Erlebte Musik. Von Bach bis Strawinsky - Joachim Kaiser - E-Book

Erlebte Musik. Von Bach bis Strawinsky E-Book

Joachim Kaiser

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Beschreibung

Das Buch »Erlebte Musik« ist der großen, allzeit lebendigen Musik gewidmet – und all jenen, die sie erschaffen haben und zum Leben erwecken. Die hier behandelten Werke reichen von Johann Sebastians Bach h-Moll Messe, über Mozarts »Don Giovanni« bis zu Strawinskys »Psalmen-Symphonie«. Wie Joachim Kaiser sagte: »Musik ist nie neutral. Jedes Werk hat oder birgt Geheimnisse, die ihm entrissen werden können.«

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www.piper.de

Neuauflage einer früheren Ausgabe

ISBN 978-3-492-97734-0

Juni 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Die Erstausgabe erschien bei Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1977

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: SZ Photo / Regina Schmeken / Bridgeman Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Was die Musik einem sein kann

Ganz privates Vorwort

Bei uns zu Hause wurde viel musiziert. Mein Vater war Arzt, und er wäre wohl lieber noch Geiger geworden, dann allerdings freilich auch gleich richtig Solist, hübsch interkontinental gefeiert, mit Allüren und großen Gagen. Aber während seines Medizinstudiums hatte er berühmte Lehrer in Berlin und Königsberg konsultiert; die hatten ihn angehört, seinen (übrigens wirklich) fabelhaft kräftigen, temperamentvollen Ton gelobt, seine (übrigens im Alter schlimm hervortretende) Tendenz zur Unsauberkeit bedauert, ein paar kaum mehr korrigierbare Fehler festgestellt – und ihm abgeraten. Das hatte er sich gesagt sein lassen.

Doch eine Wunde blieb. Manchmal, wenn wir aus Konzerten mittelmäßiger Geiger nach Hause fuhren, dann brach es aus ihm heraus, wie schlecht der Solist gewesen sei und wie ganz anders dieses Stück gespielt werden müsse – regelmäßiges Üben vorausgesetzt. Wenn freilich ein großer Virtuose aufgetreten war, spürte ich meinem Vater nicht etwa Neid, sondern Erleichterung an. Er wußte wohl, daß er auch mit viel Fleiß den letzten Satz des Brahms-Konzerts, die Flageolett-Hürden aus dem Tschaikowsky-Konzert oder gewisse Paganini-Unannehmlichkeiten niemals podiumssicher geschafft hätte. Dann war er froh, nicht als gescheiterter Musiker irgendwo die zweite Geige zu spielen.

Also: ein Mediziner mit musikalischen Neigungen. Er hatte als Landarzt im masurischen Milken zu praktizieren begonnen. 1933 zog er nach Tilsit, wo einige Arztstellen – »Praxen« – frei geworden waren. Kluge jüdische Ärzte nämlich, die nicht glauben wollten, der NS-Spuk gehe schnell vorüber, emigrierten zu ihrem Heil schon damals. Für ihre jungen »arischen« Kollegen war das natürlich eine Chance, so sehr man die Weggezogenen (die Vertriebenen) auch bedauerte – als Freunde, als Kammermusikpartner, als Akademiker, denen so was zustieß. Jüngere können sich heute kaum mehr vorstellen, mit welch selbstverständlichem Ehrfurchtstremolo das Zauberwort »Akademiker« vor gar nicht allzu langer Zeit ausgesprochen wurde, von Akademikern und Nicht-Akademikern.

Tilsit. Dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verwechselt die Enkel-Generation es bereits mit Tiflis. Muß, etwa von München aus gesehen, auch irgendwo weit hinten im Osten sein. Tilsit war eine Mittelstadt. 60 000 Einwohner. Gelegen an der nordöstlichen Grenze des »Reiches«, was man damals freilich ohne Anführungszeichen schrieb, sagte, dachte. Indirekt klingt Tilsit in der Nationalhymne mit: »… bis an die Memel.« Denn Tilsits Fluß war ja die Memel. Die Zeitung hieß Memelwacht. Der Musikverein veranstaltete Konzerte. Wenn der Karl Erb, der Heinrich Schlusnus, die Lore Fischer kamen, dann freute man sich lang und herzlich darauf. Erb kam übrigens mit einem jungen Begleiter namens Ferdinand Leitner, der während des Liederabends auch ein Solostück spielen durfte und mit dem der berühmte Tenor einmal so laut im Künstlerzimmer herumschrie, daß später die ganze Stadt darüber wisperte. Der Musikvereinsvorsitzende hatte den Auftritt (es ging um Geld, nicht um Kunst) nämlich erschauernd mitangehört und ein bißchen weitererzählt.

Edwin Fischer wurde Jahr für Jahr bewundert, Kempff hatte eine erlauchte Gemeinde von schönen, adligen Damen. Viel später lernte ich die diesbezügliche Aufklärungs-Terminologie kennen. Das seien die Frauen der Junker gewesen. Mit meiner Erinnerung an die freundlichen, vielleicht oberflächlichen, enthusiastisch kunstinteressierten, vielleicht nicht allzu kunst-»verständigen« Menschen, in deren Namen ein »von« vorkam, hat diese spätere, demokratische und soziologische Belehrung über ostelbisches »Junkertum« wenig zu tun. Möglicherweise sieht man dergleichen als Kind, als junger Pennäler nicht. Ich müßte mir meine Erinnerung umlügen, müßte sie antifeudal mystifizieren, wenn ich irgendeine Schreckens-Reminiszenz vorbringen wollte. Schrecken und Angst verbanden sich damals für (manche) Kinder immer nur mit den konkret militanten Forderungen des Staates. Am liebsten wich man ins Private aus gegenüber der Diktatur, die ja nicht Abstraktum war, sondern übermächtiger Eingriff in den Zeitplan: dann und dann ist »Dienst«, dann und dann droht unausweichlich der Drill, der Befehl, die physische Belastung. Argumente dagegen gibt es in Diktaturen nicht, sondern höchstens irgendein Ausweichen. Die »Junker« indessen hatten, zumindest für uns »Bürgerliche«, überhaupt nichts Schreckliches. Sie lebten und ließen, vielleicht ein bißchen schlechter, leben. Nach 1945 zeigte sich immerhin, wie diese Junker und erst recht ihre Frauen mit Unglück fertig zu werden vermochten ohne Weinerlichkeit. Sie fügten sich ins Unvermeidliche. Tapfer und hochmütig (obwohl, ja vielleicht gerade weil es ihnen »dreckig« ging).

Aber davon ließ man sich nichts träumen – oder höchstens etwas »träumen«, was dann verdrängt wurde. Im übrigen war die Kunst wichtig.

Also: der Fischer spielt halt mit einem Finger mal versehentlich auch zwei Töne. Aber, »der Fischer, der darf sich das leisten«. Und Kulenkampff ist doch etwas fischblütig, etwas kühl, »trotzdem wohl unser bester Geiger«, weil der Kreisler, der Hubermann, der Szigeti nicht mehr auftreten. Und ist nicht der Ton von Karl Freund fürs Brahms-Konzert etwas zu klein? Tilsit hatte auch ein Stadttheater, ein Orchester, einen Generalmusikdirektor, der – sein lautes Mitsingen wurde gern parodiert – Klavierabende veranstaltete, über die in der Memelwacht zurückhaltende Betrachtungen erschienen, weil der Dirigent/Pianist halt ziemlich hoher Pg war. Es gab mehrere Chöre, die miteinander wetteiferten. Sie führten die großen Passions- und Requiems-Musiken auf. Verdis »Requiem« freilich schien ostpreußischen Protestanten schon zu opernhaft: »Das kann man nicht in der Kirche aufführen.«

Was die Oper und das Orchester betraf, so kamen die ganz großen Partituren – Bruckner, Wagner, Strauss – kaum vor. Kleinstadtbewohner neigen zum Lokalpessimismus, wollen zeigen, daß sie sich nicht von ihrem Städtchen die Maßstäbe vorschreiben lassen. Sagen darum, das beste an ihrem Städtchen X sei doch die Eisenbahn oder Autobahn nach Y. Und Y ist dann die jeweils nächste Großstadt: für Tilsit war es Königsberg, im Falle Ingolstadt ist es München. An die »Meistersinger« traute man sich in Tilsit nicht heran, weil die »Grenzlandtheater-Bühne« zu klein sei. Mit der eher kammermusikalischen »Ariadne« hätte man Pech gehabt, weil die Solisten-Stimmen zu klein gewesen wären. Für die Titelpartie des »Don Giovanni« kam im Mozart-Jahr 1941 der Gast aus dem Reich. Er wohnte bei uns. Dem Dienstmädchen spendierte er 10 Reichsmark.

Im Mittelpunkt der klein- oder mittelstädtischen Musikkultur standen die Solo-Abende, weil eben der große Solist in Tilsit auch nicht schlechter spielt als im fernen Berlin – ja vielleicht sogar noch ein bißchen besser, freier, unnervöser. Spätabends dann Nachfeiern im kleinen, privaten Kreis, unter Honoratioren und Interessenten – für diesen »kleinen Kreis« möglicherweise wichtiger und für den Künstler möglicherweise anstrengender als das Konzert selbst.

Neben den offiziellen Konzerten, keineswegs nur als Lückenbüßer, fanden die Hausmusikabende statt als selbstproduzierter Kontrapunkt. Woche für Woche Streichquartett. Weil der Kinderarzt gut Klavier spielte, auch mal Kammermusik mit Klavier. Zum »Forellen-Quintett« bat man einen Kontrabassisten aus dem Orchester. Ein Berufsmusiker, der ganz gern kam. An Zigarren und Wein fehlte es nicht. »Optimismus ist das beste Recht aller Musici«, schrieb der Dirigent des Kirchenchores 1938 ins sorgfältig geführte Gästebuch.

Bestimmt kein Zufall, daß des Tilsiter Dichters Johannes Bobrowski in Tilsit spielender Musiker-Roman »Litauische Claviere« heißt. Wie gesagt, an Krieg und Vertreibungsende dachte damals, zwischen 1933 und 1938, aber wahrscheinlich noch viel länger, kein Mensch wirklich. Auch wenn gelegentlich geschimpft und geunkt wurde. Mein Vater nahm es »den Nazis« übel, daß er – wenn er in Hauskonzerten oder bei Chorbeziehungsweise Musikvereinsfeiern öffentlich auftrat – so viele Zug-Stücke nicht mehr vortragen konnte, die er doch »drauf« hatte: Wieniawskis d-Moll-Konzert, Mendelssohns e-Moll-Konzert und den ganzen Fritz Kreisler. Zu Hause spielten wir das natürlich alles. Und der Landgerichtsdirektor Grimm (kein »Nazi«, aber wie die allermeisten beamteten Juristen in der »Partei«) spielte den Klavierpart des d-Moll-Trios von Mendelssohn in SA-Uniform. Er kam gerade von irgendeiner Veranstaltung. Man fühlte nicht oppositionell, sondern privat. Musik ist unpolitisch. Und die Hauptstadt Berlin und die Bewegungshauptstadt München waren weit.

So wuchs ich mit Kammermusik auf. Unter den Sextanern des Staatlichen humanistischen Gymnasiums, das ich besuchte, hatten von 17 Schülern mehr als die Hälfte Klavierstunden: neun oder zehn. (Es gab ja noch keine Langspielplatten und schon gar kein Fernsehen.) Und Ärzte machten ja sowieso Musik.

Erstaunlich, was die Musik gerade den Ärzten sein kann! Woher eigentlich das auffällige Interesse so vieler Ärzte für Musik? Oder: woher das Vorurteil, demzufolge Mediziner so häufig musikalisch seien? Man kann Hypothesen durchprobieren. Zunächst im Hinblick auf die Zahlenverhältnisse. Da die Ansicht, Ärzte seien musikalisch, weit verbreitet ist, fällt jeder entsprechende Fall als Bestätigungsfall auf. Schon wieder ein Arzt – sagt man, wenn Dr. med. Sowieso Klavier spielt, wenn der berühmte Chirurg Z. Hauskonzerte veranstaltet. Schon wieder ein Arzt – denke ich, wenn mir ein Mediziner etwas zu meinen Kritiken oder Büchern schreibt. Freilich: falls Pfarrer musikalisch sind, wird das kaum konstatiert. Musik gehört zum Gottesdienst, zur Liturgie – ein Pfarrer muß singen können, klar. Jura wiederum ist musik-neutral. Aber manche Musiker, bevor sieʼs wurden, fingen mit der Juristerei als einem Alibi-Studium an. (Heinrich Schütz, Robert Schumann, Karl Böhm.) Nur: sie blieben’s dann nicht. Von der Medizin sattelt sich’s weniger leicht um.

Doch auch wenn wir die relativen oder absoluten Zahlen aus dem Spiel lassen, der Ärzte-Orchester nicht gedenken, den Dr. Billroth ebenso vergessen wie den Dr. Peter Clemente – läßt sich erklären, warum denn die Ärzte, falls sie überhaupt »musisch« sind, sich eben gerade für Musik engagieren und offenbar doch seltener für Malerei, Lyrik, Architektur? Ärzte sind, im allgemeinen, Handarbeiter. Sie haben es mit Konkretem zu tun und neigen, weil sie als »Diener der leidenden Menschheit« Realisten sein müssen, gewiß nicht zum »Sprüchemachen«, zur Schönrednerei, sind relativ selten literarisierende Intellektuelle. Von den produktiven Genies, also Arzt-Autoren wie Benn, Carossa, Céline, Döblin, abgesehen. Aber die normalen, die mittleren, die vielen Ärzte, sie weichen eben doch am liebsten ins »Musische« aus. Weil sie gern praktisch tätig sind, wollen sie auch beim Hobby manuell beschäftigt sein; und weil ihre Freizeittätigkeit begreiflicherweise nicht dem Fleischlich-Realen gelten soll, sondern etwas Reinem, Schönem, Harmonischem, Nicht-Sterbendem: darum die Vorliebe so vieler Ärzte für Musik.

Für mich hieß das also: in meiner Kindheit ziemlich regelmäßig Streichquartett der »Großen«. Und die Erinnerungen an gewisse Stücke, an, wie man geschwollen sagt, erste »Begegnungen« mit Musikwerken (freilich auch einigen Literaturwerken), sie sind für mich, das mag seltsam klingen, weit realer als beispielsweise die Erinnerung an Orte, Häuser, Zimmer, Katastrophen. Ja ich könnte mir eine Autobiographie vorstellen, die den Fortschritt des Lebens, des Lebensalters an ganz bestimmten Musikstücken festmacht.

Keine Angst, ich will das hier nicht ellenlang ausführen: wie ich mich zum Beispiel an einen Mozart-Satz, das Andante aus der Es-Dur-Sonate für Klavier und Violine, das unheimlich-trauermarschähnlich den Rhythmus des Allegrettos aus Beethovens 7. Symphonie vorwegzunehmen scheint, wie ich mich an diesen finster und herrlich pochenden Satz klammerte, als endlich ganz klar war, daß der Krieg und der Osten verloren waren und daß – so mußte es scheinen – keine Zukunft mehr sei.

Das erste Musikstück, das mir Eindruck machte, war ausgerechnet das Klarinettenquintett von Brahms. Am Abend vorher hatten die Erwachsenen bei uns gespielt, am nächsten Morgen, ich ging noch in den Kindergarten, sang ich das Hauptthema laut und vergnügt beim Schuhe-Anziehen nach. Selten habe ich meinen Vater so stolz erlebt, er konnte gar nicht oft genug die Sechs-Achtel-Takt-Phrase von dem kleinen Bengel trompetet hören. Natürlich vergißt man so etwas schnell wieder.

Aber bei der nächsten Begegnung mit Brahms’ Opus 115 erinnert man sich. Musik dringt anders in die Person ein, wenn sie so früh Spaß macht, als wenn man sie erst als begüterter Erwachsener mit Hilfe einer Langspielplatten-Kassette zur Kenntnis nimmt.

Jeder, der mit Musik zu tun hat, dürfte von Analogem berichten können. Die Quinta, das war für mich die Entdeckung, wie schön Mozarts d-Moll-Klavierkonzert sei. Etwas Herrlicheres kann es gar nicht geben! Ein ziemlich schwachsinniges Smetana-Rondo für Klavier zu acht Händen verschmolz ganz und gar mit der ersten Pubertäts-Verliebtheit – wobei anzumerken wäre, daß die restlichen sechs Hände bei der Erarbeitung dieses Werkes zwei kaum älteren Zwillingsschwestern und einer weiteren, wie mir schien, herrlich begabten Jungpianistin gehörten. Dann doch Chopin, f-Moll-Fantasie, Bach (nicht die Matthäus-Passion, wo mich Arien und Evangelist und das befohlene feierlich stille Zuhören langweilten, sondern Violinkonzert E-Dur), Schlusnus mit Schuberts »Musensohn«, Beethovens Cellosonate A-Dur, die ein guter Freund, heute Solocellist in Kapstadt, einzustudieren versuchte, die »Waldstein-Sonate«, von der es eine geistvolle Wilhelm-Kempff-Plattenaufnahme gab, der »Eulenspiegel«, der uns, wie übrigens auch das d-Moll-Klavierkonzert von Brahms, als höchst moderne, schwerverständliche Musik vorkam. Und nicht der »Tristan«, sondern die »Meistersinger«. Danach – kurz vor dem Abitur in Hamburg – die »Walküre«.

Natürlich hat man als Schüler alle diese Werke zwar lebhaft, neugierig, begeistert an irgendeinem (für mich heute noch fixierbaren) Tag, verbunden mit irgendeinem für mich genauso fixierbaren Lebensereignis, kennengelernt.

Aber das heißt beileibe nicht, man hätte sie auch verstanden, völlig kapiert, analytisch »begriffen«. Während ich diese Worte niederschreibe, mit denen sich Laien gern vor meist unangemessenen Fragen schützen – »Wissen Sie, ich liebe Musik sehr, aber ich verstehe nichts von ihr«, sie sagen das, weil sie außerstande sind, den fachmännischen oder soziologischen Jargon über Musik mitzumachen –, ist mir aber nur zu bewußt, daß die analytische Erklärung eines großen Werkes, um die man sich lebenslang bemühen muß, doch auch so etwas darstellt wie eine Chimäre. Natürlich: Musik ist nie neutral. Jedes Werk hat oder birgt Geheimnisse, die ihm entrissen werden können. Jeder Satz ist zugleich auch ein Problem, jede Lösung wirft neue Probleme auf. Wenn man jedoch von erlebter Musik etwas will, wenn sie einem unverwechselbar wird, dann ist die Frage, ob man alles oder »ganz« verstanden hat, nicht mehr entscheidend. Adäquates Begreifen, adäquate Aufführungen – was kann das eigentlich heißen? »Nur Begräbnisse sind adäquate Aufführungen«, antwortete Günter Grass einmal auf die Suggestiv-Frage, ob er sich einer adäquaten Aufführung seines »Plebejer«-Dramas gern aussetzen würde. »Und ist es Ihnen nie zuviel? Es muß doch schrecklich sein, immer wieder die gleichen Sachen zu hören.« Antwort: Wenn man älter wird, neigt man sogar dazu, gegenüber dem Mittleren nachsichtiger zu werden. Trotzdem: Überdruß, entsetzlichen, lähmenden Überdruß empfinde ich, wenn überhaupt, nur bei der Begegnung mit dem Mittelmäßigen. Doch etwas Besonderes, ein neuer Ton, das neue Talent verdrängt allein Überdruß, weckt Enthusiasmus.

Ein Valéry-Zitat erklärt fast alles. »Die Welt hat durch das Außergewöhnliche Wert und durch das Durchschnittliche Bestand.«

Joachim Kaiser

Vorbemerkung

In diesem Band, der großer Musik zwischen Bach und Strawinsky, interessanten Aufführungen und Schallplatten sowie den Problemen moderner Vermittlung gilt, findet der Leser drei ungleiche Kapitel-Gruppen.

Zunächst also die 18 Kapitel des ersten Teils, wo, einigermaßen chronologisch geordnet, Aufsätze über Komponisten, ihre Werke und Interpretationen dieser Werke erscheinen. Ich habe mich dabei leiten lassen von Kompositionen, die tatsächlich zum Repertoire gehören. Nur im 17. und im 18. Kapitel, zwischen Schönberg und Bernd Alois Zimmermann, finden sich auch Rezensionen, die Modernem, seltener Gespieltem gelten. Das Repertoire ist Richtschnur, aber es ist nicht immer entscheidend.

Werke, die mit Recht immer wieder interpretiert werden und mit Recht für unerschöpflich gelten, werden hier mehrfach behandelt. Die »Zauberflöte«, Beethovens Klavierkonzert in G-Dur, Strawinskys »Psalmen-Symphonie« usw. sind bewußt in mehreren interpretatorischen Brechungen aufgenommen. Widersprüche bleiben stehen. Natürlich sehe ich heute manches anders als vor fünfzehn oder fünfundzwanzig Jahren.

Aber ich hoffe, daß solche Widersprüche den Leser nicht stören. Störender sind die Wiederholungen. Ganz ließen sie sich nicht vermeiden, da es notwendig immer wieder um die gleichen Werke und Probleme ging. Wenn der Leser dieses Buch durchblättert, das auf den für die Süddeutsche Zeitung geschriebenen Kritiken fußt, das aber auch Zeitschriftenaufsätze enthält, Einzel-Analysen und einige spezifisch für diesen Band geschriebene Werk-Interpretationen, dann könnte ihm ein Mißverhältnis auffallen. Leicht zu finden sind Aufsätze über Verdi-Opern oder Wagnersche Tondramen oder auch über Gesamteinspielungen der Beethovenschen Symphonien beziehungsweise des »Wohltemperierten Klaviers« von Bach. Aber warum erscheint nicht ebenso deutlich das F-Dur-Quartett von Ravel oder das Violinkonzert von Tschaikowsky? Antwort: auch die genannten Werke sind behandelt. Nur erscheinen sie nicht im Zusammenhang mit den betreffenden Komponisten, sondern im Zusammenhang mit ihren Interpreten. Eine Rezension, die Bizets »Carmen« gilt, kann sich noch so eindringlich auf die Aufführung beziehen – es ist klar, nicht die Hauptdarstellerin, die Titelheldin steht im Mittelpunkt, sondern der Abend war eben Bizets »Carmen« gewidmet. Wenn hingegen Pollini an einem Abend Werke von Schubert, Chopin, Beethoven und Stockhausen vorträgt, dann wird eine Kritik dieses Klavierabends keine Schubert-Schumann-Beethoven-Stockhausen-Kritik sein, sondern Bezugspunkt der Rezension ist Pollini. Und falls es nicht tunlich war, nur eine Pollinische Interpretation zu isolieren (und als Pollinis Beethoven-Interpretation ins Beethoven-Kapitel zu nehmen), dann kommen die vier Werke erst im Zusammenhang mit Pollini im zweiten Teil des Buches vor. Der Leser ist darum gebeten, wenn er den Band als musikalisches Handbuch oder gar Konzert- und Opernführer benutzen möchte, im Register unter Tschaikowsky und »Violinkonzert« nachzuschlagen, falls es ihm auf dieses Werk ankommt und er das Werk im Tschaikowsky-Kapitel vermißt.

Vollkommene Gerechtigkeit gegenüber allen bedeutenden Kompositionen und Komponisten war nicht mein Ziel; ich hätte sie auch nicht erreichen können, wenn sie mein Ziel gewesen wäre. Selbstverständlich gibt es Musik, von der ich meine, sie sei bedeutender und wichtiger, sei wiederholte Bemühung wert, während mir anderes ferner liegt.

Übrigens sind nicht immer die besten, die vollendetsten Interpretationen auch die aufschlußreichsten, interessantesten. Oft ging mir an einer mittleren Wiedergabe eines Meisterwerkes mehr darüber auf, was dieses Werk eigentlich darstellt und was es eigentlich fordert – als an einer vollendeten, die als selbstverständlich erscheinen läßt, was keineswegs selbstverständlich ist.

München, im Juni 1977

J. K.

Erster Teil

Komponisten

Von Bach bis Zimmermann

1. Kapitel

Johann Sebastian Bach • Johann Christian Bach

Johann Sebastian Bach

Picander

Er hieß Christian Friedrich Henrici, schrieb aber unter dem Pseudonym Picander und war gewiß kein großer Dichter, sondern nur ein mittlerer Poet, dem das Lustige und Gewöhnliche leicht von der Hand gingen. Doch nachdem ihm der satirische Boden zu heiß geworden und Gesetztheit hinzugetreten war, entfaltete er auch eine umfangreiche Produktion religiöser Texte. Das poetische Handwerk machte ihm augenscheinlich Spaß. Er schien bereit, umzuändern, auf gegebene musikalische Modelle neue Worte zu ersinnen und seinem großen, guten Freund nach Kräften hilfreich zu sein. Dieser Freund hieß Johann Sebastian Bach. Picander selbst schrieb in einem Vorwort zu seinen Kantatentexten bescheiden: »daß vielleicht der Mangel der poetischen Anmuth durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Herrn Capell-Meister, Bachs, dürfte ersetzt … werden«. Im übrigen legte Picander gar keinen Wert darauf, die Kantatentexte, die er für Bach hingeschrieben hatte, als bedeutende eigene Werke auszugeben. Er war gewiß auf anderes viel stolzer.

In der ganzen Welt singt man also Picander-Verse – gewiß meist gedankenlos, manchmal aber auch kopfschüttelnd. Da ist die Rede von Herzen, die im Blute schwimmen, von Würmern, von Augen, aus denen der Heiland Tränen saugen soll. Da spricht sich ein barocker Zerknirschungsüberschwang aus, den das auf seine vernünftige Sachlichkeit so stolze moderne Christentum am liebsten tilgen oder mildern würde, wenn nicht Bachs Ton jedes Picander-Wort festhielte.

Man hat den in so hohe Sphären hinaufgehobenen Schriftsteller seine Unsterblichkeit büßen lassen. Autoren, die vergessen sein werden, wenn man immer noch Picander-Texte singt, entrüsten sich lebhaft darüber, welch ein schlechter Dichter und Mensch dieser Picander doch gewesen sei. Selbst Albert Schweitzer schreibt: »Alles erstaunte, als Picander sich 1724 der geistlichen Poesie zuwandte und einen Jahrgang Kantatentexte veröffentlichte. Daneben fuhr er ganz unbekümmert fort, die widerwärtigsten und gemeinsten Sachen drucken zu lassen. Man wundert sich, daß der Meister sich zu einem so unfeinen und wenig sympathischen Menschen hingezogen fühlte …« Fast alle verachten Picander. Dabei wird freilich übersehen, daß Picanders naive Bildhaftigkeit für Bach nicht nur kein Hindernis, sondern gewiß ein musikalischer Ansporn war. »Es erhub sich ein Streit, die rasende Schlange, der höllische Drache stürmt wider den Himmel mit wütender Rache« – das sind vielleicht keine tiefen Dichterworte; doch auch wer die Komposition nicht kennt, kann sich gewiß vorstellen, was für ungeheure polyphone Schlangenlinien sich der Thomaskantor dazu hat einfallen lassen. Und wer Bachs Matthäus-Passion zu lieben gelernt hat, der wird die Picander-Worte »Am Abend, da es kühle war, / Ward Adams Fallen offenbar« bis zu dem Schluß »Ach liebe Seele bitte du, / Geh lasse dir den todten Jesum schenken, / O heilsames, o köstliches Angedenken!« weder missen noch für schlechte Poesie halten mögen, auch wenn er weiß, daß der Schriftsteller Picander da einen Text von Salomon Franck nur verkürzt und umgeschrieben hat.

Am 10. Mai 1764 starb der 64jährige Picander in Leipzig. Seine Frau war Patin bei den Bachs, und dem Thomaskantor dürfte der gewiß manchmal etwas frivole Ton seines Freundes gar nicht peinlich gewesen sein. Die nicht eben steife »Kaffee-Kantate« hat er mit hörbarem Vergnügen komponiert. Diejenigen aber, die nicht müde werden, mit Picander ins Gericht zu gehen, sollten vielleicht doch ein wenig Demut lernen gegenüber einem Schriftsteller und Journalisten, der Bach soviel Großes abzuverlangen wußte. Ist es nicht verständlich und sogar rührend, daß Bach, den man sich heute gewiß viel zu erhaben und feinsinnig vorstellt, einen kleinen, lustigen Leipziger Schreiber liebte – und daß er, von einigen rühmenswerten Freunden abgesehen, die sich tapfer für ihn einsetzten, wenig Umgang hatte mit jenen feinsinnigen, professoralen Ästheten, die (mit Recht) bis auf den heutigen Tag auf Herrn Henrici neidisch sind?

9. V. 1964

Das Weihnachtsoratorium

In seinem Don-Juan-Stück über Herrn Ornifle will Jean Anouilh den Helden, einen ziemlich gewissenlosen modernen Schriftsteller, so frivol wie möglich darstellen. Dazu hat sich Anouilh am Ende des ersten Akts eine Szene ausgedacht, die modernen Zuschauern in der Tat ungemein zynisch scheint. Herr Ornifle empfängt da den Besuch des Paters Dubaton und läßt sich – denn er ist durchaus gutmütig – dazu überreden, ein kleines Weihnachtsliedchen zu dichten, das der Pater für eine Kinderbescherung braucht. Rasch wirft Herr Ornifle einen ganz entzükkenden Text hin. Doch damit man auch sieht, wie bös’ er sei, verfertigt er im gleichen Augenblick seinem abgefeimten Agenten ein denkbar lockeres Chanson. Der Pater hebt verzweifelt die Hände zum Himmel, und selbst das jeweilige Theaterpublikum ist über soviel Ruchlosigkeit entsetzt.

Mit einer so herben Mixtur aus Geistlich und Weltlich hätte man aber einen Mann nicht schockieren können, der die letzten siebenundzwanzig Jahre seines Lebens in Leipzig verbrachte, als Künstler immer einsamer und eigenbrötlerischer wurde, zwanzig Kinder zeugte, den Eß- und Trinkfreuden des Daseins zugeneigt schien, ein recht schwieriger, streitbarer Untergebener war und dabei wohl doch der größte, dem Geheimnis aller Harmonie nächste Komponist, den die Musikgeschichte kennt: Johann Sebastian Bach. Wohl hat auch er die Unterschiede zwischen weltlichen Tanzsätzen, konzertantem Glanz und dem spezifischen Ton eines Chorals gekannt und beherzigt. Aber seine Musik ist noch kein Opfer jener Spaltung, die im 18. Jahrhundert begann, im 19. unübersehbar und im 20. so unüberbrückbar wurde, daß es heute sakrilegisch wirkt, Heiliges und Profanes zu vermengen, so, wie Anouilhs später vom Teufel geholter Dichterling es tut. Nur in späten Kunstform darf die Musik als vermittelnder Grund hinter den Reinen und den weniger Reinen stehen, um Gegensätze, die sprachlich nicht überwunden werden können, versöhnend zu umfassen: in der Oper. Die Schurken fügen sich in die Ensemble-Sätze des »Fidelio« und des »Rigoletto«, der »Götterdämmerung« und der »Elektra«.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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