Sinn, Los! - Rolf Dräther - E-Book

Sinn, Los! E-Book

Rolf Dräther

4,8

Beschreibung

Donnerstagabend, 19:15 Uhr: "Such Dir einen Platz im Raum und schreib eine Geschichte aus dieser Perspektive. Du hast zwanzig Minuten Zeit." So oder ähnlich begann jede Einheit des Kurses "Kreatives Schreiben". Und forderte die Phantasie der Teilnehmer immer wieder aufs Neue: eine Geschichte voller Geräusche schreiben, eine unbekannte Person beobachten und eine Szene aus ihrem Leben erfinden, den Raum zwischen einem vorgegebenen ersten und letzten Satz füllen, ... Und obwohl jeder dieser Texte für sich oft noch fragmentarisch blieb, formte das Nebeneinander der vielfältigen Ideen ein überraschend stimmungs- und spannungsvolles Bild. Davon inspiriert haben die fünf Autoren weitergeschrieben, gefeilt, sortiert und ihre schönsten Texte für diese Anthologie zusammengestellt.

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Seitenzahl: 52

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Über die Autoren:

Rolf Dräther studierte Physik, wurde später Coach und Berater und segelte mit einem motorlosen Frachtsegler über den Atlantik. Beim Schreiben hält er es mit Dorothee Parker: „Ich hasse es zu schreiben, aber ich liebe es, geschrieben zu haben.“

Peter Hemmerath genießt die Freiheit nichts mehr zu müssen, solange, bis nichts mehr geht. Schreiben war immer eine Idee von ihm, die jetzt erstmalig umgesetzt wurde.

Nils schreibt, liest und träumt Geschichten seit der Grundschule und wird erst aufhören, wenn das große Nichts ihn einmal fortreißt.

Kathleen Kühmel verdient ihr Geld seit vielen Jahren als Softwareentwicklerin. Davor studierte sie Erziehungswissenschaften. Seit sie mit 18 Jahren Hemingway gelesen hat, ist sie neugierig auf alles, was ihren Horizont erweitert.

Simon Sellner sucht kreative Herausforderungen und ist schreibfaul. Das hält ihn aber nicht davon ab ein Buch zu veröffentlichen.

Inhalt

Kathleen · Überlebt!

Nils · Bärenherz

Simon · Die Auserwählte

Rolf · Farbtherapie

Peter · Quastenflosser und Känguru

Kathleen · 1999

Nils · Herbstsonate

Simon · Der Besuch

Rolf · Kein Trinker

Peter · Die Herausforderung

Kathleen · Angekommen

Nils · Tennistagtraum

Simon · Geheime Botschaft

Rolf · Leben danach?

Peter · Der Buchkauf ein Hexenwerk

Kathleen · Zum Kuckuck

Simon · Mauern

Rolf · Rettungskommando

Peter · U-Bahn

Kathleen · Mathe

Peter · Leiser Tod

Kathleen · Test 123

Peter · Böse Überraschung

Rolf · Rodeo

Peter · Der Besuch auf dem Kiez

Peter · Fluss der Zeit

Peter · Hüttenzauber

Simon · Sinn, Los!

Kathleen · Überlebt!

Endlich Pause. Stundenlang ist Falco um die Alster gelaufen. Immer auf der Suche. Dabei pfiff der Wind so stark, dass das Wasser der Fontäne von der Seemitte bis zum Ufer spritzte. Er beobachtet das Schauspiel nun durch die großen Glasscheiben des Cafés. Eine Wohltat. Der Wind hat ihn nicht gestört, den spürte er nicht. Vielmehr ermüdete ihn die erfolglose Suche. Das passiert ihm manchmal. Etwas zu ahnen, Not zu spüren, ohne es herauszufinden. Ohne helfen zu können. Ein bisschen so, als ob er sich bei den Koordinaten eines Multicaches verrechnet hätte.

Er sitzt an einem runden, leeren Holztisch. Keine Tischdecke, nur der Zucker und die Speisekarte stehen darauf. Falco würde jetzt gern sagen: „Einen Kaffee, bitte!“, doch der Kellner übersieht ihn. Deshalb lässt er sich auf die mit rotem Leder bezogene Bank sinken. Leise erklingt klassische Musik. Falco beobachtet die Frau an der Glasseite gegenüber. Sie trägt eine helle Jeans und einen dunkelblauen, fließenden Pulli. Schmunzelnd wickelt sie das kleine Täfelchen Schokolade aus dem roten Papier. Wie schön, denkt er, sie hat die Trauer überwunden. Damals hatte er sich zum Glück nicht „verrechnet“. War für sie da, als sie nach dem Tod ihres Mannes das Gefühl hatte, nicht atmen zu können. Dass ihr Mann immer noch da ist, als ein Teil ihres Körpers. Im Bauch, im Herzen und in der Lunge steckt. Falco hat das Radioprogramm für sie manipuliert und sogar Blumen gepflanzt. Und vor einigen Wochen lag „zufällig“ der Roman ,Lady Afrika‘ in der Bücherkiste neben ihrem Lieblingsplatz im Café ,Mathilde‘. In klitzekleinen Schritten wandte sie sich wieder der Sonne zu. Nahm wahr, dass etwas Großes, nicht Greifbares, für sie da ist. Dass sie nicht allein ist und loslassen darf.

Ein Holzstuhl scharrt auf dem Parkett. Oh, der Kellner! Hat es leider nicht bis zu ihm geschafft, sondern räumt den Nachbartisch auf. Scheinbar hat es den Touristen nicht geschmeckt. Aber vielleicht lag es auch an ihrem Streit, den Falco als azurblaue Eiskristalle zwischen ihnen wahrnehmen konnte. Erst hingen sie in der Luft, dann fielen sie auf den Tisch und zerbrachen. Beide haben nur in ihrem Kuchen gestochert. Der Kellner räumt das halbe Stück Eierlikörtorte und den angebissenen Apfelkuchen auf das Tablett. Falco schaut den Resten hinterher, bis der Kellner hinter der Küchentür verschwindet. Er stellt sich vor, wie der gelbe Teil der Torte in seinem Mund schmilzt, der Kakaoboden knuspert und sich die Energie des Zuckers und der Sahne wohlig im Bauch ausbreitet.

Falco würde gern etwas bestellen, doch der Kellner kommt nicht.

Er kann gar nicht kommen. Also können schon, aber er wird es nie tun, weil er Falco nicht sieht. Weil Menschen Engel nicht sehen können.

Nils · Bärenherz

Der Wecker klingelt. Karls Hand schießt unter der warmen Decke hervor, vollführt zwei ruckartige Schwenks in jeweils exakt neunzig Grad und trifft mit roboterhafter Präzision den Wecker, der wie immer im ersten Quadranten seines rechteckigen Nachttisches steht, diametral entgegen gesetzt zur Tischlampe, welche, natürlich, den dritten Quadranten besetzt.

Karl wischt mit der linken Hand über sein rechtes Ohr, dann mit der rechten Hand über das linke und weckt Sir Pommes, seinen Teddybären, indem er ihn zuneigungsvoll genau in der Mitte seines Kopfes zwischen den Ohren krault. Schnell schlüpft er in seine Kleidung, die er am Abend zuvor auf dem großen Ecktisch neben der Tür ausgebreitet hat – und zwar so, dass jedes Kleidungsstück in korrekter Relation zueinander diejenige Position einnimmt, die es auch am menschlichen Körper getragen einzunehmen hätte. Im zwielichtigen Schummer des Tagesanbruchs sieht das aus, als läge dort eine Kopie von Karls Körper, eine Art Astralleib, der nur in der kurzen Spanne zwischen dem Dunkel der Nacht und der Lichtfülle des Tages in der Dämmerung existieren konnte. Ein bisschen gruselig ist das manchmal, aber dann ist da Sir Pommes, dessen milder, wissender Teddyblick immer sehr schnell Trost spendet.

Der Frühstücksraum ist zum Glück nicht mehr so voll. Karl schaufelt zwei große Hände Fruit-Loops in eine Schüssel, gibt ein wenig lauwarme Milch hinzu und setzt sich in die hinterste Ecke des Raumes. Plötzlich tritt ein Namensschild an seinen Tisch. Schwester Charlotte. „Guten Morgen, Karl! Gut geschlafen?“ Er fixiert das Namensschild, drückt Sir Pommes fester an seine Brust und spürt das kleine Bärenherz langsam und regelmäßig schlagen. Das beruhigt Karl so sehr, dass er lachen und sich dann schnell über seine Fruit-Loops hermachen kann. Als er wieder aufblickt, ist das Namensschild verschwunden.