Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Donnerstagabend, 19:15 Uhr: "Such Dir einen Platz im Raum und schreib eine Geschichte aus dieser Perspektive. Du hast zwanzig Minuten Zeit." So oder ähnlich begann jede Einheit des Kurses "Kreatives Schreiben". Und forderte die Phantasie der Teilnehmer immer wieder aufs Neue: eine Geschichte voller Geräusche schreiben, eine unbekannte Person beobachten und eine Szene aus ihrem Leben erfinden, den Raum zwischen einem vorgegebenen ersten und letzten Satz füllen, ... Und obwohl jeder dieser Texte für sich oft noch fragmentarisch blieb, formte das Nebeneinander der vielfältigen Ideen ein überraschend stimmungs- und spannungsvolles Bild. Davon inspiriert haben die fünf Autoren weitergeschrieben, gefeilt, sortiert und ihre schönsten Texte für diese Anthologie zusammengestellt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 52
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Rolf Dräther studierte Physik, wurde später Coach und Berater und segelte mit einem motorlosen Frachtsegler über den Atlantik. Beim Schreiben hält er es mit Dorothee Parker: „Ich hasse es zu schreiben, aber ich liebe es, geschrieben zu haben.“
Peter Hemmerath genießt die Freiheit nichts mehr zu müssen, solange, bis nichts mehr geht. Schreiben war immer eine Idee von ihm, die jetzt erstmalig umgesetzt wurde.
Nils schreibt, liest und träumt Geschichten seit der Grundschule und wird erst aufhören, wenn das große Nichts ihn einmal fortreißt.
Kathleen Kühmel verdient ihr Geld seit vielen Jahren als Softwareentwicklerin. Davor studierte sie Erziehungswissenschaften. Seit sie mit 18 Jahren Hemingway gelesen hat, ist sie neugierig auf alles, was ihren Horizont erweitert.
Simon Sellner sucht kreative Herausforderungen und ist schreibfaul. Das hält ihn aber nicht davon ab ein Buch zu veröffentlichen.
Kathleen · Überlebt!
Nils · Bärenherz
Simon · Die Auserwählte
Rolf · Farbtherapie
Peter · Quastenflosser und Känguru
Kathleen · 1999
Nils · Herbstsonate
Simon · Der Besuch
Rolf · Kein Trinker
Peter · Die Herausforderung
Kathleen · Angekommen
Nils · Tennistagtraum
Simon · Geheime Botschaft
Rolf · Leben danach?
Peter · Der Buchkauf ein Hexenwerk
Kathleen · Zum Kuckuck
Simon · Mauern
Rolf · Rettungskommando
Peter · U-Bahn
Kathleen · Mathe
Peter · Leiser Tod
Kathleen · Test 123
Peter · Böse Überraschung
Rolf · Rodeo
Peter · Der Besuch auf dem Kiez
Peter · Fluss der Zeit
Peter · Hüttenzauber
Simon · Sinn, Los!
Endlich Pause. Stundenlang ist Falco um die Alster gelaufen. Immer auf der Suche. Dabei pfiff der Wind so stark, dass das Wasser der Fontäne von der Seemitte bis zum Ufer spritzte. Er beobachtet das Schauspiel nun durch die großen Glasscheiben des Cafés. Eine Wohltat. Der Wind hat ihn nicht gestört, den spürte er nicht. Vielmehr ermüdete ihn die erfolglose Suche. Das passiert ihm manchmal. Etwas zu ahnen, Not zu spüren, ohne es herauszufinden. Ohne helfen zu können. Ein bisschen so, als ob er sich bei den Koordinaten eines Multicaches verrechnet hätte.
Er sitzt an einem runden, leeren Holztisch. Keine Tischdecke, nur der Zucker und die Speisekarte stehen darauf. Falco würde jetzt gern sagen: „Einen Kaffee, bitte!“, doch der Kellner übersieht ihn. Deshalb lässt er sich auf die mit rotem Leder bezogene Bank sinken. Leise erklingt klassische Musik. Falco beobachtet die Frau an der Glasseite gegenüber. Sie trägt eine helle Jeans und einen dunkelblauen, fließenden Pulli. Schmunzelnd wickelt sie das kleine Täfelchen Schokolade aus dem roten Papier. Wie schön, denkt er, sie hat die Trauer überwunden. Damals hatte er sich zum Glück nicht „verrechnet“. War für sie da, als sie nach dem Tod ihres Mannes das Gefühl hatte, nicht atmen zu können. Dass ihr Mann immer noch da ist, als ein Teil ihres Körpers. Im Bauch, im Herzen und in der Lunge steckt. Falco hat das Radioprogramm für sie manipuliert und sogar Blumen gepflanzt. Und vor einigen Wochen lag „zufällig“ der Roman ,Lady Afrika‘ in der Bücherkiste neben ihrem Lieblingsplatz im Café ,Mathilde‘. In klitzekleinen Schritten wandte sie sich wieder der Sonne zu. Nahm wahr, dass etwas Großes, nicht Greifbares, für sie da ist. Dass sie nicht allein ist und loslassen darf.
Ein Holzstuhl scharrt auf dem Parkett. Oh, der Kellner! Hat es leider nicht bis zu ihm geschafft, sondern räumt den Nachbartisch auf. Scheinbar hat es den Touristen nicht geschmeckt. Aber vielleicht lag es auch an ihrem Streit, den Falco als azurblaue Eiskristalle zwischen ihnen wahrnehmen konnte. Erst hingen sie in der Luft, dann fielen sie auf den Tisch und zerbrachen. Beide haben nur in ihrem Kuchen gestochert. Der Kellner räumt das halbe Stück Eierlikörtorte und den angebissenen Apfelkuchen auf das Tablett. Falco schaut den Resten hinterher, bis der Kellner hinter der Küchentür verschwindet. Er stellt sich vor, wie der gelbe Teil der Torte in seinem Mund schmilzt, der Kakaoboden knuspert und sich die Energie des Zuckers und der Sahne wohlig im Bauch ausbreitet.
Falco würde gern etwas bestellen, doch der Kellner kommt nicht.
Er kann gar nicht kommen. Also können schon, aber er wird es nie tun, weil er Falco nicht sieht. Weil Menschen Engel nicht sehen können.
Der Wecker klingelt. Karls Hand schießt unter der warmen Decke hervor, vollführt zwei ruckartige Schwenks in jeweils exakt neunzig Grad und trifft mit roboterhafter Präzision den Wecker, der wie immer im ersten Quadranten seines rechteckigen Nachttisches steht, diametral entgegen gesetzt zur Tischlampe, welche, natürlich, den dritten Quadranten besetzt.
Karl wischt mit der linken Hand über sein rechtes Ohr, dann mit der rechten Hand über das linke und weckt Sir Pommes, seinen Teddybären, indem er ihn zuneigungsvoll genau in der Mitte seines Kopfes zwischen den Ohren krault. Schnell schlüpft er in seine Kleidung, die er am Abend zuvor auf dem großen Ecktisch neben der Tür ausgebreitet hat – und zwar so, dass jedes Kleidungsstück in korrekter Relation zueinander diejenige Position einnimmt, die es auch am menschlichen Körper getragen einzunehmen hätte. Im zwielichtigen Schummer des Tagesanbruchs sieht das aus, als läge dort eine Kopie von Karls Körper, eine Art Astralleib, der nur in der kurzen Spanne zwischen dem Dunkel der Nacht und der Lichtfülle des Tages in der Dämmerung existieren konnte. Ein bisschen gruselig ist das manchmal, aber dann ist da Sir Pommes, dessen milder, wissender Teddyblick immer sehr schnell Trost spendet.
Der Frühstücksraum ist zum Glück nicht mehr so voll. Karl schaufelt zwei große Hände Fruit-Loops in eine Schüssel, gibt ein wenig lauwarme Milch hinzu und setzt sich in die hinterste Ecke des Raumes. Plötzlich tritt ein Namensschild an seinen Tisch. Schwester Charlotte. „Guten Morgen, Karl! Gut geschlafen?“ Er fixiert das Namensschild, drückt Sir Pommes fester an seine Brust und spürt das kleine Bärenherz langsam und regelmäßig schlagen. Das beruhigt Karl so sehr, dass er lachen und sich dann schnell über seine Fruit-Loops hermachen kann. Als er wieder aufblickt, ist das Namensschild verschwunden.