Sounds of Silence - Maren Vivien Haase - E-Book
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Sounds of Silence E-Book

Maren Vivien Haase

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Beschreibung

Tatum & Dash: Sie braucht die Stille, um Frieden zu finden. Er braucht den Lärm, um mit seinen Gedanken nicht alleine zu sein. Doch können leise und laut gemeinsam bestehen?

Tatum Sullivan fühlt sich nur sicher, wenn es still ist. Seit einem verhängnisvollen Tag in New York hat sie mit Lärm und den dadurch hervorgerufenen Panikattacken schwer zu kämpfen. Um der lauten Großstadt zu entfliehen, zog sie vor einigen Jahren mit ihrer Familie ins beschauliche Golden Oaks, Connecticut. Doch nicht einmal dort, umgeben von Seen und endlosen Wäldern, kommt Tatum zur Ruhe.
Dash Adams liebt es laut. Je dröhnender die Musik in seinen Ohren, desto besser, und genau deshalb hat er sich auch eine Karriere als DJ aufgebaut. Denn wenn es still ist, ist er allein mit seinen Gedanken – Gedanken, die Trauer und Schuldgefühle auslösen. Als Dash einen Freund in Golden Oaks besucht und dort auf die schlagfertige Tatum trifft, funkt es sofort. Doch können leise und laut zusammen bestehen?

»Ich bin Tatum und Dash hoffnungslos verfallen. Ihre Geschichte ist ehrlich, emotional und herzzerreißend – mit einem Twist, der mich eiskalt erwischt hat. Wow!« Anya Omah

Mit Playlist im Buch!
Die Golden-Oaks-Reihe bei Blanvalet:
Band 1: Sounds of Silence
Band 2: Lights of Darkness

Beide Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 461

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Buch

Tatum Sullivan fühlt sich nur sicher, wenn es still ist. Seit einem verhängnisvollen Tag in New York hat sie mit Lärm und den dadurch hervorgerufenen Panikattacken schwer zu kämpfen. Um der lauten Großstadt zu entfliehen, zog sie vor einigen Jahren mit ihrer Familie ins beschauliche Golden Oaks, Connecticut. Doch nicht einmal dort, umgeben von Seen und endlosen Wäldern, kommt Tatum zur Ruhe.

Dash Adams liebt es laut. Je dröhnender die Musik in seinen Ohren, desto besser, und genau deshalb hat er sich auch eine Karriere als DJ aufgebaut. Denn wenn es still ist, ist er allein mit seinen Gedanken – Gedanken, die Trauer und Schuldgefühle auslösen. Als Dash einen Freund in Golden Oaks besucht und dort auf die schlagfertige Tatum trifft, funkt es sofort. Doch können leise und laut zusammen bestehen?

Autorin

Maren Vivien Haase wurde 1992 in Freiburg im Breisgau geboren und absolvierte dort ihr Germanistikstudium. Schon als Kind stand für sie fest, dass sie all die Geschichten zu Papier bringen muss, die ihr im Kopf herumspuken. Das Hip-Hop-Tanzen mit ihrer Crew »Dope Skit« gehört seit über zwölf Jahren ebenso zu ihr wie YouTube und Instagram, wo sie über Serien, Bücher und Filme spricht. Ihre Debütreihe um die New Yorker Tanzschule »Move District« eroberte auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste und begeisterte zahlreiche Leser:innen.

Weitere Informationen unter: www.marenvivienhaase.de; www.instagram.com/marenvivienhaase/; www.youtube.com/marenvivien

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlagund www.facebook.com/blanvalet

MAREN VIVIEN HAASE

SOUNDS OF SILENCE

GOLDEN OAKS BAND 1

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2022 by Maren Vivien Haase

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.

Redaktion: Melike Karamustafa

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Gestaltung Golden-Oaks-Logo: Felix Würkner

DK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29324-6V003www.blanvalet.de

Liebe Leser*innen, dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich auf S. 414 eine Triggerwarnung.Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.Maren Vivien Haase und der Blanvalet Verlag

Für alle, die Angst haben und trotzdem über sich hinauswachsen

PLAYLIST

Deepest Lonely – Birdy

Enchanted – Taylor Swift

Afterglow – Ed Sheeran

Collide – Howie Day

Power Over Me – Dermot Kennedy

Mean It – Lauv & LANY

Train Wreck – James Arthur

Lost – Dermot Kennedy

Got It In You – BANNERS

Breathing – Anne-Marie

Run Like A River – JAMICA

Feeling A Moment – Feeder

God Bless The Child – Michelle Featherstone

Repeat Until Death – Novo Amor

Walked Through Hell – Anson Seabra

Hear You Me – Jimmy Eat World

Hold On – Chord Overstreet

Better Days – Dermot Kennedy

Dare You To Move – Switchfoot

Always – James Arthur

TATUM

Stille.

Klick.

Ausatmen, einatmen, Luft anhalten. Vollkommener Stillstand. Nichts als knackende Zweige unter meinen Füßen und raschelnde Laubbäume, die der Wind mit seinem nächsten Atemzug zum Tanzen brachte. Plätscherndes Wasser, das einen steinigen Abhang herunterfloss und sich zu einem Fluss verband, der links an mir vorbeirauschte.

Klick.

Ich senkte meine Kamera und schaute auf das kleine rechteckige Display, öffnete mit einem Knopfdruck die Bildergalerie und blätterte dann durch die Fotos, die ich soeben geschossen hatte. Das warme Farbenspiel zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Dann huschte mein Blick wieder zu den Bäumen, deren Kronen in den verschiedensten Farben leuchteten. Das Grün der Blätter strahlte mir geradezu entgegen und wurde von Knallrot, Orange und Gelb durchbrochen. Es roch nach Holz, Moos und Erde, eine frische Brise wehte. Ein perfekter Ort, um sich für eine Weile von der Natur ablenken zu lassen und alles um sich herum zu vergessen.

»Okay, okay, okay«, murmelte ich vor mich hin, während ich die Fotos durchsah. Es gab schon ein paar, die gut aussahen, doch das eine Bild war noch nicht dabei gewesen.

Ich hob mir die Kamera wieder vors Gesicht und blickte durch den Sucher. Auf dem Foto würde der lange gerade Pfad zu sehen sein und zu seinen Seiten – fingers crossed, dass ich es symmetrisch hinbekam – die bunten Bäume.

Und dann kam mein Lieblingsmoment. Der Augenblick, bevor ich abdrückte. Ein paar Herzschläge der absoluten Ruhe, des Stillstands. Mit angehaltenem Atem versuchte ich, den perfekten Bildausschnitt zu erwischen, wartete und wartete … Ich genoss es jedes Mal aufs Neue. Wenn die Welt sich nicht weiterdrehte und ich in dieser Sekunde verharrte, bis …

Klick.

… ich abdrückte.

Mein allerliebstes Hobby, das mir half, zur Ruhe zu kommen: Fotografie. Besonders Landschaften hatten es mir angetan, und die gab es hier zuhauf.

Ich atmete aus und checkte das Display. Zufrieden grinsend klopfte ich mir in meiner Vorstellung auf die Schulter. Der Shot war echt gut geworden. So gut, dass ich hier nun fertig war und den Heimweg antreten konnte. Rasch ließ ich die Kamera in meine braune Tasche gleiten.

Während ich über die orangenen, grünen und braunen Blätter spazierte, die den Waldboden säumten, und die frische Herbstluft einatmete, wanderte mein Blick zu meinem flauschigen Begleiter. Er stolzierte neben mir her, den größten Stock zwischen den Zähnen, den er hatte finden können. Wie immer würde er den so schnell nicht mehr hergeben.

»Oh Sherlock«, flüsterte ich schmunzelnd.

Daraufhin erntete ich lediglich einen schrägen Blick, der mich nur noch mehr zum Lächeln brachte. Unglaublich, wie sehr ich diesen Hund in den letzten Jahren in mein Herz geschlossen hatte.

Als wir vor vier Jahren von Queens nach Golden Oaks gezogen waren, hatten wir kurzerhand beschlossen, unseren Traum von einem weiteren Familienmitglied wahr werden zu lassen, und diesen kleinen Frechdachs – wobei, eher großen Frechdachs – aus dem Tierheim adoptiert. Die Betreiber der Auffangstation hatten gemeint, dass er eine Mischung aus Golden Retriever, Schäferhund, Spitz und Pudel sei, wobei meiner Meinung nach ganz klar der Golden Retriever dominierte. Seit diesem Tag wich er mir nicht mehr von der Seite und war zu meinem besten Freund geworden. Ich hatte mir in all den Jahren einen Spaß daraus gemacht, ihm immer mehr Namen zu geben (er hatte keine Wahl gehabt, der Arme), und mittlerweile hieß er Sherlock Marshmallow Gary Pablo Escobark Sullivan. Kurz: Sherlock.

Jetzt, um die Mittagszeit, stand die Sonne weit oben am Himmel, brach vereinzelt durch die dünnen Äste und das Laub der umstehenden Bäume und kitzelte mich in der Nase. Auch wenn es bereits Anfang Oktober war, wurde mir mit jedem Schritt wärmer, also lockerte ich meine beige Herbstjacke und spürte den nächsten Luftstoß, der meinen Nacken entlangstrich.

Ich warf einen Blick auf die goldene Armbanduhr an meinem Handgelenk, die ich vor ein paar Wochen im Secondhandshop Silver Thrift für nur ein paar Dollar ergattert hatte.

»Auf geht’s, wir müssen wieder nach Hause«, rief ich Sherlock zu, der mittlerweile ein Stück vor mir lief. »Aber zuerst machen wir noch einen Abstecher zu deiner zweitbesten Freundin, okay?« Ich nickte nach rechts und schlug eine Abkürzung über einen holprigen Waldweg ein, genoss die letzten Momente in der Natur, die mich zumindest ein paar Minuten am Tag ruhig atmen ließen.

Schon von Weitem hörte ich vereinzelte Stimmen, Gehupe und brummende Autos. Und obwohl ich gerade erst den Wald verlassen hatte und über die morsche Brücke über den Fluss Richtung Stadtmitte gelaufen war, beschleunigte sich mein Herzschlag mit jedem weiteren Schritt. Meine Handflächen begannen zu schwitzen, und ich vergrub sie tief in den Taschen meiner Jacke, wo ich an einem kleinen Faden herumspielte, der sich aus der Naht gelöst hatte.

Nur wenige Minuten später erreichte ich die Hauptstraße und leinte Sherlock an. Er hörte zwar auf mich, und in Golden Oaks war auf den Straßen nie sonderlich viel los, doch seine Sicherheit ging vor. Neben mir fuhren langsam ein paar Autos vorbei, auf dem Weg in die Stadtmitte oder hinaus in den nächsten Ort. Christy, eine sympathische grauhaarige Frau mit riesigen Feder-Ohrringen, der das Diner ein paar Ecken weiter gehörte, winkte mir durch die Scheibe ihres Pick-ups zu, und ich erwiderte den Gruß lächelnd. Boutiquen, der örtliche Supermarkt, Buch- und Plattenläden sowie unser kleines gemütliches Kino säumten mit ihren bunten, leicht altmodischen Fassaden die Straße. Dazwischen mein Lieblingscafé, das Blossom Roast, wo es nicht nur leckere Getränke und Kuchen gab, sondern auch Blumen und Pflanzen in jeglichen Farben und Formen. Die Inhaberin Penelope hatte sich nicht zwischen einem Café und einem Blumengeschäft entscheiden können, weshalb sie einfach beides kombiniert hatte.

»Hey, Tatum, alles klar? Auf dem Weg zu Frankie?«, rief mir plötzlich jemand zu.

Ich zuckte kurz zusammen, dann drehte ich mich rasch herum. Rechts hinter mir in der Tür zur besten Pizzeria in Golden Oaks – na ja, der einzigen Pizzeria – stand Arturo, eine weiße Schürze um die Hüften gebunden und die Arme auf seinem ausgeprägten Bauchansatz abgelegt. Aus dem Inneren des Restaurants zog eine Wolke köstlichen Pizzaduftes herüber.

»Hey, ja, klar. Bevor ich wieder zurück nach Hause muss, schau ich kurz bei ihr vorbei«, entgegnete ich und lächelte leicht, als er sich bückte und Sherlock streichelte. »Und bei dir?«

Mit seinen hellgrauen, fast schon weißen Haaren und den Falten wirkte er wie der italienische Großvater der Stadt und hatte für alle ein offenes Ohr, die bei einer Pizza über ihr Leben philosophieren wollten. Er grinste breit, gab Sherlock einen kleinen Klaps und richtete sich auf. »Aber immer, aber immer.« Dann wandte er den Blick kurz nach innen, wo jemand seinen Namen rief. »Ich muss wieder rein, sag ihr liebe Grüße! Einen schönen Tag.«

»Danke, dir auch noch einen schönen Tag«, sagte ich und lief weiter.

In Golden Oaks war es normal, dass nahezu alle sich kannten. Das ging nun mal mit dem Kleinstadtleben einher und war definitiv das komplette Gegenteil zu meinem früheren Leben in Queens.

Ich konzentrierte mich wieder auf die herbstliche Dekoration, die hier an jeder Straßenecke zu finden war. Während im Frühling und Sommer die ganze Stadt mit Blumen geschmückt und im Winter alles weihnachtlich mit Lichterketten und Weihnachtsmännern dekoriert war, gab es im Oktober Kürbisse und Vogelscheuchen in allen Größen und Formen zu bestaunen. Auch wenn ich den Frühling lieber mochte als alle anderen Jahreszeiten, genoss ich die warmen Farben im Herbst, für die Golden Oaks bekannt war.

Auf dem Bürgersteig kamen mir immer wieder Leute entgegen, die sich unterhielten oder in ihr Handy brabbelten. Die Motorengeräusche der vorbeifahrenden Autos vermischten sich mit dem Klingeln der Glöckchen über den Türen der Geschäfte. Mein Herzschlag beschleunigte sich mit jeder Sekunde. Im Vergleich mit der Ruhe, auf die ich mich auf den Waldwegen und zwischen den Feldern verlassen konnte, kam mir die Geräuschkulisse innerhalb der Stadt lauter vor, als sie eigentlich war. Und so wie jeden Tag, seitdem wir hierhergezogen waren, sagte ich mir innerlich dieselben Sätze auf.

Ruhig bleiben. Ich bin in Golden Oaks, wo mir nichts passieren kann. Alles ist gut. Mir geht es gut. Alles ist gut. Mir geht es gut. Alles ist gut. Mir …

Wie versteinert blieb ich stehen und krallte die Finger in den Innentaschen meiner Jacke fest. Mir wurde heiß. Mein Herz schlug so schnell, dass ich Angst bekam, meine Brust würde explodieren. Und all das nur wegen eines schwarzen Jeeps, der gerade in einem Affentempo an mir vorbeigebraust war, die Musik so laut aufgedreht, dass sie vermutlich noch die Tiere im Wald wecken würde.

Verdammt, was sollte das denn?

Ich spürte ein Ziehen an Sherlocks Leine und blinzelte ein paarmal, um wieder ins Hier und Jetzt zu gelangen. Das Auto war aus dem Nichts gekommen und hatte so viel Krach gemacht, dass ich für einen Moment um Jahre zurückgeworfen worden war.

Langsam atmen, Tatum.

Zwar beruhigte sich mein Puls etwas, doch der Jeep und vor allem die laute Musik ließen mich nicht mehr los. In meinem Bauch breitete sich ein mulmiges Gefühl aus, während ich mich von Sherlock weiterziehen ließ.

Früher hatte ich meine Musik auch so laut aufgedreht. Doch mein Leben hatte sich verändert, und ich hatte gelernt, damit umzugehen. Damit klarzukommen. Auch wenn ich mich manchmal danach sehnte, auf ein lautes Konzert zu gehen, unbeschwert in der Menge zu tanzen und meine Lieblingssongs aus voller Kehle mitzusingen, bis ich am Morgen so heiser war, dass ich kein Wort mehr herausbekam.

Erst als ich das cremefarbene Schild mit den geschwungenen Buchstaben über der Glastür sah, konnte ich langsam, aber sicher wieder ruhiger atmen. Das Le Petit Pain war eine französische Bäckerei, in der es nicht nur Baguettes und Croissants gab, sondern auch eine Vielzahl an Torten, kleine Küchlein und alles, was das Gebäck-Herz sonst noch höherschlagen ließ.

»Warte kurz hier, okay? Ich bin in fünf Minuten wieder da«, verhandelte ich mit Sherlock, während ich seine Leine am Metallgeländer der Hausfassade anband.

Ich erntete ein kurzes zustimmendes Grunzen, woraufhin ich die Bäckerei betrat und unmittelbar vom vertrauten Duft nach frisch gebackenem Baguette, Törtchen und einer leichten Schokoladennote überwältigt wurde. Ein zaghaftes Grinsen umspielte meine Lippen, als mir das Wasser im Mund zusammenlief.

Die Bäckerei war in lichten Tönen gehalten: ein Dielenboden in hellem Ton, gegenüber vom Eingang eine cremefarbene Theke mit schwarzen Akzenten. Hinter dem Glas lagen etliche Backwaren, angefangen bei Croissants über Eclairs und Macarons bis hin zu unfassbar leckeren Windbeuteln. Dahinter an der Wand standen Körbe voller verschiedener Brotsorten auf langen Holzbrettern, dazwischen Schiefertafeln, auf denen meine Freundin Frankie die Angebote der Woche aufgelistet hatte.

Es war nicht besonders viel los, vor der Theke stand lediglich eine Kundin, die gerade ihre Bestellung aufgab, während mein Lieblingsrotschopf hin und her wuselte, um alles in Papiertüten zu packen. Glücklicherweise war ihr überdramatischer Chef Mathieu heute nicht da, der hin und wieder echt anstrengend werden konnte.

Mein Blick glitt zum hinteren Teil der Bäckerei, wo mehrere weiße und beige Metallstühle und Tische ihren Platz hatten und einluden, es sich mit einem Buch, heißer Schokolade und Brioche gemütlich zu machen. Doch in den wenigsten Fällen kamen die Leute, nur um zu lesen. So wie an diesem Montagmittag, an dem die übliche Golden-Oaks-Tratschrunde ihren inoffiziellen Stammtisch im Le Petit Pain abhielt. Ich winkte den drei Frauen und zwei Männern um die fünfzig zu, worauf sie kurz verstummten, um mich lächelnd zu begrüßen, bevor sie sich wieder ihrem Gespräch zuwandten.

Schon länger als ich hier wohnte, war diese Bäckerei der Ort, an dem Klatsch und Tratsch der Stadt ausgetauscht wurden. Anfangs hatte ich das total seltsam gefunden, was aber eventuell auch daran gelegen haben könnte, dass meine Familie und ich ihnen zum Opfer gefallen waren. Wer war schon gerne neu in einem Ort und sofort Gegenstand der Stadtgespräche, bevor man überhaupt Freunde gefunden hatte? In der ersten Zeit hatte ich mich daher eher bedeckt gehalten, bis ich mich nach einigen Wochen in der Schule mit Franks angefreundet und in ihr eine Verbündete gefunden hatte, die sofort dafür sorgte, dass die Leute sich anderen Gesprächsthemen zuwandten. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass sie über alles und jeden tratschten, und spitzte des Öfteren selbst die Ohren, um mitzubekommen, was es Neues gab. Doch in diesem Moment übertönte das Rascheln der Papiertüten hinter der Theke die Gesprächsfetzen.

»Hier, dein Pain au Chocolat«, sagte meine beste Freundin Frankie grinsend und streckte mir eine kleine Tüte entgegen. »Schönen Tag noch, Mrs. Lennon.«

Die Kundin, die noch vor mir dran gewesen war, winkte Frankie noch mal zu und trat dann durch die Glastür auf die Straße. »Danke, dir auch.«

»Danke, Franks«, sagte ich lächelnd, nahm die Tüte entgegen und legte ihr das Geld auf den Tresen. Seit unserem Highschool-Abschluss vor einem Jahr war es zu einer Art Ritual geworden, dass ich in den Mittagspausen kurz bei Frankie vorbeischaute, und es war jedes Mal einer der schönsten Momente des Tages. Denn mal abgesehen von dem leckeren Gebäck hatte ich die so ziemlich beste Freundin der ganzen Welt. »Heute Abend bei mir, oder?«

»Klar, wenn ich hier fertig bin, muss ich erst kurz nach Hause, aber dann komme ich bei dir vorbei. Gegen sieben?« Ein warmes Lächeln breitete sich auf ihren hellen Zügen aus. Sie wippte, wie fast immer, auf den Füßen vor und zurück, wobei einige ihrer hellroten Locken, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatten und ihr Gesicht einrahmten, mitwippten. Frankie grinste so gut wie immer und war damit sozusagen mein Gegenstück. Während mir dauernd gesagt wurde, dass meine Blicke töten konnten, war es Frankie, die unsere Mitmenschen mit ihrem strahlenden Lächeln wieder zum Leben erweckte – oder so ähnlich. Wobei die wenigsten Leute wussten, dass es tief in ihr ganz anders aussah.

»Klingt gut.«

»Wo warst du gerade? Im Wald?«

»Yep. Ich habe den Spaziergang mit Sherlock mit einer kleinen Fotosession verbunden. Wir waren im Wald, am Fluss und davor noch am Golden Lake.«

Sie nickte.

»Ich will die Bilder gleich heute Nachmittag bearbeiten. Vielleicht schaffe ich das, bevor du anrückst … und hoffentlich Proviant für einen gemütlichen Abend dabeihast.«

Grinsend wackelte sie mit den Augenbrauen. »Stets zu Diensten, um für das leibliche Wohl zu sorgen.«

»Exzellent. Das schreit nach einem vielversprechenden Abend, der da auf uns zukommt.«

»Wenn du vielversprechend mit leckerem Gebäck gleichsetzt, könntest du recht haben.«

»Mit was denn bitte sonst? Also echt …« Ich musste lachen, und Frankie schüttelte den Kopf. Dann warf ich Sherlock einen flüchtigen Blick durchs Schaufenster zu. »Ich mach mich wieder auf den Weg. Wir sehen uns später, Franks.«

»Bis dann.«

Nur wenige Minuten später erreichte ich unseren kleinen, aber hübschen Vorgarten, den ein weißer Holzzaun vom Bürgersteig abgrenzte. Daran war ein Schild mit dem Logo der Chestnut Flower Lodge angebracht, bestehend aus einer Serifenschrift und der minimalistischen Illustration unseres kleinen Hauses. Ganz simpel gehalten, wie wir es gerne mochten. Rasch öffnete ich den leicht verrosteten Riegel am Tor, machte Sherlock von der Leine los und ließ ihn in den Garten springen. Ein Lächeln legte sich auf meine Züge, als ich ihm nachblickte, während ich das Tor hinter mir schloss. Dann checkte ich kurz unseren Briefkasten, der am Zaun befestigt war, und blätterte die Briefe an die Chestnut Flower Lodge durch, bevor ich ihn wieder schloss.

Nachdem meine Eltern vor vier Jahren wegen mir nach Golden Oaks gezogen waren, hatten sie versucht, das Beste aus unserer Situation zu machen, indem sie sich ihren Lebenstraum von einem gemütlichen Bed and Breakfast erfüllten – mit der Chestnut Flower Lodge, die zugleich unser Zuhause war. In der Regel hatten wir nicht viele Gäste. Wenn es richtig gut lief, waren alle fünf Zimmer belegt; in bescheideneren Zeiten (die mittlerweile leider an der Tagesordnung waren) freuten wir uns, wenn ein bis zwei Zimmer reserviert waren. Für unsere Gäste wollten wir eine Atmosphäre schaffen, in der sie sich wohlfühlten. Ein temporäres Zuhause statt eines sterilen Hotels. Dafür gab es jeden Morgen, neben dem feinen Gebäck von Le Petit Pain und den anderen Köstlichkeiten, die wir von lokalen Betrieben und Farmern bezogen, die wohl leckersten Waffeln der Welt. Meine Mom hatte sie im Laufe der Jahre mit ihren Geheimzutaten und ganz viel Sirup verfeinert. Im Herbst machte sie immer eine besonders leckere Variante: Kürbiswaffeln mit Vanille und frischem Apfelmus, für die die Chestnut Flower Lodge bekannt war. Gut, das half vielleicht nicht, Tausende Gäste anzulocken, dafür brachte es uns online ausschließlich gute Bewertungen ein.

Der Garten, der einmal um unser Haus herumführte, barg am Rande des Zauns viel Gebüsch, Blumen, Obstbäume, die nun verfärbt waren, und einige Sitzmöglichkeiten wie Bänke und Tische mit Stühlen. Hinter dem Haus lag sogar ein kleiner Froschteich mit Sonnenliegen, die jetzt im Oktober jedoch im Schuppen verwahrt wurden.

Mit großen Schritten lief ich den gepflasterten Weg, der vom Tor zum Haus führte, entlang. Gemeinsam mit meiner Mom hatte ich die Holzveranda, die wir im vorangegangenen Jahr beige gestrichen hatten, mit herbstlicher Dekoration geschmückt. Auf den drei Stufen, die zur Haustür hinaufführten, lagen Kürbisse in verschiedenen Formen, Farben und Größen, um das Geländer hatten wir Herbstblüten und Lichterketten gewunden. Hier und dort standen Windlichter. Orangene und dunkelgrüne Kissen und Decken auf den Schaukelstühlen zauberten noch vor dem Eintreten ein herbstliches Willkommen.

Ich stieg die Stufen hinauf und kramte in meiner Tasche nach dem Schlüssel. Meine Eltern waren um diese Zeit in der Regel auf dem Markt und die einzigen Gäste – Jonathan und George, ein Paar um die fünfzig, das der Großstadt für ein paar Tage entfliehen und unser wochenlanges Herbstfest besuchen wollte – über Mittag ausgeflogen, um den Ort zu erkunden. Neben mir hörte ich leise das Windspiel klirren, das ich aus Queens mitgenommen hatte und das eines der letzten Überbleibsel war, das mich an unser Leben in New York erinnerte. Aus irgendeinem Grund störte es mich nicht; dafür lauschte ich ihm morgens, wenn ich mit meinem Kaffee und einer Vanillewaffel auf der kleinen Treppe saß und in meinem Buch las, viel zu gerne.

»Hey!«

Erschrocken zuckte ich zusammen und ließ dabei meinen Schlüsselbund fallen. Mit aufgerissenen Augen fuhr ich herum und sah, wie ein Kerl von unserer gepolsterten Bankschaukel links von mir aufstand und einige Schritte auf mich zukam. Sein Haar war mittelblond, etwas verwuschelt. Ein dichter Bart, der seinen schlanken Kiefer bedeckte. Dunkelgraue Kopfhörer, eine schwarze Lederjacke, schwarze Jeans und Boots vervollständigten seinen Look.

Mein Herz raste, als ich hinter ihn Richtung Parkplatz blickte und mir bewusst wurde, wer da vor mir stand. Dieser Typ in meinem Alter, in dessen hellblauen Augen sich etwas Herausforderndes und gleichzeitig Verlorenes spiegelte, war mir zuvor schon mal begegnet. Genau genommen vor ungefähr einer halben Stunde. In seinem schwarzen Jeep. Mit so lauter Musik, dass ich sie noch bei der Erinnerung in meinem ganzen Körper vibrieren spürte.

DASH

Laute Musik. »Party Monster« von The Weeknd dröhnte so schallend in meinen Ohren, dass ich mich wieder mal fragte, warum mir eigentlich noch nicht das Trommelfell geplatzt war.

Skeptisch musterte mich das Mädchen, das gerade die Veranda des Bed and Breakfast betreten hatte, welches mir Tyler heute Morgen empfohlen hatte. Dabei zog sie die geraden Augenbrauen dermaßen eng zusammen, dass sich eine Falte zwischen ihnen bildete. Sie hatten die gleiche dunkelbraune, fast schon schwarze Farbe wie die glatten Haare, die ihr zierliches Gesicht umspielten und ihr geradeso bis zu den Schultern reichten. Sie trug eine hellblaue Jeans, helle Sneakers und ein dunkelgrünes kariertes Hemd unter einer beigen Jacke und kniff die Augen zusammen. Dann hob sie rasch den Schlüsselbund auf, der ihr heruntergefallen war, und sah mich wieder an.

Ihr Blick hatte etwas Fragendes. Ihre Lippen bewegten sich …

Oh fuck.

Ich zuckte zusammen, als mir auffiel, dass ich abgesehen von der Musik nichts hörte. Im Bruchteil einer Sekunde schob ich mir die Kopfhörer in den Nacken und grinste sie entschuldigend an. »Sorry, die Musik ist so ’ne Angewohnheit.« Ich streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Dash Adams. Hey.«

Ohne zu zögern, nahm sie meine Hand in ihre, drückte kräftig zu und schüttelte sie.

Etwas Kribbelndes flutete meinen Körper.

»Hey sagtest du bereits, als du noch die da auf den Ohren hattest.« Sie nickte mit dem Kinn zu meinen Kopfhörern, aus denen immer noch The Weeknd dröhnte. Dann ließ sie meine Hand los und trat einen großen Schritt zurück, bevor sie die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich bin Tatum. Meinen Eltern gehört das Bed and Breakfast.« Ihr düsterer Blick hielt meinen einen Moment lang fest, bevor sie wieder meine Kopfhörer ins Visier nahm. »Willst du die Musik nicht mal stoppen? Frisst bestimmt viel Akku, wenn die ganze Zeit dieser bescheuerte Krach weiterläuft.«

Ich musste grinsen. »Passt schon, gibt ja Ladekabel und Steckdosen, oder habt ihr die hier nicht?« Ich schaute zur Fassade des Hauses, das eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatte. Die Fensterläden hätten einen frischen Anstrich gebrauchen können, und die Holzdielen der Veranda knarzten zum Teil bedrohlich, aber insgesamt machte das B&B eher einen charmant-altmodischen als heruntergekommenen Eindruck. »Andererseits … jetzt, da ich mich hier so umsehe …«

»Für Dummschwätzer ist der Strom heute leider aus, sorry.«

Lachend schüttelte ich den Kopf und schnaubte, worauf sich in ihrer vorher steinharten Miene etwas regte. Ganz leicht, fast unmerklich zuckte einer ihrer Mundwinkel nach oben, und in ihren Augen erkannte ich ein schwaches Funkeln, das meine Neugier weckte. Doch mit einem erneuten Blick auf meine Kopfhörer verschwand beides genauso schnell wieder, wie es gekommen war.

Sie war knallhart. Tatum. Das Mädchen mit den dunklen Augen und dem Ausdruck im Gesicht, als ob sie mir jede Sekunde eine reinhauen wollte.

»O-kay, dann habt ihr wohl kein Zimmer mehr für mich frei, oder?«

Sie kniff die Augen zusammen, seufzte dann aber, als würde sie sich ihrem Schicksal ergeben, und schloss die Tür auf. Im Eingang drehte sie sich wieder zu mir um, diesmal mit einem übertrieben freundlichen Lächeln auf den Lippen. »Herzlich willkommen in der Chestnut Flower Lodge. Unser Zuhause ist dein Zuhause. Möge die Herbstsonne in Golden Oaks dein Gemüt erwärmen und unser Bed and Breakfast dein wohliger Rückzugsort sein. Frühstück ab sechs Uhr. Hast du reserviert? Oh, und wehe, du verpfeifst mich bei meinen Eltern – die sagen mir oft genug, dass ich nicht so giftig sein soll.«

Wie bitte? Behandelt die ihre Gäste immer so?

Mir klappte der Kiefer runter, und ich blinzelte ein paarmal, um auf dieses Mädchen klarzukommen. Vergeblich.

»Also? Hast du reserviert?«, fragte sie noch einmal ungeduldig und reckte das Kinn.

»Oh, ja, ich …« Rasch schnappte ich mir meine schwarze Reisetasche und den Rollkoffer und folgte ihr hinein. »Ich hatte vor ungefähr einer Stunde angerufen und nach einem Zimmer gefragt. Am Telefon war ein Mann. Bestimmt war das dein Dad, oder?«

Keine Reaktion.

Ich sah auf. Tatum war verschwunden. Ich gab der Holztür einen Stoß, und sie fiel hinter mir ins Schloss.

Ruhe. Nur die Musik, die immer noch aus meinen Kopfhörern scholl. Zum Glück hatte sie nicht weiter darauf bestanden, dass ich sie ausmachte.

Der Flur war wie eine Art Windfang, nur wenige Meter breit, in einem dunklen Mintton gestrichen und mit Kunstwerken in antiken goldenen Bilderrahmen vollgehängt. Hier und da standen Pflanzen in riesigen Übertöpfen aus Ton, dazwischen ein Läufer sowie eine Sitzbank und eine Art Kommode, die alle drei aussahen, als stammten sie aus Renaissance-Zeiten.

Mit der Tasche über der Schulter, den Koffer hinter mir herrollend, trat ich am Ende des Flurs durch eine Glastür mit weißem Rahmen und geschnitzten Details in den nächsten – sehr viel breiteren – Flur, von dem mehrere Türen in verschiedene Räume abgingen und eine dunkle Holztreppe nach oben führte. Tatum saß an einem Sekretär aus einem ähnlichen dunklen Holzton, der seinen Platz am Ende des Gangs direkt rechts neben der Tür hatte, durch die ich gerade getreten war. Darauf türmten sich Briefe, Notizbücher, Stifte und Mappen, und an der Wand darüber waren kleine goldene Haken befestigt, an denen die Schlüssel für die Zimmer hingen, jeder mit einem geschwungenen Holzanhänger mit der Zimmernummer darauf. Insgesamt gab es fünf Haken; nur an einem hing kein Schlüssel.

»Yep, du hast mit meinem Dad gesprochen«, murmelte Tatum, während sie einen Kalender mit Ledereinband durchblätterte. »Weißt du, wie lange du bleibst?«

Langsam schlenderte ich zu ihr herüber, ließ mein Gepäck sinken und überlegte, wobei ich mir über den Bart fuhr. »Nein, eigentlich nicht. Ist eher auf unbestimmte Zeit. Passt das?«

Ihr Kopf ruckte nach oben. Verwunderung in ihrem Blick. »Reden wir von Tagen, Wochen oder Monaten?« Wieder fiel ihr Blick auf meine Kopfhörer, aus denen noch immer Musik scholl. Die einzige Geräuschquelle in diesem (meiner Meinung nach) viel zu leisen Gebäude. Ich sah, wie sie den Kiefer anspannte, als kostete es sie Mühe, sich einen weiteren bissigen Kommentar zu verkneifen.

»Ehrlich gesagt keine Ahnung. Musst du das für eure Planung wissen?«

»Ne, ist … ist schon okay. Ein Zimmer ist immer frei.« Sie wandte sich rasch um und hob einen der Schlüssel vom Haken, den sie mir reichte. Dabei berührten sich für einen kurzen Moment unsere Finger. Blitze schossen durch meinen Körper, und ich spannte mich an. Ihre Haut war warm und weich. Insgeheim wollte ich sie noch länger berühren. »Hier, ähm … du kannst das Zimmer die Treppe rauf gleich links haben. Nummer drei. Soll ich dir noch eine Führung geben oder dir mit dem Gepäck helfen?« Sie zog ihre Hand zurück, schluckte und blickte zu meinem Gepäck, bevor ihr Blick wieder zu mir zuckte.

Ich fing ihn auf und ließ ihn nicht mehr los. Funken, die zum Takt meiner Musik durch die Luft tanzten. Ihre Lippen öffneten sich leicht, doch trotz ihrer Bemühung, sich etwas freundlicher zu geben, verschwand der misstrauische Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht.

»Danke für den Schlüssel«, durchbrach ich die Spannung zwischen uns. »Mit dem Gepäck brauchst du mir nicht zu helfen, aber du kannst mir gerne alles zeigen, wenn ich …«

In diesem Moment klingelte lautstark mein Handy.

Tatum fuhr zusammen, als ob ein Blitz neben ihr eingeschlagen hätte. Sie blinzelte einige Male und verzog beinahe wütend das Gesicht. »Ganz schön laut …«

Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern, zog es aus meiner Hosentasche und warf einen Blick auf das Display.

Tyler.

»Sorry, ich muss kurz drangehen«, murmelte ich und hob ab. »Hey, alles gut, Mann?«

»Yep, klar, und bei dir? Bist du schon in der Stadt?«, kam es von einem meiner ältesten Freunde durch den Hörer.

Während sich Tatum irgendwelchem Papierkram widmete, mir aber immer wieder einen kritischen Seitenblick zuwarf, entfernte ich mich ein Stück. »Hab gerade in dem B&B eingecheckt, von dem du mir erzählt hast. Sehen wir uns gleich?«

»Aber hallo. Ich schick dir meine Adresse. Wann kannst du da sein?«

»Keine Ahnung, die Wege hier sind ja nicht sonderlich weit.« Ich lachte auf. »Vielleicht so in zwanzig Minuten?«

»Super, dann bis gleich.«

Ich verabschiedete mich und legte auf, worauf erneut die laute Musik aus den Kopfhörern scholl, die vom Anruf unterbrochen worden war. Im nächsten Augenblick erschien Tylers Nachricht mit seiner Adresse auf dem Bildschirm.

Nachdem ich mein Handy gesperrt und zurück in meine Hosentasche geschoben hatte, wandte ich mich wieder Tatum zu. Die Falte zwischen ihren zusammengezogenen Augenbrauen schien noch ausgeprägter als vorhin. »Ich muss mich jetzt doch etwas beeilen. Heißt, wir müssen die Führung leider verschieben.«

»Kein Problem. Meld dich einfach bei mir oder meinen Eltern, falls du was brauchst.«

»Danke … Tatum«, antwortete ich und betonte dabei ihren Namen. Damit hatte ich schon einige Mädels aus der Reserve locken können.

Erneut huschte ihr Blick zu meinen Kopfhörern, dann sah sie mir geradewegs in die Augen, worauf ich ihr ein schiefes Grinsen schenkte (bisher hatte mich mein Charme noch nie enttäuscht), doch dieses Mädchen ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Stattdessen hob sie eine ihrer geraden Augenbrauen und erwiderte: »Klar, dafür werde ich immerhin bezahlt.«

Ich nickte. Dann wandte ich mich ab, schob mir die Kopfhörer zurück auf die Ohren und brachte mein Gepäck die Treppe hinauf in mein Zimmer.

Irgendwie war Tatum seltsam. Sie schien tough, aber auch unhöflich, fast schon fies; und ihr Versuch am Ende, die freundliche Gastgeberin zu spielen, war eindeutig gescheitert. Anscheinend hatte sie absolut keinen Bock auf mich – obwohl sie mich kaum kannte.

Andererseits, wer konnte es ihr verübeln? Selbst ich hielt es manchmal nicht mit mir aus.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du hier bist.« Tyler saß zurückgelehnt in einem Sitzsack, der fast nur noch von einer Vielzahl aus Flicken jeglicher Farben zusammengehalten wurde. Sein braunes welliges Haar war so zerstrubbelt, dass sich mit Sicherheit eine ganze Vogelfamilie darin wohlgefühlt hätte. Er trug einen grauen Sweater von der Golden Oaks University und dazu eine schwarze Jogginghose.

Als ich vorhin bei ihm angekommen war, hatten wir es uns im Wohnbereich seiner WG gemütlich gemacht. Bestehend aus mehreren Sitzsäcken und einem Ecksofa in Beige, einigen Pflanzen (als ob Tyler die am Leben halten konnte), einem riesigen Flatscreen und zusammengewürfelten Kommoden und Regalen, erinnerte das Zimmer an eine richtige Studierendenbude, wirkte zugleich aber auch wie ein echtes Zuhause. Im Hintergrund spielte eine Playlist mit Hip-Hop-Songs.

»Es wurde Zeit«, entgegnete ich und nahm einen Schluck Eistee. »Dein Angebot kam genau richtig.«

»Am Telefon sagtest du so was. Was ist passiert?«

Es entstand eine kurze Pause, in der ich meine Gedanken ordnete. Ich wusste selbst, dass ich Scheiße gebaut hatte. Tyler war mein ältester Freund, und wenn ich mit irgendjemandem darüber sprechen wollte, dann mit ihm. Aber konnte ich es auch?

»Vor einer Woche hatte ich den letzten DJ-Gig. Es war einer dieser superschicken Clubs in Midtown, und dann hatte ich einen kleinen Absturz … Na ja, am nächsten Morgen bin ich in meinem Apartment aufgewacht. Aber … nicht alleine, sondern mit drei nackten Mädels in meinem Bett und noch mehr zugedröhnten Leuten auf dem Fußboden verteilt. Alles voll mit leeren Flaschen, Spuren von Koks auf dem Couchtisch und noch diverse andere Aufputschmittel in meinem Badezimmer.«

»Ein kleiner Absturz?« Er legte den Kopf schief. »Klingt eher nach einer kompletten Eskalation, wenn du mich fragst.«

»Okay, ja, es war schon heftiger als sonst. Deswegen hat es auch endgültig dafür gesorgt, dass ich mein Leben umkrempeln wollte.«

»Hat es was mit dem zu tun, was du vor Kurzem gefunden …«

»Hey, lass uns nicht darüber reden, okay? Wichtig ist nur, dass mir klar geworden ist, dass ich auf dem falschen Weg bin und da rausmuss.«

Und dass ich mich Tag für Tag aus der Realität flüchte.

»Okay, aber … bist du dir wirklich zu hundert Prozent sicher, dass du das hier machen willst? Wenn du jetzt einsteigst, muss ich mich die nächsten Jahre auf dich verlassen können. Na ja, es ist nun mal eine Verpflichtung, die du eingehst, Mann. Das hier ist ein anderes Leben als das in der Großstadt, das muss dir bewusst sein. Nicht dass du in ein paar Monaten deine Meinung änderst und jetzt nur hier bist, weil du dich momentan vielleicht an einem Punkt befindest, an dem du vor ein paar Jahren schon mal gewesen bist.«

Ich schluckte. »Du kannst dich voll und ganz auf mich verlassen. Ja, es wurde vor Kurzem einiges aufgewirbelt, aber ich will das hier mit dir durchziehen. Es gibt kein Zurück mehr. Versprochen.«

»Okay«, entgegnete er und fixierte mich.

Gerade als er ansetzen wollte, noch etwas zu sagen, ging die Wohnungstür auf und zwei Leute in unserem Alter kamen herein. Ein Mädel, schwarze Haare, so dunkel wie die Nacht, die sie gelockt bis zur Taille trug, mindestens genauso dunkle Augen, die aber strahlten. Die bunte Jacke, die sie trug, sah aus, als ob dafür ein Papagei draufgegangen war. Ihr folgte ein Kerl mit kürzer rasierten hellbraunen Haaren, kurzem Bart und hellen Augen. Dunkelblauer Hoodie und helle Jeans, darüber ein Rucksack.

Vermutlich Tylers Mitbewohner.

Kaum hatten die beiden den Raum betreten, hielten sie in ihrer Unterhaltung inne und schauten erst verwundert zu mir, dann zu Tyler.

»Leute, das ist Dash. Ich hatte euch schon vorgewarnt, dass er kommt, wisst ihr noch?«

Die Miene des Mädchens hellte sich auf, und sie kam grinsend auf mich zugelaufen. »Ach ja, klar. Hey, ich bin Fiona. Schön, dich kennenzulernen, Tyler hat uns schon einiges von dir erzählt.« Sie drückte mich kurz zur Begrüßung, und ich erwiderte die Geste ein wenig überrumpelt. Dann ließ sie mich wieder los und schenkte mir ein herzliches Lächeln.

»Freut mich auch«, entgegnete ich leicht grinsend und wandte mich dem Typ zu.

»Chase«, sagte er, und wir schlugen ein. »Cool, dass du die Sache mit Tyler zusammen durchziehst. Der kann jede Hilfe gebrauchen.«

Tyler schnaubte nur und schüttelte den Kopf. »Klappe.«

Es entstand eine kurze Pause, in der lediglich die Musik zu hören war. Mein Herz begann schneller zu pochen.

»Hey, setzt euch doch.« Und füllt die Stille mit Worten.

»Klar, gerne«, sagte Fiona und machte sich gemeinsam mit Chase auf dem Sofa breit. Sie zog ein Bein an den Körper und spielte an den goldenen Armreifen an ihrem Handgelenk herum. »Du und Ty, ihr kennt euch schon ewig, oder? Oh, und erzähl mal, wie kommt es, dass ein heißer New Yorker DJ die Großstadt verlässt und in dieses Kaff zieht?«

In mir spannte sich alles an, doch ich setzte mein charmantestes Grinsen auf. »Ach, irgendwann wird selbst das langweilig; außerdem hatte ich Lust, was Neues auszuprobieren. Und ja, Tyler und ich sind im selben Haus in Brooklyn aufgewachsen. Na ja, zumindest bis dieser Kerl hier«, ich nickte in Tylers Richtung, »mit seiner Family zurück nach Golden Oaks gezogen ist. Da waren wir ungefähr zwölf, oder?«

Er nickte. »Kommt hin. Damals ging es meiner Grandma nicht gut, und meine Eltern wollten in ihrer Nähe sein. Ihr kennt die Geschichte ja schon … Aber bis dahin waren wir die besten Kumpels, und in den letzten Jahren hab ich immer mal wieder einen Abstecher nach New York gemacht, um bei Dash vorbeizuschauen.«

»Da waren ein paar verrückte Nächte dabei«, fügte ich lachend hinzu. »Und als ich vor ein paar Wochen in einem Club in Chelsea aufgelegt hab, stand Ty natürlich ganz oben auf der Gästeliste. Danach haben wir noch einige Zeit geredet. Ich wusste ja von Tys Abschluss in Wirtschaft und seinem Vorhaben, hier eine Bar zu eröffnen, aber an dem Abend kam die Idee auf, dass ich einsteigen könnte. Das war immer ein Traum von uns, seit wir Teenager waren. Ich hatte schon seit Längerem überlegt, was anderes zu machen als aufzulegen, und dann war plötzlich die Möglichkeit da. Trotzdem war ich mir erst nicht sicher, aber vor einer Woche habe ich Ty angerufen und Nägel mit Köpfen gemacht. Tja, und jetzt … sitze ich hier.«

Es war vielleicht nicht ganz so gelaufen, aber gelogen war es auch nicht. Nach meinem »kleinen« Absturz hatte ich nur noch mein wichtigstes Zeug zusammengepackt und mein Apartment zurückgelassen. Glücklicherweise hatte ich in den letzten Jahren das meiste Geld, das ich bei meinen Gigs verdient hatte, gespart, und so war das mit der Miete dort und der Unterkunft hier erst mal kein Problem. Und die Kosten für den Umbau der Bar waren überschaubar, da Tyler und ich das meiste selbst machen wollten.

»Dann bist du in der Bar der DJ?«, kam es von Chase.

Ich ballte die Hände zu Fäusten, doch die anderen bekamen es nicht mit, da ich sie neben meinen Beinen versteckte. »Äh, nee, damit hab ich erst mal abgeschlossen. Ich will mich anderen Dingen widmen, allem, was eben anfällt. Buchungen von Acts, der Organisation von Events und so.«

»Solange ich noch eure Barkeeperin sein darf?« Fionas Mundwinkel zuckten nach oben.

»Aber klar«, entgegnete Tyler. »Und bei dem ganzen Werbe-Zeug brauchen wir auf jeden Fall auch deine Hilfe.«

»Dein Studium kommt also doch noch zum Einsatz«, murmelte Chase grinsend, und Fiona rammte ihm mit gespielter Empörung den Ellenbogen in die Seite.

»Ach, studierst du Grafikdesign?«

»Yep. Und ich bin bald fertig. Genau wie der hier«, entgegnete sie und boxte Chase gegen die Schulter.

»Na, Gott sei Dank. Ich bin auch im vorletzten Semester, allerdings weniger künstlerisches Zeug und mehr Sport.« Er lachte. »Sportmanagement.«

Auf den ersten Blick hatte er wie ein Footballspieler gewirkt, aber ich hatte ihn nicht vorschnell in eine Schublade stecken wollen. Doch manchmal bestätigte sich der erste Eindruck. Meine Gedanken schweiften ab zu Tatum und zu meinem ersten Eindruck von ihr. Mal sehen, ob sich der auch bestätigte.

»Klingt cool.«

»Sorry, Mann, dass du nicht hier übernachten kannst, aber es sind schon alle Zimmer belegt, und wenn Fiona alle paar Wochenenden Besuch von ihrer Freundin Jenn bekommt, puh … dann wird es echt eng hier.«

»Und laut«, fügte Chase grinsend hinzu.

Fiona streckte ihm die Zunge heraus. »Mhm, ja, passt zu dir, dass du an unserer Tür lauschst. Aber nur zu, tu dir keinen Zwang an, wenn’s dir Spaß macht.«

Chase legte lachend einen Arm um seine Mitbewohnerin, und sie konnte ihr Schmunzeln nun auch nicht mehr unterdrücken. »War doch nur ’n Witz.«

»Kein Problem, Ty. Ich habe vorhin in diesem Bed and Breakfast eingecheckt. Chestnut Flower Lodge.«

»Das einzige B&B in Golden Oaks, aber echt supergemütlich. Und die Familie Sullivan ist entspannt. Das wird sicher passen, bis du eine Wohnung gefunden hast. Ich halte die Augen offen und sage Frankie Bescheid, dass sie in der Bäckerei mal die Tratschrunde fragen soll, wo eventuell gerade was vermietet wird«, sagte Tyler.

»Danke, Mann, ich freu mich über jeden Tipp«, entgegnete ich. »Aber stress dich nicht, ich kann auch erst mal eine Weile im B&B bleiben.« Und rausfinden, warum mich diese Tatum nicht ausstehen kann, fügte ich in Gedanken hinzu.

Ich hatte keine Ahnung, warum, aber irgendetwas an ihr ließ mich nicht los.

Nachdem ich mit Fiona, Tyler und Chase gegessen hatte, war ich in den Jeep gestiegen, hatte meine Musik laut aufgedreht und erst mal durchgeatmet. Nur wenn es laut war, funktionierte ich richtig. Nur wenn Geräusche meine Gedanken übertönten, fühlte ich mich sicher. Mit jeder Minute, die ich mir auf der Fahrt zurück Zeit ließ, entspannte ich mich mehr und mehr. Ich nutzte jede dieser Sekunden, um mich lebendig zu fühlen. Oder es mir zumindest einzureden.

Bei der Chestnut Flower Lodge angekommen, parkte ich auf einem der Parkplätze neben dem Haus, setzte meine Kopfhörer auf und switchte die Musik vom Lautsprecher im Auto auf meine Ohren. Es war schon recht dunkel, und durch ein Fenster sah ich zwei Männer in Sesseln in einer Art Wohnzimmer sitzen und sich unterhalten. Das mussten andere Gäste sein. Aufmerksam ließ ich den Blick über den dunklen Garten und die Veranda wandern, ob noch jemand anderes – okay, Tatum – zu sehen war, konnte jedoch niemanden ausmachen.

Auf der Bankschaukel, auf der ich mittags gesessen hatte, lag der Hund der Familie Sullivan und beobachtete mich neugierig, als ich die drei Stufen zur Tür hinaufstieg und eintrat. Drinnen roch es nach frisch gewaschener Wäsche und irgendwelchen Blumen. Mehrere Lampen tauchten den Windfang und den dahinter liegenden Flur in ein hübsches Licht.

Und da stand sie.

Mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus, schlug dann weiter, als ich ein paar Schritte durch den Windfang und die Glastür auf Tatum zumachte und leise ausatmete. Sie packte gerade irgendwelche Papiere auf einen Stapel.

Rasch schob ich mir die Kopfhörer von den Ohren und räusperte mich.

Sie fuhr herum. Ihre Miene wirkte unverändert genervt.

»So sieht man sich wieder.« Ein Grinsen zupfte an meinen Lippen, doch Tatum sah mich weiter nur mit einem Ausdruck an, der mich vermuten ließ, dass sie mich am liebsten hochkant rausgeschmissen hätte.

»Du hast deine Musik wieder an. Supernervig. Nur fürs Protokoll.«

Ich schob meine Hände in die Jackentaschen und legte den Kopf schief. »Ich weiß. Das ist wie Filmmusik. Der Soundtrack zu meinem Leben. Musikalische Untermalung in jeder Szene.« Ich schnaubte. »Nur fürs Protokoll.«

»Klingt nach einem ganz schön beschissenen Film mit flacher Handlung und genauso dämlichen Charakteren. Eher würde ich mir die Hände abhacken, als den anzusehen«, schoss sie zurück und hob gelangweilt eine Braue.

Ich grinste. Sie war vielleicht seltsam und ziemlich unhöflich, dafür aber mindestens genauso schlagfertig und dabei erstaunlich unterhaltsam. »Hier fühlt man sich gleich wie zu Hause.«

»Freut mich zu hören. Schreib das gerne in deine Online-Bewertung«, sagte sie und kramte auf dem Sekretär herum. In der nächsten Sekunde warf sie mir einen verstohlenen Blick zu, der alles in mir unter Strom setzte. »Kann ich noch was für dich tun?« Wieder blickte sie zu meinen Kopfhörern.

Im Ernst, was hatte sie gegen meine Musik?

»Nein, danke. Ich will deine Freundlichkeit nicht überbeanspruchen«, gab ich zurück und nickte ihr noch mal zu, bevor ich kopfschüttelnd die Treppe hinauflief und die Kopfhörer zurück auf meine Ohren schob.

TATUM

Wie konnte es sein, dass man die blöde Musik selbst durch die Kopfhörer auf seinen Ohren immer noch hören konnte? Der Typ musste doch kurz vor einem Hörsturz stehen, wenn er sie so laut aufdrehte.

Mit jeder Stufe, die Dash die Treppe hinauftrat, entfernte sich seine Geräuschkulisse ein wenig mehr – und verhalf mir somit zu einem entspannteren Puls. So typisch, dass dieser nervige Raser mit seiner dummen Musik hier absteigen musste. In der nächsten Zeit würde ich wohl nicht drum herumkommen, etwas netter zu ihm zu sein, um ihn als Gast nicht zu vergraulen.

Ich atmete tief ein und aus. Dann lief ich in die große Küche, in der Mom stand und sich um den Abwasch kümmerte. Die beigen Schrankfronten und weißen Arbeitsoberflächen ließen den Raum um einiges heller wirken, als er eigentlich war. Überall lagen herbstliche Deko-Elemente verteilt, Schalen mit Obst und Snacks reihten sich auf der Arbeitsfläche, und auf Regalbrettern an den Wänden standen Pflanzen, die wir mittlerweile schon so lange hatten, dass sie fast bis zum Boden hinab rankten. Daneben unzählige Kochbücher und Tassen, Schüsseln und Teller. Über der Spüle waren die beiden großen Fenster mit den weißen Landhausrahmen geöffnet, sodass der Kochdunst abziehen konnte.

»Soll ich dir helfen?«, fragte ich, als ich neben sie trat und mir automatisch eins der bunt karierten Geschirrtücher schnappte.

Sie lächelte mich von der Seite an, und nicht zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie ähnlich wir uns sahen. Wir hatten die gleichen kantigen Gesichtszüge, hohen Wangenknochen und dunklen Augen, die etwas weiter auseinanderstanden. Nur unsere Haarfarbe unterschied sich. Während ich das Schwarz meines Bobs von meinem Dad geerbt hatte, waren die Haare meiner Mutter honigblond und reichten ihr wellig bis zu den Schultern. Die leichten Falten auf ihrer Stirn zeugten von all den Sorgen, die sie in den letzten Jahren gehabt hatte. Hauptsächlich wegen mir.

»Wenn du magst, Schatz, aber ich bin so gut wie fertig.«

Ich fing an, ein paar der Pfannen abzutrocknen und sie nach und nach in die Schränke zu räumen. »Haben du und Dad schon den neuen Gast kennengelernt?«

»Bisher nicht. Ist er nett?«

Ich überlegte. »Keine Ahnung, wir werden sehen, wie er sich schlägt.«

»Sei bloß freundlich zu ihm«, sagte sie lachend. »Ich habe gesehen, dass er auf unbestimmte Zeit da ist. Vielleicht bleibt er ja eine Weile, wenn er sich hier wohlfühlt.«

»Schon gut, ich reiß mich zusammen.«

»Ich meine es ja nicht böse, aber …«

»Wir brauchen das Geld«, sagte ich leise und seufzte.

»Ja. Ich weiß.«

Mit der Eröffnung des Bed and Breakfast hatte sich für meine Eltern nicht nur ein Traum erfüllt – es gingen damit auch einige Geldprobleme einher. Die Gehälter aus ihren früheren Jobs in einem renommierten Hotel in New York waren nicht im Ansatz mit den Einnahmen zu vergleichen, die wir durch die Chestnut Flower Lodge hatten. Klar, unser Ruf war super und alle schwärmten davon, wie gemütlich es bei uns war, jedoch war Golden Oaks eine abgelegene Kleinstadt, die nicht unbedingt als der Urlaubsort schlechthin galt. Besonders im Herbst und im Frühling war es hier sehr schön und idyllisch, aber ausgebucht waren wir bisher leider nur sehr selten gewesen. Dieser Ort half mir zwar, nicht Tag für Tag von Panikattacken heimgesucht zu werden, doch zeigte er mir dafür immer wieder auf, dass ich an allem schuld war. Daran, nicht mehr so nah bei meinen Verwandten zu leben, aber besonders an den Geldproblemen und den tiefen Sorgenfalten auf der Stirn meiner Mom.

»Na ja, kümmerst du dich später noch um den Artikel?«

Ich schob mir eine dunkle Strähne hinters Ohr und lächelte sie entschuldigend an. »Kann ich den auch morgen hochladen? Frankie kommt gleich noch vorbei.«

»Sicher. Hast du schöne Fotos machen können?«

»Ja, total, das Licht war richtig gut. Die Farben kommen auf den Bildern unglaublich strahlend raus«, erzählte ich begeistert von den Fotos, die ich heute beim Spaziergang mit Sherlock gemacht hatte.

Vor zwei Jahren war ich auf die Idee gekommen, für unser B&B eine Website mit Blog anzulegen, auf dem ich Reisetipps rund um Golden Oaks postete und mich darum kümmerte, Gästen unsere Kleinstadt schmackhaft zu machen. Es bereitete mir unglaublich viel Spaß. Zwar war das Schreiben nicht ganz so mein Ding, dafür das Fotografieren aber umso mehr. Seitdem bestand mein Job in unserem Bed and Breakfast hauptsächlich aus der Pflege der Website, wobei ich auch hier und da mal die Zimmer machte, Reservierungen annahm und dafür sorgte, dass immer frische Croissants aus der Bäckerei auf dem Tisch standen. Meine Eltern kümmerten sich um den ganzen buchhalterischen Kram, das Essen und die Reinigung der Zimmer und natürlich um alles, was das Gäste-Herz sonst noch begehrte.

»Ich bin auf das fertige Ergebnis gespannt. Die sehen bestimmt …« Weiter kam Mom nicht, denn in diesem Augenblick piepte der Timer am Backofen hinter uns laut los und unterbrach unser Gespräch. Er war eine der wenigen durchdringenden Geräuschquellen im B&B, da sonst Gefahr bestand, dass man sich irgendwo im Haus aufhielt, während im Backofen die Cookies verbrannten.

Mein Herzschlag beschleunigte sich kurz, beruhigte sich im nächsten Augenblick jedoch wieder.

Direkt nach unserem Einzug hatten meine Eltern jegliche Geräuschquellen ausgeschaltet oder so umprogrammiert oder ersetzt, dass sie viel leiser auf sich aufmerksam machten. Das Telefon läutete nur leise, die Klingel an der Tür auch. Im Grunde herrschte in diesem Haus Stille wie auf einem Friedhof. Manch einer mochte das seltsam finden, doch für mich war es lebensnotwendig.

Ich schüttelte mich einmal, während meine Mom zum Ofen lief und ein Blech Kürbiskekse herausholte. Sofort umspielte der köstliche Duft von frisch gebackenen Cookies meine Nase und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Hey, davon können wir uns doch bestimmt welche mit nach oben nehmen, oder, Nancy?« Frankie trat breit grinsend durch die Tür, die roten Haare zu einem unordentlichen Dutt gebunden, in einem viel zu großen grauen Hoodie und ihrer dunklen Mom-Jeans. Über ihrer Schulter hing ihr blauer Rucksack, den sie bereits zu unseren Schulzeiten immer mit sich herumgetragen hatte.

»Aber maximal vier Stück«, entgegnete Mom und zog ihre Augenbrauen hoch.

»Klar, ich habe sowieso noch ein bisschen was aus der Bäckerei mitgebracht, wir werden schon nicht verhungern.« Mit diesen Worten lief Frankie auf meine Mom zu, drückte sie kurz und kam dann zu mir, um mich ebenfalls mit einer Umarmung zu begrüßen.

»Wollen wir gleich nach oben?«

Als sie mich losließ, nickte sie strahlend. »Yep. Allerdings muss ich dich vorwarnen, dass ich megakaputt bin. Eventuell schlafe ich innerhalb der nächsten dreieinhalb Minuten ein.«

»Eine sehr präzise Zeitangabe, Franks.« Ich schnaubte, dann wandte ich mich Mom zu. »Wir sind dann mal oben, sag Bescheid, wenn was ist.«

»Macht euch einen schönen Abend, Mädels. Gute Nacht.«

Ich gab ihr noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, schnappte mir einen Teller, auf den ich die Kekse legte, und Frankie holte uns Gläser und eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Dann durchquerten wir Küche und Flur und traten den Weg nach oben an.

Bereits auf der Treppe hörte ich, dass aus einem der oberen Zimmer laute Musik drang. So laut, dass mein Herz anfing, schneller zu schlagen. Wollte es sich etwa dem Beat des komischen Songs anpassen, der da lief? Mit jeder Stufe wurde die Musik dröhnender. Ich begann zu schwitzen.

»Was ist das denn? Wieso ist das so laut? Wer ist das?«, murmelte Frankie und warf mir einen besorgten Blick zu.

»Frag mich was Leichteres.« Ich zuckte mit den Schultern. »Der Kerl ist heute angekommen. Bevor ich … Bevor ich mittags bei dir war, ist er mit seinem Jeep an mir vorbeigerast, da hatte er seine Musik auch schon so laut laufen.«

»Okay, okay. Wie alt ist er? Ist er cool? Doof? Nett? Creepy? Süß? Heiß? Ein Unterwäsche-Model? Das wäre mal was …«

Ich fischte den Schlüssel zu meiner Zimmertür aus meiner hinteren Hosentasche und schloss auf. Direkt huschten Frankies Finger zum Lichtschalter. Obwohl wir uns auf der anderen Seite des Stockwerks befanden, drang die Musik durch die geschlossenen Türen bis zu uns.

»Ich habe noch nicht viel mit ihm gesprochen. Ist in unserem Alter. Er wirkt ein bisschen …« Ich suchte nach den richtigen Worten, doch die Geräusche lenkten mich zu sehr ab. »Nervig.«

Ich lief rüber in die Ecke zu meinem Bett, das am Fenster stand, und stellte den Teller mit den Keksen auf meinem Nachttisch aus dunklem Holz ab, den ich im Antiquitätenladen in der Stadtmitte erbeutet hatte. Der Vintage-Look passte total gut zum goldenen Messinggestell meines Bettes, welches mit den Stäben, aus denen der Rahmen bestand, ein bisschen so wirkte, als ob ich ins letzte Jahrhundert gereist war, um es von dort mitgehen zu lassen. Die Wände hatte ich in einem hellen Mooston gestrichen, doch mittlerweile sah man nicht mehr allzu viel davon. Fast jeder Zentimeter war zugehängt mit meinen Bildern, aber auch mit Inspirationen anderer Fotografierender, die in fremden Ländern aufgenommen worden waren. Fremde Länder, die ich nur zu gern besucht hätte, doch da gab es wohl für immer etwas, das mir im Weg stand. Gegenüber meinem Bett hatte mein Schreibtisch aus dunklem Holz seinen Platz, auf dem sich weitere Fotografien, Festplatten, Notizbücher, Stifte und Blöcke stapelten. Daneben ein hohes Regal, voll mit Büchern, angefangen bei Romanen (Fantasy mochte ich am liebsten!) über Biografien bis hin zu Fachbüchern und Bildbänden. Auf dem Boden kreuchte und fleuchte ein Sammelsurium von noch mehr Büchern, Fotografien, Pflanzen und allem, was mich inspirierte. Einen großen Spiegel mit goldenem Rahmen hatte ich gegen die Wand gelehnt, daneben befand sich eine Kleiderstange mit meinen Lieblingsklamotten.

Mein Zimmer war, neben der Natur, mein liebster Rückzugsort. Hier verbrachte ich viel Zeit, bearbeitete Fotos und träumte jedes Mal, wenn ich einen Blick auf den goldenen Globus auf meinem Schreibtisch warf, davon, aus dieser kleinen Stadt auszubrechen und alles hinter mir zu lassen. Doch so leicht war das nicht und würde es niemals wieder sein. Auch wenn es wehtat, ich hatte diese Tatsache bereits vor langer Zeit akzeptiert.

»Was meinst du mit nervig?«, fragte Frankie, als sie die Flasche mit den Gläsern neben meinem Bett abstellte und sich im Anschluss auf die weiße Decke fallen ließ.

Ich setzte mich zu ihr und versuchte auf ein Neues, die Musik auszublenden. Mir einzureden, dass ich hier sicher war. Als ein ruhigerer Song einsetzte, entspannte ich mich ein wenig. »Bisher ist er mir erst dreimal über den Weg gelaufen, und jedes Mal umgibt ihn diese megalaute Geräuschwolke. Musik ist ja schön und gut, aber man kann’s echt übertreiben.«

Frankie musste schmunzeln und lehnte sich gegen die Wand. »Mhm, interessant. Du weißt, ich habe vollstes Verständnis für dich und unterstütze dich.« Sie machte eine Pause, und unsere Blicke begegneten sich. Wir wussten immer, was die andere dachte. Frankie kannte mein Geheimnis und ich ihres. Sie war meine Person und ich war ihre. Das war von Anfang an so gewesen. »Aber könnte es nicht vielleicht sein, dass er wie viele andere Leute auch einfach nur gerne Musik hört?«

»Könnte sein … Oder er ist nervig.« Ich grinste.

»Der ist in unserem Alter, meintest du? Wie heißt er?«

»Dash. Ja, vielleicht ein paar Jahre älter.«

Sie musste erneut schmunzeln. »Dash. Hört sich heiß an. Ist er das?«

»Ich hab ihn mir jetzt nicht soooooo genau angeschaut …«

»Tatum!«

Ich lachte auf und warf mich in mein Kissen. »O-kay. Er sieht echt gut aus.« Rasch richtete ich mich wieder auf und hob einen Finger. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er ziemlich laut und nervtötend ist.«

»Wusst ich’s doch«, bemerkte sie kichernd. »Mal sehen, wann ich ihm das erste Mal begegne. Morgen beim Frühstück wohl eher nicht, ich muss ja schon vor Sonnenaufgang zur Bäckerei.«

»Der wirkt auf mich wie einer, der sich heute Abend noch betrinkt und bis zwei Uhr mittags durchschläft, also vermutlich nicht, nein.«

»Boah, Tatum, sei nicht immer so zynisch«, wies sie mich lachend in meine Schranken. »Und leg mal deine Vorurteile ab, Girl.«

»Okay, okay«, kapitulierte ich und hob entschuldigend die Hände. »War doch nur Spaß. Ich weiß ja selbst, wie es ist, neu zu sein und in eine Schublade gesteckt zu werden. Aber er ist trotzdem ein anstrengender Krachmacher und …«