Six Queens: Auferstehung der Dunkelheit - Sandra Florean - E-Book

Six Queens: Auferstehung der Dunkelheit E-Book

Sandra Florean

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Beschreibung

Sechs grausame Königinnen. Sechs magische Artefakte, die alles verändern könnten. Vier Freunde, die den Widerstand wagen. Die schüchterne Herzogstochter Imogen ist behütet aufgewachsen, konnte es ihrer anspruchsvollen Mutter aber nie recht machen. Mit einem Überfall während eines Reitausflugs nimmt das vorgezeichnete Leben der Achtzehnjährigen ein jähes Ende. Sie gerät in die Fänge einer berüchtigten Widerstandsgruppe, die gegen die Tyrannei der sechs unsterblichen Königinnen kämpft. Überfordert von der in ganz Sithia vorherrschenden Grausamkeit und Unterdrückung spürt Imogen etwas in sich heranwachsen. Eine unerklärliche Macht lässt sie Dinge tun, die sie sich vorher nicht zugetraut hat. Dennoch ist sie dem abweisenden Anführer Finnegan ein Dorn im Auge und Imogen muss nicht nur ihn von ihrem Wert überzeugen, sondern auch für sich eine schwerwiegende Entscheidung treffen. History meets Fantasy – ein fesselndes Fantasy-Epos mit dem farbenfrohen Setting des 18. Jahrhunderts

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Table of Contents

Titel

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Die Götter Sithias

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Sandra Florean

SIX QUEENS

Band 1:

Auferstehung der Dunkelheit

 

 

 

 Die Autorin

Sandra Florean wurde 1974 als echte Kieler Sprotte geboren und wohnt mit ihrer Familie in der Nähe der Kieler Förde. Obwohl sie bereits als Jugendliche Geschichten und Gedichte zu Papier brachte, absolvierte sie erst die Ausbildung zur Schifffahrtskauffrau, um eine solide Grundlage zu haben. Seitdem arbeitet sie als Sekretärin in der Verwaltung. Dem Fantastischen blieb sie jedoch treu und schneiderte historische und fantastische Gewandungen, Jahre lang sogar selbstständig mit einer eigenen Schneiderei.

Erst die »Nachtahn«-Reihe brachte sie zurück zum geschriebenen Wort. Seit ca. 2011 widmet sie sich ihren erdachten fantastischen Welten intensiver, veröffentlicht regelmäßig in unterschiedlichen Verlagen und ist zudem als Herausgeberin und Lektorin tätig. Ihr Debüt »Mächtiges Blut« wurde auf dem Literaturportal Lovelybooks zum besten deutschsprachigen Debüt 2014 gewählt. 2018 wurde sie für ihre Tätigkeit als Herausgeberin von »The U-Files. Die Einhorn Akten« mit dem Deutschen Phantastik Preis für die beste Kurzgeschichtensammlung 2018 geehrt.

Andere Veröffentlichungen der Autorin

Six Queens: Auferstehung der Dunkelheit (Bd1)

Bezwinger der Macht (Bd2)

Die Nachtahn-Reihe in 4 Bänden

Die Seelenspringerin-Reihe:

Abgründe

Machtspiele

Maskerade

Familienbande

Götterhauch

Dämonenbrut

Lichterben

Einzelbände:

Schattenrot

Das Erbe des Hüters (auch als Hörbuch erhältlich)

Deadmoon

Moonchild – Wiege der Dunkelheit

Herausgeberschaft: The U-Files. Die Einhorn Akten (ausgezeichnet mit dem Deutschen Phantastik Preis 2018)

Anthologie-Beiträge:

Der menschliche Defekt in: Der Schnee von Morgen

Die Vergessenen in: Waypoint Fiftynine

 

Mehr über die Autorin und ihre Werke: www.sandraflorean-autorin.blogspot.de

 

Six Queens

Band 1: Auferstehung der Dunkelheit

 

 

Sandra Florean

 

 

 

 

 

 

 

 

Six Queens

Auferstehung der Dunkelheit

Sandra Florean

 

Copyright © 2023 Sandra Florean

Südring 71, 24222 Schwentinental

 

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor - www.100covers4you.com

unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: Mia Stendal

Grafiken: Pixabay Gordon Johnson

Illustrationen: Sandra Florean

Lektorat/Korrektorat: F. C.

Herstellung, Satz: Sandra Florean

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

 

 

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Herzlichen Dank!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sie war wie die aufgehende Sonne.

Ein Licht in der Dunkelheit Sithias.

Eine Dunkelheit, die die Königinnen verbreiten und schüren.

Ich werde dieses Licht retten

oder selbst zur Dunkelheit werden.

 

Aus: Bekenntnisse eines Verfolgten von Wistari

 

 

Die Götter Sithias und ihre Königreiche

 

Amriel

Leben: Leben schaffen und bewahren. Heilen

Reich: Astria

Königin Ayla Ulamys

Palast der Lichter

  

Jel

Seele: in Seelen eindringen, manipulieren, vernichten

Reich: Keradon

Königin Laivina

Spiegelpalast

  

Hiran

Gefühle: Liebe, Lust, Schmerz, herbeiführen und beeinflussen

Reich: Thridald

Königin Lorsana Petrona

Palast der Tänze

Crom

Körper: Haut, Muskeln, Knochen, Körperflüssigkeiten beeinflussen

Reich: Awingen

Königin Eysellt

Palast der Eitelkeit

 

Nyos

Geist: Träume und Hoffnungen weben, schüren, verändern, schenken

Reich: Bruhém

Königin Esta Yesnan

Palast der Wünsche

 

Helveta und der Knochendrache

Tod: bringt den Tod auf vielfältige Weise und begleitet die Seelen der Toten über den Großen Graben

Reich: Drimoren

Königin Ithere, die Verborgene

Schattenpalast

Prolog

 

 

 

Einst lebten sechs Götter in Sithia. Jeder dieser Götter verfügt über eine besondere Gabe. Gemeinsam erschufen sie den Menschen, indem Amriel ein Stück aus ihrem lebendigen Leib schnitt. Crom formte daraus den menschlichen Körper. Jel hauchte ihm eine Seele ein, Hiran stattete dieses Leben mit Gefühlen aus, Nyos gab ihm Träume und Hoffnungen und Helveta schließlich beendet das Leben wieder, sobald es an der Zeit ist. Denn nichts sollte ewig existieren.

Die Götter brachten ihre Schöpfung nach Sithia und ließen sie gewähren und sich entwickeln. Doch schon bald wurden die Menschen gierig und neidisch auf das, was andere hatten. Sie führten Kriege um Besitz und Macht. Dabei zerstörten sie das Gute in sich und das Gute in Sithia.

Also schritten die Götter ein, unterwarfen die Menschen mit ihren göttlichen Kräften, unterdrückten sie und machten sie zu ihren Sklaven, bis die Menschen begriffen, wohin sie gehörten und welche Regeln sie zu befolgen hatten.

Fortan lebten die Menschen in Angst und Schrecken vor den Göttern und ihrer Rache. Ordnung kehrte ein in Sithia und die Götter sahen ihre Zeit gekommen, sich zurückzuziehen.

Sie teilten Sithia in sechs Königreiche auf und bestimmten sechs Königinnen, über diese Reiche zu herrschen. Diese Königinnen waren ihre Töchter, ausgestattet mit ihren jeweiligen göttlichen Gaben. Sie sollten an ihrer Stelle und in ihrem Sinne für Recht und Ordnung sorgen und ihr Erbe ehren.

Doch schon bald erhob sich das Menschliche in diesen Königinnen. Die Gier und der Neid packten sie. Sie wollten immer mehr und beuteten ihre Untertanen aus, um es zu bekommen. Sie verloren die Achtung vor dem Leben und der göttlichen Schöpfung. Seitdem herrscht Krieg in Sithia.

Dennoch blieben die Götter still und die Königinnen verpesteten weiterhin ungestraft das Land mit ihrer Grausamkeit und Tyrannei.

Irgendwann jedoch wurden Gerüchte laut, Berichte über besondere Menschen, mit göttlichen Gaben ausgestattet, die das Volk aus seinem Elend befreien würden: die Nifrim. Von den Königinnen ob ihrer Kräfte gefürchtet, werden sie gejagt und getötet und keiner von ihnen wagt es, sich zu erheben.

Bis heute …

Kapitel 1

 

Zerrissen ist, was einst eins war.

 

 

Immer Haltung bewahren, war oberstes Gebot im Hause von Banenth. Nur der äußere Schein zählt, was sich dahinter verbirgt, hat niemanden zu interessieren. Deshalb bietet man seinem Gegenüber gar nicht erst einen Anhaltspunkt, es könne überhaupt etwas hinter dieser Fassade zu entdecken geben.

Wie oft hatte Imogen die Worte ihrer Mutter bereits gehört? Unzählige Male …

Sie eilte durch den menschenleeren Flur und versuchte, nicht zu rennen. Die Absätze ihrer Seidenschuhe verursachten dabei ein unnatürlich lautes Geräusch, das vermutlich im ganzen Palast zu hören war. Ihre Muskeln schmerzten von der ungewohnten Beanspruchung und sie bekam nicht genügend Luft, so eng war ihr Korsett geschnürt.

Ein Dienstbote kam aus einem der Räume und sie verfiel in ein gemächliches Tempo, hob den Kopf und bemühte sich, gelassen zu wirken. Dabei ignorierte sie die Verbeugung des Burschen, als sie an ihm vorbeischritt und dem Drang widerstand, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Endlich erreichte Imogen die Tür des Speisesaals und blieb davor stehen. Sie ordnete ihre Röcke, tupfte sich mit einem Spitzentaschentuch über das schweißnasse Gesicht und stopfte es sich in den Ausschnitt, ehe sie tief durchatmete. Sie wollte nicht noch mehr Zeit verlieren, indem sie hier stand und wieder zu Atem kam. Also nickte sie der Wache zu, die daraufhin die Tür für sie öffnete.

Mit klackernden Absätzen betrat Imogen den Saal.

Ihre Familie saß bereits an dem riesigen Tisch, der für eine ganze Abendgesellschaft Platz bot. Es gab noch einen kleineren, privateren Speisesaal, doch Mutter bestand darauf, zu jeder Mahlzeit im Ballsaal groß aufzutischen. Das beste Porzellan, die guten Kerzenleuchter, in denen teure Wachskerzen brannten und sich in den bodenhohen Fenstern spiegelten, frische Blumenarrangements, erlesene Speisen. Wenn überraschend Besuch kam, was noch nie passiert war, seit Imogen denken konnte, sollte er nicht annehmen, sie wären arm oder wüssten nicht, wie es sich an den großen Höfen lebte.

»Du bist zu spät«, sagte ihre Mutter, ohne aufzusehen, und hielt gerade lange genug mit dem Löffeln ihrer Suppe inne, um ein anklagendes »Wie so oft« hinterherzuschieben.

Imogen beeilte sich, zu ihrem Stuhl zu kommen, und wartete, bis der Page ihn ihr hervorgezogen hatte. Als sie saß, ordnete sie ihre Röcke, legte sich mit leicht zitternden Händen die Serviette in den Schoß und versuchte sich an einer ehrwürdigen Haltung. Wie ihre Mutter es ihr eingebläut hatte und in ihrer Gegenwart erwartete.

»Verzeiht, Mutter. Vater. Aber ich war ganz vertieft in meine Stickarbeiten und habe die Zeit vergessen.«

Ihre Schwester neben ihr kicherte und kaschierte es rasch mit einem Husten, während Mutter aufblickte und anklagend eine Augenbraue hob. Es war eine Lüge und alle am Tisch wussten es.

Imogen hasste das Sticken, obwohl es ihr leicht von der Hand ging. Viel lieber verbrachte sie ihre Zeit in der Bibliothek. Bereits als kleines Kind hatte sie Meister Estus, dem herzoglichen Bibliothekar, gern über die Schulter geguckt, während er ein besonders altes Buch feinsäuberlich kopierte, dessen Seiten so stark ausgeblichen waren, dass man sie kaum noch lesen konnte. Sie mochte den trockenen Staub- und Ledergeruch dort zwischen den unzähligen Regalen, die Stille und Ruhe, die sich wie von selbst auch auf ihr Gemüt legte, sobald sie die große, reich verzierte Eichentür hinter sich schloss.

Am liebsten stöberte sie in den alten, verstaubten Büchern, die ganz hinten in den vergessenen Regalen standen. Viele von ihnen waren in einer fremden Sprache verfasst, aber nicht alle. Manche enthielten abenteuerliche Geschichten von fernen Ländern und strahlenden Helden. Andere erzählten düstere Legenden, bei denen ihr eisige Schauder über den Rücken liefen, während sie sie las und gleichzeitig wusste, in der darauffolgenden Nacht kein Auge zuzutun.

Es gab sogar Bände voller Abbildungen der scheußlichsten Kreaturen, die man sich nur ausdenken konnte. Gruslige Schöpfungen der Götter, um die Menschheit zu geißeln, oder einfach nur, um zu beweisen, zu welchen Hässlichkeiten und Schrecken sie fähig waren. In einem davon hatte sie die Skizze eines Kruviak gefunden, die sie fasziniert hatte. Meister Estus hatte es ihr sofort weggenommen und fürchterlich geschimpft. Normalerweise begrüßte er ihren Wissensdurst, doch er hatte von Mutter strikte Anweisung bekommen, was Imogen zu lesen hatte und wie viel. Die Bücher über Magie und die vergessenen Kreaturen gehörten nicht dazu.

Die Magd füllte ihren Teller mit einer Suppe, in der überwiegend Gemüse, aber nur ein Brocken Fleisch schwamm. Der würzige Geruch erinnerte Imogen daran, dass sie seit Stunden nichts gegessen hatte. Nicht, dass es ihr schaden würde, wie ihre Mutter nicht müde wurde zu betonen.

»Dann ist das Kleid fertig bestickt?«, fragte Mutter. Sie war eine hagere Frau und stolz auf ihre gute Figur sowie ihre aufrechte Haltung.

Imogen hatte eine Zeichnung in einem der Bücher gefunden, auf dem eine menschliche Wirbelsäule abgebildet gewesen war. Seitdem war sie sicher, dass die Herzogin ihr Rückgrat hatte begradigen lassen, um sich nicht so anstrengen zu müssen, derart gerade zu stehen und zu sitzen.

Die grauen Haare hatte sie streng zurückfrisiert und zu einem kleinen Turm hochgesteckt. Darauf hockte eine zierliche Spitzenhaube wie eine weiße Krähe, die ihre Älteste misstrauisch beäugte und jede ihrer Bewegungen beobachtete, ihr jeden Bissen neidete. Mutters Kleid war aus mausgrauer, feinster Wolle, wie sie nur hier in Bruhém hergestellt wurde, die Spitze an den Ärmeln blendend weiß und das Mieder so eng geschnürt, dass sich Imogen jedes Mal fragte, wie sie überhaupt noch atmen, geschweige denn essen konnte. Die Perlenarmbänder klackerten leise, als sie ungerührt weiter aß, während sie auf eine Antwort wartete.

Imogen ließ den Löffel sinken, den sie eben zum Mund führen wollte. Ihr Magen knurrte protestierend. »Es fehlt nur noch ein kleines Stück.«

Die Herzogin nickte. »Dann ist es wohl das Beste, du kehrst umgehend zu dieser Arbeit zurück, die dich die vergangenen Stunden derart gefangen genommen hat.« Sie gab der Magd mit einer Handbewegung zu verstehen, Imogens Teller wieder abzuräumen. »Kipp die Suppe zurück in die Schüssel.«

»Aber …« Imogen sah fassungslos dabei zu, wie die junge Frau nach ihrem Teller griff. »Ich habe Hunger!«

Zum ersten Mal an diesem Abend sah ihre Mutter sie an und sie entdeckte nichts als Missbilligung und Widerwillen in den regenwassergrauen Augen. »Ein bisschen Hunger wird dir nicht schaden.« Sie ließ ihren Blick über Imogens Oberkörper gleiten, so dass sie sich nackt fühlte.

Imogen aß gern und das sah man ihr leider an. Nun war sie nicht so dick wie Tante Sumina, die in einer Kutsche eine Bank für sich allein beanspruchte, aber sie konnte es mit ihren achtzehn Wintern auch nicht mehr als Babyspeck abtun.

»Du kannst sie doch nicht ohne Abendessen ins Bett schicken«, schaltete sich ihre Schwester ein. Namys war wie ihre Mutter schlank und hochgewachsen und wunderschön. Sie hatte lange, blonde Haare, die ihr in akkuraten Locken um den Kopf gelegt waren. Der Blick aus ihren blauen Augen wirkte immer ein bisschen amüsiert und voller Lebensfreude. Sie hatte makellose Haut und einen rosigen Teint, wohingegen Imogen oft blass wirkte. Fahl.

Auch Imogen hatte blonde Haare, ihre hatten jedoch eher einen verwaschenen Blondton, als wollten sie sich lieber in einen grauen Nebel hüllen, anstatt wie die Sonne zu strahlen. Ihre Augen hätten ein Farbtupfer in dem rundlichen Gesicht sein können, aber sie waren so grau wie die ihrer Mutter. Farblos. Nichtssagend.

»Willst du sie begleiten?«, fragte Mutter.

Namys seufzte und warf Imogen einen entschuldigenden Blick zu. Sie nickte ihr zu, wusste ihren Versuch zu schätzen. Doch gegen die Herzogin kam nicht einmal Namys an, der Liebling der Familie, der sogar ungestraft Widerworte geben durfte. 

»Nein, Mutter.«

Sie beneidete ihre jüngere Schwester und wäre gern wie sie. Hübsch, aufgeweckt, klug. Zwar las Imogen viel, aber meist blieben eher die sinnlosen Informationen in ihrem Kopf hängen – oder sie brauchte zu lange, um sie herauszufiltern und in Worte zu kleiden. Worte, die ihrer Schwester so leicht und schlagfertig über die Lippen kamen, als würden sie in ihrem Mund ungeduldig darauf warten, herausgelassen zu werden. In Imogens Mund befand sich nur Leere. Ebenso wie in ihrem Magen, der erneut knurrte, als sie die Suppe in die Schüssel plätschern hörte. Ihre Suppe.

»Du kannst dann gehen, Imogen.«

Ihr Vater hatte die ganze Zeit geschwiegen, als ginge ihn das nichts an. So war es immer. Der Herzog von Banenth hatte nicht das Rückgrat seiner Frau. Und da sie ihm regelmäßig über den Mund fuhr, hatte er irgendwann aufgegeben, sich einzumischen. Imogen hatte lange Zeit darauf gehofft, dass er sich für sie starkmachen würde. Mittlerweile war die Enttäuschung darüber, dass dieser Tag nie gekommen war, in Verachtung umgeschlagen. Sie wusste, es gehörte sich nicht, seine Eltern zu hassen, aber sie hätte ihm gern mal die Meinung gesagt. Ihm gesagt, wie enttäuscht sie von ihm war, wie armselig sie es fand, dass er sich derart kleinmachen und herumkommandieren ließ. Und dass sie sich für ihn schämte. Sich schämte, so einen Mann als Vater, noch dazu als Herrscher über ein, wenn auch kleines Reich zu haben. Ihnen beiden hätte sie das gern gesagt!

Aber dieser Tag würde nie kommen, das wusste Imogen, denn sie war selbst feige und ließ sich kleinmachen und herumkommandieren …

Offenbar stimmte das Sprichwort, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fiel.

Langsam erhob sie sich, straffte die Schultern und unterdrückte die Tränen, die schmerzhaft hinter ihren Augen brannten. Haltung bewahren. Immer Haltung bewahren. Die Worte ihrer Mutter glühten in ihrer Seele.

Es gelang ihr nicht, natürlich nicht. Eine Träne fand doch den Weg nach draußen, just in dem Moment, als ihre Mutter aufblickte. Hastig wischte Imogen sie weg und wandte sich ab. Dennoch hatte die Herzogin diesen erneuten Beweis der Schwäche und Unzulänglichkeit ihrer Ältesten gesehen.

Mit erhobenem Haupt ging Imogen zur Tür. Nicht zu schnell, obwohl sie am liebsten gerannt wäre. Sie war eine einzige Enttäuschung. Die Erkenntnis hatte deutlich in der harten Miene ihrer Mutter gelegen. Eine Enttäuschung …

 

Um sich nicht noch mehr Ärger einzuhandeln, stellte Imogen die Stickerei an ihrem Hochzeitskleid an diesem Abend fertig. Eine unsinnige Arbeit. Immerhin war kein Gemahl für sie in Sicht.

Es hatten sich etliche vorgestellt, aber bislang war keine – für die Herzogin – annehmbare Vereinbarung zustande gekommen. Imogen selbst hatte bei der Wahl ihres Ehemannes nicht mitzureden. Sie durfte bei diesen Treffen immer nur dabeisitzen, hatte nett zu lächeln und hübsch auszusehen und bei der passenden Gelegenheit etwas Geistreiches einzuwerfen. Aber nicht zu geistreich. Nicht, dass ihr potenzieller Zukünftiger den Eindruck bekäme, sie wäre ihm an Intelligenz überlegen und hätte womöglich eine eigene Meinung, die – Helveta bewahre! – von seiner abwich.

Imogen bemühte sich ein ums andere Mal, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Denn sie wollte unbedingt heiraten und fort aus Banenth. Weg von ihrer Mutter, die jeden ihrer Schritte überwachte und lenkte. Wenn sie erst einen Gemahl und ihren eigenen Haushalt hatte, würde niemand ihr mehr reinreden und sie könnte so viel Zeit mit Lesen verbringen, wie sie wollte. Denn natürlich würde ihr Ehemann sie anbeten und sie würde ihm eine gute Gattin sein, sich um alles kümmern und, nun ja, was Ehefrauen ebenso taten.

Deshalb gab sie sich während dieser Gespräche die größte Mühe. Und versagte dennoch meist auf ganzer Linie. Einzig, was die zurückhaltende Konversation anging, konnte sie punkten, denn die fand schlichtweg nicht statt. Ihr wollte einfach nie etwas einfallen, was sie sagen konnte, weshalb sie für gewöhnlich schwieg – und sich ihren Teil dachte.

Aber auch das schien nicht das zu sein, was die Männer wollten, denn allzu oft schielten die stattdessen nach ihrer jüngeren Schwester, die jedoch verlobt war und in wenigen Monaten heiraten würde. Es war nicht schwer gewesen, für Namys einen Gemahl zu finden. Imogen freute sich für ihre Schwester, obschon sie Angst vor dem Moment hatte, wenn sie das Haus verließ und Imogen allein zurückblieb.

Ihre Schwester nahm immer alles leicht, schaute mit Freude und Zuversicht in die Zukunft, sah das Leben als ein nie enden wollendes Abenteuer, das nur darauf wartete, von ihr erlebt zu werden. Namys erinnerte sie ein bisschen an die Helden in den Büchern, die sie gern heimlich las: unerschrocken, unaufhaltsam und, im Gegensatz zu Imogen, mit allen Vorzügen und der nötigen Portion Glück gesegnet.

 

***

 

Widerwillig ließ sich Imogen am Nachmittag von Namys aus der Burg und hinunter in die Stadt ziehen. Die Sonne war nach drei Tagen endlich hinter den grauen Wolken hervorgekommen und hatte den hartnäckigen Nieselregen vertrieben. Vorerst. Das Wetter im Süden von Bruhém wechselte schnell. Seine einzige Beständigkeit lag in der Unbeständigkeit, sagte ihre Zofe Magda immer. Imogen kümmerte es nicht so sehr, sie ging ohnehin nicht gern raus. Vor allem nicht in die Stadt.

Die eng beieinanderstehenden grau verfärbten Häuser und schmalen Gassen, durch die stetig ein kalter Wind pfiff, in Verbindung mit zu vielen Menschen lösten Beklemmung in ihr aus. Vor allem auf dem gut besuchten Marktplatz, zu dem Namys sie ohne Rücksicht zog. Obwohl jeder wusste, wer sie waren, und man sich bemühte, ihnen beiden Platz zu machen, blieb das Gefühl von Enge. Die lauten Geräusche – Gespräche der kaufwilligen Kunden, das Schnattern und Gackern der zum Verkauf stehenden Hühner und Gänse, wiehernde Pferde, schimpfende Passanten und Händler, die lautstark ihre Ware anpriesen – verstärkten diesen Eindruck. Imogen wäre lieber zu Hause geblieben, aber da war die Stimmung auch nicht besser.

Sie hatte ihrer Mutter das fertig bestickte Kleid präsentiert, das die jedoch kaum zur Kenntnis genommen hatte, und sich dann nur sehr zurückhaltend von der wie immer reich gedeckten Frühstückstafel bedient. Obwohl sie wie ausgehungert war. Immerhin hatte sich ein weiterer Kandidat angekündigt, der sie begutachten wollte, und Mutter hatte sie streng angehalten, sich gut vorzubereiten und von ihrer besten Seite zu zeigen.

Herzog Phimald Silir aus dem Norden Bruhéms war zwar kein junger Mann mehr, aber einer mit guten Verbindungen. Sein Herzogtum lag an der Grenze zum benachbarten Keradon und angeblich belieferte er Königin Laivina von Keradon persönlich mit edlen Glaswaren, die in seinen Glasbläsereien hergestellt wurden. Das war tatsächlich eine Besonderheit, denn zwischen ihren beiden Königshäusern herrschte tiefe Abneigung. Königin Laivina machte es Bruhéms Kaufleuten zusätzlich schwer, indem sie die zeitaufreibenden Grenzkontrollen noch verstärkte und die Zölle willkürlich erhöhte.

»Du solltest dir einen künstlichen Schönheitsfleck zulegen«, sagte Namys und zog Imogen zu dem ersten Stand auf dem Marktplatz, an dem es bunte Bänder und Haarschmuck aus Stoffblumen zu kaufen gab. »Das soll der neueste Schrei am Spiegelpalast sein. Und wenn du bald nach Keradon heiratest, wird dich dein Ehemann bestimmt mal auf einen Ball von Königin Laivina mitnehmen.« Sie sah Imogen mit funkelnden Augen an.

»Der Herzog wohnt doch gar nicht in Keradon, sondern an der Grenze. Und wenn ich das richtig verstanden habe, ist er nur hier, um mit Vater irgendeinen Handel abzuschließen. Und hat gar kein Interesse an einer Heirat.«

Namys winkte ab. »Das spielt keine Rolle. Er ist verwitwet und eine gute Partie. Setze deine Reize ein, dann kann er nicht widerstehen.« Sie hielt ihr ein rosa Band hin. »Hier, das bindest du dir als Schleife um den Hals und lässt das Ende zwischen deinen Brüsten verschwinden, damit der Herzog nur dorthin sieht.« Sie kicherte.

Imogen knuffte sie in die Seite und legte das Band zurück in die Auslage. »Der Herzog ist ein alter Mann, schon über vierzig, und lässt sich mit sowas bestimmt nicht ködern.«

»Unsinn«, widersprach Namys und zog sie weiter. »Männer sind alle gleich. Egal welchen Alters.«

»Du musst es ja wissen«, murmelte Imogen und stieg mit einem großen Schritt über eine Pfütze hinweg. Dennoch sank ihr Absatz tief in den Morast ein. Dafür würde sie von Mutter bestimmt wieder Schelte bekommen. Neidisch sah sie ihrer Schwester hinterher, die leichtfüßig um die matschigen Stellen herumtänzelte und den Eindruck erweckte, als ob ihre Füße kaum den Boden berührten. Wie eine Fee, von denen Imogen so oft gelesen hatte. Ein magisches Wesen, manchmal sogar mit Flügeln ausgestattet, lieblich und wunderschön, dessen Gesang verzaubern konnte.

Im Gegensatz zu Namys fühlte sich Imogen wie ein Bergtroll. Sie hatte zwar noch nie einen gesehen, Bruhém besaß keine Berge, höchstens grüne Erhebungen, war aber überzeugt davon, dass es plumpe, schwerfällige Wesen waren. Mit einem sanften Gemüt, hoffte sie, denn sonst wären sie ja doppelt gestraft. Vielleicht waren sie sogar Künstler, heimlich in ihren Berghöhlen. Sie musste lächeln bei der Vorstellung und wäre fast über etwas am Boden gestolpert.

Erschrocken blickte sie auf den Haufen Lumpen, den sie erst beim näheren Hinsehen als Kind erkannte. Ein Knabe, kaum älter als acht Winter, der ihr eine dreckige Hand entgegenstreckte. Sein Arm war dünn wie ein Blumenstängel, die dunklen Haare standen ihm schmutzverkrustet vom Kopf ab. Und er trug keine Schuhe. Auch seine Kleidung war kaum als solche zu erkennen. Welche Eltern ließen denn ihr Kind in so einem Aufzug herumlaufen? Noch dazu am Markttag? Imogen sah sich nach einer Frau oder einem Mann um, die zu dem Jungen gehören mussten, entdeckte aber niemanden.

»Bitte«, sagte der Junge und sah verzweifelt zu ihr auf. »Nur eine Münze. Für ein Stück Brot.«

»Komm weiter, Imogen.« Namys packte sie am Arm und zog sie energisch fort.

Imogen stolperte hinterher und drehte sich dabei noch einmal zu dem Knaben um, der von einem der Händler rüde fortgescheucht wurde.

»Hast du den Jungen gesehen?«, fragte sie. »Ich glaube, er war ganz allein hier.«

»Unsinn«, wehrte Namys ab. »Wahrscheinlich sind seine Eltern nur zu faul zum arbeiten und haben ihn betteln geschickt. Weil die Leute mit ihm eher Mitleid haben als mit einem Erwachsenen. In Banenth gibt es überall Arbeit, sagt Mutter, wenn man denn arbeiten will.«

 

Imogen war froh, als sie wieder in der Burg war.

Vielleicht wäre es das Beste, sie würde einen Bibliothekar heiraten. Sie hatte davon gelesen, dass es im Königreich Awingen weit im Norden Sithias riesige Bibliotheken geben sollte. Größer, als sie sich vorstellen konnte, mit mehr Büchern, als sie zu zählen imstande war. Alles Wissen aus ganz Sithia war von den Awinger Gelehrten zusammengetragen und dort hingebracht worden. Dorthin sollte sie verheiratet werden.

Ihrer Mutter mit diesem Vorschlag zu kommen, war jedoch sinnlos. Mutter hatte kein Interesse an Wissen, sondern lediglich an ihrer gesellschaftlichen Stellung. Was musste es für eine Enttäuschung für sie gewesen sein, als man sie selbst ausgerechnet nach Banenth verheiratet hatte. Einem entlegenen und verschlafenen Flecken umgeben von Mooren und Schafherden, in dem man an manchen Tagen nicht einmal die Fenster öffnen konnte, wenn der Wind ungünstig stand und den Gestank der Färbereien zu ihnen hinauftrug. Weit weg von dem sagenumwobenen Schloss von Königin Esta Yesnan, der Märchenkönigin, wie sie oft tituliert wurde. Dorthin wünschte sich ihre Mutter und seit Imogen denken konnte, arbeitete sie darauf hin, über ihre Töchter an einen der großen und feinen Höfe Sithias zu kommen.

Wie gut, dass sie nie Söhne gebar, denn dann wäre dieser Traum von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber eine Tochter … eine Tochter konnte man gewinnbringend verheiraten. Verkaufen, schoss es Imogen in den Kopf, doch sie schob den Gedanken rasch fort. Sie wollte ja heiraten. Besser früher als später.

 

***

 

»Muss ich unbedingt mitkommen, Mutter?« Verzagt betrachtete Imogen das Pony, das sie aus einem Auge von der Seite musterte.

»Ein Ausritt wird dir guttun. Und deiner … Haltung.« Mutter bedachte sie mit einem abwertenden Blick, der auffallend lange auf ihrer Mitte verharrte.

Imogen seufzte und gab sich geschlagen. Es hatte ja doch keinen Sinn zu rebellieren.

Sie ließ sich von einem Stallburschen in den Sattel helfen, ordnete ihre Röcke über den Beinen und nahm die Zügel zur Hand. Die Stute senkte missmutig den Kopf. Mixi war ein altes Pony und glücklicherweise nicht so temperamentvoll wie Namys’ schwarzer Hengst und längst nicht so groß wie Mutters edle Stute. Dennoch fühlte sich Imogen unwohl auf ihrem Rücken.

Reiten kam ihr falsch vor, obwohl alle es taten und es quasi zum guten Ton gehörte. Pferde und Ponys mochten Imogen nicht und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie hatte Respekt vor den großen, schweren Leibern, vor allem vor den Hufen, mit denen sie einem Mann sogar den Schädel zertrümmern konnten. Diese Tiere waren unberechenbar. Selbst wenn sie den Anschein erweckten, auf die Befehle ihres Reiters zu hören, war Imogen davon überzeugt, dass sie nur auf den richtigen Moment warteten. Ein Augenblick der Unachtsamkeit und sie würden sich ihre Freiheit zurückholen, ihren Reiter abwerfen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Mutter und Namys setzten ihre Pferde mit einem einzigen leisen Schnalzen in Bewegung, während Mixi erst nach einem Klaps vom Stallburschen lostrottete. Eigentlich war es Imogen ganz recht, dass das Vieh so faul war, aber ein böser Blick ihrer Mutter veranlasste sie dennoch dazu, Mixi mit der Gerte kräftig anzutreiben. Die Stute schloss überraschend hastig zu den anderen auf, verfiel dann jedoch wieder in ihren gemütlichen Gang.

Der Bursche hinter ihr, der sie bei jedem Ausritt begleitete, kicherte leise.

Imogen stöhnte und trieb das Pony erneut an. Das würde ein sehr anstrengender Ausritt werden.

 

Während Namys aufgeregt plapperte und ihren Hengst so mühelos führte, als wäre sie mit seinem schwarz glänzenden Rücken verschmolzen, musste Imogen immer wieder Mixis Kopf hochreißen, wenn die im Vorbeigehen nach besonders saftigen Halmen schnappte.

»Du bist störrischer als ein Esel«, zischte sie der Stute zu, deren Ohren nach hinten zuckten, als würde sie sie tatsächlich verstehen.

»Beeilung, Imogen«, rief Mutter nicht zum ersten Mal, ohne sich auch nur umzusehen, und trieb ihre Stute zu einer schnelleren Gangart an.

Rasch tat Imogen es ihr nach, woraufhin Mixi in einen hoppelnden Trab verfiel. Es war die reinste Qual und schon bald war Imogen aus der Puste. Ihr taten der Hintern und die Beine weh von dem unbequemen Sitz und dem kontinuierlichen Antreiben und sie sehnte sich danach, wieder nach Hause zurückzukehren.

Bei ihrem letzten Besuch in der Bibliothek hatte sie ein Buch über Magie gefunden. Imogen wusste, dass die sagenumwobenen Nifrim und sogar einige besonders gesegnete Menschen Magie wirken konnten, doch hatte sie es noch nie gesehen. Überhaupt hatte sie noch nie einen dieser Abkömmlinge der Götter kennengelernt. Aber was sollten sie schon in Banenth? Hier gab es außer Schafen und Mooren nicht viel.

Mutter hielt das alles zudem für Unfug und nicht charakterbildend und hatte dafür gesorgt, dass es im ganzen Herzogtum verboten worden war. Wer dennoch Magie wirkte, wurde hart bestraft. Selbst Bücher über Magie und die Nifrim hatte sie allerorts verbrennen lassen, aber dieses offenbar übersehen.

Zu gern wollte Imogen über solch magische Fähigkeiten verfügen, wie sie in dem Buch angedeutet wurden. Dann könnte sie sich herbeizaubern, was auch immer sie wollte. Könnte sich sogar schlanker und ansehnlicher wünschen, damit Mutter endlich zufrieden war und nicht mehr an ihr herummäkelte. Vielleicht fand sie ja einen Spruch, der ihr Schlagfertigkeit und Witz verlieh, sodass sich die Männer darum reißen würden, sich mit ihr zu unterhalten und zu ihren Gesellschaften eingeladen zu werden. Natürlich würde sie dann den Mann heiraten können, der ihr gefiel – oder sie verzauberte ihn einfach so weit, bis er ihr gefiel …

Sie kicherte leise bei der Vorstellung, dass ihr, wenn sie Magie wirken könnte, wahrlich die Welt offenstehen würde, und wurde jäh aus ihren Träumereien gerissen, als zwei Berittene auf dem Weg vor ihr erschienen. Mixi blieb so abrupt stehen, dass Imogen das Gleichgewicht verlor und herunterfiel. Die Stute senkte unbeeindruckt den Kopf und fing an zu grasen.

Hastig sah sie sich nach dem Stallburschen um, entdeckte aber nur einen weiteren fremden Mann. Er wischte ein langes Messer an seiner dreckigen Kniehose ab, ehe er es in eine Scheide an seinem Gürtel steckte. Imogen hatte es dennoch rot schimmern sehen. Blutrot.

»Na, was haben wir denn da?« Einer der Männer hatte seinen Rappen zu ihr gelenkt und sah sie gierig über das schmierige Tuch hinweg an, das er sich um Mund und Nase gebunden hatte. Sein Blick glitt an ihr entlang, tastete jeden Zoll der eng geschnittenen Reitjacke und der von dem Sturz halb entblößten Beine ab.

Instinktiv raffte Imogen die Röcke enger um sich, hatte trotzdem das Gefühl, als würde sie nackt vor ihm sitzen.

»Ein feines Prinzesschen.«

Sie schauderte.

»Lasst mein Pferd los!«, rief ihre Mutter.

Sie und Namys wurden von zwei weiteren Männern an den Zügeln herangezerrt. Auch die hatten die unteren Hälften ihrer Gesichter verhüllt, an der abgewetzten, schmutzigen Kleidung erkannte Imogen nichtsdestotrotz, dass es keine Ehrenmänner waren, ja, nicht einmal Stadtbewohner. Selbst die achteten besser auf ihr Erscheinungsbild. Wahrscheinlich waren es Landstreicher oder, schlimmer noch, Räuber!

Erschrocken sah sie zu Mutter auf, die wütend an den Zügeln riss, die der Kerl mit dem Schlapphut mit eisernem Griff hielt. Namys war blass geworden. Ihre Augen waren riesig und ihre Angst nicht zu übersehen. Auch Imogen hatte Angst, bei diesem Anblick jedoch verkrampfte sich alles in ihr und sie wäre ihrer Schwester am liebsten zu Hilfe geeilt. Aber ihr Körper war wie gelähmt.

»Da haben wir ja eine schöne Beute gemacht«, sagte einer der Räuber, der sein Pferd etwas abseits angehalten hatte und offenbar der Anführer war. »Die drei Mädels werden eine ordentliche Stange Geld bringen.«

Der Gesetzlose griff nach Namys Kinn. »Schöne Haut hat die hier. So weiß und weich.« Er streckte die Zunge heraus und beugte sich zu ihr vor, als wolle er ihr über die Wange lecken.

»Finger weg von ihr!«, rief Mutter und funkelte ihn zornig an.

Er lachte. »Na, und die is ne echte Wildkatze. Nich mehr ganz jung, aber auch die wird ihre Kunden finden.«

»Mutter?«, wimmerte Namys und verdrehte die Augen wie ein verängstigtes Reh.

»Nehmt sie mit«, bestimmte der Anführer.

»Auf keinen Fall!«, rief Mutter mit hoch erhobenem Kopf. »Wisst ihr überhaupt, mit wem ihr es zu tun habt? Ihr werdet uns sofort gehen lassen, oder ich werde euch an den Galgen bringen!«

Insgeheim bewunderte Imogen sie für ihren Mut. Einen Mut, den sie selbst nicht aufbringen konnte. Immerhin saß sie mit dem Hintern im Dreck und wagte nicht einmal zu atmen.

»Sonst was?«, fragte der Mann und lehnte sich in seinem Sattel vor. Seine Augen funkelten dabei unheilvoll und gnadenlos. »So wie ich das sehe, seid ihr ganz allein, Madame. Ihr und eure zwei hübschen Töchter. Oder habt ihr ne Armee in den Büschen versteckt?«

Seine Kumpane lachten.

»Wohl nicht«, fuhr er fort. »Also, wer soll uns dran hindern, euch drei Hübschen einfach mitzunehmen? Ihr?«

Imogen hielt die Luft an, während ihr vollends bewusstwurde, wie hilflos sie waren.

Noch nie hatte es hier Probleme mit Räubern gegeben, sonst hätten sie bewaffnete Begleitung mitgenommen, anstelle eines Stallburschen. Banenth war ein sicheres Herzogtum und lag viel zu weit abseits, um für irgendwen interessant zu sein.

Mutter hatte die Lippen fest zusammen gekniffen, sodass sie einen wütenden Strich in ihrem ohnehin harten Gesicht bildeten. Plötzlich straffte sie den geraden Rücken, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. Sie hieb mit ihrer Reitgerte auf den Mann neben Namys ein, der vor Schreck nicht nur die Zügel losließ, sondern fast vom Pferd fiel. Dann nahm sie sich rasch den Kerl links von sich vor. Schlug erst ihn ins Gesicht und dann dem Tier auf die Ohren. Das Pferd machte einen Satz zur Seite und sein Reiter hatte Mühe, die Kontrolle zu behalten.

Mutter drehte sich um und hieb die Gerte nun auf Namys’ Hengst, ehe sie ihrer Stute die Sporen gab. Beide waren so gut erzogen, dass sie sofort reagierten und an Imogen vorbeipreschten. Mutter warf ihr einen bedauernden Blick zu – hielt aber nicht an.

Imogen wirbelte herum und kam auf die Knie hoch. »Mutter! Nehmt mich mit!« Sie stand hastig auf und lief auf Mixi zu, doch das blöde Vieh sah sie kommen und nahm ebenfalls Reißaus, den anderen hinterher.

Fassungslos starrte sie ihnen nach.

»Sieht so aus, als wärst du nich gerade ihre Lieblingstochter«, höhnte der Anführer hinter ihr. »Nehmt sie mit. Besser eine als keine. Und dann lasst uns von hier verschwinden.«

Jemand packte sie grob und wollte sie zu einem anderen Mann auf das Pferd heben. Nur halbherzig wehrte sie sich dagegen – vor allem gegen den ungewohnten Spreizsitz. Aber nach einem Schlag ins Gesicht ließ sie auch das sein. Der Reiter zerrte sie vor sich und griff sie um die Taille. »Nur keine Mätzchen!« Sein fauliger Atem schlug ihr ins Gesicht.

Imogen fühlte sich wie betäubt. Sie hatten sie zurückgelassen. Mutter hatte sie einfach ihrem Schicksal überlassen! Tränen rannen ihr heiß über die Wangen, während sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog und ihr Verstand versuchte zu verstehen, was gerade passiert war.

Kapitel 2

 

Sie befand sich an einem Ort.

Es war weder warm noch kalt, weder hell noch dunkel.

 

 

Es war bereits Nacht, als sie in einem Lager ankamen, das sich tief in den Wäldern versteckte. In der Dämmerung hatten sie den befestigten Weg verlassen und waren durch unebenes Gelände geritten. Imogen hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Sie war nie aus Banenth herausgekommen und hätte nicht einmal sagen können, welche Himmelsrichtung sie eingeschlagen hatten. Noch immer war sie wie erstarrt, konnte nicht fassen, dass Mutter und Namys sie zurückgelassen hatten.

Das Lager lag gut verborgen in einer kleinen Senke und bestand aus ein paar einfachen Schlafzelten, provisorisch aus frisch geschlagenen Ästen und alten Planen errichtet, und einem Pferdewagen, auf dem sich Säcke und Kisten stapelten. Diebesgut, wie Imogen vermutete.

In der Mitte der kleinen Lichtung brannte ein Feuer, das niedrig gehalten wurde, um ihre Position nicht zu verraten. Zwei weitere Räuber standen mit gezogenen Waffen daneben, die sie aber wegsteckten, als sie die Ankömmlinge erkannten.

Der eine war blond und hatte gleich mehrere Pistolen in seinem Gürtel stecken, was Imogen ziemlich unsinnig fand. Immerhin hatte er nur zwei Hände. Außerdem ein langes Messer in einer reich verzierten Scheide, die er bestimmt einem wohlhabenden Mann abgenommen hatte. Er war sehr groß und breit gebaut wie ein Schrank, sein Blick war grimmig, die Lippen hinter einem struppigen, ebenfalls blonden Bart verborgen, dennoch wusste sie, dass er nicht lächelte. Es vermutlich nie tat. Er strahlte nicht nur eine natürliche Autorität aus, sondern zudem eine kalte Brutalität, wie Imogen es noch nie bei jemandem gesehen hatte. Nicht einmal bei einem der verurteilten Verbrecher, zu deren Hinrichtung sie manchmal hatte gehen müssen.

Der Mann daneben wirkte ebenso gefährlich und grobschlächtig, obwohl er kleiner war. Sein Kopf war kahl, der schwarze Bart dafür umso üppiger. Auch er trug Pistolen und Messer am Gürtel, hielt dazu noch eine Muskete in der Hand, die er nun zwischen seinen Füßen abstellte und sich leicht darauf stützte.

»Broger«, sagte der Blonde zu dem Anführer ihres kleinen Trosses. »Ihr seid spät dran.«

»Dafür ham wir einen guten Fang mitgebracht«, erwiderte Broger, während er von seinem Pferd abstieg und dem Blonden einen Beutel hinhielt, der bis eben an seinem Sattel gehangen hatte. Er war prall gefüllt und es klimperte leise, als der ihn in der Hand wog. »Gold und einige Schmuckstücke. Doch das Beste wird dir noch besser gefallen, Ragef.« Er winkte in ihre Richtung.

Der Mann hinter Imogen stieg ab und zerrte sie dann ebenfalls aus dem Sattel. Sie strauchelte, als sie unten ankam, weil ihre Beine taub geworden waren vom langen Reiten, und fiel auf die Knie. Der Kerl riss sie an den Haaren wieder hoch. Schmerz schoss durch ihre Kopfhaut und sie beeilte sich, auf die Füße zu kommen, ehe er ihr die Haare samt Haut vom Kopf reißen konnte. Angst schnürte ihre Kehle zu, sodass sie nicht einmal schreien konnte. Furchtsam blickte sie in die Gesichter der anderen Kerle, wusste aber sofort, dass von ihnen keine Hilfe zu erwarten war.

»Ein verwöhntes Adels-Töchterchen. Drall und mit nem ordentlichen Vorbau«, pries Broger sie stolz an und zerrte sie vor seinen Anführer.

Ragef wirkte nicht begeistert. »Man wird sie suchen.«

Broger schüttelte den Kopf. »Wir sind vorsichtig gewesen. Kennst uns doch. Möglich, dass sie nen Suchtrupp losgeschickt ham, aber wir sind wie Helvetas Knochendrache geritten und ham die Augen offengehalten. Keiner is uns gefolgt.«

Der Anführer nickte, packte Imogen am Kinn und riss ihren Kopf hoch, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Sein Blick war grausam und eiskalt, als hätte er schon zu viel Leid gesehen – das meiste davon vermutlich selbst verursacht. Mitleid und Mitgefühl hatte er sich schon vor langer Zeit abgewöhnt, sagte dieser Blick.

Imogen schauderte.

Sie hatte von solchen Leuten gehört. Männer, die nichts mehr zu verlieren hatten. Die weder Recht noch Anstand achteten. Ausgestoßene. Gesetzlose.

»Bist du noch Jungfrau?«, fragte Ragef. Er hatte eine tiefe Stimme, bar jeder Emotion.

Imogen riss erschrocken die Augen auf. Weitere schreckliche Bilder kamen in ihr hoch, die sie sofort energisch verdrängte.

»Kannst du nicht sprechen? Antworte mir, wenn ich dich was frage, Mädchen!«

Imogen nickte ängstlich.

»Hervorragend. Broger, bring sie zu den anderen. Gut gemacht.« Er gab ihr Kinn frei und wandte sich mit erhobener Stimme an die Umstehenden: »Dass sie mir keiner anrührt! Unversehrt ist sie mehr wert. Verstanden?«

Widerwilliges Gemurmel erhob sich und Imogen erkannte an den enttäuschten und wütenden Blicken der anderen Gesetzlosen, dass es ihnen nicht passte. Sie hoffte, dass ihr Anführer genug Autorität besaß und es niemand wagen würde, sich über seine Anweisung hinwegzusetzen.

Broger griff sie am Arm und zerrte sie mit schnellen Schritten quer über den Platz, sodass sie Mühe hatte mitzuhalten. Zwischen zwei kleinen Zelten, direkt vor einem hoch aufragenden Felsen hockten weitere Gefangene eng beieinander und zogen die Köpfe ein, als sie näher kamen. Entsetzt zählte Imogen bestimmt fünfzehn Frauen und sogar zwei Kinder. Beide kaum älter als zehn Winter!

Broger stieß Imogen grob zu Boden, riss sie dann aber noch einmal hoch. »Nur weil Ragef sagt, wir dürfn dich nich anrühren, heißt es nich, dass wir dir nich anders wehtun können. Also benimm dich!« Er grinste sie mit fauligen Zähnen an. Dann ließ er sie los und gab einem anderen Mann ein Zeichen, den sie bisher nicht bemerkt hatte. »Espen, fessle sie. Und sei nett zu ihr.« Broger lachte und überließ sie dem neuen Kerl.

Der trat zu ihr und legte ihr eiserne Schellen um die Fußknöchel, die er mit der Kette einer wimmernden Frau neben ihr verband. Dann verpasste er ihr einen Fußtritt in den Magen. Imogen schrie und sackte vornüber. Galle kam in ihr hoch und sie erbrach sich auf den Boden vor ihr.

Imogen brauchte eine Weile, bis sie den Schmerz und die Übelkeit überwunden hatte, und sich wieder aufrichten konnte. Tränen rannen ihr über das Gesicht, brannten zusammen mit der Scham und der Angst wie Feuer auf ihrer eiskalten Haut. Zögerlich blickte sie sich zu den anderen gefangenen Frauen um.

Sie waren unterschiedlichen Alters, manche bereits weit über dreißig. Die meisten trugen einfache Kleidung, teilweise zerrissen, und Imogen fragte sich, woher sie wohl stammten und wie lange sie mit diesen Räubern unterwegs sein mochten.

Einige erwiderten ihren Blick und was Imogen in ihren Augen sah, ließ sie innerlich derart frösteln, dass sie rasch den Kopf abwandte und die Arme um sich schlang. Angst und Hilflosigkeit hatte sie erwartet, aber nicht diese Resignation. Keine der Frauen schien daran zu glauben, dass es gut für sie ausgehen würde.

Was auch immer diese Kerle mit ihnen vorhatten, sie würden dem nicht entkommen.

Sie hatten aufgegeben.

Ohne es zu wollen, kamen Imogen die Worte ihrer Mutter in den Sinn. Reiß dich zusammen, Imogen. Eine Herzogin jammert nicht herum, sondern zeigt Haltung. Jederzeit!

Mit zitternden Händen wischte sie sich die Tränen ab, strich ihren Rock glatt und richtete sich auf, soweit die Schmerzen es zuließen. Haltung bewahren. Nur der äußere Schein zählt, was sich dahinter verbirgt, hat niemanden zu interessieren.

Sie sah zu Espen hin, der auf einem Baumstumpf in der Nähe hockte. Er grinste und entblößte eine Reihe brauner Zähne. Dann hob er die Hand zu einer obszönen Geste. Hastig wandte Imogen den Blick ab und suchte auf dem Waldboden um sich herum nach etwas, das sie als Waffe benutzen könnte. Doch sie fand nichts. Weder einen Ast, noch einen größeren Stein.

Sie betrachtete ihre Eisenfesseln und begriff, warum die anderen Frauen so hoffnungslos wirkten. Niemals würde sie sich aus denen befreien können. Nicht ohne Schlüssel.

 

***

 

Sie musste trotz Kälte und Angst eingeschlafen sein, denn ein schmerzhafter Tritt in die Seite holte sie in die nackte Wirklichkeit zurück.

»Hoch mit euch!« Espen stand vor ihr und den anderen Gefangenen. Er sah übermüdet und mürrisch aus.

Imogen beeilte sich, auf die Beine zu kommen, was mit den Fesseln und ihren steifen Gliedern gar nicht so leicht war. Sie brauchte zwei Anläufe und schaffte es erst, als eine der Frauen ihr half.

»Danke«, flüsterte Imogen und warf ihr einen dankbaren Blick zu.

Die Frau war bestimmt zehn Winter älter als sie, hatte ein herzförmiges Gesicht und braune Haare, die ihr verfilzt und vor Dreck starrend bis auf die Schultern fielen. Sie trug eine Jacke aus grobem Leinen, die an einigen Stellen mit andersfarbigen Stoffstreifen geflickt war, und unter der eine einstmals weiße Bluse hervorlugte. Ihr Rock war bis zu den Knien hoch dunkel vor Schmutz, die darüber gebundene Schürze sah nicht besser aus.

»Ich bin Brita«, stellte sie sich vor. Ihre Stimme klang sanft und freundlich. Wie die einer liebenden Mutter.

Imogens Herz verkrampfte sich schmerzhaft, als sie daran dachte, dass sich ihre Mutter nie so angehört hatte. »Imogen.«

»Los jetzt! Bisher bist du verwöhnt worden, Prinzessin, aber das ist nun vorbei!«, herrschte Espen sie an, verpasste ihr einen Stoß und trieb dann auch die anderen Frauen mit einem Stock zusammen. Wie Vieh.

Die Sonne war gerade im Begriff, sich aus ihrem Nachtlager zu erheben. Noch hing der Frühnebel wie eine luftige Decke über dem Lager, hielt sich hartnäckig zwischen den Bäumen und schien weitere Schrecken parat zu haben. Die Kälte war Imogen in die Glieder gekrochen und ihre Bewegungen fühlten sich ungelenk an. Sie fror, war hungrig und hatte das dringende Bedürfnis, sich zu erleichtern, auch wenn es Stunden her war, dass sie zuletzt etwas getrunken hatte.

Die provisorischen Zelte waren abgebaut, die Pferde gesattelt oder vor den Wagen gespannt. Espen zerrte Imogen und die übrigen Gefangenen dorthin und band den ersten beiden die Arme zusammen. Das Ende des Seils befestigte er an der Rückseite des Gefährts, das sich wenig später mit einem Ruck in Bewegung setzte.

Die beiden Frauen liefen los, um nicht mitgeschliffen zu werden. Und alle anderen bemühten sich, ihre Schritte den ihren anzupassen, denn ihre gefesselten Beine waren in Zweierreihen miteinander verbunden.

Jedes Mal, wenn die Frau vor Imogen einen Schritt tat, ging ein Ruck durch ihr Bein und brachte sie beinahe aus dem Gleichgewicht. Die Frau lief unregelmäßig, als wäre sie zu schwach oder verletzt, und es dauerte eine Weile, bis sich Imogen an ihren Rhythmus angepasst hatte und nicht bei jedem Schritt fast von den Beinen gerissen wurde.

Auch dabei war Brita ihr eine Hilfe, denn sie ging hinter ihr und hielt Imogen immer wieder fest, wenn sie ins Straucheln kam.

Erst, nachdem sie sich nicht mehr nur auf das Laufen konzentrieren musste, konnte sie sich das erste Mal umsehen.

Die Reiter hatten sich um den Wagen und die Gefangenen verteilt und behielten die Umgebung im Auge. Sie befanden sich noch immer mitten im Wald, die Sonne drang nur spärlich durch das grüne Blätterdach, weshalb ein unirdisches Zwielicht herrschte. Hier und da hingen letzte frühmorgendliche Nebelschwaden in der Luft und verzerrten zusätzlich das Bild, hätten es auf wundersame Weise verzaubert, wenn Imogen nicht solche Angst verspürt hätte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden – und selbst wenn sie es gewusst hätte, hätte sie vermutlich niemals zurückgefunden. Jeder Baum, jeder Strauch und jeder Busch sah gleich aus.

Der Tross erreichte bald einen Weg, kaum mehr als ein Trampelpfad, auf dem der Wagen gerade so Platz fand. Der Boden war aufgeweicht und matschig und der voll beladene Karren hinterließ tiefe Furchen, die es ihr und den anderen Gefangenen zusätzlich schwer machten, im Takt zu bleiben. Niemand sprach ein Wort. Nur eins der Kinder weinte leise. Imogen drehte sich zu den beiden Mädchen um. Sie liefen ganz am Ende und hielten sich ängstlich bei den Händen. Jetzt im ersten Licht des Tages wirkten sie sogar noch jünger. Ihre kleinen Gesichter und blonden Haare starrten vor Schmutz, die Kleidung ebenfalls, passte ihnen aber zumindest einigermaßen und wies keine Flicken oder Löcher auf. Obwohl sie unter dem Dreck blass waren, wirkten sie gut ernährt, als hätten sie bisher in einem richtigen Heim gelebt und regelmäßige Mahlzeiten bekommen. Vermutlich waren sie ihren Eltern geraubt worden. Vielleicht hatten die Räuber die Eltern sogar getötet. Imogen schluckte.

Brita fing ihren Blick ein und lächelte schwach. »Sicher wird man nach Euch suchen. Ihr müsst nur durchhalten«, raunte sie ihr mit leiser Stimme zu.

Überrascht sah Imogen die andere Frau an, dankbar für diese Aufmunterung, die sie hier, an diesem schrecklichen Ort, nicht erwartet hatte. Obwohl sie wusste, dass es nicht so war, nickte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Sie konnte die Hoffnung dieser freundlichen Frau nicht zerstören. Wollte es nicht. Denn tief in ihr selbst glomm ein letzter verzweifelter Funke eben jener. Die Hoffnung, dass sie sich geirrt hatte. Dass Mutter längst die Leibgarde losgeschickt hatte, um Imogen zu suchen. Dass sie lediglich in diesem fürchterlichen Moment keine andere Möglichkeit gesehen hatte – und sich seitdem mit Schuldgefühlen quälte. Die Hoffnung, dass man tatsächlich nach ihr suchte.

»Bestimmt«, brachte sie gepresst hervor. »Woher kommt Ihr?«

»Aus Dierrat.«

»Das ist gut einen Tagesritt entfernt von Banenth«, erwiderte Imogen leise. Sie selbst war nie dagewesen, wusste es aber von Erzählungen des Vaters. Ein armes Flecken Land, das nie den vollständigen Zins aufbrachte, den es seinem Lehnsherrn, dem Herzog, schuldete. »Was wollten sie bei euch?«

Brita zuckte mit den Schultern. »Offenbar hatten sie auf bessere Beute gehofft als ein paar Säcke Gerste, Hafer und ein paar Ballen Leinen. Und … uns.«

»Was, denkt Ihr, haben sie mit uns vor?«

»Sie bringen uns zum Sklavenmarkt nach Rotkar.«

»Rotkar …«, wiederholte Imogen fassungslos. Die Stadt lag im benachbarten Keradon, kurz hinter der Grenze, weit entfernt von Banenth!

»Dort soll sogar die Königin von Awingen einkaufen«, schaltete sich eine andere Frau ein, die direkt neben Imogen lief. Auch sie wirkte ärmlich, war in einfache Kleider gekleidet und hatte große, schwielige Hände und ein gebräuntes Gesicht. Vielleicht eine Bauersfrau. »Für ihre Lustbarkeiten.«

Imogen überlief es eiskalt. Sie hatte von den Grausamkeiten gehört, die im Palast der Eitelkeiten angeblich begangen wurden. Doch wie alle sechs Königinnen war auch Königin Eysellt von den Göttern selbst auserwählt, um über das Land zu herrschen. Imogen konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihr Privileg derart ausnutzte, und hielt deshalb das meiste für Gerüchte. Außerdem befand sich Awingen nördlich von Keradon, Rotkar lag an der südlichen Grenze zu Banenth. Das war schon ein ziemlich weiter Weg, um auf einem Sklavenmarkt einzukaufen.

Die Bauersfrau nickte wissend und schien es ernst zu meinen. Auch Brita widersprach nicht und erneut schauderte Imogen. Hastig wandte sie den Blick wieder nach vorn. Ob Mutter das geahnt hatte, als sie sie allein zurückließ? Hoffentlich war es ihr später klargeworden und sie hatte Soldaten auf die Suche geschickt.

Broger ritt neben dem Wagen und hatte sich im Sattel zu ihnen umgedreht. Er grinste Imogen spöttisch an, schien genau zu wissen, dass ihre Hoffnung vergeblich war. Immerhin war er dabei gewesen, als Mutter sie verlassen hatte.

Imogen straffte die Schultern und hob das Kinn an. Haltung bewahren. Lass sie nicht wissen, wie es in dir aussieht.

Broger lachte.

 

Irgendwann machten sie Rast und Imogen und die anderen Gefangenen bekamen frisches Wasser aus einem nahen Bach zu trinken, einen harten Laib Brot, den sie untereinander teilen mussten, und ein leicht verschimmeltes Stück Käse. Mehr nicht und es reichte kaum für alle.

Obwohl Imogen noch immer fürchterliche Angst vor diesen widerlichen Kerlen hatte, wuchs ein neues Gefühl in ihr: Wut über diese unwürdige Behandlung. Sie hatte keine Ahnung, woher sie die Stärke nahm, aber sie richtete sich hoch auf und wandte sich an Broger, der die Wasserausgabe von seinem Pferd aus überwacht hatte. »Ich möchte mit eurem Anführer sprechen. Ragef.«

Broger hob belustigt die Augenbrauen. »Ach, wirklich?«

»Ja«, bekräftigte sie, noch immer angetrieben von diesem neuen Mut. Zumindest äußerlich. In Wahrheit zitterten ihre Beine aus Furcht vor dem, was der Kerl mit ihr machen würde zur Strafe für ihre Aufmüpfigkeit. Glücklicherweise konnte er es unter den Röcken aber nicht sehen. »Würdest du ihn bitte holen oder mich zu ihm bringen?«

Der Mann beugte sich leicht im Sattel vor und grinste sie anzüglich an. »Warum sollte ich, Prinzessin?«

»Ich würde gern mit ihm sprechen. Über unsere … Versorgung.«

»Ach ja?«, fragte er amüsiert und musterte sie von oben bis unten. »Und was bekomme ich dafür, wenn ich ihn hole?«

Imogen schluckte und überlegte, was sie darauf antworten sollte. Aber so sehr sie sich auch das Gehirn zermarterte, ihr wollte nichts einfallen. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, warum sie überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Alle Worte waren wie weggewischt.

So war es schon immer gewesen. Wenn sie nervös war oder Angst hatte, fielen ihr auf die einfachsten Fragen keine Antworten mehr ein. Namys hatte ihr dann stets Mut gemacht. Mit einem aufmunternden Blick oder einem Händedruck oder Lächeln.

Doch Namys war nicht hier.

Imogen schluckte die Scham über ihre Unzulänglichkeit hinunter und wandte sich wortlos ab. Vorbei war es mit der plötzlichen Tapferkeit.

Broger lachte. »Die Pause ist zu Ende«, rief er.

 

Am Abend war Imogen vom vielen Laufen so erschöpft, dass sie im Stehen hätte einschlafen können. Erneut schlugen sie ihr Lager mitten im Wald auf. Der Weg dorthin war noch beschwerlicher gewesen als die gesamten Stunden zuvor. Immer wieder waren sie und die anderen Frauen umgeknickt, gestolpert und mussten sich gegenseitig auf die Beine helfen, um nicht liegend mitgeschliffen zu werden. Denn die Räuber verringerten weder das Tempo, noch zeigten sie Gnade mit ihren gefesselten Gefangenen.

Zwischendurch überkam Imogen so große Wut über diese Behandlung, dass sie am liebsten geschrien hätte. Doch was hätte das gebracht? Niemand würde sie hier draußen hören. Und die Räuber wären nur ebenfalls wütend geworden und hätten sie geschlagen. Oder Schlimmeres.

Die Pferde wurden in aller Ruhe abgezäumt und verpflegt, ehe sich Espen und zwei weitere Gesetzlose um sie und die Frauen kümmerten. Sie wurden vom Wagen losgebunden und am Fuß einer uralten Eiche zusammengedrängt.

Kraftlos ließ sich Imogen zu Boden sinken und rieb sich die schmerzenden Beine. Wieder bekamen sie einen Eimer Wasser und ein paar Brocken hartes Brot. Imogen sagte nichts dazu, sondern schlang ihren Kanten gierig herunter. Er war so alt und trocken, dass er ihr fast im Hals stecken blieb und sie nur unter Schmerzen schlucken konnte. Danach lag er ihr wie ein Stein im Magen, vertrieb den Hunger aber nicht.

Mühsam erhob sie sich nach einer Weile und schlurfte so weit weg von den anderen Frauen, wie es die Ketten zuließen. Dann raffte sie die Röcke und hockte sich hin, um sich endlich zu erleichtern. Seit dem Nachmittag hatte sie Bauchschmerzen und an nichts anderes mehr denken können. Einige der Frauen ließen es einfach laufen, doch dazu konnte sich Imogen nicht überwinden. Und so hatte sie diesem Drang standgehalten. Bis jetzt, da er ihr übermächtig erschien.

Sie häufte mit dem Fuß Erde darauf und kroch zurück zu ihrem Platz. Dabei fiel ihr Blick auf die Mädchen, die dicht aneinandergedrängt etwas abseits saßen.

Die Große redete auf die Jüngere ein, die bitterlich weinte. Imogen hatte unterwegs nur aus dem Augenwinkel mitbekommen, dass die beiden immer schlechter vorangekommen waren und Brita der Kleinen schließlich unter die Arme gegriffen hatte. Jetzt erkannte sie, dass sie sich den dick geschwollen Fuß hielt. Die anderen Frauen waren noch mit sich selbst beschäftigt und hatten es offenbar nicht bemerkt. Nur Brita saß mit gequälter Miene in der Nähe.

Erschrocken kroch Imogen an die drei heran. »So kann sie unmöglich weiterlaufen«, raunte sie Brita zu. »Der Fuß ist bestimmt gebrochen. Wir … sie müssen das versorgen. Ihn schienen.«

Brita verzog das Gesicht. »Das werden sie nicht tun.«

Imogen riss die Augen auf. »Aber sie ist verletzt. Es muss fürchterlich wehtun. Sie müssen ihr doch helfen.« An Britas bedauerndem Kopfschütteln erkannte sie, dass sie darauf besser nicht hoffen sollte. Imogen warf den Mädchen erneut einen Blick zu. Sie konnte und wollte nicht so tun, als hätte sie nichts gesehen. »Dann müssen wir ihr helfen.«

»Ja, doch wie?«

Fieberhaft überlegte Imogen. Sie wusste, wie man einen Bruch schiente. Zumindest theoretisch, weil sie einmal etwas darüber in einem Buch gelesen hatte. Leider hatte es keine Zeichnungen dazu gegeben, aber sie hatte es sich anhand der Beschreibung dennoch gut vorstellen können.

»Wir brauchen zwei stabile Stöcke«, flüsterte sie Brita zu, raffte ihren Oberrock und riss einen Streifen von einem der Unterröcke ab. Dann kroch sie zu den Mädchen hin, die sie mit riesengroßen Augen angstvoll anblickten. »Ich bin Imogen und will dir helfen. Lass mich mal deinen Fuß sehen.«

Die Kleine schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war nass vor Tränen und bleich vor Schmerzen, die sie schon zu lange hatte aushalten müssen. Es glich einem Wunder, dass sie überhaupt hatte gehen können!

»So kannst du nicht weiterlaufen«, raunte Imogen ihr eindringlich zu. »Ich kann dir helfen, dass der Schmerz aufhört. Wie heißt du, Kleine?«

Wieder schüttelte sie nur den Kopf. Es war die Größere, die antwortete: »Sügne. Und ich bin Torna. Sie ist meine Schwester.«

»Torna. Ich glaube, deine Schwester hat sich den Knöchel gebrochen. Ich würde ihn mir gern ansehen und werde auch ganz vorsichtig sein.«

Nachdem Torna sie eine Weile mit viel zu wissenden Augen gemustert hatte, nickte sie und flüsterte ihrer Schwester etwas zu. Sügne streckte daraufhin mit einem unterdrückten Wimmern das Bein aus und Imogen beugte sich darüber. Der Fuß war tatsächlich gebrochen und bereits dick angeschwollen, die Haut rot und blau verfärbt.

»Das muss gerichtet werden, damit er nicht schief anwächst«, raunte Brita ihr zu. Sie hatte sich so hingehockt, dass die Räuber im Lager nicht sehen konnten, was sie taten, und hielt Imogen einen Stock hin.

Imogen nahm ihn mit zitternden Fingern entgegen und brach ihn in zwei etwa gleichlange Stücke, die sie rechts und links des Knöchels festbinden würde. Dann tastete sie erneut den Fuß ab. Sie schloss die Augen und hatte sofort ein Bild der Knochen vor sich, sah den Bruch und den ungesunden Winkel. Mit einem Mal wusste sie genau, was zu tun war, wie sie den Fuß drehen musste, damit die Enden der Knochen wieder aufeinanderpassten. Sie hatte keine Ahnung, woher diese Bilder kamen.

Sie gab Brita ein Zeichen. Die klemmte der Kleinen einen anderen Stock zwischen die Zähne und stützte sich mit beiden Händen auf ihren schmächtigen Schultern ab.

Auch die übrigen Frauen waren auf sie aufmerksam geworden und rückten unauffällig näher. Einige sprachen den Mädchen Mut zu, andere setzten sich so hin, dass sie ihren Entführern die Sicht versperrten.

»Haltet sie fest«, befahl Brita leise.

Imogen schloss erneut die Augen und bewegte dann den Fuß mit einem Ruck dorthin, wohin er gehörte. Es war so leicht, als hätte sie nie etwas anderes getan.

Sügne schrie, ehe es jemand verhindern konnte, und Imogen riss erschrocken die Augen auf.

»Was ist hier los?«, rief Espen, stieß die am Boden hockenden Frauen grob beiseite und riss Imogen von den Mädchen fort. »Was soll dieses Geschrei?« Er entdeckte den gebrochenen Fuß, die Holzstücke und die Stoffbinde. Die Kleine war glücklicherweise ohnmächtig geworden. Der Schmerz war wohl doch zu stark gewesen. »Broger, Ragef! Wir haben ein Problem.«

Die beiden kamen zu ihnen und Espen wies auf das Mädchen. »Die hat sich den Fuß verletzt.«

Ragef musterte erst Sügne, dann Torna, Imogen und Brita mit kaltem Blick. »Ihr wolltet es schienen?«

Imogen nickte. Wieder war ihre Kehle wie zugeschnürt vor Angst.

»Wird sie damit laufen können?«, fragte Ragef weiter.

»Nein«, erwiderte Brita mit unnachgiebigem Blick. »Die ersten Tage nicht. Aber sie ist klein und wiegt fast nichts. Ihr könntet sie auf dem Wagen mitfahren lassen.«

Ragef schien über ihre Worte nachzudenken. Dann zog er seine Pistole, richtete sie auf Sügnes Brust und drückte ab.

Der Knall war ohrenbetäubend und für einen Moment hörte Imogen nur ein lautes Piepen in den Ohren. Erst dann begriff sie, was geschehen war. Er hatte Sügne getötet. Ragef hatte ein kleines Mädchen kaltblütig umgebracht! Vor ihrer aller Augen! Übelkeit stieg in Imogen hoch und sie sah, wie ihre Hände zitterten. Hände, auf die Blut gespritzt war. Sügnes Blut. Das Blut eines unschuldigen Kindes.

»Bindet sie los und werft sie den Wölfen hin. Für uns ist sie wertlos.« Mit diesen Worten drehte sich Ragef um und stapfte zurück zu seinem Platz am Lagerfeuer, ohne sich noch einmal zu ihnen umzusehen.

»Ihr habt es gehört«, sagte Broger und stieß erst Brita, dann Imogen mit dem Fuß an. »Macht Platz, damit wir das wegschaffen können.«

»Das«, rief Brita, »ist ein Mensch! Ein kleines Mädchen. Ihr Name war Sügne.«

»Mir scheißegal«, entgegnete Broger und schloss Sügnes Fesseln auf. »Jetzt ist sie nur noch Ballast.«

Brita spuckte ihm ins Gesicht und Imogen zuckte erschrocken zusammen. Ganz langsam richtete sich der Räuber auf, wischte sich über die Stelle, wo sie ihn getroffen hatte. Dann holte er aus und schlug sie so heftig, dass sie zu Boden fiel und Imogen mit sich riss.

»Die«, sagte er zu Espen, der gerade dabei war, die kleine Sügne aufzuheben, und wies auf Brita. »Die machst du auch los und bringst sie zu meinem Zelt.«

»Nein!«, rief Imogen. »Sie hat es nicht so gemeint. Sie wollte nur helfen und …«

Broger schnellte zu ihr herum. »Willst du sie begleiten?«

Imogen riss vor Entsetzen die Augen auf, brachte aber kein Wort mehr heraus.

»Dachte ich es mir. Dann halte deinen Mund, Prinzesschen, ehe ich ihn dir stopfe!«

 

***

 

Imogen lag die ganze Nacht wach. Sie hielt Torna so lange im Arm, bis sie endlich eingeschlafen war. Dann lauschte sie den unterdrückten Schreien Britas und dem Grunzen und Schnaufen Brogers. Ihr wurde übel vor Entsetzen.

Sie blickte auf Torna hinab, die so bitterlich geweint hatte, und spürte erneut Wut in sich aufsteigen. Diese Kerle hatten das arme Mädchen aus ihrem Heim gerissen, von ihren Eltern fort, und auch noch ihre kleine Schwester umgebracht. Vor ihren Augen! Wie sie war Torna nun ganz allein. Und vermutlich ebenso verängstigt. Wenn nicht sogar mehr. Immerhin war sie noch ein Kind.

Sie betrachtete die Fesseln um Tornas schmale Fußgelenke. Vielleicht würde es Imogen gelingen, zumindest sie zu befreien?

Aber obwohl ihre Beine dünn und die Füße nicht sehr groß waren, gab es nicht genug Spielraum in den Metallschellen, um sie abzustreifen. Wahrscheinlich würde Imogen ihr eher die Füße brechen und damit alles nur noch schlimmer machen, als es ohnehin schon war.