicht in Cana angehalten und nach einer Unterkunft gesucht, sondern war weitergefahren. Er erinnerte sich daran, wie sich der Nachmittag in stumpfe, chromgraue Eintönigkeit verwandelt hatte. Er erinnerte sich daran, wie die Wirkung des Champagners nachließ. Er erinnerte sich daran, wie er sich nach vorn gebeugt hatte, um die Zigarettenpackung vom Armaturenbrett zu nehmen, und da begann er endgültig zu rutschen, er versuchte gegenzulenken, aber es wurde immer schlimmer; er erinnerte sich an ein lautes, dumpfes Poltern, und dann tauschten das Oben und Unten der Welt die Plätze. Er hatte …
»… geschrien! Und als ich Sie schreien hörte, da wusste ich, dass Sie überleben würden. Sterbende schreien selten. Sie haben nicht die Energie dazu. Das weiß ich. Ich beschloss dafür zu sorgen, dass Sie überleben. Also holte ich meine schmerzstillenden Medikamente und brachte Sie dazu, welche einzunehmen. Danach sind Sie eingeschlafen. Als Sie erwachten, fingen Sie wieder an zu schreien, und ich gab Ihnen mehr. Eine Weile hatten Sie Fieber, aber das habe ich auch wegbekommen. Ich habe Ihnen Keflex, ein Antibiotikum, gegeben. Es war ein- oder zweimal ziemlich knapp, aber das ist jetzt vorbei. Das verspreche ich Ihnen.« Sie stand auf. »Aber jetzt ist es Zeit, dass Sie sich ausruhen, Paul. Sie müssen wieder zu Kräften kommen.«
»Meine Beine schmerzen.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. In einer Stunde bekommen Sie wieder Ihre Medizin.«
»Jetzt. Bitte.« Es beschämte ihn zu flehen, aber er konnte nicht anders. Die Flut war zurückgegangen, die gesplitterten Pfähle lagen bloß, sehr real in ihrer Schartigkeit, und er konnte sie weder ignorieren, noch durfte er sie beachten.
»In einer Stunde.« Nachdrücklich. Mit Löffel und Suppenschüssel in der Hand ging sie zur Tür.
»Warten Sie!«
Sie drehte sich um und sah ihn mit einem strengen und zugleich liebevollen Ausdruck an. Der Ausdruck gefiel ihm nicht. Er gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Es ist zwei Wochen her, seit Sie mich gefunden haben?«
Sie sah wieder unbestimmt und gereizt drein. Er würde noch herausfinden, dass ihr Zeitgefühl alles andere als gut war.
»Ungefähr.«
»Ich war bewusstlos?«
»Fast die ganze Zeit.«
»Was habe ich gegessen?«
Sie sah ihn an.
»I. v.«, sagte sie knapp.
»I. v.?«, sagte er, und sie missdeutete seine Verblüffung als Unwissenheit.

7

Die Stunde verging. Irgendwie und endlich verging die Stunde.
Er lag im Bett und schwitzte und zitterte gleichzeitig. Aus dem Nebenzimmer hörte er zuerst die Stimmen von Hawkeye und Hot Lips, dann die Discjockeys von WKRP, diesem wilden und verrückten Rundfunksender in Cincinnati. Ein Sprecher pries Ginsu-Messer an, nannte eine 800er-Telefonnummer und informierte die Zuschauer in Colorado, die es kaum noch erwarten konnten, ein Set Ginsu-Messer zu kaufen, dass der telefonische Kundendienst sich nun bereithielt.
Auch Paul Sheldon hielt sich bereit.
Als die Uhr im Nebenzimmer acht schlug, erschien sie prompt wieder und brachte zwei Kapseln und ein Glas Wasser.
Er stützte sich erwartungsvoll auf die Ellbogen, während sie sich auf das Bett setzte.
»Vor zwei Tagen habe ich endlich Ihr neues Buch bekommen«, sagte sie zu ihm. Eis klirrte in dem Glas. Es war ein nervtötendes Geräusch. »Miserys Kind. Gefällt mir … Es ist so gut wie alle anderen. Besser! Das beste!«
»Danke«, brachte er heraus. Er konnte den Schweiß auf der Stirn spüren. »Bitte meine Beine große Schmerzen …«
»Ich habe gewusst, dass sie Ian heiraten würde«, sagte sie und lächelte verträumt, »und ich glaube, dass Geoffrey und Ian irgendwann wieder Freunde werden. Werden sie doch, oder?« Aber sie fuhr sofort fort: »Nein, nicht verraten! Ich möchte es selbst herausfinden. Es muss eine Weile halten. Es dauert immer so lange, bis ein neues herauskommt.«
Die Schmerzen pulsierten in seinen Beinen und spannten sich wie ein Stahlreif um seinen Unterleib. Er hatte sich selbst dort unten berührt und glaubte, dass sein Becken unversehrt war, aber es fühlte sich dennoch verdreht und fremdartig an. Unterhalb der Knie schien nichts intakt zu sein. Er wollte es nicht sehen. Er sah die verdrehten, klumpigen Formen, die sich unter dem Laken abzeichneten, und das genügte ihm.
»Bitte! Miss Wilkes! Die Schmerzen …«
»Nennen Sie mich Annie. Das tun alle meine Freunde.«
Sie gab ihm das Glas. Es war kühl und feucht beschlagen. Die Kapseln behielt sie. Die Kapseln in ihrer Hand waren die Flut. Sie war der Mond, und sie hatte die Gezeiten gebracht, welche die Pfähle überschwemmen würden. Sie führte sie zu seinem Mund, den er auf der Stelle weit öffnete … und dann zog sie sie zurück.
»Ich habe mir die Freiheit genommen, in Ihre Tasche zu sehen. Das macht Ihnen doch nichts aus, oder?«
»Nein. Selbstverständlich nicht. Die Medizin …«
Die Schweißperlen auf seiner Stirn fühlten sich abwechselnd heiß und kalt an. Würde er schreien? Er hielt es nicht für ausgeschlossen.
»Ich habe darin ein Manuskript gefunden«, sagte sie. Sie hielt die Kapseln in der rechten Hand, die sie jetzt ganz langsam kippte. Sie fielen in ihre linke Hand. Er folgte ihnen mit den Augen. »Es heißt Schnelle Autos. Kein Misery-Roman, das weiß ich.« Sie sah ihn ein klein wenig missbilligend an – aber, wie schon zuvor, nicht ohne eine Spur von Liebe. Es war ein mütterlicher Blick. »Im neunzehnten Jahrhundert gab es keine Autos, ob nun schnell oder langsam!« Sie kicherte über ihren kleinen Scherz. »Ich habe mir auch die Freiheit genommen, ein wenig darin zu blättern … Das stört Sie doch hoffentlich nicht?«
»Bitte«, stöhnte er. »Nein, aber bitte …«
Sie neigte die linke Hand. Die Kapseln rollten, zögerten, dann fielen sie mit einem kaum hörbaren Klickern wieder in ihre rechte Hand.
»Und wenn ich es lesen würde? Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich es lesen würde?«
»Nein …« Seine Knochen waren zerschmettert. Seine Beine waren mit eiternden Glassplittern gespickt. »Nein …« Er verzog das Gesicht – wie er hoffte – zu einem Lächeln. »Nein, selbstverständlich nicht.«
»Denn ohne Ihre Einwilligung würde ich so etwas selbstverständlich niemals tun«, sagte sie ernst. »Dazu respektiere ich Sie zu sehr. Tatsächlich liebe ich Sie, Paul.« Plötzlich und auf beunruhigende Weise wurde sie purpurrot. Eine der Kapseln fiel ihr aus der Hand und auf die Bettdecke. Paul griff danach, aber sie war schneller. Er stöhnte, aber sie beachtete es nicht. Nachdem sie die Kapsel an sich genommen hatte, wurde sie wieder abwesend und sah zum Fenster. »Ihren Verstand«, sagte sie. »Ihre Kreativität. Das habe ich gemeint.«
In seiner Verzweiflung sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel: »Ich weiß. Sie sind mein größter Fan.«
Dieses Mal lief sie nicht nur einfach warm, sie leuchtete auf. »Das ist es!«, rief sie aus. »Genau das ist es! Und es macht Ihnen nichts aus, wenn ich es in dieser Eigenschaft lese, nicht wahr? Mit aller Liebe eines … eines Fans? Auch wenn mir Ihre anderen Bücher nicht so gut gefallen wie die Misery-Romane?«
»Nein«, sagte er und schloss die Augen. Meinethalben kannst du Papierhüte aus den Manuskriptseiten falten, wenn du möchtest, aber … bitte … ich sterbe hier …
»Sie sind so gütig«, sagte sie sanft. »Ich habe immer gewusst, dass Sie das sein würden. Als ich Ihre Bücher gelesen habe, da wusste ich es. Ein Mann, der Misery Chastain erfinden konnte, der sie sich erst ausdenken und ihr dann Leben einhauchen konnte, der kann nicht anders sein.«
Plötzlich waren ihre Finger in seinem Mund, eine schockierend intime Geste, aber auf schmutzige Weise höchst willkommen. Er saugte die Kapseln zwischen ihnen heraus und schluckte sie, noch bevor sie ihm das Wasserglas an den Mund halten konnte.
»Wie ein Baby«, sagte sie, aber er konnte sie nicht sehen, weil er die Augen geschlossen hatte, und nun spürte er, wie seine Tränen zu fließen begannen. »Aber gütig. Ich möchte Sie so vieles fragen … möchte so vieles wissen.«
Die Federn ächzten, als sie aufstand.

8

Er trieb dahin. Die Flut kam, und er trieb darin. Im Nebenzimmer tönte das Fernsehgerät eine Weile, dann nicht mehr. Manchmal schlug die Uhr, und er versuchte, die Schläge zu zählen, aber er verzählte sich immer mittendrin.
I. v. Durch Schläuche. Daher stammen die Narben an Ihren Armen.
Er stützte sich auf einen Ellbogen und tastete nach der Lampe, und schließlich gelang es ihm, sie einzuschalten. Er betrachtete seine Arme und sah in der Armbeuge verblassende, einander überlagernde Farbschattierungen von Purpur und Ocker, in der Mitte eines jeden Blutergusses ein mit schwarzem Blut gefülltes Loch.
Er legte sich zurück, starrte an die Decke und lauschte dem Heulen des Windes. Er befand sich beinahe auf dem Gipfel der Great Divide, der ›Großen Wasserscheide‹ der Rocky Mountains, es war tiefer Winter, er war in der Gewalt einer Frau, die nicht ganz richtig im Kopf war, einer Frau, die ihn intravenös ernährt hatte, als er bewusstlos gewesen war, einer Frau, die einen offenbar unerschöpflichen Vorrat an Drogen besaß, einer Frau, die niemandem gesagt hatte, dass er hier war.
Das alles war wichtig, aber allmählich wurde ihm klar, dass etwas anderes noch wichtiger war: Die Flut ging bereits wieder zurück. Er begann auf das Läuten ihres Weckers im Obergeschoss zu warten. Er würde noch geraume Zeit nicht läuten, aber er musste allmählich anfangen, darauf zu warten.
Sie war verrückt, aber er brauchte sie.
Oh, ich stecke in verdammten Schwierigkeiten,

9

Am nächsten Morgen brachte sie ihm wieder Suppe und teilte ihm mit, dass sie vierzig Seiten von dem gelesen hatte, was sie sein »Manuskript-Buch« nannte. Sie sagte ihm, sie fände es nicht so gut wie seine anderen Bücher.
»Man kann nur schwer folgen. Es springt immer in der Zeit hin und her.«
»Technik«, sagte er. Er befand sich irgendwo zwischen »Schmerzen« und »keine Schmerzen«, daher konnte er ein wenig besser über das nachdenken, was sie sagte. »Technik, das ist alles. Das Thema … das Thema diktiert die Form.« Auf unbestimmte Weise ging er davon aus, dass solche Tricks des Schreibens sie interessieren, vielleicht sogar faszinieren würden. Gott, er wusste, sie hatten die Teilnehmer der Schriftsteller-Workshops fasziniert, die er ab und zu abgehalten hatte, als er noch jünger war. »Sehen Sie, der Verstand des Jungen ist verwirrt, und daher …«
»Ja! Er ist sehr verwirrt, und das macht ihn weniger interessant. Nicht uninteressant – ich bin mir sicher, Sie könnten sich gar keine uninteressante Person ausdenken -, aber weniger interessant. Und dann die Sprache! Jedes zweite Wort ist ein unanständiges Wort! Es hat …« Sie sprach unaufhörlich, während sie ihm die Suppe automatisch einflößte und, wenn er kleckerte, fast ohne hinzusehen sein Kinn abwischte, wie eine erfahrene Sekretärin es nicht nötig hat, auf die Tastatur der Schreibmaschine zu sehen; daher begriff er ohne Mühe, dass sie Krankenschwester gewesen war. Keine Ärztin, o nein; eine Ärztin hätte nicht gewusst, wann er kleckern würde, sie hätte auch nicht so exakt vorhersehen können, welchen Weg die herabtropfende Suppe nehmen würde.
Wenn der Meteorologe, der diesen Sturm vorhergesagt hat, in seinem Job nur halb so gut gewesen wäre, wie Annie Wilkes in ihrem ist, dann wäre ich jetzt nicht in dieser verfluchten Scheißlage, dachte er verbittert.
»Es hat keine Noblesse!«, schrie sie plötzlich, sprang auf und schüttete ihm beinahe die Rindfleischsuppe in sein blasses, nach oben gerichtetes Gesicht.
»Ja«, sagte er geduldig. »Ich verstehe, was Sie meinen, Annie. Es ist richtig, dass Tony Bonasaro keine Noblesse hat. Er ist ein Junge aus dem Slum, der versucht, aus seiner schlimmen Umgebung herauszukommen, verstehen Sie, und was diese Worte anbelangt … jeder benutzt diese Worte in …«
»Ganz sicher nicht!«, sagte sie und bedachte ihn mit einem unfreundlichen Blick. »Was, glauben Sie, mache ich, wenn ich in die Futtermittelhandlung in der Stadt gehe? Was glauben Sie, was ich dort sage? ›Komm, Tony, gib mir eine Tüte von diesem verdammten Schweinefutter und dazu einen Sack verhurten Futtermais und etwas von dieser abgewichsten Medizin gegen Ohrmilben‹? Und was denken Sie, antwortet er mir? ›Hast verflucht recht, Annie, komm her, verflucht noch mal‹?«
Sie sah ihn an, und inzwischen sah ihr Gesicht aus wie ein Himmel, aus dem jeden Augenblick Tornados hervorbrechen konnten. Er legte sich verängstigt zurück. Die Suppenschüssel zitterte in ihren Händen. Einer, dann zwei Tropfen fielen auf die Decke.
»Und gehe ich dann die Straße hinunter zur Bank und sage zu Mrs. Bollinger: ›Hier ist ein verdammt großer Scheißkerl von’nem Scheck, und Sie geben mir jetzt besser fünfzig beschissene Dollars, so abgewichst schnell Sie nur können‹? Glauben Sie, als sie mich dort in den Zeugenstand schleppten, oben in Den…«
Ein Strahl schlammfarbener Rindfleischsuppe ergoss sich auf die Decke. Sie sah den Fleck an, dann ihn, und ihr Gesicht verzerrte sich. »Da! Sehen Sie, was wegen Ihnen passiert ist!«
»Tut mir leid.«
»Na sicher!«, kreischte sie und schleuderte die Schüssel in eine Ecke, wo sie zerschellte. Suppe spritzte an der Wand empor. Er rang nach Luft.
Da schaltete sie ab. Sie saß vielleicht dreißig Sekunden einfach nur da. Während dieser Zeit schien Paul Sheldons Herz überhaupt nicht zu schlagen.
Sie erwachte nach und nach wieder zum Leben, und plötzlich kicherte sie.
»Mein Temperament«, sagte sie.
»Tut mir leid«, sagte er mit trockener Kehle.
»Sollte es auch.« Ihr Gesicht erschlaffte wieder, und sie sah missmutig zur Wand. Er dachte, sie würde wieder abschalten, aber stattdessen wuchtete sie sich vom Bett hoch.
»In den Misery-Büchern müssen Sie solche Ausdrücke nicht benutzen, weil man damals solche Ausdrücke überhaupt nicht kannte. Sie waren noch gar nicht erfunden. Schlimme Zeiten brauchen schlimme Wörter, nehme ich an, aber das damals war eine bessere Zeit. Sie sollten bei Ihren Misery-Büchern bleiben, Paul. Ich sage das im völligen Ernst. Als Ihr größter Fan.«
Sie ging zur Tür, wo sie sich zu ihm umdrehte. »Ich werde dieses Manuskript-Buch wieder in Ihre Tasche tun und stattdessen Miserys Kind zu Ende lesen. Vielleicht nehme ich mir das andere wieder vor, wenn ich damit fertig bin.«
»Tun Sie das nicht, wenn es Sie zu sehr aufregt«, sagte er. Er versuchte zu lächeln. »Es gefällt mir nicht, wenn Sie sich so aufregen. Ich bin ziemlich von Ihnen abhängig, wissen Sie.«

10

Die Flut ging zurück. Die Pfähle lagen wieder bloß. Er wartete darauf, dass die Uhr schlagen würde. Zwei Schläge. Da waren sie. Er lag auf den aufgeschüttelten Kissen und behielt die Tür im Auge. Sie kam herein. Sie trug eine Schürze über dem Strickpullover und einem ihrer Röcke. In einer Hand hielt sie einen Putzeimer.
»Ich nehme an, Sie möchten Ihre bedummdusselte Medizin«, sagte sie.
»Ja, bitte.« Er gab sich Mühe, sie liebenswürdig anzulächeln, und empfand wieder diese Scham – er kam sich selbst grotesk vor, wie ein Fremder.
»Ich habe sie«, sagte sie. »Aber zuerst muss ich den Schlamassel in der Ecke aufwischen. Den Schlamassel, den Sie angerichtet haben. Sie müssen warten, bis ich damit fertig bin.«
Er lag im Bett, seine Beine bildeten unter der Decke die Form zerbrochener Äste, kalter Schweiß rann ihm in kleinen Strömen das Gesicht herunter; er lag da und sah ihr zu, wie sie zur Ecke hinüberging, den Eimer abstellte und dann die Scherben der Schüssel aufsammelte, und sie brachte sie hinaus und kam zurück und kniete sich neben den Eimer und angelte darin herum und holte einen seifigen Lappen heraus und wrang ihn aus und begann, die angetrocknete Suppe von der Wand zu wischen. Er lag da und sah ihr zu und begann schließlich zu zittern, und das Zittern machte seine Schmerzen schlimmer, aber er konnte nichts daran ändern. Einmal drehte sie sich um und sah ihn zittern und das Bettlaken mit seinem Schweiß tränken, da sah sie ihn mit einem so hinterhältigen, wissenden Lächeln an, dass er sie am liebsten umgebracht hätte.
»Es ist angetrocknet«, sagte sie und drehte das Gesicht wieder in die Ecke. »Ich fürchte, das wird eine Weile dauern, Paul.«
Sie schrubbte. Der Fleck verschwand langsam von der Wand, aber sie tauchte immer wieder den Lappen ein, wrang ihn aus, schrubbte und wiederholte dann den ganzen Vorgang. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber die Vorstellung – die Gewissheit -, dass sie wieder weggetreten war und die Wand noch stundenlang schrubben könnte, peinigte ihn.
Schließlich – kurz bevor die Uhr einmal schlug, also kurz vor zwei Uhr dreißig – stand sie auf und ließ den Lappen ins Wasser fallen. Ohne ein Wort trug sie den Eimer aus dem Zimmer. Er lag im Bett und lauschte dem Ächzen der Dielen, das ihren schweren, behäbigen Gang begleitete, er hörte, wie sie das Wasser aus dem Eimer schüttete – und, unglaublich, das Aufdrehen des Hahns, als sie neues einließ. Er fing lautlos an zu weinen. Die Flut war noch niemals so weit zurückgegangen; er konnte nichts anderes sehen als trockengefallenes Watt und die gesplitterten Pfähle, welche ihre ewigen versehrten Schatten warfen.
Sie kam zurück und blieb nur einen Augenblick in der Tür stehen, wobei sie sein nasses Gesicht mit dieser Mischung aus Strenge und mütterlicher Liebe betrachtete. Dann glitt ihr Blick in die Ecke, wo keine Spur des Suppenflecks mehr zu sehen war.
»Jetzt muss ich nachwischen«, sagte sie, »sonst wird die Seife einen dunklen Fleck hinterlassen. Ich muss das alles machen; ich muss alles richtig machen. Wenn man allein lebt, so wie ich, ist das keine Entschuldigung, etwas schlampig auszuführen. Meine Mutter hatte einen Leitspruch, Paul, und nach dem lebe ich. ›Einmal übel, nie mehr gut‹, pflegte sie zu sagen.«
»Bitte«, stöhnte er. »Bitte, die Schmerzen, ich sterbe.«
»Nein. Sie sterben nicht.«
»Ich schreie«, sagte er und begann heftiger zu weinen. Das Weinen tat weh. Es tat seinen Beinen weh und seinem Herzen. »Ich kann nichts dagegen tun.«
»Dann schreien Sie«, sagte sie. »Aber vergessen Sie nicht, dass Sie diese Schweinerei angerichtet haben. Nicht ich. Es ist einzig und allein Ihre Schuld.«
Irgendwie gelang es ihm, nicht zu schreien. Er sah zu, wie sie den Lappen eintauchte und auswrang und dann wischte, eintauchte und auswrang und wischte. Dann endlich, als die Uhr – im Wohnzimmer, wie er vermutete – drei schlug, stand sie auf und ergriff den Eimer.
Sie wird jetzt hinausgehen. Sie wird hinausgehen, und ich werde hören, wie sie das Spülwasser in den Ausguss kippt, und dann kommt sie vielleicht stundenlang nicht zurück, weil sie noch nicht fertig damit ist, mich zu bestrafen.
Aber anstatt zu gehen, kam sie ans Bett und suchte in der Tasche ihrer Schürze. Sie holte nicht zwei Kapseln heraus, sondern drei.
»Hier«, sagte sie zärtlich.
Er stopfte sie sich in den Mund, und als er aufsah, hielt sie ihm den gelben Putzeimer entgegen. Er füllte schließlich sein ganzes Gesichtsfeld aus wie ein herniederstürzender Mond. Graues Wasser schwappte über den Rand auf die Bettdecke.
»Spülen Sie sie damit hinunter«, sagte sie. Ihre Stimme war immer noch zärtlich.
Er starrte sie mit weiten Augen an.
»Los doch«, sagte sie. »Ich weiß, dass Sie sie trocken hinunterschlucken können, aber bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich Mittel und Wege kenne, damit sie gleich wieder hochkommen. Schließlich ist es nur Wischwasser. Es wird Ihnen nicht schaden.«
Sie ragte wie ein Monolith über ihm auf und hielt den Eimer ein wenig geneigt. Er konnte sehen, wie sich der Lappen langsam in der grauen Brühe drehte wie ein ertrunkener Kadaver; er sah die dünne Schicht Seife obenauf schwimmen. Ein Teil von ihm stöhnte innerlich, aber nichts in ihm zögerte. Er trank hastig, spülte die Tabletten hinunter und stellte fest, dass der Geschmack wie damals war, wenn seine Mutter ihn gelegentlich gezwungen hatte, sich die Zähne mit Seife zu putzen.
Sein Magen drehte sich, und er gab einen erstickten Laut von sich.
»Ich würde mich nicht übergeben, Paul. Vor neun Uhr abends gibt es keine mehr.«
Sie sah ihn einen Moment mit ihrem leeren, nichtssagenden Blick an, dann leuchtete ihr Gesicht auf, und sie lächelte.
»Sie werden mich nie mehr so aufregen, nicht wahr?«
»Nein«, flüsterte er. Den Mond erzürnen, der die Flut brachte? Was für eine Idee! Was für eine dumme Idee!
»Ich liebe Sie«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. Sie ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, und trug den Putzeimer so, wie eine kräftige Bäuerin eine Milchkanne tragen mochte, ohne je darüber nachzudenken, etwas vom Körper weg, damit nichts verschüttet wurde.
Er legte sich zurück und schmeckte Staub und Putz in Mund und Kehle. Schmeckte Seife.
Ich werde nicht kotzen … werde nicht kotzen … werde nicht kotzen.

11

Er träumte, dass er von einem Vogel gefressen wurde. Es war kein guter Traum. Es gab einen Knall, und er dachte: Ja, gut, weiter so! Erschießt ihn! Erschießt das verdammte Vieh!
Dann erwachte er und wusste, es war lediglich Annie Wilkes, die die Hintertür zugeschlagen hatte. Sie war hinausgegangen, um die täglichen Arbeiten auf dem Hof zu erledigen. Er hörte das dumpfe Knirschen ihrer Schritte im Schnee. Sie ging an seinem Fenster vorbei; sie hatte einen Parka an und die Kapuze übergezogen. Ihr Atem wehte in einer Wolke vor ihr her und wurde von ihrem Gesicht auseinandergetrieben. Sie sah nicht zu ihm herein, er vermutete, dass sie sich ganz auf die Arbeiten im Stall konzentrierte. Die Tiere füttern, den Stall ausmisten, vielleicht ein paar Runen werfen – bei ihr hätte ihn das nicht verwundert. Der Himmel hatte eine dunkle Purpurfärbung angenommen – Sonnenuntergang. Siebzehn Uhr dreißig, vielleicht achtzehn Uhr.
Die Flut war noch nicht zurückgegangen, und er hätte wieder einschlafen können – er wollte wieder einschlafen -, aber er musste über diese bizarre Situation nachdenken, solange er noch vernünftig denken konnte.