So was wie Liebe - Anna McPartlin - E-Book
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So was wie Liebe E-Book

Anna McPartlin

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Beschreibung

Auch aus dem tiefsten Tal des Kummers führt ein Weg zum Glück. «Pechmarie» – so wird sie in Kenmare heimlich genannt. Marys erste große Liebe kam ums Leben, als sie schwanger war. Und auch ihren Sohn hat sie verloren. Ihre Freunde würden alles dafür tun, Mary endlich wieder lachen zu sehen. Große Hoffnungen liegen auf Sam, dem neuen Nachbarn: Er ist der Erste, der die junge Frau aus der Reserve lockt. Leider hat Sam selbst mit Geistern aus der Vergangenheit zu kämpfen. Und jemand wartet nur auf den richtigen Moment, die schockierende Wahrheit über ihn ans Licht zu bringen.

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Anna McPartlin

So was wie Liebe

Roman

Aus dem Englischen von Karolina Fell

Über dieses Buch

Auch aus dem tiefsten Tal des Kummers führt ein Weg zum Glück.

 

«Pechmarie» – so wird sie in Kenmare heimlich genannt. Marys erste große Liebe kam ums Leben, als sie schwanger war. Und auch ihren Sohn hat sie verloren. Ihre Freunde würden alles dafür tun, Mary endlich wieder lachen zu sehen. Große Hoffnungen liegen auf Sam, dem neuen Nachbarn: Er ist der Erste, der die junge Frau aus der Reserve lockt. Leider hat Sam selbst mit Geistern aus der Vergangenheit zu kämpfen. Und jemand wartet nur auf den richtigen Moment, die schockierende Wahrheit über ihn ans Licht zu bringen.

Vita

Anna McPartlin wurde 1972 in Dublin geboren und verbrachte dort ihre frühe Kindheit. Wegen einer Krankheit in ihrer engsten Familie zog sie als Teenager nach Kerry, wo Onkel und Tante sie als Pflegekind aufnahmen. Nach der Schule studierte Anna ziemlich unwillig Marketing. Nebenbei stand sie auch als Comedienne auf der Bühne, doch ihre wahre Liebe galt dem Schreiben, das sie bald zum Beruf machte. Bei der künstlerischen Arbeit lernte sie ihren späteren Ehemann Donal kennen. Die beiden leben heute zusammen mit ihren drei Hunden und zwei Katzen in Dublin.

Bereits ihr Debüt «Weil du bei mir bist» war international ein Bestseller. Mit dem Roman «Die letzten Tage von Rabbit Hayes», in dem Anna McPartlin viel von ihrer eigenen Vergangenheit verarbeitet hat, rührte und begeisterte sie unzählige Leserinnen und Leser und landete einen Riesenerfolg.

Für Mom

Ich erinnere mich an die Zeit, in der deine Arme und Beine kraftlos geworden waren. Alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft waren vergeblich, und du hast in einem Heim gelegen und dein Radio gehört.

Ich erinnere mich an dein Gesicht und das Lächeln in deinen Augen.

Ich erinnere mich an deinen Glauben. Ich habe gelernt, dass die Hoffnung niemals stirbt.

 

Für meine Patenkinder Conor O’Shea und Laura Kerins

Ich wünsche euch das Beste, was diese Welt zu bieten hat, aber wenn’s mal so richtig mies läuft – und darauf kann man sich verlassen – ist Bannie für euch da.

1Nur zwanzig Meilen

Es war ein regnerischer Nachmittag im Süden Kerrys – der Dauerregen erinnerte an den Vorspann eines Action-Films aus Hollywood oder an ein Weltuntergangsdrama, und wenn man Phantasie hatte, erwartete man den Auftritt eines durchtrainierten, kräftigen Mannes im engen T-Shirt, der sich mit einem durchnässten, verzweifelten Mädchen auf den Armen und einer Pistole in der Gesäßtasche durch diese Sintflut kämpfte. Was er mit dem Mädchen oder der Pistole vorhatte und was das Mädchen und die Pistole mit dem Regen zu tun hatten, blieb der Vorstellungskraft überlassen. Trotzdem sind wir uns bestimmt alle darüber einig, dass es an einem langweiligen Tag zu Hause nichts Besseres gibt, um sich aufzumuntern, als die Phantasie von einem durchnässten Mann, der entschlossen ein Ziel verfolgt.

Mary saß auf ihrer breiten, gepolsterten Fensterbank und zog die Vorhänge zurück, um zu betrachten, wie der Regen auf die Wasseroberfläche klatschte und von den Decks der Boote lief, die am Pier heftig auf den Wellen schaukelten. Mr. Monkels, ihr großer, goldbrauner Labrador, hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt. Er war schlechter Laune, denn Regen hieß, dass sein Spaziergang ausfiel, und er liebte Spaziergänge, wenn auch sein fortgeschrittenes Alter dafür sorgte, dass sie inzwischen hauptsächlich aus langen Ruhepausen bestanden. Mary lächelte ihren dicken alten Gefährten an.

«Das ist nicht das Ende der Welt, Mr. Monkels – morgen ist auch noch ein Tag.»

Doch davon ließ sich Mr. Monkels nicht beeindrucken. Er seufzte, und dann verwandelte sich sein Seufzen in einen Grunzlaut, dem ein leise keuchendes Geräusch folgte, bei dem sich Mary jedes Mal fragte, ob er unter einer Art Hundeasthma litt. Andererseits entsprachen seine Hundejahre einhundertneunzehn Menschenjahren, und es war ein echtes Wunder, dass er überhaupt noch regelmäßig atmete, von den Spaziergängen einmal ganz abgesehen. Mary kraulte sein linkes Ohr, das zwar taub war, mit dem er aber immer noch Berührungen wahrnehmen konnte – anders als sein rechtes Ohr, mit dem er zwar noch hören konnte, von dem aber seit einem unglaublichen Angelunfall vor siebzehn Jahren ein beträchtliches Stück fehlte.

Mary hatte Mr. Monkels von ihrem Vater zum zwölften Geburtstag bekommen. Bei dem Unfall war der Welpe erst zwei Wochen alt gewesen. Er war wie wild auf dem Bootsdeck ihres Onkels herumgerannt, während sich Mary darauf konzentrierte, eine Schwarzweißaufnahme von einer toten Makrele zu machen. Ihr Cousin Ivan übte hinter ihrem Rücken das Auswerfen der Angel. Wie es das Pech wollte, verfing sich der Angelhaken irgendwie in Mr. Monkels’ Ohr. Der nichts ahnende Ivan warf die Angel aus, Mr. Monkels jaulte und als Mary den Kopf hob, sah sie ihr Hündchen gerade noch als pelziges Geschoss mit panisch aufgerissenen Augen durch die Luft fliegen. «Achtung, Hunderakete», rief Ivan noch, und dann platschte Mr. Monkels auch schon ins Wasser. Spritzend und bellend tauchte er sofort wieder auf. Nachdem er kurz die Anmut und die perfekte Flugbahn des Hundes in so einer gefährlichen Situation gewürdigt hatte, stürzte sich Ivan ins Wasser und rettete ihn. Leider war aber ein großer Teil des rechten Hundeohres «Opfer der Elemente» geworden, wie Ivan später sagte.

Jetzt also kraulte sie Mr. Monkels’ gutes Ohr und lächelte bei der Erinnerung daran, wie ihr kleiner Hund damals trotz seiner Nahtoderfahrung mit dem Schwanz gewedelt hatte. Mary hatte an diesem Tag gedacht, dass Mr. Monkels entweder die Tapferkeit eines Herkules besaß oder dumm wie Bohnenstroh sein musste. Mit der Zeit hatte sich herausgestellt, dass beides ein bisschen zutraf. Sie verlor sich ein paar Minuten in seinen großen, braunen, getrübten Augen. Seine Nase war trockener, als sie sein sollte. Sie nahm seinen Kopf in die Hände und legte ihn sanft auf ein Kissen. Mr. Monkels brummte ein bisschen, und Mary überlegte kurz, ob sie ihm damit, dass morgen auch noch ein Tag war, zu viel versprochen hatte.

Marys Cottage war alt und malerisch, gut isoliert und warm, und überall hing ein Duft, den viele Jahre Kaminfeuer und Kochen zu Hause hervorbringen. Dieser Geruch war für Mary einer der Hauptgründe für den Kauf des Cottages gewesen. Sie mochte diese Atmosphäre. Die Küche lag in einem Anbau, der zwei Jahre zuvor nach Marys Vorstellungen modernisiert worden war, ohne die urige Ausstrahlung des alten Hauses zu zerstören. Weil sie Tonwaren so sehr liebte, hatte sie sich in den letzten Jahren viele Lampen, Vasen, Teller und Tassen aus Keramik gekauft. Einmal hatte sie den Fehler begangen, ihrer besten Freundin Penny zu erzählen, wie gern sie die schmiegsame Glätte einer Keramiktasse unter den Fingern spürte und wie sehr ihr der Anblick eines bauchigen Lampenfußes gefiel. Penny hatte sie einen Moment lang sprachlos angesehen und sich dann laut gefragt, wie komisch man eigentlich drauf sein musste, um Keramiktassen und die Rundungen von Lampenfüßen sinnlich zu finden. Irgendwie hatte sie nicht ganz unrecht, fand Mary, und seitdem hütete sie sich, ihre Vorliebe für Keramik zu erwähnen.

Die Wände waren in dunklem Violett gestrichen, doch die Farbe war kaum sichtbar, so viele schwarzgerahmte Fotografien hingen dicht an dicht. Schon als Teenager hatte Mary begeistert fotografiert, nach der Schule Workshops besucht und lange für einen guten Fotoapparat und eine Dunkelkammerausrüstung gespart. Zuerst hatte sich ihre besondere Begabung für Schwarzweißfotografie gezeigt, mit der sie noch den banalsten Gegenstand interessant und sogar schön aussehen lassen konnte. Mit knapp zwanzig Jahren entdeckte sie ihre Liebe zur Porträtfotografie und rückte für diese Bilder sämtlichen Freunden auf die Pelle. Obwohl die meisten bald genervt waren, gelang es ihr jedes Mal, die wesentlichen Charakterzüge einzufangen. Erst ihr Sohn hatte sie mit seinem lackschwarzen Haar, seinen rosigen Wangen, den roten Lippen, den weißen Händchen und seinen unglaublich blauen Augen später dazu gebracht, zu Farbaufnahmen zu wechseln. Zu einem Jungen wie Ben passten Schwarzweißbilder einfach nicht. Marys ganzes Wohnzimmer strahlte etwas von einer Fotogalerie aus. Von jeder Wand blickten Geister aus vergangenen Tagen herab. Von allen Seiten umgaben Mary Bilder von Dingen oder Menschen, lebenden ebenso wie toten, die ihr etwas bedeuteten. Eines der Fotos, es hing über der Uhr, zeigte die tote Makrele, die sie an dem Tag aufgenommen hatte, an dem Mr. Monkels sein überzeugendes Debüt als Torpedo gegeben hatte. Die Haut des Fisches glitzerte in der Sonne, und sein starrendes schwarzes Auge wirkte auf die meisten Betrachter entweder faszinierend oder abstoßend. Ivan hatte schon oft gesagt, das Bild sei «total gruselig», während Marys Nachbar Mossy begeistert behauptet hatte, es sei «ein klarer Beweis für die Transzendenz». Warum, hatte er nicht erklärt. Ein anderes Foto von einem schwarzen Karren, auf dem ein Berg frischgeschnittener weißer Lilien lag, zeigte einfach nur vollkommene Schönheit – doch Mary mochte es hauptsächlich, weil es sie an den Tag erinnerte, an dem sie sich mit Robert, ihrer ersten Liebe, die wohl auch ihre einzige bleiben würde, auf eine Beerdigungsfeier einer Roma-Familie geschmuggelt und sich an Gastfreundschaft und Bier berauscht hatte.

Ihr Lieblingsbild war aus keinem besonderen Grund das Foto einer Kristallschale auf einem Fensterbrett, in der sich ein Lichtstrahl brach. Zwischen diesen Bildern hingen Fotos von Verwandten und Freunden. Ihr Vater, mit aufgestütztem Kinn konzentriert vorgebeugt, die Brille auf der Nasenspitze und eine Zeitung in der Hand. Ihre Tante Sheila mit aufgesteckten Haaren, die ihre linke Hand in die Tasche der Küchenschürze geschoben hatte und mit der rechten einen Eintopf umrührte. Sie grinste, als hätte sie gerade einen zweideutigen Scherz gehört. Marys Cousin Ivan, braungebrannt, schlaksig und jungenhaft, in Shorts und mit einer alten Fischermütze auf dem Kopf, der gerade seine Angel auswarf. Ihr Freund Robert, mit seinem glänzenden schwarzen Haar und den großen lachenden Augen, Ivan unterhakend, der gerade Marys Freundin Penny an den blonden Haaren zog, und dazu lachte Adam, Pennys riesiger Footballspieler-Freund, den Kopf in den Nacken gelegt. Das waren nur einige der Fotos, mit denen sich Mary umgab. Es gefiel ihr, dass sie nur den Blick zur Wand heben musste und jemanden vor Augen hatte, den sie liebte. Das vermittelte ihr ein tröstliches Gefühl.

Ihr Sohn hatte natürlich eine ganze Wand für sich allein. Allerdings wirkte sie nicht wie ein Altar, auf dem sie übertriebenen Totenkult oder krankhafte Zuneigung zelebrierte. Die Bilder stachen nicht hervor, sie schienen einfach hierherzugehören, als ob es schon immer die einzige Bestimmung der Wand gewesen wäre, dass Mary diese Fotos an ihnen aufhängen konnte. Und so gingen Besucher wie in einer Galerie am Lachen ihres Sohnes vorbei, an seinem Kummer, seinem Zorn und seiner Freude. All das hatte sie auf Fotos von sechzehn mal zwanzig Zentimeter Größe festgehalten, die seine fünf Lebensjahre dokumentierten.

Obwohl das Cottage nur aus Küche und Wohnzimmer unten, zwei Schlafzimmern oben und je einem winzigen Badezimmer auf beiden Stockwerken bestand, fühlte sich Mary hier nicht beengt. Sie lebte schon seit fünf Jahren allein. Sie wandte sich zu dem Bild um, von dem ihr Sohn sie direkt anzusehen schien, während er einen zappelnden Mr. Monkels festhielt. Sie lächelte ihn an. Er war nun schon genauso lange tot, wie er gelebt hatte, und er erwiderte ihr Lächeln, für immer gefangen in diesem Augenblick, für immer ein Fünfjähriger, für immer lächelnd.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte Mary fest, dass ihre Haarfarbe eine gute halbe Stunde zum Einwirken gehabt hatte. Es war eine Biohaarfarbe, und sie stank so furchtbar, dass Mary sich fragte, ob es dieser Geruch oder ein Glaukom im Anfangsstadium war, das Mr. Monkels rechtes Auge zum Tränen brachte. Sie überprüfte im Spiegel, ob ihr Haaransatz genügend rote Farbe aufgenommen hatte, und ging dann die Treppe hinauf, um sich das Haar auszuspülen. Danach kämmte sie sich vor dem Badezimmerspiegel, trug etwas Feuchtigkeitscreme auf und unternahm einen erfolglosen Versuch, die dunklen Ringe unter ihren Augen wegzumassieren. Ganz toll, ich sehe aus wie ein rothaariger Panda. Das hatte ich mir ein bisschen anders vorgestellt. Mary färbte ihr Haar rot, seit sie fünfzehn war, und kaum jemand erinnerte sich noch an ihre eigentliche, mausbraune Haarfarbe. Doch obwohl man eindeutig erkannte, dass dieses Feuerwehrrot falsch war, unterstrich es ihren Porzellanteint und ihre smaragdgrünen Augen, sogar wenn sie müde war, und niemand hätte sie je für neunundzwanzig gehalten.

Anschließend räumte sie die Lebensmittel aus dem Kühlschrank, die während der vier Tage schlecht geworden waren, die sie mit einer besonders heftigen Migräne im Bett verbracht hatte. Draußen regnete es ununterbrochen weiter, und die Tropfen schlugen geräuschvoll an die Fenster. Bei Regen musste Mary immer an Ben denken, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab – weder hatte er etwas für Regen übrig gehabt, noch hatten sie bei Regen etwas Besonderes zusammen erlebt. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass sie an Regentagen, die sie untätig im Haus verbrachte, mehr Zeit hatte, an ihn zu denken. Möglicherweise lag es auch an den Geräuschen – als ob die Natur weinte – oder daran, dass die Tropfen genau wie Tränen an den Fensterscheiben hinunterliefen. Mary ging durchs Wohnzimmer, um Musik aufzulegen, doch dann blieb sie vor einem gerahmten Schwarzweißfoto von Robert stehen, das ihn als sechzehnjährigen Jungen zeigte, der stolz grinsend einen großen Fisch in die Höhe hielt und sie mit den Augen seines Sohnes anzustrahlen schien. Mary betrachtete diesen Jungen und fühlte sich mehr wie seine Mutter und nicht, als sei sie seine Teenagerfreundin gewesen. Sie fragte sich oft, wie er sich wohl entwickelt hätte, wenn er älter als siebzehn geworden wäre, doch sie hatte sich schon lange damit abgefunden, dass sie auf diese Frage niemals eine Antwort finden würde.

Kopf hoch, Pandabär!, ermahnte sie sich, nachdem sie im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel geworfen hatte.

«Wenn man krank ist, sieht man wirklich so richtig alt aus», sagte sie laut und lächelte.

Mr. Monkels brummte eine leise Zustimmung. Mary lachte und legte die Scissor Sisters auf. «Wenn man es recht betrachtet, Mr. M., ist es doch wie in diesem Song: Happy is for Homos.» Sie lächelte über ihren Witz, doch ihr Hund teilte entweder ihren Sinn für Humor oder ihren Musikgeschmack nicht, denn er vergrub den Kopf unter seinen beträchtlich großen Pfoten, was Mary daran erinnerte, dass sie ihm die Krallen stutzen musste.

Dann setzte sieTeewasser auf und nahm die Keksdose aus dem Schrank. Ein passenderer Tag für Tee und Kekse war kaum vorstellbar. Ivan hatte ihr eine DVD vorbeigebracht, und nachdem sie vier Tage in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer vor sich hingedämmert hatte, freute sie sich auf einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher. Vorher wollte sie nur noch die Waschmaschine ausräumen, obwohl sie sich eigentlich schon wieder völlig erschöpft fühlte.

Es herrschte klirrende Kälte an diesem Märzvormittag in New York. Sam stand mitten im Zimmer und betrachtete ein letztes Mal die weißen Wände, die weißgestrichenen Bodendielen und die weißen Laken, mit denen das weiße Bett bezogen war. Zufällig war an diesem Tag auch durch das Fenster aus Glasbausteinen ein weißer Himmel zu sehen. Über dem Bett hing das Bild einer weißen Kumuluswolke, und nur im Hintergrund war ein winziger Streif blauen Himmels zu erkennen. Sam setzte sich auf seinen weißen Korbstuhl und betrachtete diese abweichende Farbe. Symbolisierte sie vielleicht seine Zukunft? Sonnenüberglänzte, strahlende Tage? Aber dorthin war es angesichts der Sackgasse, in die er sich manövriert hatte, ein ziemlich weiter Weg. Also beschloss Sam, in dem blauen Streifen lieber den Hoffnungsschimmer zu sehen, von dem die Leute um ihn herum so oft gesprochen hatten. Am wahrscheinlichsten war aber, dass der blaue Streifen überhaupt keinen tieferen Sinn hatte. Der Käufer des Bildes hatte seine Bedeutung wohl kaum mit demjenigen besprochen, der es hier aufgehängt hatte – vermutlich ein Handwerker, der keinerlei Interesse für die Grübeleien eines verwirrten Geistes aufbrachte. Nach dieser Überlegung kam Sam zu dem Schluss, dass er nach zwei Monaten in der Reha wahrscheinlich unter einer schweren Therapie-Überdosis litt.

Dann schaute er seinen abgenutzten, braunen Koffer an, der mit offenem Deckel leer neben ihm stand und ihn im Gegensatz zu seinem makellosen Bett an die Unvollkommenheit der Welt dort draußen erinnerte. Das schaffe ich nie.

 

Als er acht Wochen vorher zum ersten Mal in diesem lächerlich weißen Raum aufgewacht war, hatte er einen Moment lang geglaubt, er sei gestorben. Sein Leben lang war er überzeugter Atheist gewesen, doch in diesem Moment ließ ihn sein fester Glaube an das Nichts kurzfristig im Stich, und er wartete auf die Erscheinung Gottes, des heiligen Petrus oder seiner lange verstorbenen Granny Baskin. Da hatte ihm die Ankunft eines großen, muskulösen schwarzen Mannes mit tiefer Stimme einen leichten Schock versetzt. Sam hätte nie erwartet, dass sich Gott, der heilige Petrus oder seine lange verstorbene Granny Baskin in Gestalt eines Profibasketballers manifestieren könnten. Verflixt nochmal! Dann nahm er durch das Dröhnen in seinem Kopf wahr, wie die Tür abgeschlossen wurde, und nachdem er die Bildschärfe eingestellt hatte, sah er den Basketballer mit über der Brust verschränkten Armen dastehen und das Häufchen Elend betrachten, das sich da im Bett krümmte. Und da wusste Sam mit einem Schlag, wo er war. Mist! Da wäre er noch lieber gestorben.

So also fing sein neues Leben an, mit Kotzen und Scheißen, Heulen und Fluchen, Betteln und Drohen. Niemals hätte er geglaubt, dass man solch starke Schmerzen, wie er sie im Kampf gegen die Heroinsucht ertrug, überhaupt empfinden konnte. Ein Kind zu bekommen, war bestimmt nicht schlimmer, jammerte er dem Basketballer unter der Folter des Entzugs so weinerlich vor, dass er sich selbst nicht wiedererkannte. Da waren die Halluzinationen fast schon eine willkommene Abwechslung, sogar solche Horrorszenarien wie der Moment, in dem sein linker Arm sich in Cher verwandelte und er sich böse die Fingerknöchel verstauchte, weil er mit Schlägen gegen die Wand erreichen wollte, dass sie endlich aufhörte, Just like Jesse James zu singen.

«O nein, ich hab gerade Cher umgebracht!», rief Sam entsetzt.

«Nein, hast du nicht, aber mit deiner Hand kannst du erst mal nicht viel anfangen», erklang Danzigers Stimme aus weiter Ferne.

«Sonny bringt mich um», sagte Sam kopfschüttelnd, und Danziger seufzte.

«Versuchen wir doch einfach mal, den Wahnsinn ein bisschen runterzufahren», ordnete er an, während er Sam ins Bett steckte, wie ein Vater sein müdes Söhnchen.

Danziger wirkte sehr interessant in seinem Ballettrock, besonders, weil er dazu Schwimmflossen an den Füßen trug.

«Und du hast wirklich keinen Ballettrock an?», fragte Sam.

«Nein, Mann, hier gibt’s weit und breit keinen Ballettrock.» Erneut seufzte Danziger tief auf.

«Wenn du es sagst … Aber deine Schwimmflossen sind echt irre», sagte Sam und beäugte Danzigers Füße.

«Tja, und da sind sie nicht die einzigen hier», bemerkte Danziger grinsend. Der Junge hat Phantasie, das muss man ihm lassen.

 

Sam hätte geschworen, dass er nach dieser ganzen Zeit ein für allemal genug von der Farbe Weiß hatte. Er hätte geschworen, dass er nach anderen Farben lechzen würde, doch das tat er nicht. Hatte er anfänglich nichts dringender gewollt, als wieder hier rauszukommen, war ihm nun klar, dass er bis ans Ende seiner Tage glücklich und zufrieden in diesem weißen Würfel leben könnte. Es war warm und sicher, und das Leben hatte keine Chance, störend einzubrechen. Gestern war er noch ganz ruhig gewesen, doch heute drückte ihn die Angst wie ein unsichtbarer Bleimantel nieder, und seine Knie drohten weich zu werden.

Dann kam Danziger, der Basketballer, der in Wirklichkeit ein Krankenpfleger Anfang fünfzig war, und klopfte gegen die Innenseite der Tür. «Heute ist der große Tag», sagte er.

Sam starrte einfach weiter in seinen leeren Koffer. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte, und ihm fehlte jede Energie, so zu tun, als ginge er freiwillig nach Hause. Also sagte er am besten gar nichts. Danziger kannte das alles, das wussten sie beide, und dieses Wissen schien schwer im Raum zu lasten. Danziger setzte sich auf Sams weißes Bett.

«Ich weiß, dass es nicht leicht ist.» Er sprach so sanft, wie es einem Mann, der vierzig Zigaretten täglich raucht, eben möglich ist.

«Ich weiß, dass du das weißt», gab Sam einigermaßen verzagt zurück.

«Schwelgst du in Erinnerungen an deinen verheißungsvollen Eintritt in diese schöne Institution?», erkundigte sich Danziger mit gespieltem Ernst und grinste leicht.

«Ja», gab Sam zu. «Ich habe gedacht, ich wäre tot.»

Danziger lachte bei der Erinnerung an den schreienden Sam, der ihn um Vergebung für die Sünden des weißen Mannes angefleht hatte.

«Was?», fragte Sam, der bei Danzigers Glucksen ebenfalls lächeln musste.

«Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du kreischst wie ein kleines Mädchen?», fragte dieser lachend zurück. Sam täuschte einen Kinnhaken in Danzigers Richtung vor.

Dann saßen sie schweigend zusammen, und Danziger gab Sam Gelegenheit zur Einsicht, dass sie am Ende ihres gemeinsamen Weges angekommen waren.

«Alle fürchten sich, mein Sohn», erklärte Danziger nach ein paar langen Minuten. Er wusste, dass es Sam gefiel, wenn er ihn «Sohn» nannte.

«Das weiß ich selber», sagte Sam und zog eine Grimasse.

«Wahnsinn. Für einen Spinner weißt du allerhand.»

Sam lachte und nickte, weil Danziger mit beidem recht hatte. Erneut schwiegen sie, doch dieses Mal war es eine angenehme Stille.

***

Mary hatte schlecht geschlafen. Der Traum von einem Teenager, der durch seine tief ins Gesicht gezogene Kapuze nicht zu erkennen war, hatte sie aufgeweckt.

Der Junge rannte, und sie fühlte seinen Herzschlag so intensiv, dass ihr eigenes Herz unruhig zu pochen anfing. Sie hörte seine Schritte durch die Straße hallen und sah, wie er sich nach seinen Verfolgern umdrehte, die gleich hinter ihm auftauchen mussten. Er rannte schneller und schneller, und doch schienen seine Schritte immer kürzer zu werden, bis er schließlich auf der Stelle rannte. Sie schreckte hoch, schwitzend und mit rasendem Herzen. Morphiumkater, dachte sie, und das war es wahrscheinlich auch, denn sie hatte während des Migräneanfalls vier Tage lang je zwei Spritzen eines morphinhaltigen Schmerzmittels bekommen.

Nachdem sie geduscht, ein Glas Wasser getrunken und noch mit einer Mundspülung gegurgelt hatte, ging sie mit einem so unbehaglichen Gefühl wieder ins Bett, dass sie garantiert die restliche Nacht über grübelnd wach liegen würde. Sie hatte oft «so ein Gefühl», und manchmal hatte es sich schon als böse Vorahnung bewahrheitet, doch gewöhnlich war es nicht weiter von Bedeutung. Sie dachte eine Weile über ihren rätselhaften Traum nach. Um etwa halb vier war sie erschöpft und gleichzeitig aufgedreht und fragte sich, ob dieser Traum ein böses Omen war, wie damals, als sie geträumt hatte, die monströs dicke Tina Murphy sei in einem riesigen, entzündet aussehenden Ei gefangen. Sie hatte diesen Traum zunächst als Ausdruck ihrer reichlich verrückten Phantasie abgetan – doch in der folgenden Woche war Elefanten-Tina bei den Weight Watchers zusammengebrochen, und einen Tag später wurde ihr eine geplatzte Eierstockzyste entfernt. Oder das andere Mal, als sie Jimmy Jaw wie besessen in einem großen Medikamenten-Abfalleimer hatte wühlen sehen. Noch in derselben Woche hatte er seinen kleinen Finger bei einem schrecklichen Unfall mit der Baumsäge verloren. Nicht zu reden von dem Tag, an dem sie mit dem Bild von Sheena Shaws Kater Johnson vor Augen erwacht war. Johnson schwebte in Gesellschaft eines kränklichen Miniaturschweinchens auf einem fliegenden Teppich durch dicke Wolken. Und am nächsten Tag hatte Mary gehört, dass Johnson Schinken erbrochen hatte! Der Kater hatte die Lebensmittelvergiftung zwar überlebt, aber Sheenas sechs Monate alter Teppich stank dermaßen, dass er ersetzt werden musste. Mary ging ein paar der endlos vielen Möglichkeiten durch. War der Junge mit der Kapuze ein Sinnbild des Todes? Armer Mr. Monkels! Bis etwa zehn vor vier gab sich Mary der Sorge um Mr. Monkels hin, dann erkannte sie, dass die Verbindung zwischen einem Jungen mit einer Kapuze und einem alten Hund bestenfalls als schwach bezeichnet werden konnte. Also dachte sie darüber nach, ob ihr Traum in Zusammenhang mit Pennys katastrophalem Liebesleben stehen könnte. Aber ein Ende dieser Katastrophe war nicht abzusehen. Das könnte das Weglaufen erklären. Die arme Penny! Allerdings war das Kind eindeutig ein Junge und kein Mädchen. Und außerdem – Pennys Liebesleben war vielleicht nicht gerade der Stoff, aus dem die Märchenträume sind, aber wenigstens hatte sie überhaupt eins. Um Viertel nach vier begann Mary darüber nachzugrübeln, warum sie allein war. Bin ich frigide? Nein, ich mag Sex genauso gern wie jeder andere. Man fühlt sich so entspannt hinterher. Habe ich Angst? Ja? Nein? Vielleicht. Also, das wird jetzt wirklich zu kompliziert. Themenwechsel. Bin ich verrückt? Hat mich die Trauer in den Wahnsinn gestürzt? Mary lächelte, denn plötzlich spukte ihr die Melodie von She’s a Maniac im Kopf herum. Obwohl es ihr gut tat, ihre Gedanken schweifen zu lassen, schien sich ihr Puls nicht zu beruhigen, und das unbehagliche Gefühl wollte auch nicht verschwinden. Also konzentrierte sie sich wieder auf etwas anderes. Ihr Vater hatte gerade sein Herz untersuchen lassen und wie es aussah, war er gesünder als ein Teenager. Ivan schien es rundum gut zu gehen, wenn er sich auch nach seiner grässlichen Trennung immer noch in seinem neuen Leben zurechtfinden musste. Die Sache war jetzt schon ein Jahr her, aber er hatte noch nicht einmal den Versuch gemacht, eine neue Freundin zu finden. Auf Mary wirkte das wie reine Verschwendung, denn ihr Cousin war freundlich, liebevoll und sah noch dazu gut aus. Gegen fünf Uhr schwor sie sich, besser auf ihn aufzupassen, denn Ivan war nicht fürs Alleinsein gemacht. Um sechs war sie immer noch unruhig. Vielleicht lag der Grund für ihre Stimmung auch in dem Regen, der eingesetzt hatte, kurz nachdem sie aufgewacht war. Im Jahr zuvor waren die Anlegestelle überflutet und einige Cottages durch die Überschwemmungen stark beschädigt worden. Sie hatte unheimliches Glück gehabt, denn ihr Cottage hatte nichts abbekommen, doch Mary wusste, dass sie kein zweites Mal solches Glück haben würde. Schon das erste Mal war es ein reines Wunder gewesen. Vielleicht war es die Furcht vor einer Überschwemmung, die im Unbewussten an ihr nagte. Ja genau, das musste es sein.

Obwohl sie auf die Menschen, die sie mochten, immer ruhig und ausgeglichen wirkte, und auf diejenigen, die sie nicht mochten, möglicherweise unzugänglich und arrogant, machte sich Mary oft Sorgen, die anderen Leuten niemals einfallen würden. Wie oft hatte sie vor ihrem inneren Auge schon einen Film über schreckliche Katastrophen gesehen, die sie überlebte, während all ihre Lieben unweigerlich umkamen. Das Ende der Welt war das Leitmotiv in ihren Albträumen. Sie blieb dann ganz allein mitten im Universum zurück, um sie herum nichts als unendliche Leichenfelder und Zerstörung. Doch Mary hielt sich weder für depressiv noch für paranoid; sie litt an keiner psychischen Krankheit. Ihr war einfach nur klar, dass schlimme Dinge geschahen und dass sie auch ihr zustoßen konnten. Sie konnte es sich eben einfach nicht so bequem machen und über Tod und Unglück plaudern, als ginge es sie nichts an, um im nächsten Atemzug über die neueste Schuhmode zu reden. Nicht nur Mary, sondern auch viele andere Leute aus Kenmare glaubten seit langem, dass sie den Menschen, die sie liebten, Unglück brachte. Sie war daran gewöhnt, von anderen «Pechmarie» genannt zu werden. Natürlich wurde dieser Name nur hinter ihrem Rücken benutzt, aber manchmal verhaspelte sich jemand und dann ergänzte sie gewöhnlich das angefangene Wort: «Pech …»

Dieser Name war aufgekommen, weil viele Menschen in ihrer nächsten Umgebung gestorben waren. Ihre Mutter, ihren Freund und ihren Sohn hatte der Tod schon geholt, und Mary hatte längst akzeptiert, dass sie für immer eine Außenseiterin bleiben würde. Ihr Vater versuchte oft, ihre Theorie mit dem Hinweis zu entkräften, dass er schließlich noch lebte, doch sie lächelte nur dazu und lenkte ihn mit einem Scherz ab, damit er sich keine Sorgen um sie und ihre Ängste machte. Aber das änderte nichts daran, dass sie ihn sehr wahrscheinlich ebenfalls überleben würde und dass eines Tages ein Foto von ihm an ihrer Wand hängen würde, in dessen Anblick sie sich an einem Regentag verlieren konnte.

Mary stellte einen Korb mit frischgewaschener und -gefalteter Wäsche unter die Treppe, nachdem sie eingesehen hatte, dass sie nach vier Tagen Migräne und einer schlaflosen Nacht einfach zu erschöpft zum Bügeln war. Dann klingelte das Telefon, und sie war einen Moment lang versucht, nicht abzuheben, doch dann siegte ihre Neugier.

«Hallo?», meldete sie sich mit leicht genervter Stimme.

«Hast du diese Sintflut da draußen gesehen?» Es war Penny.

«Ja», sagte Mary, erleichtert, die Stimme ihrer Freundin zu hören. «Mr. Monkels hat eine Schweinelaune.» Sie lachte.

«Mr. Monkels stinkt höchstens wie ein Schwein», gab Penny zurück, und Mary lachte wieder, denn Penny hatte recht – die Ausdünstungen ihres Hundes waren berüchtigt.

«Geht’s dir wieder besser?», fragte Penny.

«Ja.»

«Keine blinden Flecken, Gesichtslähmungen oder temporäre Blindheit?»

«Nein, alles wieder im grünen Bereich.»

«Sehr gut», kommentierte Penny. «Sollen wir das nicht mit einem Kinobesuch in Killarney feiern?»

Mary warf einen Blick aus dem Fenster. «Draußen ist es furchtbar. Ich wollte mir einen Tee kochen, mich mit Mr. Monkels aufs Sofa kuscheln, mir eine DVD ansehen und gemütlich zuhören, wie der Regen gegen meine Fenster trommelt.»

Davon war Penny nicht sehr begeistert, denn sie wollte unbedingt den neuen Film mit George Clooney sehen. «Wirklich, Mary, du benimmst dich schon wie eine alte Oma. Wie willst du eigentlich jemanden kennenlernen, wenn du abends mit deinem Hund auf dem Sofa sitzt?»

«Ach, und im Cineplex von Killarney lernt man also tolle Männer kennen?», gab Mary zurück und musste über die Absurdität dieser Idee grinsen. «Außerdem spricht eine Menge dafür, zu Hause zu bleiben», fuhr sie fort und versuchte gleichzeitig, mit etwas Spucke einen Schokoladenfleck von ihrer Strickjacke abzureiben. Dabei fiel ihr auf, dass Pennys Argumentation von dieser Strickjacke noch gestützt wurde, also zog sie sie aus. Sie mochte keine Lust haben, im Cineplex nach Männern Ausschau zu halten, aber sie wollte sich auch nicht in Miss Marple verwandeln.

«Willst du nicht vorbeikommen?», fragte sie.

«Hmm, mal überlegen», sagte Penny. «Die Entscheidung lautet also: George Clooney oder du und dein Hund?»

«Worum geht’s denn in dem Film?», fragte Mary nur aus Neugier.

«Wen interessiert das schon? Mir reicht ein attraktiver Anblick», antwortete Penny erwartungsgemäß.

«Und ich bin dann wohl der traurige Anblick», sagte Mary mit gespielter Enttäuschung.

«Naja, ‹Pechpenny› klingt eben einfach nicht so gut. Übrigens ist nichts Trauriges dabei, wenn man diesem sexy Typen dabei zusieht, wie er ein bisschen in die Trickkiste greift.»

«Mir hat er am besten in Emergency Room gefallen. Er konnte unheimlich gut mit Kindern umgehen.» Marys Stimme klang träumerisch.

«Ja, genau das macht ihn ja auch so wahnsinnig anziehend!», sagte Penny lachend.

Darauf folgte Schweigen, denn keine von ihnen hatte Lust nachzugeben. Mary wollte unbedingt zu Hause bleiben, und Penny wollte unbedingt ausgehen.

«Komm schon, ich habe das dringende Bedürfnis nach seichter Unterhaltung und ein bisschen Ablenkung. Wenn du fährst, kann ich etwas trinken», bettelte Penny.

Mary dachte kurz darüber nach, bevor sie grummelte: «Du brauchst immer Ablenkung.»

Normalerweise hätte Penny nicht so schnell aufgegeben, aber sie wusste, dass Mary nicht gern bei Regen über den Berg fuhr und außerdem, auch wenn sie das Gegenteil behauptete, bestimmt noch nicht ganz fit war.

«Ich habe eine Flasche Wein im Kühlschrank», sagte Mary, denn dies war für Penny der entscheidende Faktor, wenn sie zwischen Mary und einem Filmstar wählen musste.

«Na gut», lenkte Penny ein. «Welche DVD hast du?»

Mary griff nach der Hülle, die auf dem Couchtisch lag, und warf dabei einen Blick auf Mr. Monkels, der inzwischen seine Pfoten sehnsüchtig gegen die Scheiben drückte, als wäre er ein Sträfling am Zellenfenster.

«Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa», las Mary vor.

«Gilbert was?»

«Lasse Hallström hat Regie geführt», sagte Mary.

«Wer?»

«Er ist auch Regisseur von Ein charmantes Ekel», las Mary weiter vor.

Penny zeigte sich unbeeindruckt.

«Damit war er scheinbar sogar beim Sundance Film Festival nominiert», fuhr Mary begeistert fort.

«Sundance bedeutet wertvoller Film, und wertvoller Film bedeutet todlangweilig.» Penny konnte wirklich eine bühnenreife Verachtung in ihre Stimme legen.

Mary lächelte. «Ja, aber dieser hier war offenbar nicht beim Sundance Festival, es geht um …» Den Rest des Textes auf der DVD-Hülle überflog sie schweigend und beschloss, ihn Penny lieber nicht vorzulesen.

Penny überdachte inzwischen ihre Möglichkeiten. «Der Gilbert-Film von einem Regisseur, der sich anhört wie ein Schlechtwettergebiet, oder George Clooney?»

Mary hatte bisher nicht auf die Besetzungsliste des Filmes geachtet, doch als sie zufällig einen Blick darauf warf, wusste sie, dass sie gewonnen hatte.

«Ha!», rief sie triumphierend. «Johnny Depp und Leonardo DiCaprio spielen mit!»

«Mach schon mal den Wein auf, ich bin unterwegs.»

2Wiedergeburt

Eigentlich hätte Danziger am Abend von Sams Einlieferung dienstfrei gehabt, doch er hatte mit einem Kollegen die Schicht getauscht, weil er in der folgenden Woche mit seinem Sprössling ein College in Augenschein nehmen wollte. Die Nacht war mit Ausnahme von ein paar Übelkeitsanfällen bei Therapiepatienten ziemlich ruhig gewesen. Trotzdem war Sams Aufnahme recht überstürzt abgelaufen, sogar die Warteliste war ignoriert worden, und daraus konnte man schließen, dass dieser Patient oder jemand in seinem Umfeld nicht nur Geld, sondern auch Einfluss hatte. Danziger hatte sich schon oft genug über diese «reichen Riesenarschlöcher», wie er sie nannte, aufgeregt. Er hielt sie für noch größere Scheißkerle als die armseligen Schnorrer von der Straße, und gewöhnlich behielt er damit recht.

Er half den Sanitätern, Sam aus dem Krankenwagen zu holen, mit dem sie ihn von einer Notaufnahme hierher gebracht hatten. Den Mitarbeitern dort war wie durch ein Wunder eine Reanimation gelungen. Seine Freundin hatte ihn bewusstlos auf dem Badezimmerboden liegend gefunden. Eine abgebrochene Nadel hatte in seinem Arm gesteckt, und auf seinen bläulich verfärbten Lippen war schaumiger Speichel getrocknet. Und jetzt vertraute sie ihn den Leuten von Rebirth zur Rettung an. Sie war nicht im Krankenwagen mitgefahren, sondern folgte ihm in ihrem Riesenschlitten, obwohl sie die Entzugsklinik gar nicht betreten durfte. Als sie ausstieg, verliehen ihr die riesige Sonnenbrille und der Schal, den sie sich um den Kopf geschlungen hatte, die geheimnisvolle Aura längst vergessener Filmstars aus den Fünfzigerjahren. Danziger erkannte die bekannte Sängerin nicht, als sie sich von ihrem Lover verabschiedete, der immer noch bewusstlos war und gefährlich flach atmete. Für Pop und Rockmusik interessierte sich Danziger kaum. Ihm fiel vor allem ihre Schönheit auf, und sie tat ihm leid, als so ein paranoider Wichtigtuer im Anzug darauf bestand, dass sie wieder in ihren Wagen stieg, kaum dass sie Zeit gehabt hatte, dem halb toten Blödmann einen Abschiedskuss zu geben. Hastig schob der Bodyguard sie wieder in ihr Luxusauto und die Halbleiche mit den Herzrhythmusstörungen wurde in das Gebäude gerollt, das Danziger gern als den «Mutterschoß» bezeichnete. Er sah noch zu, bis die Sanitäter mit dem Krankenwagen abfuhren, und dann folgte er Sam in die Klinik.

Mit einem Fuß im Grab und jetzt wieder im Mutterschoß, mein Lieber. Du bekommst eine zweite Chance. Versau sie nicht.

Sam würde Danziger vermissen, auch wenn er ihn im ersten Moment und solange er noch unter Drogeneinfluss stand, für einen gemeinen Schlägertypen gehalten hatte, dessen einziges Ziel es war, ihn fertigzumachen. Als er wieder klarer denken konnte, hatte er sich immer mehr auf Danziger mit seinen festen Grundsätzen, seiner Klugheit und seiner Freundlichkeit verlassen. Danziger hatte auf ihn aufgepasst, als sich sein Körper so sehr in Krämpfen schüttelte, dass Sam den Schmerz bis in seine zusammengebissenen Zähne spürte. Danziger hatte ihm die Stirn gehalten, während er über der Toilettenschüssel sämtliche Sünden hochwürgte, die er seinem Körper und seiner Seele zugefügt hatte. Danziger hatte ihn sanft flüsternd mit Trost und mit Erklärungen versorgt, während er stöhnend auf dem Boden lag, mit schmerzenden Knochen, verspannten Muskeln, verkrampftem Magen und brennenden Augen. Und Danziger hatte ihn auch in die Arme genommen, als er angefangen hatte zu schluchzen wie ein kleines Kind. Und dieser Danziger verabschiedete sich jetzt von ihm. Ich will nicht zurück. Sam dachte an zu Hause und spürte, wie ihn Panik erfasste.

«Alles klar, Kumpel?», hörte er Danziger leise fragen. Sam nickte – glatte Lüge.

Wenn ich nach Hause gehe, werde ich es nie schaffen. Wenn ich nach Hause gehe, bin ich noch vor dem Wochenende wieder auf H. Wenn ich nach Hause gehe, enttäusche ich wieder alle.

«Was denkst du?», fragte Danziger.

«Ich denke, ich sollte besser nicht nach Hause gehen», gab Sam zu, während er versuchte, seine immer größer werdende Panik unter Kontrolle zu bekommen.

«Dann lass es», sagte Danziger.

«Du machst wohl Witze», gab Sam zurück.

«Wenn du dich dabei nicht wohl fühlst, dann mach lieber einen Bogen um deine Haustür», mahnte Danziger.

«Ist es wirklich so einfach?», fragte Sam, und man hörte ihm an, dass er die Antwort nicht glauben würde.

«Hast du in der Therapie eigentlich auch nur ein einziges Mal richtig zugehört?»

«Nein, das habe ich, so gut es ging, vermieden», murmelte Sam. Danziger schüttelte den Kopf und strich sich seufzend über die gerunzelte Stirn.

«Jetzt hör mir mal gut zu», sagte er mit seiner Stimme für ernste Momente. «Wenn dein Job, deine Familie, deine Freunde oder auch nur dein blödes Schoßhündchen dich wieder in Versuchung führen könnten – dann halt sie dir vom Leib.»

«Und wo soll ich hin?», fragte Sam und versuchte eine Mischung aus Angst und Frustration niederzukämpfen.

«Du bist doch reich. Du kannst überall hin und dir noch dazu aussuchen, was du dort tun willst», sagte Danziger ohne die geringste Spur von Mitleid. Schließlich gab es ziemlich viele Leute, die tausendmal schlechter dran waren als Sam. «Dein Leben ist beschissen. Also ändere es.»

Obwohl er das Kind irisch-katholischer Eltern war, hatte Sam nie an einen allwissenden, allumsorgenden, allgewaltigen Gott geglaubt. Als Kind hatte er es ernsthaft mit der Religion versucht, aber die Sache mit der Erbsünde war äußerst lästig, und was die Pfarrer predigten, überzeugte ihn nie. Wissenschaft war einleuchtend, Göttlichkeit nicht.

Nach der Entgiftung war eine Therapie fällig. Der Therapeut hatte ihn überrascht – ein bärtiger Weißer Anfang vierzig, der ausschließlich Jeans und verwaschene Band-Shirts von The Sex Pistols, Blondie und The Ramones trug. Außerdem ließ er sich ausschließlich mit seinem Spitznamen «Phones» anreden. Schon in der ersten Sitzung war klar, dass sein Umgang mit den Klienten genauso ungewöhnlich war wie seine Aufmachung.

«Na Sam, jetzt richtig schön high sein, das wär’s, oder?» Er grinste Sam an, der immer noch unter leichtem Zittern litt.

Zur Antwort lächelte Sam unsicher, denn er wusste nicht genau, ob Phones wirklich vor ihm saß oder womöglich eine seiner Halluzinationen war.

Phones grinste noch breiter. «Entzug ist wirklich die Hölle.»

Es war gut, dass die Angestellten bei Rebirth alle einmal nach irgendetwas süchtig gewesen waren. Sie erzählten ihre Geschichten gar nicht, aber sie brachten echtes Mitgefühl auf, hörten zu und waren unerschöpflich mit ihren Ratschlägen. Gewöhnlich waren das ganz praktische Tipps, die verhindern sollten, dass die Patienten wieder in ihre alten Lebensmuster zurückfielen.

Während einer seiner Sitzungen mit Phones – Sitzungen, die Sam trotz seines allgemeinen Hasses auf Therapien manchmal fast genoss – kamen sie auf seinen Tod zu sprechen. Es hatte damit angefangen, dass sie darüber redeten, ob Sid Vicious von den Sex Pistols noch am Leben wäre, wenn er sich nicht in Nancy Spungen verliebt hätte. Phones war der Meinung, dass Vicious eine Chance gehabt hätte, doch Sam glaubte, Sid sei schon lange vor dieser Beziehung ein Todeskandidat gewesen.

«Aber durch sie hat er überhaupt erst mit dem Heroin angefangen», erinnerte ihn Phones.

«Sonst hätte ihn jemand anders an die Nadel gebracht», meinte Sam und nickte, als wolle er sich selbst zustimmen.

Phones lächelte. «Also meinst du, er wollte sterben?»

Sam dachte einen Moment lang nach. «Ja, vermutlich wollte er das.»

«So wie du?»

Sam hob die Hände. «Noch sitze ich schließlich hier vor dir.»

«Aber du warst eigentlich schon tot.»

Sam betrachtete Phones ungläubig. «Quatsch.»

Phones blätterte in Sams Akte. «Hier steht, dass du diese Welt mehr als drei Minuten verlassen hast.»

Sam brachte kein Wort heraus. Stattdessen schüttelte er nur den Kopf.

«Das EKG war auf der Nulllinie», Phones zog mit dem Finger eine unsichtbare, waagerechte Linie auf den Tisch.

«Meine Güte», hörte sich Sam sagen und dann spürte er, dass sich schwere Kopfschmerzen ankündigten.

«Du hast wirklich wahnsinniges Glück gehabt, Sammy.» Phones lächelte. «Kaum ein Mensch überlebt so etwas, und diejenigen, die es trotzdem schaffen, haben hinterher alle möglichen Hirnschäden. Da hat jemand so richtig auf dich aufgepasst, Mann.»

Sam wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er wollte nur noch in sein Zimmer zurück. Im Bett zog er die Decke über den Kopf, und die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Doch er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Jemand hat auf mich aufgepasst. Blödsinn! Und während er da unter seiner Decke kauerte, fand er wieder einmal, dass er für seinen Atheismus sehr überzeugende Gründe hatte. Und jetzt hatte er noch einen mehr, denn er war gestorben, und da war nur ein Nichts gewesen. Weder hatte er Engelschöre gehört noch ein überirdisches Leuchten gesehen. Keine einzige Stimme hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert. Keine Gottesmacht hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Und glücklicherweise war er auch nicht ins Höllenfeuer geworfen worden, und sein Geist hatte keinerlei teuflischen Qualen erlitten. Der Leibhaftige war nicht erschienen, und es hatten ihn auch keine spitzen Zauberstöcke in den Hintern gepikt, wie es Mrs. Potter, seine erste und einzige Sonntagsschullehrerin, vorausgesagt hatte.

Anscheinend war der mächtige Danziger das gottähnlichste Wesen, dem Sam jemals begegnen sollte.

Sam hatte ein paar Tage gewartet, bevor er mit seinem neuen Freund über seine Todeserfahrung sprach. Es überraschte Danziger, dass Sam niemals ans Beten gedacht hatte, obwohl er gerade dem Tod von der Schippe gesprungen war. Sam hatte erklärt, dass er an gar nichts glaubte, aber dazu hatte Danziger nur gelacht und gesagt, es sei schon in Ordnung, Jesus würde auf ihn warten. «Ich hoffe, er hat was Gutes zum Lesen dabei», meinte Sam darauf, «es könnte nämlich ein bisschen länger dauern.» Grinsend hatte ihm Danziger auf die Schulter geklopft.

«Du schaffst es schon», hatte er gesagt und Sam dabei auf eine Art angesehen, als wüsste er etwas, von dem Sam keine Ahnung hatte.

Und jetzt also verließ Sam die Entzugsklinik und sollte beweisen, dass er es in dieser oberflächlichen Welt da draußen wirklich schaffte. Ihre Gespräche über Politik, Religion und Gesellschaft würden ihm fehlen. Genauso wie ihre Pokerpartien und Danzigers leises Lachen. Zwar hatten ihm die Sitzungen mit Phones auch gut gefallen, und sie hatten sogar gemeinsame Interessen in der Musik gefunden, doch er hatte sich an seinen Therapeuten nie so eng angeschlossen wie an seinen Pfleger. Möglicherweise lag es daran, dass Phones einfach zu viele Fragen gestellt hatte.

«Warum?»

«Was ist passiert, Mann?»

«Ab wann ist es aus dem Ruder gelaufen?»

«Wovor versteckst du dich?»

«Was macht dir Angst?»

«Woher kommt dieser Selbsthass?»

Diese Fragen konnte Sam unmöglich beantworten, denn sonst müsste er sich dem stellen, was ihm vor all den Jahren zugestoßen war, genau wie der schrecklichen Sache, die er kürzlich getan hatte, und das war einfach unmöglich.

Danziger stellte keine Fragen, und deshalb, auch wenn er die Antworten auf Phones’ Fragen niemals kennen würde, hatte er ein besseres Gefühl dafür entwickelt, was Sam für ein Mensch war.

Sam sah zu seinem Pfleger auf. «Ich werde nicht in mein altes Leben zurückkehren», sagte er zuversichtlich.

«Und hier wirst du auch nicht bleiben», ergänzte Danziger wie zu erwarten. Sam konzentrierte sich auf den blauen Hintergrund, der hinter der weißen Kumuluswolke über Danzigers Kopf zu sehen war. Er erinnerte sich an einen Lieblingsspruch seiner Granny Baskin. Das Leben ist so leicht oder so schwer, wie du es dir machst. Er hoffte, dass wenigstens einer seiner liebsten Menschen nicht nur Quatsch von sich gegeben hatte. Danziger war schweigend in die Betrachtung seiner nikotingelben Finger vertieft. Sam musste lächeln. Sein weiser Berater konnte nie einfach nur still dasitzen. Wie ein gelangweilter Teenager musste er ständig auf eine Tischplatte trommeln oder die Fingerknöchel knacken lassen. Manchmal sah es aus, als zählte er seine Finger durch, um sicher zu sein, dass keiner abhandengekommen war. Vielleicht fürchtete er aber auch gar nicht, dass ihm ein Finger verloren ging, sondern dass ihm plötzlich ein zusätzlicher wuchs. Das Ganze war offenbar ein nervöser Tick, und Sam überlegte, ob er jetzt, wo er drogenfrei war, auch anfangen würde, seine Finger zu zählen und seine Knöchel knacken zu lassen. Er war fest entschlossen, nichts dergleichen zu tun, denn diese Angewohnheit war das Einzige, was ihn an dem klugen Pfleger störte. Mit einem Mal musste Sam lachen, und Danziger hob erstaunt den Blick von seinen verfärbten Fingern.

«Du hast recht», sagte Sam, und es kam ihm vor, als löse sich eine dicke, schwarze Wolke auf. «Ich kann überall hingehen. Und das Beste ist: Ich weiß sogar schon ganz genau, wohin.»

Danziger lächelte in sich hinein, denn trotz seiner anfänglichen Bedenken mochte er Sam inzwischen sehr. Er fand nicht alle Patienten sympathisch, aber es half, wenn er jemanden mochte. Dann arbeitete er besser, und das vermittelte ihm ein gutes Gefühl. Junkies wie Sam erinnerten ihn daran, dass sein Job einen Sinn hatte. Was du auch vorhast, bau bloß keinen Mist.

***

Mary hatte lächelnd aufgelegt und sich noch eine Tasse Tee eingeschenkt. Während sie auf ihre Freundin wartete, tunkte sie einen Keks in den Tee. Zu Mr. Monkels’ äußerstem Missfallen klatschte der Regen weiterhin gegen die Fensterscheiben. Mary stand auf, um andere Musik aufzulegen. Inzwischen liefen nicht mehr die Scissor Sisters, sondern Radiohead, und deren Musik hielt Penny für so schwachsinnig, dass sie auf dem Absatz umdrehen würde, falls die Musik noch lief, wenn sie kam. Mr. Monkels hörte am liebsten Eminem, aber Mary war viel zu fertig, um sich beschimpfen zu lassen. Pech für Mr. Monkels, dass sie dazu sogar äußerst selten in der passenden Stimmung war. Jetzt entschied sich Mary für Simon and Garfunkel, weil die Musik gut zu ihrer nachdenklichen Stimmung passte und doch eine Heiterkeit besaß, die verhinderte, dass sie melancholisch wurde.

«Verstehst du, was mit mir los ist?», fragte sie ihren Hund, während sie die Lieder bis zu Scarborough Fair übersprang, aber Mr. Monkels schnaubte nur beleidigt, weil scheinbar gar nichts so lief, wie er es gerne hätte. Das Schnauben verwandelte sich in ein seltsames Husten, dann nieste er mehrfach. Das folgende Gesabber beförderte Mr. Monkels mit einem Kopfschütteln von seinem Maul auf ihr Sofapolster, und Mary beschloss, sich einen anderen Tierarzt zu suchen. Wieder wanderten ihre Augen zu dem Foto von Ben und Mr. Monkels im strahlenden Sonnenschein. Sie musste lächeln. Damals hatte Mr. Monkels nie so pfeifend geatmet. Dann hörte sie ein Motorengeräusch. Mr. Monkels richtete sich auf, doch Mary reagierte nicht. So schnell konnte Penny nicht angekommen sein.

***

Penny nahm eine Flasche Wein aus dem Regal und beschloss, ihren Vorrat demnächst aufzufüllen. Als sie gerade den Mantel anzog, läutete das Telefon, und weil sie dachte, Mary wolle eine Post-Migräne-Schokoladenbestellung aufgeben, nahm sie ab.

«Penn.» Es war Adam.

O nein – bitte nicht.

«Was willst du?», fragte sie, wütend, weil er sie so unvorbereitet erwischt hatte.

«Dich», sagte er, und sie sah sein verlegenes Grinsen vor sich und hätte ihm am liebsten eine gelangt.

«Hast du das auch schon deiner Frau erzählt?», fragte sie sarkastisch und mit einer winzigen Spur Bitterkeit.

«Sei doch nicht so», sagte er, und sie spürte Tränen aufsteigen.

Penny schwieg. Es gab nichts mehr zu sagen. Er hatte am Abend zuvor alles gesagt. Er musste es beenden. Er konnte seine Frau nicht verlassen. Eigentlich war ihr das schon lange klar gewesen. Sie wusste, dass er – auch wenn sie ihn noch so sehr liebte – nicht ihr gehörte. Er hatte drei Kinder und war Geschäftsführer im Unternehmen seines Schwiegervaters. Er gehörte zu seiner Frau. Sie hatte es nicht verdient, verlassen zu werden – jedenfalls hatte er es am Abend zuvor so ausgedrückt, als er die Affäre ein für alle Mal beendete. Es spielte keine Rolle, dass er Pennys erste und größte Liebe war oder dass er sie leidenschaftlich begehrte. Es spielte keine Rolle, dass sie sich schon mehr als die Hälfte ihres Lebens liebten. Es spielte keine Rolle, dass er seine Frau geheiratet hatte, um sich über Penny hinwegzutrösten, nicht weil er sie liebte. Es spielte nicht einmal eine Rolle, dass ihr Leben langsam einer Herz-Schmerz-Serie glich. Er war mit einer anderen verheiratet, und das bedeutete, dass Penny ein Anhängsel war, sich im Hintergrund zu halten hatte, sich in den Schattenzonen einer fremden Ehe herumdrücken musste. Aber damit war jetzt Schluss. Sie ertrug diese Situation einfach nicht länger.

«Du hattest recht damit, die Geschichte zu beenden. Ich will nicht mehr allein sein, Adam», sagte sie mit erstickter Stimme, und gegen ihren Willen liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

«Das wünsche ich dir natürlich auch nicht, ich … ich …» Er wusste nicht, was er sagen sollte, weil es einfach nichts mehr zu sagen gab.

Sie hörte, wie er die Fassung verlor, und statt ihn zu schlagen, hätte sie jetzt am liebsten nachgegeben. Aber das durfte sie nicht. Sie musste stark bleiben.

«Ich muss los», sagte sie.

«Nicht», bat er.

Doch sie legte auf, sank auf dem Boden in sich zusammen und schluchzte zum fünften Mal an diesem Tag. Am liebsten hätte sie den blöden DVD-Abend abgesagt, andererseits wäre es noch schlimmer, wenn Adam plötzlich unangemeldet vor ihrer Tür stünde, denn dann würde sie ihn sehr wahrscheinlich ins Haus lassen, und wenn er erst einmal da war, würde sie es kaum noch fertigbringen, bei ihrem Nein zu bleiben. Am besten genehmigte sie sich einen Drink, zur Nervenberuhigung.

 

Aus dem Nachmittag war inzwischen Abend geworden. Es war kaum jemand auf der Straße, als Penny durch die Stadt fuhr, vorbei an den Pubs, Restaurants und Läden, alle in hellen Farben gestrichen und mit Blumenkästen geschmückt, deren bunte Pflanzenpracht den Regen gierig aufsaugte. Penny weinte nicht mehr, aber die Tropfen, die an der Windschutzscheibe hinabliefen, drückten genauso gut aus, wie sie sich fühlte. Als plötzlich Sinéad O’Connors Version von Nothing Compares 2 U im Radio kam, hätte sie sich fast einen Fingernagel abgebrochen, so hastig verstellte sie den Sender. Trotzdem, es war gut so. Sie würde sich mit Mary eine DVD ansehen, über belangloses Zeug reden und eine Weile ihr jämmerliches Leben vergessen. Normalerweise gefiel es ihr nicht sonderlich, dass Mary offenbar jede Hoffnung auf eine neue Liebe aufgegeben hatte, doch an Tagen wie diesem fragte sich Penny, ob das nicht die bessere Entscheidung war. Natürlich würde sie das niemals zugeben, vorerst nicht, jedenfalls.

 

Mr. Monkels hatte sich am Fenster aufgerichtet und grüßte bellend Mossy Leary von der Hausnummer drei. Mossy half Penny, unter dem böigen Wind ihren Schirm zu öffnen, obwohl es von ihrem Auto bis zu Marys Haustür nicht mal zehn Schritte waren. Mossy war Ende dreißig und trug sein langes, dunkelbraunes Haar immer und ewig in einem Pferdeschwanz. Ansonsten war er magerer als Kate Moss, und seine Telleraugen waren so riesig, dass Penny fand, er sähe aus wie eine Comic-Figur. Mossy war Teilzeit-Fischer, Teilzeit-Anstreicher, Teilzeit-Bildhauer und Vollzeit-Kiffer. Mary öffnete die Haustür und winkte Mossy zu, der ihren Gruß mit einem nach oben gerichteten Daumen zurückgab, um sich dann Richtung Stadt zu wenden, wo er vermutlich nach ein paar Freibier Ausschau halten würde. Mary lächelte ihre Freundin an, die über den dämlichen Schirm fluchte, während sie versuchte, sich mit der linken Hand über dem Kopf vor dem Regen zu schützen.

***

Schweigend ließ Danziger seine Fingerknöchel knacken. Er wünschte seinem neuen Freund, dass er draußen keinen neuen Absturz erlebte oder sich womöglich irgendwann eine Überdosis spritzte. Danziger hatte zu viel erlebt, um sich Illusionen über das Leben nach dem Drogenentzug zu machen, doch er wusste, dass man es schaffen konnte, sich etwas Neues aufzubauen. Und er wusste es umso besser, als er selbst genau das geschafft hatte. Er warf einen Blick auf Sam, der aus dem Fenster in den weißen Himmel starrte.

«Ziemlich groß, die Welt da draußen», bemerkte Danziger.

Sam sah zu ihm hinüber und nickte. Die Welt war groß, größer als er, Danziger und das weiße Zimmer, größer als die Stadt und der Staat New York, größer als die USA, und wenn er keine Lust hatte, musste er nicht in sein altes Leben zurückkehren. Er stand auf, öffnete den weißen Schrank, sah seine wenigen, dunklen Kleidungsstücke vor sich und begann zu packen. Danziger nickte, klopfte ihm auf die Schulter und ging hinaus.

Sam verließ die Klinik auf seinen eigenen Beinen. Hinein hatte man ihn auf einer Trage gerollt, und er war froh, dass man ihn nicht auf dieselbe Weise wieder hinausbrachte.

Danziger erwartete ihn auf der Veranda. Er rauchte.

«Das solltest du dir wirklich abgewöhnen. Die Dinger bringen dich nochmal um», scherzte Sam – auch etwas, was er neu hatte lernen müssen –, und Danziger grinste.

«Dann mache ich dir folgenden Vorschlag», gab er zurück. «Wenn du fünf Jahre clean bleibst, höre ich auf zu rauchen.»

Sam lachte und erklärte sich einverstanden.

«Sicher?», fragte Danziger. «Ja», sagte Sam, unsicher.

«Dann sieh zu, dass du diese Teufel in deinem Inneren loswirst. Andernfalls schaffst du es nicht mal ein Jahr.»

Sam nickte. Dann sah er über die Schulter des Freundes zum Chauffeur, der neben seiner schwarzen Limousine stand und darauf wartete, ihn nach Hause fahren zu können. Am liebsten hätte Sam die Flucht ergriffen.

Nach einem Moment des Schweigens umarmten sich die beiden Männer, nicht wie Brüder oder wie Vater und Sohn, sondern wie zwei Überlebende einer Schlacht.

«War gut, dich kennenzulernen», sagte Sam.

«Kann ich zurückgeben», erwiderte Danziger.

Sam lächelte ihn noch einmal an, bevor er in den Wagen stieg. Das kannst du nur sagen, weil du mich nicht kennst, dachte er. Sie winkten sich zu und das Auto fuhr los. Sam fürchtete sich vor allem, was ihn jetzt erwartete, und Danziger wusste das genau.

3Der Anfang vom Ende

«Du wohnst zehn Minuten und nicht sechs Stunden Fahrt von hier entfernt», sagte Mary und lächelte.

«Sorry.» Penny drückte sich an ihr vorbei ins Haus. «Ich bin aufgehalten worden.» Sie sagte weiter nichts dazu, und Mary gehörte nicht zu den Leuten, die andere ausfragten.

Ganz die perfekte Gastgeberin schenkte Mary gekühlten Weißwein ein. Penny trank einen Schluck und stellte dann mit einer abrupten Bewegung Simon and Garfunkels Sound of Silence ab, das Mary auf Repeat gestellt hatte.

«Was ist los?», fragte sie.

«Nichts», behauptete Mary.

«Hast du deinen Heulsusentag?» Penny sah ihre Freundin aus leicht zugekniffenen Augen an, als wäre sie ein Großinquisitor.

«Nein», log Mary.

«Lügnerin.» Penny seufzte. «Aber wenigstens ist es nicht Radiohead. Da wäre ich gleich wieder gegangen, das kannst du mir glauben.»

Mary lächelte. «Es ist alles in Ordnung.» Sie füllte Pennys Glas wieder auf.

«Dann ist es ja gut, auf Depressionen bin ich heute Abend wirklich nicht scharf», sagte Penny. Dann rümpfte sie die Nase und fragte, während Mary in der Küche verschwand: «Wonach riecht’s denn hier?»

«Nach warmer Sch …», sagte Mary beim Zurückkommen. Sie reichte Penny einen Teller mit Brot und Räucherlachs. Wie üblich hatte sie das Wort «Scheiße» abgekürzt. Mary hatte sich nach der Geburt ihres Sohnes abgewöhnt, solche Wörter laut auszusprechen, und war seither dabei geblieben.

«Hast du dir die Haare gefärbt?»

Mary nickte.

«Gut geworden», sagte Penny, während sie ihre Füße aufs Sofa legte und es sich mit ihrem Teller auf dem Schoß gemütlich machte.

Mary verschwand wieder in der Küche.

«Hey!», rief Penny.

«Ja?»

«Mossy hat gesagt, dass Lucy Thomas heute Nachmittag mal nebenan im Cottage war.»

Mary kam zurück und stellte ein paar Chilinüsse auf den Tisch. «Ach ja?», sagte sie und versuchte ihre Besorgnis zu verbergen.

Aber Penny kannte sie zu gut, um sich von ihr täuschen zu lassen. «Könnte sein, dass du bald mit einem neuen Nachbarn rechnen musst.» Sie lächelte und nippte an ihrem Wein, während sie gleichzeitig die Infotexte auf der DVD-Box las.

Mary machte sich inzwischen an den Vorhängen zu schaffen. «Bestimmt nicht», murmelte sie mehr sich selbst als ihrer Freundin zu. «Wahrscheinlich hat sie nur nachgesehen, ob es auch nicht reinregnet.»

Penny grinste über Marys Wunschdenken. «Sie kommt den ganzen weiten Weg von Mallow hierher, um zu gucken, ob es auch nicht reinregnet – ja, so muss es gewesen sein», kommentierte sie ironisch.

Dumme Nuss, dachte Mary und sah zu einem Boot hinaus, das auf den kabbeligen Wellen gegen den Pier schlug. Dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu: «Wie ist es in der Stadt?»

«Nass, windig und wie ausgestorben.» Auf Pennys Gesicht zeigte sich Verwirrung. Sie sah zu Mary auf und dann wieder auf den Infotext der DVD. «Als Gefangener der zerbrochenen Träume seiner zerrütteten Familie lebt Gilbert (Johnny Depp) – der ist ja so toll! – im winzigen Städtchen Endora. Nach dem Selbstmord seines Vaters übernimmt er für seine Mutter und seine Geschwister die Rolle des Ernährers und Beschützers. Momma (Darlene Cates) – kenn ich nicht – leidet an Fettsucht – oje! – und hat das Haus seit sieben Jahren nicht mehr verlassen. Ihre Kinder, einschließlich des geistig behinderten Arnie … Was? DiCaprio ist behindert? Willst du mich verschaukeln?»

Mary konnte nicht anders, als sich über Pennys Ausbruch zu amüsieren.

«Ivan hat gesagt, der Film wäre lustig, na ja, streckenweise», versuchte sie Penny zu besänftigen.

«Lustig? Ja, klingt wirklich brüllkomisch!» Und dann fiel es ihr auf. «Meine Güte, der Film ist ja von 1993! DiCaprio ist behindert und hat seinen Stimmbruch noch vor sich! Was soll ich damit anfangen?» Sie hielt die DVD in die Höhe wie eine Verkäuferin am Schnäppchenstand.

«Ich weiß nicht – was hättest du denn damit angefangen, wenn DiCaprio nicht behindert und über den Stimmbruch hinaus wäre?» Mary grinste.

«Stimmt eigentlich», lenkte Penny ein. «Trotzdem, das klingt nicht im Entferntesten nach einem seichten Unterhaltungsfilm.» Sie seufzte und legte die DVD auf den Couchtisch.

«Alles in Ordnung?», fragte Mary besorgt. Penny wirkte wie immer, aber Mary wusste, wie gut sie sich verstellen konnte. Mary hatte immer gedacht, Penny wäre eine großartige Schauspielerin geworden, aber nachdem sie einmal im Sommer einen Theaterworkshop gemacht hatte, fand Penny, sie sei von einem Haufen untalentierter Schwachköpfe umgeben, und hatte einen wahrhaft bühnenreifen Abgang hingelegt. Penny lächelte, doch Mary spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Vielleicht hatte der Traum doch etwas mit Penny zu tun.

«Mir geht’s gut. Nur dieser Dauerregen nervt mich», sagte Penny wenig überzeugend. Sie wollte nicht darüber reden, dass Adam und sie ihre Beziehung beendet hatten; vielleicht, weil sie die Sache am liebsten ganz vergessen würde oder weil sie nicht sicher war, ob sie es ernst meinten. Schließlich hatten sie sich auch früher schon diverse Male getrennt. «Leg einfach den Film ein und reich mir die Flasche rüber», sagte sie.

Das beruhigte Mary nicht, aber sie sagte nichts mehr. Wenn Penny so weit war, über ihre Probleme zu sprechen, wäre sie da, um ihr zuzuhören. Mary wusste, wie lästig es war, wenn sich andere Leute in die eigenen Probleme einmischten. Also lächelte sie ihre Freundin an, und ihre Freundin lächelte zurück. Beide fühlten sich wohl in der Gewissheit, dass Mary so lange nicht auf das Problem zurückkommen würde, bis Penny selbst es wollte.

***

Mia war um vier Uhr morgens aufgestanden. Inzwischen war es sechs Uhr abends, und Sam war vor acht Stunden aus der Entzugsklinik entlassen worden. Sie ließ ihren Blick durch Sams Wohnzimmer schweifen und betrachtete die Bilder an den Wänden. Alle waren in dunklen Farben gehalten, und alle hatten etwas Trostloses an sich. Das war ihr noch nie zuvor aufgefallen. Sams berühmte CD-Sammlung nahm eine ganze Wand vom Boden bis zur Decke ein und enthielt sämtliche Klassiker. Sam hatte immer die passende Musik, so viel war jedenfalls sicher. Auf einem Ständer in der Ecke lehnte eine Gitarre, eine 1954er Gibson-ES-295. Sie hatte einmal Scotty Moore gehört. Mia erinnerte sich an ihre erste Verabredung mit Sam und musste lächeln. Er hatte den ganzen Abend nur über diese Gitarre gesprochen. In seiner Erzählung hatte eine solche Leidenschaft gelegen, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Ja, früher war er ein Mensch mit Leidenschaften gewesen. Elvis war sein Idol, und Scotty Moores Gitarre zu besitzen, war eine große Sache für ihn. Sie bemerkte, dass auf Sams einstigem Heiligtum eine dicke Staubschicht lag, und fragte sich, ob ihm diese Gitarre wohl immer noch etwas bedeutete. Er konnte auch spielen, obwohl er es nie für sie getan hatte. Es war seltsam, das Instrument jetzt so vergessen in der Ecke stehen zu sehen. War es typisch für ihn, das, was er liebte, zu vernachlässigen?

Mia wandte ihre Aufmerksamkeit dem Mädchen zu, das den Gästen Häppchen anbot. Sie hatte unheimlichen Hunger, aber sie musste morgen ganz früh ans Set, um mit einem neuen HipHop-Star, für den sie vor ein paar Monaten eine Gesangseinlage aufgenommen hatte, einen Videoclip zu drehen. Sie musste – natürlich – im Bikini auftreten, also beschränkte sie sich auf ihr Wasser und heftete ihren Blick auf die Wohnungstür. Sie wünschte, ihr Bassist Caleb wäre bei ihr, aber er hatte ihre Bitte glatt abgelehnt, denn er und der Rest ihrer Band fanden ihren Freund schon seit langem total unerträglich. Trotzdem hätte es ihr gut getan, den zuverlässigen Caleb an ihrer Seite zu haben, genauso wie es ihr in den letzten Monaten gut getan hatte, auf ihn zählen zu können. Sie hatte ihn mehrfach gebeten, aber er schien Sams Fehler irgendwie persönlich zu nehmen, und obwohl sie ihn normalerweise immer überreden konnte, hatte er dieses Mal nicht nachgegeben.

Dann stellte sich Leland zu ihr. «Jetzt kehrt der Nomade also zurück.» Er lächelte sie an.

Blödmann! «Ja, das tut er.» Sie erwiderte sein falsches Lächeln.