Sohnzucht - Nicole Sommer - E-Book

Sohnzucht E-Book

Nicole Sommer

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Beschreibung

Am Anfang war es wie ein Traum - ein toller Mann, ein unglaublich schönes erstes Treffen, Rosen, ein Hof auf dem Land wie im Märchen. Aber ich habe dann nicht einen Mann geheiratet, sondern den Sohn einer bösartigen Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mich zugrunde zu richten. Was folgte, war eine verschworene Gemeinschaft von manipulativen, verlogenen und gewalttätigen Menschen, die auch nicht vor unseren Kindern halt machten. Ich war machtlos - die Staatsorgane glaubten mir nicht, da ich allein nicht gegen diesen Sumpf von Verderbtheit ankam. Dann eine Reise ans Meer und eine Versöhnung, und ich dachte, alles würde gut werden. Ich dachte mein Mann würde endlich zu mir halten und seine Mutter in ihre Schranken verweisen. Sollte das funktionieren? Oder wurde ich erneut getäuscht...

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All denen gewidmet, die durch Hinzuheirat in Familien durch die Hölle gehen müssen. Und meinen Kindern Leo und Lili.

VORWORT

Im Wörterbüchern steht, dass Liebe ein starkes Gefühl des Hingezogenseins zu einem Menschen oder eine Sache sei. Wenn man in einer Sommernacht eine Lampe mit einem umgebenden stromdurchflossenen Gitter im Balkon aufstellt oder aufhängt, werden Mücken und Fliegen ebenfalls zu dem Licht hingezogen, finden aber ein jähes Ende in der Nähe der Lampe. Ich bin weder eine Mücke, noch bin ich tot. Und geliebt habe ich wirklich. Aber auch gestorben bin ich fast, oder vielmehr, ich bin gestorben. Zumindest ein Teil von mir. Denn auch für mich gab es ein stromdurchflossenes Gitter, und das Licht war zwar verheißend, entsprang aber aus dem Schlund der Hölle. Beides, Gitter und Höllenlicht, nahm ich zu dieser Zeit nicht als das wahr, was es war. Zu schön hat das Licht geleuchtet, und zu blind war ich, um die Stromdrähte zu sehen. Dieses Buch erzählt meine Geschichte, oder die Geschichte meines früheren Ichs. Denn heute bin ich schlauer, und wenn auch nur ein Mensch ein bisschen hellhöriger wird und ein bisschen skeptischer darüber nachdenkt, bevor er eine lebenslange Bindung eingeht, dann hat sich das Schreiben dieses Buchs gelohnt. Und ich möchte diese Geschichte meinen Kindern geben, und ich hoffe, dass sie eines Tages alt genug sein werden, es zu verstehen. Und dann ein bisschen mehr darüber erfahren, wer ihre Mutter eigentlich ist, und was sie durchgemacht hat.

Inhaltsverzeichnis

Amelie

Ralf

Nicole

Ich sage ja zu Dir

Ich erwarte ein Kind

Hilde

Eine Wohnung für Drei

Mach doch nicht so ein Theater!

Ein Haus für den Prinzen

Leo wird geboren

Schon wieder Nele und Sonja

Freunde zu Besuch

Nimm doch meines

Amelie

Links liegen gelassen

Gespräch der Großmütter

Kellerkind

Krabbelgruppe

Paula wird verletzt

Doch noch ein Haus

Zweites Kind und Heirat

Der Marienkäfer

Deines ist Meines

Die passt nicht

Lili wird geboren

Lili ist verschwunden

Die Fratze zeigt sich

Eskalation

Der Krieg beginnt

Fremde Hilfe

Ralf dreht durch

Die Polizei kommt

Zusammenbruch

Ich kehre zurück

Frauenhaus

Übergriffig

Die Kur und der Neuanfang

Kinder schlägt man nicht

Ins Gesicht

Zweierlei Maß

Hinauswurf

Neue Kellerkinder

Missbrauch

Amtsverunstaltung

Amelie

1

AMELIE

Ich hatte meine Cousine seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich war nicht grundsätzlich eine schlechte Cousine, zumindest glaubte ich das nicht. Wie es dann dazu gekommen war, dass sich unsere Wege für so lange Zeit getrennt hatten? So genau konnte ich das gar nicht sagen, aber es musste in irgendeiner Weise damit zusammenhängen, dass sie vor einer Ewigkeit, wie es mir vorkam, eine eigene Familie gegründet hatte. Genauer waren es fünf Jahre, aber es kam mir gleichzeitig wie tausend Jahre vor. Und bei anderer Betrachtungsweise auch genau so, als ob es erst gestern passiert wäre. Vielleicht dachte ich damals, dass sie mich nicht mehr brauchte, dass es jetzt andere Menschen gab, die sich um sie kümmerten. Falscher konnte ich gar nicht gelegen haben. Das war mir noch nicht klar, als ich jenen unscheinbaren an mich adressierten Briefumschlag ohne Absender in meinem Briefkasten vorfand. Nur die Art, wie die Buchstaben meiner Adresse geschrieben waren, kam mir gleich vertraut vor, wie eine schöne Erinnerung, die sich in einem Sommernachtstraum während einer lauen Nacht manchmal offenbarte. In unserer Kindheit waren wir unzertrennlich, wie eineiige Zwillinge im Geiste. Wie genau es zu dieser verhängnisvollen Trennung kam, wie es sein konnte, dass ausgerechnet wir uns so lange aus den Augen verlieren konnten, würde sich mir erst später eröffnen. Und dann sollte sich meine Welt, die Art, wie ich die Dinge sah, für immer ändern.

Ich fand den Brief an einem Sonntagmorgen, als ich nach der Post sah. Ich hatte es an diesem Tag eilig, weil ich mit einer Freundin zum Kaffee verabredet war, daher legte ich ihn ungeöffnet mit der anderen Post in meine Wohnung ab und machte mich auf den Weg zu meiner Verabredung. Am Nachmittag kam ich zurück. Draußen hatte es zu regnen angefangen, daher ging ich erst ins Bad, um mich abzutrocknen. Auf dem Weg in die Küche nahm ich den Brief in die Hand. Ich setzte Teewasser auf und ließ mich am Tisch nieder. Ich öffnete den Brief mit einem Messer, entfaltete die Seite beschriebenes Papier, die ich im Umschlag vorfand, und begann zu lesen.

„Liebe Amelie, Wie fängt man einen Brief an eine Cousine an, nach so vielen Jahren? Ein ’es tut mir leid’ trifft es nicht ganz. Es tut mir unendlich leid, und ich weiß, dass es meine Schuld ist, dass wir so lange nichts voneinander gehört haben. Es war eine falsche Wahl, die ich getroffen habe, und meine Naivität, die mich danach davon abhielt, die falsche Wahl rechtzeitig rückgängig zu machen. Später kamen dann noch Menschen hinzu, denen ich mich anvertraute und die mich dann aber schändlich verrieten und meine Freiheit einschränkten. Vor fünf Jahren dachte ich, ich hätte die Liebe meines Lebens gefunden, und danach dachte ich, die kleine Familie die ich mit dem vermeintlichen Mann meiner Träume gegründet habe, er und meine beiden Kinder, wären das Paradies auf Erden. Aber ich hatte die Schlange vergessen, eine Schlangengrube, wie sich herausstellen sollte, und das Paradies war eine geschickt verkleidete Hölle. Es ist nahezu unglaublich, was mir und meinen Kindern in dieser Zeit passiert ist, und ich verfiel in einen Strudel der mich immer weiter von meinem normalen Leben und meiner Welt wegführte. Ich weiß, letztlich ist jeder für sich selbst dafür verantwortlich, dass so etwas nicht passierte. Aber ich war verblendet, lies mich von Beteuerungen und Aufmerksamkeiten einwickeln, und verfiel den oberflächlichen Annehmlichkeiten, die sich mir durch meinen Mann und seine Familie darboten. So kam es, dass ich es in Kauf nahm, dass Freundschaften und sogar die Verbindung zu dir verloren gingen. Nur mit meiner Mutter hielt ich Kontakt und wir sahen uns regelmäßig. Tatsächlich hat sie mir auch geholfen, soweit das in ihrer Macht stand. Manchmal fragte ich sie danach, wie es Dir geht. Zu mehr reichte mein Mut aber über lange Zeit nicht. Das möchte ich jetzt ändern, weil sich jetzt erst wieder langsam der Nebel um mein Leben lichtet, und ich mich auch wieder an die schöne Zeit erinnern kann, die wir beide als Kinder zusammen hatten. Wenn ich jetzt weiter schreibe, würden daraus leicht hunderte von Seiten werden, und es wäre vielleicht besser, wenn ich Dir mehr von dem was mir passiert ist bei einem Treffen erzählte. Dann könntest Du mir auch verraten, wie es Dir so ergangen ist in den letzten Jahren. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns sehen könnten. Meine Telefonnummer findest Du auf der beigefügten Karte. In Liebe, Deine Nicole“

Das war nun wirklich eine Überraschung! Meine liebe Cousine Nicole, von der ich so lange nur über meine Tante hörte, meldete sich nach so vielen Jahren bei mir und bat um ein Treffen. Ich muss schon zugeben, dass ich etwas auf Nicole sauer war, dass sie sich so aus unserem innigen Verhältnis davongestohlen hat. Damals schob ich es darauf, dass sie sich um ihre eigene Familie zu kümmern hatte, und dabei hatte sich schleichend und fast unbemerkt eingestellt, dass wir uns erst immer weniger und zum Schluss gar nicht mehr sahen. Den Punkt, an dem man hätte bemerken können, dass vielleicht etwas nicht stimmte in Nicoles Leben, hatte ich verpasst. Schließlich war es eine Mischung aus einer Enttäuschung über das Fernbleiben von Nicole und meiner eigenen Unfähigkeit, die Ursache außerhalb Nicole vermuten zu können, welche mich davon abhielt, meinerseits den Kontakt zu suchen.

Derlei Gedanken verfolgten mich nicht lange, denn ziemlich bald holten mich all die schönen Momente aus unserer gemeinsamen Kindheit ein, und hinzu kam eine nach und nach unbändig werdende Freude dazu, dass wir uns wiedersehen konnten. Am nächsten Tag rief ich bei der Nummer an, welche auf der dem Brief beigefügten Karte stand. Wir begrüßten uns herzlich und wechselten ein paar belanglose Worte am Telefon, wie um nichts vom Gewicht eines bevorstehenden Treffens zu nehmen. Am nächsten Wochenende sollte die Wiedervereinigung stattfinden.

2

RALF

Ralf war ein durchschnittlicher Schüler, aber Mathematik mochte er mehr als die anderen Fächer. Mathematik war einfach - es gab keine Diskussion über die Ergebnisse. Entweder war eine Zahl am Ende der Gleichung oder eine Formel am Ende einer Herleitung richtig, oder eben nicht. Man musste sich nicht entscheiden, man musste nicht das Für und Wider gegeneinander abwägen. Man musste nicht für oder gegen etwas einstehen.

Sein Zuhause war ein Hof etwas außerhalb einer kleinen Stadt. Dort lebten er und seine beiden Eltern. Zu dem Gehöft gehörte eine Tischlerei, die von seinem Vater betrieben wurde. Der verbrachte sehr viel Zeit in der Werkstatt und war dort lieber allein zugange, zumindest so lange Ralf noch zu jung war um ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen. Für Ralf und seine Zwillingsschwester Anja erschien es daher die meiste Zeit ihres jungen Lebens so, als ob ihr Vater nicht besonders viel Zeit und Energie für sie übrig hatte. So hatten weder Anja noch er ein besonders inniges Verhältnis zu ihrem Vater entwickeln können. Mit seiner Mutter war es etwas ganz anderes. Sie war stets sehr präsent, und eigentlich war es immer sie, die bestimmte, was zuhause geschah und wann es geschah. Auch hier gab es keine Diskussion, wie in der Mathematik in der Schule. Für Ralf war das kein Problem, er mochte seine Mutter sehr.

Andere Kinder, Mitschüler etwa, brachte er selten mit nach Hause. Er versuchte es einige Male, denn schließlich brachte der große Hof eine Unmenge an Möglichkeiten mit sich, mit anderen Kindern zu spielen. Aber seine Mutter verhielt sich dabei immer seltsam, sehr kalt und auf eine gespenstisch indirekte Weise abweisend, so dass er immer mehr davon Abstand nahm, Klassenkameraden mit nach Hause zu bringen. Er hatte irgendwie stets das Gefühl, dass die befremdliche Haltung, die seine Mutter andern Kindern entgegen brachte, seine Schuld war. Obwohl er nicht sagen konnte, woher das Gefühl kam, oder wie er es hätte verhindern können. Trotzdem war es für ihn letztlich besser, niemanden mehr mitzubringen, weil dann seine Mutter lieb und freundlich zu Ralf war und nur für ihn da zu sein schien.

Als er etwas älter wurde, begann er sich für die Mädchen aus seiner Schule zu interessieren. Zu der Zeit lernte er Carla kennen, deren Familie hinzugezogen war und die sich deswegen neu an der Schule vorstellte. Carla war hübsch, ein bisschen keck und sehr selbstbewusst für ihr Alter. Sie verbrachten viel Zeit miteinander in den Unterrichtspausen, und Ralf begann auch, sich mit ihr nach der Schule zu treffen. Dies blieb zu Hause nicht unbemerkt, und seine Mutter fragte ihn alsbald, was er die Nachmittage so machte und warum er öfter Mal nach dem Mittagessen ins Dorf verschwand, ohne genau Bescheid zu sagen was ihn dahin trieb. Er erzählte seiner Mutter von Carla. Dabei leuchteten ihm die Augen und er hoffte insgeheim, dass sich seine Mutter für ihn mit freute. Da sollte er sich aber täuschen. Als er von ihr erzählt hatte, brachte seine Mutter nur mit nüchternem Ton hervor: „Ach ja, du wirst schon wissen, was du tust!“, und verließ darauf das Zimmer. Ralf, etwas verdutzt von der Reaktion, dachte sich zuerst nicht viel dabei - seine Mutter würde sich schon daran gewöhnen, dass er auch Zeit mit einer Freundin verbrachte. Aber ein komisches Gefühl hatte er schon. Was zu verstehen er noch viel zu jung war: Carla und seine Mutter waren sich von ihrem Wesen her ähnlich, und das konnte nicht gut gehen.

Einige Tage später kam von seiner Mutter der Vorschlag, das Mädchen doch einmal nach Hause mitzubringen. Ralf war sehr froh über diesen Vorschlag. Jetzt, dachte er, würde alles gut werden. Seine Mutter konnte Carla kennen lernen, und danach hatte sie bestimmt nichts mehr dagegen, dass sie sich trafen. Der Besuch war für den kommenden Samstag Nachmittag geplant. Als der Tag des Besuchs kam, war Ralf etwas aufgeregt. Carla und er hatten sich direkt bei ihm zu Hause verabredet. Sie kam pünktlich und hatte ein hübsches, aber etwas eigensinniges Kleid an. Ralf lies sie ins Haus. Seine Mutter wartete im Wohnzimmer, und als sie beide zu ihr gingen, trat Carla einen forschen Schritt auf sie zu und gab seiner Mutter die Hand. Hilde musterte das Mädchen. Das dauerte nur zwei Sekunden und Ralf nahm ein leichtes Zucken in ihrer Miene wahr. Niemand konnte das sehen, nur Ralf, der seine Mutter so gut kannte. Der Rest des Besuchs verlief ohne weitere Auffälligkeiten. Hilde fragte Carla scheinbar nebensächlich über ihre Hobbys aus, und auch über ihre Mutter und den Rest ihrer Familie wurde geredet. Carla erzählte, dass ihre Mutter als Verkäuferin in einer Bäckerei im Dorf Arbeit gefunden hatte. Dabei stellte sich heraus, dass die Bäckerei einem Bekannten seiner Mutter gehörte. Das war eigentlich nichts Ungewöhnliches in einer kleinen Ortschaft - dort waren ja bekanntermaßen viele miteinander verwandt und jeder kannte jeden.

Nach ein, zwei Stunden verabschiedete sich Carla. Ralf brachte sie noch zur Tür und gab ihr ein Küsschen auf die Wange. Aus dem Augenwinkel bemerkte Ralf, dass Hilde halb hinter der Wohnzimmertür versteckt stand und sie dabei mit versteinertem Gesicht beobachtete.

Die folgenden Wochen passierte zuerst nichts weiter. Ralf konnte nicht ahnen, was in der Zeit hinter seinem Rücken geschah. Hilde spielte ihre vielfältigen Verbindungen aus und erkundigte sich überall im Dorf über Carla und ihre Mutter. Was sie dabei erfuhr, gefiel ihr offenbar nicht besonders, und so beschloss sie, Einfluss auf die Geschicke ihres Sohns zu nehmen. Ralf bekam von dem ganzen letztlich nur genau das mit, was für ihn bestimmt war: Carla distanzierte sich von Ralf. Alles Nachfragen half nichts - Carla wollte ihm nicht sagen, warum sie nichts Näheres mehr mit ihm zu tun haben wollte. Er erzählte zuhause davon, dass Carla mit ihm Schluss gemacht hatte. Seine Mutter nahm ihn in den Arm und sagte nur, dass Carla ihn gar nicht verdient gehabt hätte. Und dass es schon passieren konnte, dass Ralf von Mädchen enttäuscht würde. Aber auch, dass er sich immer auf seine Mutter verlassen konnte. Dass sie immer für ihn da wäre und ihn immer trösten würde. Ralf nahm das so hin - er freute sich, dass er eine so tolle Mutter hatte.

3

NICOLE

Ich fühlte die bleierne Schwere der Zeit auf meinem Herzen. Nichts bewegte sich mehr, jeder Morgen war wie der Morgen zuvor, grau, selbst dann, wenn die Sonne schien. Wenn die Strahlen der Sonne die Erde erreichten, drangen sie nicht bis in mein Herz vor, aber sie brannten auf der Haut wie Nadelstiche, die einen dumpfen Schmerz erzeugten. Klaren Schmerz konnte ich genauso wenig fühlen wie klare Freude, dazu war ich zu sehr betäubt. Die Nächte waren wie tiefe Schlunde, die mich in sie aufsogen und jedes Mal ein bisschen mehr von mir mit in ihren Abgründen verschluckten. Der Schlaf war keine Erlösung, und keine Erholung - wenn mein Bewusstsein sich senkte, legte sich die Last des gesamten Universums auf mich nieder und ich bekam keine Luft zum Atmen. Die Dunkelheit verwandelte sich in einen Schatten, der mir bis in die Tage und bis in mein Innerstes folgte, und nichts mehr war nur mein Eigenes. Jeder klare Gedanken, den ich in glücklicheren Momenten fassen konnte, wurde mir alsbald von diesem Schatten gestohlen und erneut fiel ich wie ein umgekehrter Urknall in mich selber zusammen. Nur meine kleinen Kinder Lili und Leo gaben mir einen Ankerpunkt für diese Welt, auch wenn ich sie nicht so oft sehen konnte wie ich wollte.

An den Punkt, als dieser Zustand anfing, kann ich mich nicht mehr erinnern. Das war seltsam, denn irgendwann vorher ging das genaue Gegenteil in mir vor - alles war Glück und jeder Tag war schöner als der Tag davor. Ich dachte, ich wäre im siebten Himmel, und dass es niemanden geben konnte, der zufriedener sein konnte als ich. Alles schien perfekt. Irgendwann muss die Fassade abgebröckelt sein, aber ich merkte es lange Zeit nicht, wollte es nicht merken. Oder ich merkte es und dachte mir, dass es unter dem Strich noch gut war, dass vor allem die Kinder es wert waren. Und ich akzeptierte die Erosion meines Lebens bis weit unter dem Punkte, wo ich es noch hätte handhaben können.

Monate vergingen, und später Jahre. Dann gab es eine Veränderung. Zuerst war es nur das Licht eines Sterns in der Nacht, welcher durch den Wallaus dumpfen Schmerz bis in mein Herz durchdrang. Später fing die Sonne an, auch mein Inneres sanft zu wärmen. Die um mich herum stattfindenden Vorgänge fingen an, wieder Konturen auszubilden, die Welt begann, wieder Sinn zu ergeben, und langsam, ganz langsam, fühlten sich Freude und Schmerz wieder so an, als hätten sie etwas zu meinem Leben beizutragen.

In dieser Zeit fing ich auch an, mich wieder an mein früheres Leben zu erinnern. Da gab es jemanden, der mir früher sehr viel bedeutete, den ich dann aber aus den Auge verlor, als die Dunkelheit anfing mich mit ihren Klauen zu umfassen. Das war meine Cousine Amelie. Zwischen uns passte einst kein Blatt Papier - wir waren wie Zwillinge, die aufeinander zugeschnitten waren wie Schloss und Schlüssel. Egal, wo ich hinging - Amelie war immer mit dabei und umgekehrt. Je mehr ich anfing, die Welt um mich herum wieder zu spüren, um so mehr tat mir die lange Zeit weh, in der Amelie und ich nicht miteinander gesprochen haben. Ich beschloss, ihr einen Brief zu schreiben, ihr zu sagen, dass es mir leid tat, dass wir uns voneinander entfernt hatten, und sie um ein Treffen zu bitten. Auf einer dem Brief beigefügten Karte stand meine Telefonnummer. Und tatsächlich, Amelie meldete sich und wir verabredeten uns für das kommende Wochenende.

Am Samstag war ich mehr als nur etwas aufgeregt. Zeitweise dachte ich, dass es vielleicht noch etwas zu früh war, dass ich für einen solchen Schritt zurück in mein altes Leben noch nicht bereit war. Aber die Neugier und die Erinnerung an die schönen Augenblicke aus alten Zeiten siegten, und ich freute mich jeden Moment mehr und mehr auf unser Treffen. Als Ort hatten wir ein idyllisch gelegenes Café am Stadtrand ausgewählt. Ich ging durch die Tür und sah etwas weiter hinten in der Nähe eines Panoramafensters in Richtung des rückwärtigen Gartens Amelie sitzen. Sie stand auf als sie mich sah, und wir umarmten uns herzlich. Wir setzten uns hin, bestellten etwas zu trinken und einen Kuchen, und fingen an, wie als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre, unsere Erlebnisse der letzten Jahre auszutauschen.

Amelie erzählte mir, dass sie mittlerweile eine Anstellung als Floristin in einem Geschäft in der Stadtmitte angenommen hatte, und dass ihr die Arbeit dort viel Spaß machte. Das wusste ich zwar auch schon von meiner Mutter, die immer als Schaltstelle zwischen Amelie und mir fungierte, aber ich mochte es, wenn Amelie es mir erzählte. Jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, war wie ein Tropfen Wasser, welcher das ausgetrocknete Gefäß, das unsere Beziehung darstellte neu füllte. Ich erfuhr auch, dass Amelie Single war und derzeit nach einigen enttäuschenden Beziehungen nicht aktiv auf der Suche nach jemandem war. Dann sagte Amelie: „Aber erzähl mal, wie ist es Dir so ergangen in den letzten Jahren?“

Weit oben, am fernen Firmament

stand ein Stern,

Leuchtend durch das Dunkel auf die

Welt herab.

Unten saß ich, doch mein Blick

blieb starr.

Wie blind doch die Wesen

durch die Felsen krochen,

Wie schwer doch am Geruch der Erde

sie sich labten,

Wie bleiern doch aus bitter riechendem

Quell sie tranken.

Die Menschen hörten das Knirschen

der Winde,

Und sahen was um sie herum

geschah.

Noch ging der Blick nicht nach oben,

gen Himmel.

Zu sehr noch schmerzte die

ferne Weite.

Doch ich fragte mich, wie es

draußen war,

Wie es war, das Unerkannte

anzunehmen.

Und ich blickte nach oben,

sah den Stern.

Und nicht nur oben am Nachthimmel

leuchtend,

Sondern hinabstoßend bis in

mein Herz.

In diesem Moment wurde alles

leuchtend klar,

Das dumpfe Schnauben der Welt

jetzt nur noch Beiwerk,

Sah ich endlich

die tobende Sehnsucht.

Anders war es da oben, und

unerreichbar,

Aber nichts anderes war dem

Herzen näher.

Und ich begann frei zu sein.

4

ICH SAGE JA ZU DIR

Ich lernte Ralf über das Internet kennen und war schon sehr gespannt, wie er in Wirklichkeit aussah. Wir tauschten uns zuerst über das Internet aus, gingen aber dann zu Telefonaten über. Seine Stimme zog mich bald in einen Bann, dem ich nicht widerstehen konnte. So verabredeten wir uns nach relativ kurzer Zeit zu unserem ersten Treffen in einem Restaurant.

Die Stunden bis dahin kamen mir wie eine Ewigkeit vor und ich bekam die ganze Nacht kein Auge zu. Zu viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Was ziehe ich nur an, wie mache ich die Haare, werde ich ihm gefallen? Nach dieser nicht enden wollenden Nacht war ich früh wie gerädert, aber ich hatte ja ein Date und da konnte ich nichts dem Zufall überlassen. Also wühlte ich schon früh in meinem Kleiderschrank nach dem entsprechenden Outfit. Zuerst fand ich nichts Passendes, aber immerhin wusste ich bald, welche Schuhe ich anziehen wollte. Da stand ich nun mit meinen dreiviertelhohen Stiefeln vorm Schrank und blickte etwas ratlos hinein, obwohl er randvoll gefüllt war. Als ich mich so im Spiegel betrachtete, dachte ich mir: „Na, du machst auch mit einem Jutesack eine gute Figur“, und hatte dabei ein leichtes Grinsen im Gesicht. Nach schier unendlich langem Anprobieren und dem Gefühl, den ganzen Kleiderschrank getragen zu haben, entschloss ich mich für eine enge dunkle Jeanshose, in der meine langen schlanken Beine und der Po richtig gut zur Geltung kamen. Beim Oberteil entschied ich mich für meinen hellen Lieblingspullover mit Rollkragen. Ich schminkte mich noch etwas und meine dunklen langen Haare steckte ich nach oben. So angezogen, fühlte ich mich sichtlich wohl in meiner Haut und war mir meiner Ausstrahlung auch bewusst.

Auf dem Weg zum Restaurant war ich schon ziemlich nervös und ich hatte keine Ahnung wie der Abend verlaufen würde. Noch völlig in Gedanken versunken betrat ich das Gastlokal. Zuerst ging ich davon aus, dass ich vor ihm da war. Ich ließ meinen Blick schweifen, um einen geeigneten Platz zu finden. Als ich endlich einen freien Tisch auf einer leicht erhöhten Position sah, bemerkte ich zwei Tische daneben einen äußerst attraktiven Mann wartend am Tisch sitzen. Als ich ihn sah, traf es mich wie ein Blitzschlag. Ich wusste in diesem Moment genau, dass dies der Mann meiner Träume war.

Ich lächelte ihn an und er lächelte zurück. Mir wurde heiß und kalt zu gleich. Ich war furchtbar nervös und hoffte, dass er nichts davon bemerkte. Mein Herz klopfte bis über beide Ohren. Wir begrüßten uns mit einer kleinen Umarmung und dabei konnte ich seinen angenehmen und anziehenden Duft riechen. „Du siehst bezaubernd aus“, hauchte er mir entgegen. Ich war hin und weg. Er sah umwerfend aus mit seinem weißen Hemd, dem gelockten braunen Haar, seinen wunderschönen blauen Augen und dem anziehenden Mund. Er nahm mir die Garderobe ab und platzierte mich am Tisch. So ein Gentleman, dachte ich mir, von mir aus konnte die Zeit stehenbleiben. Er fragte mich, was ich trinken möchte. „Ein Glas Rotwein bitte“, hauchte ich ihm entgegen. Er sagte: „Dann nehmen wir zwei Gläser, und eine Flasche Wasser dazu.“ Er gestand mir, dass er sehr aufgeregt wäre. Ich lächelte ihn nur verlegen an und dachte, wenn du wüstest wie es in mir aussieht! Wir verstanden uns auf Anhieb und unterhielten uns über Gott und die Welt. Die Zeit verging wie im Flug und meine schlaflose Nacht war vergessen. So verbrachten wir einen sehr schönen Abend miteinander. Ich hatte schon lange nicht mehr so ein unglaubliches Gefühl gehabt.

Er brachte mich zum Abschied an mein Auto und da überwand ich mich und gab ich ihm ein Küsschen auf die Wange. Er lächelte und sah glücklich aus, genau wie ich. Ich hätte am liebsten die Zeit angehalten, um diesen Moment für die Ewigkeit zu genießen.

Bei mir zu Hause angekommen, konnte ich es immer noch nicht richtig fassen, dass mir so ein Glück widerfahren war und ich mich mit diesem gutaussehenden jungen Mann getroffen hatte. Bis zum nächsten Morgen bekam ich kein Auge zu, da ich immer an ihn denken musste und das Erlebte wie eine Endlosschleife meinen Kopf durchlief. Ich stellte mir schon so viele Dinge im Kopf vor, die wir gemeinsam machen könnten, dass ich Zeit und Raum total vergaß. Die Welt um mich herum fühlte sich so leicht und unbeschwert an, so dass ich das Gefühl hatte, verliebt zu sein.

Wir telefonierten täglich und sahen uns die folgenden Tage öfters. Dabei hatte ich nie das Gefühl, dass es in irgendeiner Weise langweilig würde oder wir uns nichts Neues zu erzählen hätten. Bisher hatten wir uns immer auf neutralem Boden getroffen, aber diesmal lud ich ihn zu mir nach Hause ein. Natürlich war ich wie immer aufgeregt und wollte auch nichts dem Zufall überlassen. Also war großer Hausputz angesagt und eine Deko musste auch noch platziert werden. Wir wollten es ja schön gemütlich haben und es sollte auch die richtige Stimmung aufkommen. Ich bereitete ein delikates Gericht aus Kartoffeln, Lachs und Gemüse für uns vor, stellte eine Flasche Weißwein kühl und dekorierte den Esstisch schön. Alles sollte perfekt sein, so wie ich es mir schon tausendmal in meinen Träumen vorgestellt hatte.

Als es dann an der Tür klingelte und ich ihm im kurzen schwarzen Kleid die Tür öffnete, dachte ich, mein Herz springt gleich aus der Bluse. Da stand er nun mit einem wunderschönen Blumenstrauß vor mir und sagte: „Für die wundervollste Frau auf dieser Welt.“ Ich war hin und weg und brachte kein Wort über die Lippen, sondern fiel ihm nur um den Hals und wir umarmten uns ganz innig. Als ich mich dann etwas gesammelt hatte, sagte ich zu ihm: „Danke, komm doch erstmal herein!“ Wahrend er seine Garderobe ablegte, holte ich eine Vase für seinen schönen Blumenstrauß. Den stellte ich natürlich mit auf den dekorierten Esstisch und er passte farblich perfekt dazu, als ob wir uns abgestimmt hätten. Ich zeigte Ralf kurz meine Wohnung und er war sichtlich angetan von der geschmackvollen Einrichtung und sagte: „Schön hast du es hier, sehr schön“. Ich bedankte mich und bat Ralf zu Tisch.

Wir ließen uns das Essen munden und Ralf lobte meine Kochkünste in den höchsten Tönen. „Wo hast du so gut kochen gelernt?“, fragte er mich. Das schmeichelte mir sehr und ich sagte ihm, dass ich öfters mit meiner Mutter Sabine zusammen gekocht und mir dabei einiges abgeschaut hätte. Nachdem wir so lecker gespeist hatten, machten wir es uns bei Kerzenschein auf der Couch gemütlich und im Hintergrund lief romantische Musik. Wir unterhielten uns, machten kleine Späße und alberten herum. Irgendwann nahm Ralf mich in den Arm und schaute mich dabei tief mit seinen blauen Augen an. Ich versank in einer wohlig warmen Wolke der Geborgenheit als wir uns dann küssten. Genauso hatte ich es mir vorgestellt und ich bot Ralf an noch über Nacht zu bleiben. Ich konnte in seinen Augen dieses Feuer sehen, was sicher nicht von den Kerzen kam, sondern aus seinem Herzen. So schliefen wir dann ganz eng umschlungen ein und waren die wohl glücklichsten Menschen auf der Welt.

Als wir am nächsten Morgen frühstückten und den vergangenen Abend nochmal Revue passieren ließen, sagte ich zu Ralf: „Ich habe in fünf Wochen Urlaub und möchte gerne eine Woche in den Süden fliegen.“ Er überlegte kurz und fragte mich: „Nimmst du mich mit?“, „Ich bräuchte auch einmal Urlaub“. Ich wusste für einen Moment nicht was ich sagen sollte und war total sprachlos. „Na klar kannst du mitkommen!“, erwiderte ich aufgeregt.

Schon einige Tage später gingen wir in ein Reisebüro und buchten eine Reise in den sonnigen Süden, wo wir später einen wundervollen Badeurlaub zusammen verbrachten. Als wir zurück kamen, fiel mir ein, dass wir bis dahin noch gar nicht bei Ralf zu Hause waren und ich daher noch gar nicht wusste, wie er so lebte. Zwar hatte er mir erzählt, dass er mit seinen Eltern zusammen in einem Hof auf dem Land lebte, aber so richtig konnte ich mir es bis dahin nicht vorstellen.

Wie als ob er meine Gedanken lesen konnte, kam Ralf kurz darauf zu mir und sagte: „Wir fahren heute zu mir und ich zeige dir wo ich wohne.“ Ich war begeistert und konnte mir endlich selber ein Bild von seinem Zuhause machen. Also fuhren wir von mir aus in einen etwa 30 Kilometer entfernten kleineren Ort. Der befand sich jenseits der Grenze zu einem anderen Bundesland, aber zu diesem Zeitpunkt hätte ich mir noch nicht vorstellen können, welche Rolle das einmal spielen würde. Ich, der ich es sonst gewohnt war, selber zu fahren, nahm die Umgebung als Beifahrerin ganz anders wahr. Ich genoss diese Fahrt und konnte schon von der Ferne ein etwas abgelegenes Grundstück mit mehreren Gebäuden erblicken. Es war ringsherum nur von Feldern umgeben und hatte nur einen schmalen Weg als Zugang. Wir fuhren den Feldweg entlang und betraten ein wunderschönes Grundstück mit verschiedenen Nadel- und Obstbäumen, sowie exotischen Laubhölzern. Als wir anhielten, warf Ralf mir einen verliebten Blick zu und sagte: „So, wir sind jetzt daheim.“ Er stieg aus dem Auto aus und öffnete mir wie ein Gentleman die Tür, was mich sichtlich berührte. Mir fiel sofort der bis ins Detail liebevoll gestaltete Garten ins Auge. Hier hatte jemand wirklich Ahnung und einen Hang zur Perfektion. Schon an der Gebäudestruktur erkannte ich, dass hier eine Firma im Grundstück integriert ist. Ralf erklärte mir stolz, dass es die Tischlerei seines Vaters sei, die sie gemeinsam betrieben und dass seine Wohnung genau über der Werkstatt läge. Er sagte: „Komm, ich zeige dir alles!“

Ich war sehr gespannt darauf, was er mir zu zeigen hatte. Ralf nahm mich behutsam an der Hand und führte mich stolz durch den Hof und die Firma. Wir kamen in einer großen Werkhalle an und überall standen modernste Maschinen. Er erklärte mir mit Vergnügen, was man alles aus einem Baumstamm mit diesen Maschinen herstellen konnte. Ich hörte ihm gespannt zu, obwohl ich nur die Hälfte von den Fachbegriffen verstand. Aber das war egal, er hielt immer noch meine Hand und ich spürte die Wärme, die er aus strahlte.

Neben dem Firmengebäude stand das elterliche Wohnhaus. Ralf stellte mich seinen Eltern vor. Sein Vater Martin war ein großgewachsener schlanker Mann mit graumeliertem lichten Haar und seine Mutter Hilde war eine etwas kleinere gedrungene Frau mit blonden kurzen Haaren. Beide waren so Mitte Fünfzig. Sie begrüßten mich ganz herzlich und luden uns gleich zum Kaffee ein. Beide strahlten eine herzliche Sympathie aus und machten einen sehr netten Eindruck auf mich.