Siegfried Lenz - Erich Maletzke - E-Book

Siegfried Lenz E-Book

Erich Maletzke

4,9

Beschreibung

Siegfried Lenz starb am 7. Oktober 2014 im Alter von 88 Jahren. Seine Bücher sind welt-weit in einer Auflage von mehr als 25 Millionen Exemplaren erschienen. Dennoch gab es bisher noch keine Biographie dieses Autors. Über sein Privatleben sprach Siegfried Lenz nicht gerne, und obwohl er einige autobiographische Skizzen veröffentlicht hat, lagen seine Kindheit, die Jugendjahre und die Kriegszeit weitgehend im Dunkeln. Nach umfangreichen Recherchen im In- und Ausland hat Erich Maletzke den Lebensweg des Literaten nachgezeichnet. Dabei zeigt sich, dass fast alle über Siegfried Lenz veröffentlichten Lebensläufe zumindest teilweise umgeschrieben werden müssen.

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Erich Maletzke

Siegfried Lenz

Eine biographische Annäherung

Über sein Privatleben spricht Siegfried Lenz nicht gerne, und obwohl er einige autobiographische Skizzen veröffentlicht hat, liegen seine Kindheit, die Jugendjahre und die Kriegszeit weitgehend im Dunkeln. Nach umfangreichen Recherchen im In- und Ausland hat Erich Maletzke erstmals den Lebensweg des in Masuren geborenen Literaten nachgezeichnet. Dabei zeigt sich, daß fast alle über Siegfried Lenz veröffentlichten Lebensläufe zumindest teilweise umgeschrieben werden müssen.

Ein Blick auf das mächtige Gesamtwerk von Siegfried Lenz, aus dem die Romane »Deutschstunde« und »Heimatmuseum« sowie die heiteren Geschichten aus Suleyken herausragen, läßt erhebliche Qualitätsschwankungen erkennen. Daraus erklärt sich, daß kein anderer deutscher Schriftsteller der Nachkriegszeit in seiner sechzigjährigen »Dienstzeit« so viele Höhen und Tiefen durchleben mußte wie Siegfried Lenz.

Erich Maletzkes mit Distanz und zugleich Einfühlungsvermögen geschriebene Biographie führt durch das Werk dieses Autors und läßt den Leser die Höhen und Tiefen seiner Entwicklung nacherleben.

Dritte, erweiterte und aktualisierte Auflage 2021

© 2006 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Matthias Vogel (paramikron) · Hannover, unter Verwendung einer Fotografie von Astrid Boelter

Satz: thielenVERLAGSBÜRO · Hannover

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2021

ISBN Printausgabe 978-3-86674-629-9

ISBN E-Book-EPUB 978-3-86674-880-4

ISBN E-Book-PDF 978-3-86674-881-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Editorische Notiz zur dritten Auflage

Vorwort

1Favorit der Wassergeister

2Erwachen

3Schreibübungen

4Hurra, ein Roman

5Pathos in der Wüste

6Heiteres Intermezzo

7Lauf in die Vergangenheit

8Anarchie und Ordnung

9Ein neues Feld

10Neue Regierung – neues Haus

11Politik und Theater

12Der Coup

13In heikler Mission

14Mit und ohne Tiefgang

15Eine Reise mit Folgen

16Phantasie ist alles

17Ein Buch zum Film

18Ausflug in die Botanik

19Kritik und Ehrung

20Beziehungen: Schmidt, Grass, Reich-Ranicki

21Finder und Verlierer

22In anderen Welten

23Neue Liebe, neue Kraft

24Abschied

25»Der Überläufer«

ANHANG

Anmerkungen

Zeittafel

Ehrungen und Preise

Wichtigste Veröffentlichungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Bildnachweise

Über den Autor

Weitere Bücher

Editorische Notiz zur dritten Auflage

Als diese Biographie in erster Auflage 2006 erschien, hatte Siegfried Lenz noch acht Jahre zu leben. Er nutzte diese Zeit, um sein ohnehin umfangreiches Werk durch mehrere Bücher zu ergänzen. Es waren schmale Bände, die jedoch im In- und Ausland in hohen Auflagen verkauft wurden. »Schweigeminute« und »Landestheater« waren besonders erfolgreich. Mehrere Romane wurden verfilmt, darunter auch ein zweites Mal die »Deutschstunde«.

Wie populär Siegfried Lenz nach wie vor war, zeigte sich daran, daß sein 85. Geburtstag 2011 mit einer live im Fernsehen übertragenen Gala gefeiert wurde. Ein ähnlicher Festakt folgte bei seinem Tod 2014.

Anderthalb Jahre später folgte eine literarische Sensation. In Lenz’ Nachlaß wurde das Manuskript eines Romans entdeckt, den der noch völlig unbekannte Autor 1951 geschrieben hatte. Es ist die Geschichte eines jungen deutschen Soldaten, der in den Sümpfen Polens einen sinnlosen Kampf gegen die übermächtige Rote Armee führen soll und zum Deserteur wird. Siegfried Lenz’ Hausverlag verweigerte damals den Abdruck. Mit der Begründung, der Autor äußere pazifistische Gedanken. Als das Buch unter dem Titel »Der Überläufer« im Frühjahr 2016 erschien und verfilmt wurde, rückte es sofort auf die Bestsellerlisten.

Die nun vorliegende dritte Auflage der Lenz-Biografie ergänzt den Inhalt der Erstausgabe um die drei umfangreichen Kapitel »Neue Liebe, neue Kraft«, »Abschied« und »›Der Überläufer‹«, läßt jedoch den ursprünglichen Text weitgehend unverändert.

Vorwort

Vom großen Herman Melville stammt eine kleine Geschichte mit dem Titel »Bartleby der Schreiber«. Darin heißt es im Anfangskapitel: »… es gibt überhaupt keine Unterlagen für eine umfassende und befriedigende Biographie dieses Mannes. Das ist ein unersetzlicher Verlust für die Literatur.« Und immer dann, wenn der Ich-Erzähler etwas über Bartleby erfahren möchte, erhält er von ihm die freundliche, aber unergiebige Antwort: »Ich möchte lieber nicht.« Nicht einmal seinen Geburtsort mag Bartleby verraten.

Ganz so verschlossen war Siegfried Lenz nicht. Wo und wann er zur Welt gekommen ist, läßt sich heutzutage nun einmal nicht verheimlichen. Unter dem Titel »Ich zum Beispiel« hat Lenz eine grobe autobiographische Skizze veröffentlicht, in der er über seine Kindheit, die Schulzeit und seine kurze Teilnahme am Krieg berichtet. Die Auskünfte aber sind lückenhaft, wiederholt sogar irreführend. Über seine Eltern sagte er fast nichts, mochte sich auch auf Nachfragen nur sehr vage äußern.

Während gleichaltrige Kollegen, ob Grass, Walser, Kunert, Kempowski oder Rühmkorf, ihr Leben in allen Einzelheiten offengelegt haben, wird aus dem vielgerühmten Erzähler Lenz immer dann ein Schweiger, wenn es ums Persönliche geht. Er gibt nicht einmal eine Begründung für dieses seltsame Verhalten. Ein Motiv könnte in dem Zerfall der Familie zu suchen sein, vielleicht scheut er auch Fragen, weil er einige Stationen seines frühen Lebens verzerrt dargestellt hat.

Verwunderlich ist außerdem, daß zwar Hunderte von Interviews und Artikel über den neben Günter Grass erfolgreichsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit veröffentlicht worden sind, dazu große Mengen wissenschaftlicher Untersuchungen im In- und Ausland. Eine Biographie aber gab es bisher nicht. Die schlechte Quellenlage war offenbar abschreckend. Dabei leben noch Schul- und Kriegskameraden, die sich zuverlässig erinnern. Bei der Bewertung mancher Berichte ist allerdings zu berücksichtigen, daß die gut organisierten Heimatvertriebenen und Marinekameradschaften ihrem so berühmt gewordenen Zeitgenossen aus den unterschiedlichsten Gründen nur mäßige Sympathie entgegenbringen. Die einen sind verärgert, weil Lenz sehr früh den Verzicht auf die deutschen Ostgebiete empfohlen hatte; die anderen äußern sich distanziert, weil er nach seiner Abkommandierung von der »Admiral Scheer« mit der Marine nichts mehr zu tun haben wollte.

Auch eine merkwürdige Aussage von Marcel Reich-Ranicki könnte das Interesse am Lebenslauf gedämpft haben. In seiner Laudatio aus Anlaß der Verleihung des Thomas-Mann-Preises an Siegfried Lenz vertrat der Kritikerpapst den Standpunkt, mit dem Erscheinen seines ersten Romans sei die Biographie des Preisträgers eigentlich schon abgeschlossen gewesen. In der Folgezeit habe in der Öffentlichkeit nur noch die Werkgeschichte eine Rolle gespielt. Das ist richtig und falsch zugleich. In jüngeren Jahren reiste Lenz um die Welt, machte Wahlkampf für die SPD, beteiligte sich am oft ausgelassenen Treiben der Gruppe 47. Ganz im Gegensatz zu manchen seiner Schriftstellerkollegen zog er sich jedoch mit zunehmendem Alter aus der Öffentlichkeit zurück, beendete sein politisches Engagement mit dem Abtritt seines Freundes Helmut Schmidt. Danach äußerte er sich nur noch sporadisch zur Tagesaktualität, zuletzt mit einer vehementen Ablehnung der Rechtschreibreform.

Wie sein Vorbild Thomas Mann hat Siegfried Lenz sein Leben stets dem literarischen Schaffen untergeordnet. Sein Schreibhandwerk übte er mit geradezu bürokratisch wirkendem Pflichtbewußtsein aus, und in sechzig Dienstjahren ist ein mächtiges Werk entstanden. Die Gesamtauflage beträgt über 25 Millionen Exemplare.

Der Erfolg ist also groß, aber heftig war stets auch die Kritik. Berechtigt und unberechtigt, denn auffallend sind die Qualitätsschwankungen im Lenz’schen Gesamtwerk. Immer wieder folgten auf bedeutende Romane wie »Deutschstunde« oder »Heimatmuseum« Texte, die besser nicht geschrieben worden wären. Doch während sich andere Literaten, man denke an Günter Grass, vehement gegen ihre Kritiker wehrten, nahm Siegfried Lenz Höhen und Tiefen mit geradezu bewundernswertem Gleichmut hin. Sein Grundsatz lautete: »Für mich gibt es kein Selbstmitleid, keine Wehleidigkeit im Falle einer Niederlage … ich mache immer weiter.«

Und dieses Lebensprinzip hat er auf seine Romanfiguren übertragen. Es trifft zu, was Reich-Ranicki festgestellt hat: Die Niederlage zieht sich wie ein roter Raden durch sein Gesamtwerk. Das Scheitern sei im Leben des Menschen nun einmal der Normalfall, gibt Siegfried Lenz als Erklärung. Das alles klingt melancholisch düster, und so manches Mal möchte man beim Lesen eines Textes dem Journalisten Ben Witter zustimmen, der seinem Kollegen Lenz einst den Rat gab, er möge doch nicht immer formulieren »wie von der Kanzel«.

Im persönlichen Gespräch dagegen zeigte sich der »Dichter des Mitleids« als phantasievoll fabulierender Humorist, wie man ihn aus »Suleyken« und »Bollerup« kennt. Er erzählte aufgeräumt Anekdoten, führte durch Haus und Garten, lästerte sogar – vorsichtig – über Freunde und Kollegen, stimmte zunächst auch einer Biographie zu, vereinbarte nach mehreren Treffen weitere Gesprächstermine, um dann wie Bartleby überraschend mitzuteilen: »Nein, ich möchte lieber nicht.«

Aber wer so prominent ist wie Siegfried Lenz, der muß damit rechnen, daß sein Publikum mehr verlangt als das, was er in seinen Romanfiguren oder in sparsamen autobiographischen Skizzen über sich selbst preisgibt.

Paul Wunderlich schuf diese Lithographie 1986 für eine Ausstellung, die das Schleswig-Holsteinische Landesmuseum in Schleswig zum 60. Geburtstag von Siegfried Lenz ausrichtete

KAPITEL 1Favorit der Wassergeister

Ist es in Lyck etwa ein besonderer Tag, nur weil dem Ehepaar Luise und Otto Lenz im Sternzeichen der Fische ein Sohn geboren wird? Warum wohl sollen an diesem 17. März des Jahres 1926 die Fischer mit den Eiszapfen in den Bärten und unter weit hallenden Hooo-oh-Rufen keine Löcher ins Eis schlagen, um mit ihren Netzen auf Hechte, Barsche, Brassen und Zander Jagd zu machen? Denn die Winter sind lang im östlichen Masuren. In manchen Jahren ist das Eis im März allerdings schon brüchig, dann kommen zwar die Fischer nicht, aber dafür wagt sich jemand auf den See, der glaubt, ihn genau zu kennen. So wie der Schüler Siegfried Lenz, den das mürbe Eis nicht trägt, und der nur mit Glück und Mühe gerettet werden kann. Das ist die erste Erfahrung, die er mit einer »Extremsituation« macht, und in vielen seiner späteren Geschichten wird dieses Erlebnis wieder auftauchen.

Eine Warnung ist das Versinken im eisigen Wasser aber offenbar nicht, ganz im Gegenteil. Nun könne ihm ja nichts mehr passieren, nun sei er gegen alle Mißgeschicke gefeit, erinnert sich Siegfried Lenz in seinen autobiographischen Bekenntnissen, vermittelt sogar den Eindruck, die damalige Rettung zu bedauern: »Ich hatte streng genommen keine Daseinsberechtigung, ich war überflüssig, entbehrlich, ein fahrlässiger Luxus.«

Der Rückblick läßt auf eine wenig erfreuliche Kindheit schließen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß die Diagnose auf literarischen, also auf tönernen Füßen steht. Denn über Kindheit, Elternhaus und Jugend hat Siegfried Lenz ein schützendes Tuch ausgebreitet, unter dem er nur hervorzieht, was er für seine Geschichten benötigt. Und das ist wenig.

Der Vater wird in den knappen Anmerkungen über die frühen Jahre nicht einmal beim Namen genannt, sondern nur beiläufig unter die örtliche Beamtenschaft eingereiht, die »gedankenlos in ihren Rollen ergraut« war. Otto Lenz war Zollbeamter, aber der Familie fern und fremd. Aus welchen Gründen auch immer, vielleicht nicht nur aus dienstlichen, war er kaum zu Hause. »Ich hatte gar keine Beziehung zu ihm.« Mehr sagt Siegfried Lenz nicht, und auch im Freundes- und Bekanntenkreis erinnert sich niemand daran, jemals Einzelheiten über den Vater erfahren zu haben.

Da so gut wie alle Akten der Geburtsstadt im Krieg verlorengegangen sind, bleiben Nachforschungen von Außenstehenden ergebnislos. Im Adreßbuch von Lyck aus dem Jahr 1938 taucht der Name Lenz jedenfalls nicht mehr auf. Und auch die Spurensuche im literarischen Werk bringt nur wenig Konkretes.

In den 1964 erschienenen heiteren Geschichten von Lehmanns goldenen Schwarzmarktjahren berichtet der Ich-Erzähler von seiner jüngeren Schwester, die er gewinnbringend mit Sahnebonbons beliefert hatte und von dem Vater, der sich »gegen Monatsende den Rest meines Taschengeldes pumpte, zögernd meist, dann mit einträglicher Regelmäßigkeit, ich half ihm, wo ich konnte, denn er zahlte pünktlich fünfzig Prozent Zinsen …«

Die im Buch erwähnte Schwester gibt es wirklich. Sie wird später Lehrerin in Thüringen und bleibt in engem Kontakt mit ihrem berühmt gewordenen Bruder. Vom Vater dagegen ist wenig bekannt. Noch in Lyck verläßt er die Familie. Warum und wann genau, daran kann oder mag sich Siegfried Lenz nicht erinnern; nicht einmal an das Todesdatum. Lange vor dem Krieg, Anfang der 1930er Jahre sei es gewesen.

Auffallend ist, daß das Vater-Sohn-Thema in vielen seiner Geschichten und in mehreren Romanen eine beherrschende Rolle spielt. Die Literatur bietet ganz offenkundig Ersatz für die Kindheit ohne Vater.

Zugleich vermittelt Siegfried Lenz auch noch nach Jahrzehnten den Eindruck von einer heilen Kinderwelt. Als er in einem NDR-Interview gefragt wird, wie »das Alltagsleben« in seiner Familie gewesen sei, gibt er die wolkige Antwort: »Mein Vater war Zollbeamter. Man einigte sich über das, was man am nächsten Tag und im nächsten Monat vorhatte oder vorhaben könnte, daß man genügsam aß – was so immer großgeschrieben wurde –, daß ich zur Schule ging, daß ich genug Lesestoff bekam, denn ich war schon als Junge ein leidenschaftlicher Leser.«

Mit dem Weggang des Vaters scheint sich die kleine Familie aufgelöst zu haben, denn die Mutter zieht mit der Tochter ans Frische Haff, nach Braunsberg, dem heutigen Braniewo. Dort geht Luise Lenz eine neue Ehe ein, flieht später vermutlich nach Westdeutschland.

Siegfried Lenz (mit hellem Pullover) unter Schulkameraden in Lyck

Der gerade schulpflichtige Siegfried bleibt allein zurück bei der Großmutter in Lyck. Auch sie war von ihrem Mann, einem Landarbeiter, verlassen worden. »Ich freute mich darüber, daß ich bleiben durfte«, erinnert sich Lenz – aber nur im Gespräch. In seinen »Bekenntnissen« heißt es lediglich: »Ich wohnte in einem kleinen Haus am Seeufer, und der Lycksee war für mich die Welt im Spiegel. Ich erkundete seine Ufer und lernte fischen und schwimmen, bevor ich lesen lernte.«

Das Haus liegt in der Seeuferstraße, die parallel zur alten Kaiser-Wilhelm-Straße verläuft. Um den See zu erreichen, muß man eine Straße überqueren, die inzwischen zu einer Art Promenade ausgebaut worden ist. Das Haus wurde im Krieg zerstört.

Die Großmutter ist es, die ihren Zögling ans Lesen heranführt, mit Büchern wie »Friedel der Zigeunerjunge«. Sie selbst liest zwar nur die Bibel, deren Inhalt sie in allen Einzelheiten kennt, gleichzeitig aber ist sie eine begnadete Geschichtenerzählerin. Da sie den Einfall der Kosaken kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs miterlebt hat, müssen ihre Berichte von den so verwegen wirkenden Gestalten auf den kleinen zotteligen Pferden besonders anschaulich gewesen sein; denn der kleine Siegfried verwandelt sich in einen Kosakenführer, reitet im Geiste um den See und durch die Straßen der Stadt, läßt sich auf dem Marktplatz die Gefangenen vorführen, entscheidet durch Heben oder Senken der Reitpeitsche über Leben und Tod. »Selbstversetzung« nennt Lenz später immer wieder die Gabe, in seinen Texten überzeugend Denken und Handeln einer anderen Person nachzuempfinden.

Die Erzählungen der Großmutter könnten es gewesen sein, die seine Phantasie beflügelt und das Rohmaterial geliefert haben, das er später in »Heimatmuseum«, vor allem aber in den Geschichten aus Suleyken, über viele hundert Seiten episch weiter verarbeitet.

Und was die bibelfeste und fromme Lieder singende Großmutter angeregt hat, setzen Lehrmeister ganz anderer Art fort. Als Siegfried Lenz im April 1980 den Kollegen Pavel Kohout in einer Fernsehsendung über das Thema »Phantasie« befragt, berichtet sein Gast, daß er schon im Alter von neun Jahren das romantische Versdrama »Cyrano von Bergerac« auswendig aufsagen konnte. Siegfried Lenz dagegen räumt freimütig ein, daß er in etwa gleichem Alter lediglich Schundromane gelesen habe. Vorwiegend die in exotischen Ländern oder auf See angesiedelten Abenteuer von Rolf Torring und Jörn Farrow, dazu die harten Western von Zane Grey.

Wie für Generationen von Gleichaltrigen, so ist auch für den Schüler Lenz der Griff zu den Groschenromanen eine Flucht aus der Langeweile und den Mühsalen des Alltags in eine aufregende und unkomplizierte neue Welt, in der das Gute stets über das Böse siegt.

In dem Fernsehgespräch mit Kohout bekennt er, im Alter von knapp zehn Jahren sei er zu der Erkenntnis gekommen: »Du kennst alles fast bis zum Überdruß, du mußt hier raus. Du mußt diese Stadt verlassen, du mußt vor allen Dingen die gewohnten menschlichen Verbindungen hinter dir lassen.«

Für einen Zehnjährigen sind das ungewöhnliche Fluchtversuche.

Zwar ist Lyck, das damals etwa 15 000 Einwohner zählt, eine enge, kleinbürgerliche Welt »im Rücken der Geschichte«, wie es Lenz gern formuliert. Es ist aber auch, zumindest äußerlich, eine sehr schöne Welt. Direkt am vier Quadratkilometer großen, 60 Meter tiefen Lycksee gelegen, schmückt sich der Ort mit dem Prädikat »Perle Masurens«, ist außerdem »Hauptstadt« und beherbergt mehrere überörtliche Behörden. Ein Hauptzollamt, auf dem Otto Lenz gearbeitet haben könnte, ein Landgericht, ein Reichsbahnamt, die Kreisverwaltung.

Man sollte vermuten, für einen seit frühester Kindheit mit der Natur verbundenen Jungen, der fischen und schwimmen kann, ehe er lesen lernt, wäre das Leben in dem malerisch am See gelegenen weißen Häuschen eine wahre Idylle. Im Sommer kann er mit dem Boot zur Schule rudern, im Winter die Schlittschuhe benutzen. »Wer mich suchte, brauchte nur ans Wasser zu gehen, wo ich auf den schwarzen Fischkönig wartete, den meine Großmutter nicht müde wurde zu denunzieren, weil sie sich Sorgen um mich machte«, heißt es in den biographischen Notizen.

Aber nicht nur der See und der gleichnamige Fluß bieten reichlich Abenteuer. Der seit Jahrhunderten von marodierenden Heerscharen heimgesuchte Ort ist Garnisonsstadt mit mehreren Exerzierplätzen, auf denen zu allen Jahreszeiten die Maschinengewehre hämmern und Kanonen die Scheiben im kleinen Haus am See vibrieren lassen. Nimmt das kriegerische Getöse überhand, pflegt die Großmutter protestierend Choräle anzustimmen, nicht ahnend, daß der Knabe Siegfried den Schulranzen im Gebüsch versteckt und sich unter das »feldgraue Unglück« aus den »trübseligen Kasernen« mischt. Er bleibt nicht Zuschauer, sondern bietet seine Dienste an: Als Toter oder Verletzter, und als Lohn verlangt er die anfallenden Patronenhülsen.

Die Abenteuer am See, die Begegnung mit den Bauern aus dem nahen Polen, die Gänse anliefern, die Teilnahme am Kriegsspiel, die Erzählungen der Großmutter, all dies ist im fiktiven Lucknow von »Heimatmuseum« wiederzufinden.

Fürs Lesen wird da zunächst nicht viel Zeit übriggeblieben sein. Das ändert sich allerdings, als der Knabe Siegfried in eine Art Dealer-Ring gerät, der mit Drogen mäßig schädlicher Art handelt, nämlich mit den schon erwähnten Groschenromanen.

* * *

1975 hat Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld prominente deutsche Literaten nach ihren ersten Leserlebnissen befragt, und Siegfried Lenz schildert in seinem Beitrag, wie ihn schon eingeweihte Klassenkameraden in ihren Lesezirkel aufnehmen. Man tauscht »fleckige, von höchster Leseerregung zeugende Heftchen – Tinte, Fett und Fingerschweiß auf jeder Seite«.

Noch in der Religionsstunde beginnt er mit der Lektüre und hat auf einmal das Gefühl, endlich das gefunden zu haben, »was ich unbewußt und beinahe schmerzhaft entbehrt hatte«. Sitzend, stehend und abends im Schein der Taschenlampe unter der Bettdekke liest er. In »äußerster Erregung« schlägt er bei jedem neuen Titel zuerst die letzte Seite auf, um zu ermitteln, ob die Helden den Kampf mit den wild gewordenen Gorillas oder den skrupellosen Opiumhändlern unbeschadet überstanden haben.

Er ist geradezu »süchtig nach Handlung, süchtig nach Ereignissen«. Bei Naturschilderungen oder wenn gar »Frauen auf die Veranda traten«, dann allerdings blättert er unwillig weiter.

Mit den neuen Freunden aus Fantasia-Land gelingt die Flucht in eine Welt, in der alles eindeutig ist, in der es »die Krankheit des nagenden Zweifels« nicht gibt. Nachdem er die Kosakenzeit ausgelebt hat, ernennt er sich nun zum Ersten Offizier auf Jörn Farrows U-Boot. »Ich gab Befehl, im Lycksee zu tauchen, ließ das Gefängnis beschießen, den Wasserturm und das Lehrerzimmer meiner Schule.«

Mehr als hundert der von einem gewissen Hans Warren verfaßten Hefte hat Siegfried Lenz verschlungen und sich später selbst die Frage gestellt, in welcher Form ihn die »vielfleckigen Heftchen« wohl beeinflußt haben. Zumindest eine »unterwandernde Wirkung«, vermutet er. Vieles spricht dafür, daß er recht hat. Denn Naturschilderungen in seinen ersten beiden Romanen, vor allem im »Duell mit dem Schatten«, enthalten ähnlich kitschig-pathetische Formulierungen, wie man sie in der Torring-Reihe findet, und auch dort gibt es ein Liebesleben höchstens in prüden Andeutungen.

Siegfried Lenz’ lebenslange Neigung für das Angelsächsische, einschließlich der Sprache, könnte ebenfalls auf die Groschenhefte zurückzuführen sein, Hans Warrens Helden gelten als besonders England-freundlich. Ihre Abenteuer finden zum größten Teil in dem von den Briten beherrschten Indien statt. Und die aus Europa herbeigeeilten Retter kämpfen stets auf Seiten des »guten« Gouverneurs. Diese anglophile Haltung führt schließlich auch dazu, daß die wegen des gutbürgerlichen Kitsches und des stets betonten Deutschtums von der NS-Zensur zunächst geduldete Serie bei Kriegsbeginn verboten wird.

Er habe eine »einzelgängerische Kindheit« gehabt, räumte Siegfried Lenz in einem Interview ein, was allerdings nicht bedeuten muß, daß er ein Außenseiter war. Denn er nimmt durchaus teil am sogenannten öffentlichen Leben seiner Heimatstadt. Etwa dann, wenn auf der Freilichtbühne die Kolonisierung Masurens durch den Ritterorden nachgestellt wird. Es muß eine einprägsame Veranstaltung gewesen sein, die vierzig Jahre später in dem Roman »Heimatmuseum« in epischer Breite noch einmal ihren Niederschlag findet. Anders als auf dem Exerzierplatz, darf der Zehnjährige nicht den Toten spielen, sondern muß als Ritterpage mit blankem Schwert eine holde Frau ansprechen. Der ungewollte Lacherfolg ist gewaltig. Fortan ist er auf den Ritterorden nicht mehr gut zu sprechen und sein Verhältnis zur gesamten masurischen Geschichte geschädigt.

Wenn diese Abneigung keine Auswirkungen auf die Schulnoten hat, dann nicht zuletzt deshalb, weil der wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Reichspräsidenten »Hindenburg« genannte Geschichtslehrer auch das Fach Leibesertüchtigung unterrichtet. Und da im damaligen Schulleben der Bizeps als Bildungsfaktor anerkannt ist, können Probleme mit der ebenso turbulenten wie verwirrenden Historie des fernen deutschen Ostens durch einwandfreie Leistungen an Reck, Barren und Kletterstange mühelos ausgeglichen werden.

Sollte es die erwähnte »einzelgängerische Kindheit« wirklich gegeben haben – spätestens als Siegfried Lenz zehn Jahre alt geworden ist, beginnt die Erziehung zum Leben in der Gemeinschaft. Die Freilichtbühne wird auf ganz Masuren erweitert, und die Mitspieler heißen jetzt Pimpfe. »Arglos und heißwangig« habe er an den einem Mann namens Hitler geweihten Indianerspielen teilgenommen, schreibt Siegfried Lenz über diese Zeit. Wie die Kameraden singt er Pimpf-Lieder, liest die Zeitschrift »Der Pimpf«, verlegt phantasievoll Zeltlager und Lagerfeuer zurück in die Kosakenzeit und genießt den Vorteil der Pimpfuniform. In der Schule dürfen die Lehrer ihn nicht mehr mit dem Rohrstock traktieren.

Außerdem hängt nun neben dem Bild des trübe dreinblickenden Hindenburg der »Ober-Pimpf Hitler« (Lenz). Einige der Lehrer waren Offiziere, andere sind noch immer in der Reserve aktiv, und wie sich Siegfried Lenz erinnert, geriet bei ihnen die Lehrtätigkeit zur »Instruktionsstunde am Bildungsgeschütz«. Jahreszahlen, chemische Formeln und mathematische Gleichungen werden nicht mehr gelernt, sondern erbeutet und erobert.

Die Freizeit verbringt der Musterschüler Siegfried Lenz zwar immer noch am See, doch das Pimpf-Dasein ist mit vielen Pflichten verbunden. Altmetall sammeln, Straßenkollekte für das Winterhilfswerk, am Straßenrand jubeln und mit Kornblumen wedeln, wenn politische Prominenz anreist.

Das Führerhauptquartier Wolfsschanze liegt nicht allzuweit entfernt, und so kommt zu Besuch, was in der NS-Hierarchie Rang und Namen hat: Hitler, Goebbels, Ostpreußens Gauleiter Erich Koch. Und Görings Sonderzug sorgt stets für besonders große Aufregung.

Bald kommen noch mehr Soldaten, als im Ort ohnehin stationiert sind. Sie belegen jedes freie Bett, sichern die Brücken mit Kanonen, jagen lärmend in schnellen Booten über den See. »Überall dampften ihre Feldküchen und überzogen die Perle Masurens mit einem deckenden Geruch von Erbsensuppe«, schreibt Siegfried Lenz aus der Erinnerung. Und eines Tages steht der uniformierte Pimpf aus besonderem Anlaß pflichtgemäß jubelnd am Straßenrand. Die Beziehungen zwischen den Bürgern von Lyck und ihren polnischen Nachbarn waren stets gut. Man spielt gegeneinander Fußball, Gesangsvereine besuchen sich. Die nur 18 Kilometer entfernte Grenze gilt als offen. Und nun, Anfang September 1939, ziehen plötzlich deutsche Soldaten Richtung Polen. »Ich dachte an die Holzflößer, von denen ich so viel gelernt hatte. Galt dieser entsetzliche Aufwand ihnen? Richtete sich die hochmütige Heiterkeit der Soldaten gegen die polnischen Landarbeiter? Wollten sie die listigen polnischen Bauern bestrafen, die uns zu Weihnachten Gänse schickten?«

In »Heimatmuseum« und in der Verfilmung des Romans sind es dann auch die Gänse, die symbolträchtig erste Opfer des Krieges werden. Der sich der Grenze nähernde Zug mit den so geschätzten Weihnachtsgänsen wird von deutschen Kampffliegern angegriffen und von den Schienen gerissen. Aus den aufgeplatzten Waggons quillt in Panik, blutüberströmt und flügelschlagend, die »weiße Armada«.

Siegfried Lenz ist 13jährig, als er am Straßenrand von Lyck das »feldgraue Unglück« in den Krieg winkt. Wenige Monate später endet seine Kindheit in der Geburtsstadt. Nach achtjährigem Besuch der Volksschule kann er der schon so lange als bedrückend empfundenen kleinbürgerlichen Enge endlich entfliehen. Obwohl er die Schule nur mit mäßiger Begeisterung besucht hat und auch im Alter stets mit fast schon demütig wirkender Bescheidenheit Fragen nach Benotungen mit »es ging so« zu beantworten pflegt, kann man davon ausgehen, daß er ein »Leistungsträger« war. Aber warum wechselt er nicht schon nach der vierten Klasse auf das örtliche Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium, das seit 350 Jahren besteht und einen guten Ruf hat? Vielleicht weil der zerfallenen Familie das Geld fehlt?

Ein Lehrer soll sich dafür eingesetzt haben, daß Siegfried Lenz schließlich doch noch zur Oberschule kommt. Aber auf einem Sonderweg. Zunächst absolviert er jedoch in dem 500-Einwohner-Dorf Saugen, in der Nähe der im äußersten Norden Ostpreußens gelegenen Stadt Heydekrug, ein »Landjahr«. Es ist eine Art Reichsarbeitsdienst, mit Unterricht, aber auch mit Arbeit bei Bauern in der Umgebung und mit Gartenarbeit im Lager. Nach neun Monaten findet in Ragnit bei Tilsit eine Vorauswahl unter den Jungen statt, die eine weiterführende Schule besuchen sollen. Dabei hat der 13-Jährige aus der tiefsten Provinz mit seinem auffallenden Reichtum an Phantasie offensichtlich einen so vorzüglichen Eindruck hinterlassen, daß er mit fünfzig weiteren Hochbegabten aus dem ganzen Reich ins schleswig-holsteinische Kappeln beordert wird. Dort, malerisch am Ufer des Schlei-Fjords, war in der Ortschaft Rabelsund auf dem Gut Buckhagen ein Internat eingerichtet worden. Der Dampfer »Adler« bringt die Jungen jeden Morgen in die Kappelner Klaus-Harms-Oberschule. In dieser sogenannten Aufbauschule, die vorwiegend für Schüler mit Volksschulabschluß bestimmt ist und wie normale Oberschulen zum Abitur führt, erhalten die Gastschüler aus dem Internat in einem neunmonatigen »Crashkurs« den Leistungsstand, den Oberschüler ihres Alters schon besitzen: Latein, Englisch und Mathematik stehen im Mittelpunkt des Unterrichts. Die Ansprüche sind hoch, es wird streng gesiebt.

Nur zehn der fünfzig angetretenen Kandidaten beenden den Kurs erfolgreich. Einer von ihnen ist Siegfried Lenz, an den sich damalige Schulkameraden nicht zuletzt deshalb gut erinnern, weil er im noch nicht medialen Zeitalter als begnadeter Alleinunterhalter hervortritt. Bis in die tiefe Nacht unterhält er den ganzen Schlafsaal mit seinen phantasievollen Erzählungen.

Aus nicht einsichtigen Gründen hält Siegfried Lenz auch diesen durchaus prägenden Bestandteil seines Schullebens unter der schon erwähnten Decke versteckt. Jedenfalls erwähnt er seinen ersten Aufenthalt in Schleswig-Holstein nicht in einem Beitrag für den von Marcel Reich-Ranicki 1984 herausgegebenen Sammelband, in dem prominente Schriftsteller ihre Schulzeit im Dritten Reich schildern.

Zwanzig Jahre später führt dies zu einer öffentlich ausgetragenen Verstimmung zwischen den beiden Freunden, ausgelöst durch die Behauptung des obersten deutschen Kritikers, daß Lenz eine nationalsozialistische Eliteschule besucht habe. Zwar werden fünf der zehn »Überlebenden« des Kappelner »Crashkurses« an eine Napola-Bildungseinrichtung überwiesen, darunter befindet sich aber nicht Siegfried Lenz. Er kehrt aus Schleswig-Holstein zurück nach Ostpreußen. Allerdings nicht ins schmucke weiße Häuschen im heimischen Masuren, sondern nach Samter (heute Szamotuly), eine Kleinstadt an der Warthe, wenige Kilometer nordwestlich von Posen gelegen.

* * *

Siegfried Lenz ist nun 14 Jahre alt, und schon wieder muß er sich an eine neue Umwelt gewöhnen. Es gibt zwar auch Wälder und Wasser, aber zumindest in unmittelbarer Nähe keine idyllischen Seen, wie er sie aus Lyck kennt. Doch die Zeiten der unbeschwerten Kindheit mit Kosakenspielen, Fischen und Abenteuern an der Seite von Rolf Torring sind ohnehin vorbei. Erkennbar auch daran, daß aus dem Pimpf in geschlossener Formation mit den Klassenkameraden ein Hitler-Junge geworden ist.

Der neue Bildungsstandort in Samter besteht aus dem Schulhaus, einem »trüben Kasten«, und aus den nicht minder abschrekkenden Gebäuden des Internats, in denen, natürlich hermetisch abgetrennt, Jungen und Mädchen untergebracht sind.

Detailliert wie über keinen anderen Teil seines Lebens, hat Siegfried Lenz in seinen autobiographischen Skizzen die drei Jahre in Samter geschildert. Allerdings nur für den engen Bereich der Schule. Ob er noch einmal die Großmutter in Lyck oder gar die Mutter in Braunsberg besucht hat, gilt als zu privat, bleibt unter der ausgebreiteten Decke.

In den meisten Berichten über das Schulleben im Dritten Reich ist ein Grundmuster erkennbar. Es gab Lehrer, die vorsichtige Distanz zum Regime erkennen ließen, es gab die strammen Sympathisanten, daneben standen die Gleichgültigen. Siegfried Lenz erlebt ähnliches. Der Direktor tritt mit angestecktem EK I aus dem Ersten Weltkrieg auf, der Lateinlehrer betont zwischen unregelmäßigen Verben das Kumpelhafte. Der Deutschlehrer geht mit Geringschätzung an der vom Kollegen von der Geographie und mit Hilfe des Schülers Lenz täglich mit bunten Wollfäden aktualisierten Landkarte vorbei, die das Vordringen der deutschen Verbände anzeigt. Aber es ist nicht so sehr diese demonstrative Opposition, die Dr. Adolf Paul zu einer Art Ziehvater oder sogar Berufsberater werden läßt. Nach den Schulstunden lädt er Siegfried Lenz mit zwei weiteren Klassenkameraden, darunter der spätere Fernsehjournalist Dieter Gütt, zum Tee zu sich nach Hause und erteilt Deutschunterricht, wie er im Lehrplan nicht vorgesehen ist. Statt Hitlers »Mein Kampf« und Alfred Rosenbergs »Mythos des Zwanzigsten Jahrhunderts« werden Thomas Manns »Buddenbrooks«, Heinrich Heines »Deutschland, ein Wintermärchen« und Lessings »Nathan der Weise« gemeinsam interpretiert. Zumindest für den nicht angepaßten Pädagogen sind diese Treffen durchaus riskant. Doch Adolf Paul, der auch im Kollegium nicht zum Mitläufer wird, übersteht seine beharrliche Verachtung des braunen Regimes unbeschadet.

Wie Siegfried Lenz später bekennt, hat sein Deutschlehrer ihn bei der Berufswahl entscheidend beeinflußt. Ganz offensichtlich auch mit seinem literarischen Glaubensbekenntnis, das da lautet: »Man kann nicht über andere schreiben, ohne gleichzeitig über sich selbst zu schreiben.« Wie es in Siegfried Lenz’ Erinnerung an seinen Lieblingslehrer heißt, war für ihn der biographische Hintergrund jedes Werkes, jeder Dichtung das wichtigste. Seine These lautete: Ein Schriftsteller muß leiden, um schreiben zu können, seine Mission muß es sein, »dem Unglück Worte zu verleihen«, und erst, wenn die Literaten ihr Leiden akzeptiert hatten, durften sie in ihrem Unglück auch ein wenig heiter sein.

Nur hier und da ein wenig abgemildert, hat Siegfried Lenz in seinem gesamten Werk mit erstaunlicher Konsequenz befolgt, was er in den literarischen Teestunden von seinem Deutschlehrer erfahren hat. Und dem Lehrmeister sollte sogar noch vergönnt sein, den Erfolg seiner pädagogischen Bemühungen, nämlich den Aufstieg seines Meisterschülers, zu erleben.

Als Siegfried Lenz mit wachsendem Erfolg seine ersten Geschichten und Romane veröffentlicht hatte, erreichte ihn ein Schreiben aus Ludwigslust in der DDR, in dem der Russischlehrer an der dortigen Schule anfragte, ob es sich bei dem Autor eines gerade vom NDR gesendeten Hörspiels um seinen ehemaligen Schüler handeln könnte? Dem schriftlichen und dann telefonischen Kontakt folgte in Hamburg ein herzliches Wiedersehen. Und bei der gemeinsamen Alsterfahrt könnte sich Siegfried Lenz daran erinnert haben, daß es Adolf Paul war, der ihn nach einer offenbar besonders eindrucksvollen privaten Deutschstunde zu seinem ersten Gedicht angeregt hatte. Es war den wilden Schwänen auf dem Lycksee gewidmet, die der Jung-Dichter »als flammende Glückskometen aus der Nachtwolke herabstürzen« läßt.

Seinen aus Riga stammenden Deutschlehrer hat Siegfried Lenz geschätzt, geradezu verehrt aber hat er Margarethe Wittram, seine Englischlehrerin.

Vor allem ihr zuliebe hat er Vokabeln gebüffelt, und diese Sprachkenntnisse beeinflußten ebenfalls den späteren Lebensweg. Denn als im Gefangenenlager von Witzwort ein Dolmetscher gesucht wurde, meldete sich Siegfried Lenz mutig und wurde engagiert. Als er im April 1985 in Lübeck den Thomas-Mann-Preis in Empfang nahm, war aus Göttingen auch die weit über 80jährige Lehrerin zu Ehren ihres inzwischen so berühmt gewordenen Schülers angereist.

Namenlos geblieben sind dagegen die in der Schule einfallenden »Reklamereisenden für den Krieg«. Junge Offiziere, »hochdekoriert und erträglich verstümmelt«, wie es Siegfried Lenz formuliert. Sie schieben die Lehrer beiseite, machen die 16- und 17-Jährigen wieder zu Kindern, indem sie Panzer, U-Boote, Stukas und Karabiner als Spielzeug anbieten und von den Freuden des Kampfes berichten.

Später räumte Siegfried Lenz ein, daß er, wie die meisten seiner Klassenkameraden, anschließend nur eine Sorge hatte: Der Krieg könnte zu Ende gehen, noch ehe sie »von der Reservebank« zur Teilnahme an dem grandiosen Spiel zugelassen werden.

Doch während die Gedenktafeln für die notdürftig reif gesprochenen und in den vermeintlich glorreichen Kampf geschickten Mitschüler beinahe täglich verlängert werden müssen, geht für die ungeduldigen Reservisten der Schulalltag weiter. Der Geographielehrer verliest zur Belebung des Unterrichts Sondermeldungen, die Siegfried Lenz nach wie vor mit Stecknadeln und bunten Fäden auf der Weltkarte optisch umsetzt. Mit gleichbleibender Begeisterung, aber auch mit wachsender Unruhe, weil die Markierung bei Leningrad und an einigen anderen Stellen häßliche Einbuchtungen hinterläßt.

Und so wie Sportler, die auf ihr Einwechseln warten, werden auch die Nachwuchskrieger auf ihren Einsatz vorbereitet. In den Ferien vor allem, aber sogar während der eigentlichen Schulzeit, ist die Teilnahme an »Wehrertüchtigungslagern« Pflicht. Unteroffiziere, die als Folge von Verwundungen nicht mehr kriegstauglich sind, bieten den Kurs »Kriegsführung für Anfänger«. Wie man sich tarnt, wie man sich in unbekanntem Gelände an den Sternen orientiert – und wie man tötet. Hier wirft Siegfried Lenz seine erste und – wie er versicherte – einzige scharfe Handgranate, hier gibt er seinen ersten Schuß aus einem Karabiner ab.

Ganz im Gegensatz zu ihren Schülern haben die Ausbilder schon alle Illusionen verloren. Siegfried Lenz erinnert sich: »Was mich am meisten beeindruckte, das war ihre unerhörte Müdigkeit; sie schliefen beim Geländespiel, und wenn wir Übungsschießen hatten, übernahm ein Ausbilder die Aufsicht, während sich die vier anderen unter einen Holunderbusch legten und schliefen.«

Neben dieser Wehrertüchtigung bieten Schule und Internat reichlich Leibeserziehung. Der Sportplatz wird für Jungen und Mädchen der einzige Ort für Freizeitvergnügen. Siegfried Lenz konzentriert sich auf das Speerwerfen, strebt mit Trainingseifer das 55-Meter-Ziel an, ohne es jedoch ganz zu erreichen. Daneben spielt er in der Handballmannschaft und nimmt vom Drei-Meter-Brett an der Kunstsprungmeisterschaft der Jugend teil.

Ganz besonders aber interessiert ihn der Hochsprung. Nicht so sehr, weil er auch in dieser Disziplin Ehrgeiz entwickelt hätte, sondern weil hier ein weibliches Wesen, »zäh, busenlos und intelligent … in schwebendem, seltsam verzögertem Rollsprung regelmäßig über einmeterachtundvierzig kam« und sich die Einmeterfünfzig als Ziel gesetzt hatte.

Trotz der unterschiedlichen Sportarten entdecken die beiden Gemeinsamkeiten, treffen sich beim Schwimmen und beim Waldspaziergang. Eine vorsichtige erste Liebe entwickelt sich. Allem Anschein nach auch wieder mit Folgen für Leben und Werk. Denn die busenlose Hochspringerin ist zugleich BDM-Anführerin einer Mädelschaft, in dieser Eigenschaft Uniformträgerin, und sie macht eindeutig klar, daß in Uniform kein Kuß erwünscht ist. Sie sieht außerdem grundsätzlich alles als »Pflicht« an. Die Sorge um das Vaterland ebenso wie Trainingseinheiten und die Feldpost-Briefe, mit denen sie die Moral der Truppe zu fördern versucht.