Sprechen wir über Musik - Joachim Kaiser - E-Book

Sprechen wir über Musik E-Book

Joachim Kaiser

4,4
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Musikverführer!

Joachim Kaiser, der bekannteste und renommierteste Musikkritiker unserer Zeit, antwortet auf naheliegende, außergewöhnliche und auch unvermutete Fragen zur Klassik. Er schöpft dabei aus seinem enormen Wissen und würzt seine Texte mit zahlreichen Anekdoten aus dem Leben großer Musiker. Immer getragen von seiner bedingungslosen Liebe zur Musik.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2012

Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
9
4
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2012 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg Satz: Ditta Ahmadi, Berlin Redaktion: Sven Siedenberg, München
ISBN 978-3-641-09015-9V002
www.siedler-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

VorwortKAPITEL I - Von Klängen und Werken
Die Bibel der klassischen MusikMozart und der King of SwingAtemholen der SeeleMenuett mit ZipfelmützeBeethovens Boogie-WoogieWiener SubkulturStrettalettaSensibel im SalonIn der TiefeGenie und WahnsinnDie KönigsdisziplinEkstase durch EntsagungDer Kuckuck und die NachtigallHerz oder Verstand
KAPITEL II - Auf der Bühne, hinter der Bühne
Früh übt sichGute Sänger, schlechte SängerDer Preis ist heißDie Pointe in Takt 138Die Männer waren auch mal besserStreichkonzertDas erste MalVibrationsalarmDer Interpret und sein GedächtnisSchwer hat es der Amateur
KAPITEL III - Geschmackssachen
Vom Rhythmus zum SoundKunst oder Kitsch?Auweia: »Wagalaweia ...«Musik aus zweiter HandSchön, schöner, LudwigMittelmaß im MeisterwerkRichard gegen Richard oder der Orpheus allen heimlichen ElendsFrösche im MondscheinKitsch und Kunst
KAPITEL IV - Tonkünstler, Überschätzte und Vergessene
Mahler und seine FälscherDer TaktangeberTempolimit für Tasten-RaserDas Leuchten der TragödinMeister des FinalesMoll im DiesseitsVirtuose mit starker linker HandUnerhört!Wie groß sind die Kleinmeister?Schön und gutKunst kommt von KönnenGlaube und Technik
KAPITEL V - Hochverehrtes Publikum
KunstbarbarDie Nazi-SingerOper ohne VorbereitungJubelarienJenseits der StillePrüfung im KerzenscheinVorbild und Leidenschaft
KAPITEL VI - Aus dem Leben eines Kritikers
SelbstkritikMach’s noch mal, Jochen!Der stumme SchreiMusik in meinen OhrenVon Publikumswünschen und Kritikerfallen
AprèsludeCopyright

Vorwort

Was Sie schon immer über Musik wissenwollten, aber nie zu fragen wagten ...

Fragen sind nicht in erster Linie dazu da, beantwortet zu werden. Fragen sind vor allem dazu da, gestellt zu werden. Das hat der kluge und leider vor Kurzem verstorbene Georg Kreisler einmal gesagt. Und er hat etwas sehr Wahres damit ausgedrückt. Denn wer fragt, zeigt, dass ihn etwas interessiert, dass er sich auf etwas einlässt.

Ich stimme dieses Lob auf Fragen und Fragende deshalb an, weil sie dieses Buch möglich gemacht haben. Genauer gesagt jene Musik-Interessenten, die mir zwischen 2009 und 2011 Fragen an die Redaktion der Süddeutschen Zeitung geschickt haben, die ich dann in einem Video-Blog in loser Folge beantwortete. Was störte Glenn Gould an Beethoven? Welche Bedeutung haben Pausen in einem Stück? Was ist deutsch an deutscher Musik? Darf man in einem Konzert Noten mitlesen, darf man in der Oper »Buh!« rufen? Warum gibt es von Franz Schubert keine Klavierkonzerte? Wozu braucht man eigentlich Musikkritiker?

Ich bekam Fragen, für die es im Feuilleton meist keinen Platz gibt. Mich erreichten kenntnisreiche Detail-Fragen, Fragen nach Starinterpreten, Fragen nach Phänomenen, provokante Fragen – und vorsichtige Fragen, die häufig nicht gestellt werden, aus Angst, sich mit ihnen zu blamieren.

Auf all diese Fragen versuche ich auf den folgenden knapp 180 Seiten mit kurzen und hoffentlich kurzweiligen Ausführungen einzugehen. Ich konnte natürlich nicht alle Fragen der Leser beantworten, weder für den Blog noch hier. Mein Auswahlkriterium für dieses Buch aber war, durch die Fragen der Leser und meine Antworten ein möglichst vielfältiges Themenspektrum über klassische Musik zu entfalten, freilich ohne Anspruch auf irgendeine Vollständigkeit, ohne Absicht eine Enzyklopädie oder ähnliches zu liefern.

Ich habe mich an das gehalten, was aus dem Publikum kam. Es stellte zum Beispiel keine Fragen zu Arthur Rubinstein oder Leonard Bernstein, also gibt es hier keine eigenen Texte über diese herausragenden Musikerpersönlichkeiten, die mein Leben entscheidend mitgeprägt haben; auch Maurizio Pollini, mit dem ich sogar einige Male Tischtennis spielte – und leider gegen ihn verlor –, kommt nur indirekt vor. Aber keine Sorge, diese Musiker-Größen tauchen in den Antworten natürlich auf. Mit ihnen viele weitere Persönlichkeiten, außerdem zahlreiche Eindrücke und Erfahrungen, die ich in meinem langen Musikkritikerdasein machen durfte.

Schon immer war mein Ziel, andere Menschen für das zu begeistern, was mich begeistert. Schon immer wollte ich versuchen, Lust auf Musik zu machen. In meinen Universitätsvorlesungen, in Fernseh- und Radiosendungen. In Vorträgen oder Zeitungsartikeln. Der Kontakt mit dem Publikum war mir dabei stets ein besonderes Anliegen. Deshalb freut es mich sehr, dass nun diese kleine Klassik-Kunde entstehen konnte, als Folge direkter Kommunikation mit meinem Publikum.

Diesen mündlichen Ursprung wollte ich für das Buch beibehalten. So habe ich bei der Umarbeitung ins Schriftliche zwar sorgsam auf die Lesbarkeit geachtet, manches jedoch bewusst ungeschliffen gelassen, assoziativ und auch unvollständig, wie es in der mündlichen Äußerung spontan geschah. Außerdem habe ich mich bemüht, einen abschreckenden Fachjargon zu vermeiden, und das Wort »bekanntlich« kommt bei mir ohnehin nicht vor. Wissen schadet dem Leser natürlich nicht, aber es ist weder eine Bedingung, um Musik zu genießen, noch um dieses Buch zu lesen. Mir ging es nicht darum, theoretische Abhandlungen zu liefern, sondern Musik durch persönliche Eindrücke lebendig werden zu lassen. Ich hoffe, dass das sowohl für Kenner abwechslungsreich sein kann, als auch interessierte Laien animiert, sich für die wunderbare Welt der klassischen Musik zu öffnen.

Wenn Sie sich durch die Lektüre nicht nur gut informiert und unterhalten fühlen, sondern vielleicht sogar die eine oder andere Aufnahme in den CD-Spieler legen, Lust auf einen Opern- oder Konzertbesuch bekommen, sich selber an ein Musikinstrument setzen  – dann hätte ich mein Ziel erreicht.

Bleibt mir die angenehme Pflicht, mich bei denen zu bedanken, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre: Zuvorderst natürlich bei jenen, die mir Fragen gestellt und mich zum Nachdenken und Antworten herausgefordert haben. Der Redakteur des SZ-Magazins, Tobias Haberl, hat diesen Austausch im Video-Blog arrangiert. Dafür sei ihm herzlich gedankt, ebenso wie der Süddeutschen Zeitung, meiner publizistischen Heimat seit über einem halben Jahrhundert. In diesen Dank eingeschlossen ist Lucia Stock, meine langjährige Sekretärin. Auch Conny Sü Prem hat mir bei der Erstellung dieses Buchs beigestanden, ebenso Klaus Thora. Beiden sei von Herzen gedankt. Tobias Winstel vom Siedler Verlag gilt mein Dank für seinen Anstoß, dieses Buch zu machen, und für seine stetige Ermutigung. Und schließlich möchte ich einmal mehr meiner Tochter Henriette Kaiser danken. Sie weiß, welchen Anteil sie auch an diesem Buch hat.

Nun aber, sprechen wir über Musik!

KAPITEL I

Von Klängen und Werken

Über Beethovens Boogie-Woogie,die Bedeutung von Pausen und die Frage,ob Musik »herzbewegend« sein soll

Die Bibel der klassischen Musik

Die Goldberg- und die Diabelli-Variationen seien »das Alte und das Neue Testament derVariationskunst«, meinte einst Hans vonBülow, der große Pianist und Dirigent(und nebenbei der Mann, dem RichardWagner die Frau ausspannte). Hat er recht?

Beide, die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach und die Diabelli-Variationen von Ludwig van Beethoven, sind Spätwerke; beide sind sie auch riesige Variationszyklen mit einem ungeheuren Tonumfang. Der Beethoven’sche Zyklus umfasst dreiunddreißig und der Bach’sche immerhin dreißig Variationen. Da diese Werke auf dem kompositorischen Höhepunkt ihrer Schöpfer entstanden, sind sie musikalisch wie technisch ausgesprochen anspruchsvoll. Es klingt nun paradox, wenn ich sage, gerade deswegen hört man sie eigentlich niemals schlecht gespielt. Das ist aber nur scheinbar ein Widerspruch, denn: Wer die Goldberg-Variationen spielen kann, mit den vielen sehr vertrackten Passagen, bei denen man die Hände kreuzen muss; oder wer die Diabelli-Variationen aufführt, der muss ihnen auch gewachsen sein. Entweder man »kann« diese Riesenwerke – oder eben nicht.

Bemerkenswert an diesen beiden Variationszyklen ist neben der musikalischen Qualität auch ihre Entstehungsgeschichte. Sie wurden beide nicht aus eigenem Antrieb komponiert. So geht die Legende, der russische Gesandte am Dresdener Hof, Graf von Keyserlingk, habe an Schlaflosigkeit gelitten. Er habe daher seinen jungen Schützling, einen Cembalisten namens Johann Gottlieb Goldberg, gebeten, seinen Lehrer Johann Sebastian Bach zur Komposition mehrerer Stücke »munteren und sanften Charakters« zu animieren. Bach tat ihm den Gefallen, und auf diese Weise entstand das gewaltigste Variationswerk, das für Klavier je geschrieben wurde. Eigentlich das bedeutendste Variationswerk der Musikgeschichte überhaupt.

Bei Beethoven soll es ganz ähnlich hergegangen sein. Ein Verleger, Anton Diabelli, dachte sich selbst ein recht harmloses Walzerthema von zweimal 16 Takten aus – und kam auf die tolle Idee zu sagen: Daraus machen wir ein vaterländisches Werk. Jeder Komponist aus Wien und aus den österreichischen Landen soll jeweils eine Variation über das Thema komponieren, das ergibt einen schönen Band. Gesagt, getan. Alle machten mit, etwa der junge Schubert, der eine wunderschöne Mollvariation beisteuerte. Oder ein elfjähriges Wunderkind, das gerade quer durch Europa reiste und auch nach Wien kam. Der Junge hieß Franz Liszt, er spendierte bereitwillig ein donnerndes Stück. Nur Ludwig van Beethoven, der grimmige Alte, sträubte sich. Ihm war das alles zu simpel, eine einfache Sequenz schien ihm unter seinem Niveau, ein »Schusterfleck«. Doch ließ ihn die Idee nicht los, und schließlich machte er sich doch daran. Und so entstanden unter seiner Feder dreiunddreißig anspruchsvolle Variationen, die der geschäftstüchtige Diabelli gesondert herausgab. Man kann sich vorstellen, was für eine Demütigung das für die anderen gewesen sein muss: ein Band mit den fünfzig, übrigens ganz vernünftigen Variationen von österreichischen und anderen damals zum Habsburger Reich gehörenden Komponisten und Virtuosen; und ein Band nur mit Beethoven-Stücken.

In diesen äußerst vielfältigen Diabelli-Variationen, die im Vortrag etwa eine Stunde dauern, kommen die wunderbarsten Sachen vor, zum Beispiel die geradezu mystische zwanzigste Variation; oder eine Variation, die den langsamen Satz seiner c-Moll-Sonate (opus 111), weiterspinnt; und eine, ich glaube es ist die achtundzwanzigste Variation, die so ungestüm und wild ist, dass sie fast wie Bela Bartök klingt (nur eben doch viel besser). Sehr schroffe Stücke wechseln sich mit unbeschwerten, verspielten ab. Viele Gegensätze ergeben hier ein wunderbares Ganzes.

Ähnlich verhält es sich bei Bach, auch der Kosmos innerhalb seiner Goldberg-Variationen weitet sich ungeheuerlich aus. Es gibt eine Variation, die fünfundzwanzigste in g-Moll, die – etwa von Claudio Arrau oder vom jungen Glenn Gould gespielt – bis zu sieben oder acht Minuten dauert. Eine einzige Variation von insgesamt dreißig!

Kein Zweifel also, es handelt sich bei beiden Zyklen um gewaltige Werke. Ob man sie in den Worten Hans von Bülows nun als Testamente bezeichnen möchte, sei dahingestellt. Es ist nur eine Metapher für ihre Größe, ihre Bedeutung, ihren Reichtum, und das ist den Werken unbenommen. Doch ich möchte an dieser Stelle auch ein paar andere, ebenfalls herausragende Variationszyklen erwähnen: Etwa die Sinfonischen Etüden von Schumann, die im Grunde wunderbare und höchst anspruchsvolle Variationen für Klavier sind, so komplex, als seien sie für ein Orchester komponiert; oder die Bach-Variationen von Max Reger; in gewisser Weise auch die zweite Suitensammlung von Georg Friedrich Händel, auf die wiederum Bach in seinen Goldberg-Variationen Bezug genommen hat.

Mozart und der King of Swing

Kann es sein, dass das Adagio ausdem Klarinettenkonzert in A-Dur dasWunderbarste ist, was Mozart jekomponiert hat?

Nun, dieses Mozart-Adagio (KV 622) stellt wirklich eine Ausnahme, wenn nicht gar ein Wunder dar. Das Thema, das die Klarinette spielt (und dessen erste Takte übrigens vorne auf dem Buchcover abgedruckt sind), steigt zunächst bis zum Intervall einer Sext aufwärts. Bei der Wiederholung wird aus der Sext eine volle, schöne Oktave, die ein bisschen melancholisch und trotzdem nicht sentimental klingt. Danach wiederholt das Orchester diese acht Takte, und darauf folgt ein großartiger, herrlicher Abgesang.

Die Musik ist nicht nur – wie immer bei Mozart – ausgesprochen schön, elegant und zart. Sie hat auch etwas Stattliches, großartig Getragenes, und das ist bei diesem Komponisten tatsächlich eher selten. Das Adagio-Thema aus dem Klarinettenkonzert, Mozart vollendete es kurz vor seinem Tod, haben unter anderem Sabine Meyer und Benny Goodman interpretiert. Sabine Meyer ist ja eine fabelhafte Klarinettistin. Karajan hat unendlich für sie geschwärmt und sich ihretwillen sogar mit den Berliner Philharmonikern verkracht. Der Amerikaner Benny Goodman war einer der berühmtesten Jazzmusiker, man nannte ihn den »King of Swing«; dass er nebenher Kammermusik gemacht hat, wissen die meisten gar nicht. Er spielte diesen getragenen Adagio-Satz im Ton expressiver, romantischer, zugleich auch langsamer und majestätischer als Sabine Meyer. Erstaunlich, was Benny Goodman an Fülle und Wärme aus Mozarts Thema herausholte, das zugleich Sehnsucht und Erfüllung ausdrückt.

Merkwürdigerweise sind nicht Romantiker wie Robert Schumann oder der von mir so geschätzte Chopin die größten Adagio-Komponisten, vielleicht waren sie dazu zu schwärmerisch. Wer tiefsinnige, schöne, in die Seele gehende Adagios schreiben will, muss auch ein kühler Konstrukteur sein. So wie Haydn und Beethoven es waren, Brahms und Bruckner. Und eben auch Mozart.

Atemholen der Seele

Wie viel Stille braucht die klassische Musik,und haben Pausen eine Farbe?

Scheinbar einfache Fragen, zu denen mir aber leider nur Kompliziertes einfällt. Ich bitte vorab um Nachsicht.

Es gibt, was die Musik betrifft, zwei Arten von Stille: Einmal die Stille, die um die Musik herum am Anfang und am Ende sein muss – zur Einbettung. Daneben jene Stille, die die Musik aus sich heraus erzeugt. Selbst unter geübten Konzertgängern wird ja gerne vergessen, dass Musik, wenn sie verklungen ist, erst einmal ausatmen muss. Nach schnellen, lustigen Sätzen sind – so meine Beobachtung – die Künstler eher bereit, die Publikums-Angewohnheit des sofortigen Klatschens hinzunehmen. Nur nach langsamen Sätzen schalten die Zuschauer meist in den Ergriffenheits-Modus. Streng genommen müssten im Rundfunk und Fernsehen nach Beendigung einer großen Symphonie mindestens zwei, drei Minuten absolute Stille herrschen. Stattdessen kann man immer wieder den Horror Vacui erleben: Eine Klassik-Sendung geht zu Ende, und sofort beginnt eine neue Sendung, verbunden mit einem ohrenbetäubenden Werbetrailer. Als ob die Leute aufgescheucht und gezwungen werden sollten, an den Apparat zu stürzen und ihn auszuschalten.

Manchmal werden die Menschen derart von Musik ergriffen  – in einer Passion, in einer Oper –, dass sie plötzlich gemeinsam atmen. Dann muss die Nachbarin auf einmal nicht mehr im Programmheft blättern, und der Nachbar hört zu husten auf. Solche Momente der gebannten Stille innerhalb der Musik erlebt man nur selten, und natürlich sind sie unendlich produktiver und ergreifender als die sterile Lautlosigkeit im schalltoten Tonstudio. Die Stille, die die Musik während eines lebendigen Konzertes selber schafft, steht in einem Wechselverhältnis: Plötzlich merken die Musiker, wie sie das Publikum ergreifen, und diese Ergriffenheit überträgt sich zurück auf die Musiker.

Nun zu den komponierten Pausen. Anton Bruckners zweite, selten aufgeführte Symphonie nennt man Pausensymphonie wegen ihres ersten Satzes, der am Ende von Pausen zerrissen scheint. Das zwölfte Lied des Zyklus Die schöne Müllerin hat Franz Schubert schlicht »Pause« genannt. Das Lied zuvor heißt unverfänglich »Mein«: »Ja, die schöne Müllerin, sie ist mein«, strahlt der junge Mann. Dann die Pause. Und diese Pause hat es in sich. Danach geht alles schief. Die Müllerin verliebt sich in einen Jäger, der junge Mann verzweifelt, sein Ende wird unausweichlich. Ein weiteres Beispiel finden wir in Schumanns Tondichtung Carnaval. Da freilich soll der mit »Pause« überschriebene Satz genau den umgekehrten Effekt bringen, denn er steht direkt vor dem brillanten Schlussstück, dem bekannten Davidsbündler-Marsch gegen die Philister. Die »Pause« soll hier nicht unterbrechen, nicht innehalten lassen, sondern vielmehr die Musik kopfüber nach vorne stürzen.

Haben Pausen eine Farbe? Klingen oder tönen sie? All diese Eigenschaften haben Pausen für sich genommen natürlich nicht. Ihre Funktion in der Musik hängt davon ab, was vor der Pause ist und was ihr nachfolgt. Es kann ihr zum Beispiel ein ungeheurer Aufschwung oder eine laut klingende Katastrophe vorangegangen sein. Folgt dann eine lange Pause, stellt sich dadurch im Zuhörer eine Reaktion ein. Stand vor der Pause dagegen so etwas wie ein tönender Zusammenbruch, der die Musik immer leiser, immer verzweifelter werden und plötzlich anhalten ließ, als ob sie nicht mehr Atem holen könne – wenn so einer Anspannung eine Pause folgt, reagiert der Zuhörer wieder anders. Er ist gebannt, verstört, beklommen oder neugierig auf »Was wird nun folgen?«. Es gibt unendlich viele Zustände, in die uns eine vermeintlich einfache Pause – an der rechten Stelle eingefügt  – zu versetzen vermag.

Musik ist kein neutral-motorischer Ablauf, bei dem sich etwas dreht und plötzlich durch irgendetwas stillsteht. Große Musik bewegt (sich) immer. Sie hört nicht auf, sie ist immer in einer inneren Bewegung. Da passiert etwas Emotionales, Affekthaftes, etwas Schwermütiges oder auch Heiteres. Das heißt, in der Musik ist eine Art Inhalt, ein Gehalt. Und Pausen sind wie ein Atemholen der Seele.

Je älter ich werde, desto wichtiger und wesentlicher scheint mir, dass die Interpreten merken – und mit ihnen das Publikum –, dass in der Pause etwas geschieht.