Sturm in die Freiheit - Jürgen Ehlers - E-Book

Sturm in die Freiheit E-Book

Jurgen Ehlers

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Beschreibung

Vier Attentäter in geheimer Mission für Frieden und Freiheit

Als der junge U-Boot-Kommandant Wolf Littke in britische Kriegsgefangenschaft gerät, hat er die Wahl zwischen Exekution und einem Himmelfahrtskommando zur Ermordung Hitlers. In der Hoffnung den Krieg so zu beenden, springt er zusammen mit drei anderen Geheimagenten, einem Juden, einem Russen und einem Polen, mit dem Fallschirm über Ostpreußen ab, um den Führer in seinem Hauptquartier Wolfsschanze in die Luft zu sprengen. Doch Wolf hat auch ganz eigene Motive: Er will in Königsberg seine Geliebte finden und mit ihr fliehen...

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Das Buch

Oktober 1943: Der Zweite Weltkrieg ist in vollem Gange. Um dem sinnlosen Töten ein Ende zu setzen, plant der britische Geheimdienst Special Operations Executive ein Attentat auf Adolf Hitler. Ein Gruppe von vier Agenten soll mit dem Fallschirm über Ostpreußen abspringen, in das dortige Führerhauptquartier eindringen und es in die Luft sprengen. Einer dieser Agenten ist der ehemalige deutsche U-Boot-Kommandant Wolf Littke. Für ihn ist der Einsatz die letzte Chance, sein Leben zu retten.

Der Autor

Jürgen Ehlers wurde 1948 in Hamburg geboren. Nach dem Germanistik- und Geografiestudium arbeitete er als Geowissenschaftler. Jürgen Ehlers schreibt historische Kriminalromane. Für einen seiner Kurzkrimis wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. www.juergen-ehlers-krimi.de

JÜRGEN EHLERS

STURM IN DIE FREIHEIT

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Originalausgabe 08/2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anu Katariina Lindemann

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von Lee Avison / Trevillion Images; Roy Bishop / Arcangel und Dm_Cherry / Shutterstock

Satz: Fotosatz Amann, Memmingen

ISBN: 978-3-641-24118-6V001

www.heyne.de

1

12. Oktober 1943

Gefangenenlager Grizedale Hall in Cumbria, England. Oberleutnant zur See Wolfgang Littke, vierundzwanzig Jahre alt, war in Begleitung von zwei Wachen auf dem Weg zu seiner Hinrichtung. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Ein unwichtiges Detail, das sich in den Vordergrund drängte.

»Haben Sie einen letzten Wunsch?«, hatte ihn der Priester gefragt.

Wolf hatte den Kopf geschüttelt. Er hätte darum bitten können, erschossen, anstatt wie ein Lump aufgehängt zu werden. Aber er war zu stolz gewesen, den Mann um irgendetwas zu bitten. Wenn sie es richtig machten, würde der Henkersknoten ihm das Genick brechen, und er wäre sofort tot. Wenn nicht, würde er langsam ersticken, vor versammelter Mannschaft. Sie würden das ganze Lager antreten lassen, damit jeder sehen konnte, was mit einem passierte, der sich nicht an die Regeln hielt.

Keine Stunden mehr, nur noch Minuten bis zur Hinrichtung. Wolf wollte an Inge denken, aber es gelang ihm nicht. Stattdessen dachte er an den Moment, der sein Leben für immer verändert hatte. Er war wieder in seinem Unterseeboot, hundert Seemeilen vor der irischen Küste. Er starrte durch das Sehrohr. Da war der Frachter, mindestens 4000 BRT. Ein Einzelfahrer, der wahrscheinlich wegen irgendeines Defekts hinter seinem Geleitzug zurückgeblieben war. Was mochte er geladen haben? Rüstungsgüter? Munition? Die See war glatt, die Entfernung für einen Torpedoschuss ideal. »Torpedo – los!«, sagte er, und schon waren anderthalb Tonnen TNT unterwegs zu dem fremden Schiff. Die Reichweite eines Torpedos betrug sechs Kilometer, die Geschwindigkeit 80 km/h. Die Laufzeit bis zum Ziel weniger als eine Minute, mit der Stoppuhr in der Hand zu verfolgen. 30 Sekunden – 40 Sekunden – jetzt! Eine gigantische Explosion riss das Schiff auseinander.

Wolf hing am Sehrohr und sah, was nun passierte. Das Schiff sank. Weitere Explosionen an Bord. Keine Zeit mehr, Boote zu Wasser zu lassen. Wenige Minuten nur, die Wolf wie eine Ewigkeit vorkamen, dann war der Frachter verschwunden, das Meer übersät mit Wrackteilen, Menschen dazwischen, und über allem ein dünner Rauchschleier, der sich rasch auflöste. Die Schreie der Menschen, die um ihr Überleben kämpften, konnte man unter Wasser nicht hören, aber Wolf glaubte, sie zu spüren. Mord war das, was sie hier taten. Blanker Mord.

Und Wolf hatte sich aus der Erstarrung gelöst. »Auftauchen!«, hatte er befohlen. »Sofort auftauchen!«

»Einen Moment bitte!« Ein englischer Offizier trat Wolf und den beiden Wachen in den Weg.

Sie blieben stehen.

»Herr Oberleutnant, ich habe Ihnen ein Angebot zu machen.«

»Was für ein Angebot?« Wolf sah sein Gegenüber misstrauisch an.

»Ihre Hinrichtung. Das Urteil – wir können es aufheben. Oder zumindest die Vollstreckung aussetzen. Die Bedingung ist aber …«

»Ich habe alles gesagt, was gesagt werden konnte. Ich habe es allein getan, und ich stehe dazu.«

Als die Engländer Wolf aus dem Wasser gefischt hatten, hatte er geglaubt, für ihn sei der Krieg zu Ende. Aber auch hier im Lager war der Krieg noch weitergegangen. Als er mitbekommen hatte, dass sich ein Mitgefangener damit brüstete, die Luftverteidigung der Stadt Hamburg an den Feind verraten zu haben, war er eingeschritten. So etwas war ein todeswürdiges Verbrechen. Heimlich war ein dreiköpfiges »Ehrengericht« aus Gefangenen bestimmt worden, das über den Fall entschieden hatte. Der Mann hatte sterben sollen. Die Engländer hatten allerdings Wind von der Sache bekommen und die Vollstreckung des Urteils verhindert. Wolf hatten sie am Ende erwischt. Er hatte im Verhör behauptet, er allein habe das Urteil gefällt.

Der Engländer schüttelte den Kopf. »Wir wissen, dass Sie nicht alleine das Urteil über Ihren Kameraden gesprochen haben, und Sie wissen, dass wir es wissen. Aber darum geht es nicht. Kommen Sie, ich werde es Ihnen erläutern. – Sie haben doch einen Moment Zeit, oder?«

Der Mann hatte Humor.

»Ich glaube, das lässt sich einrichten«, sagte Wolf. »Wenn meine Begleiter es zulassen.«

»Das werden sie«, sagte der Engländer. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Craig Nicholls.«

Grizedale Hall, das alte Herrenhaus, diente als Hauptquartier der Lagerverwaltung. Der Prachtbau mit seinen 40 Räumen, Türmen und Erkern hatte einmal einer Familie von reichen Kaufleuten gehört. Der letzte Besitzer war ein Direktor der Cunard Reederei, der Suez-Kanalgesellschaft und der Great Western Railway gewesen. Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er sehen könnte, was aus seinem Herrenhaus geworden war. Das Besprechungszimmer war offenbar einmal die Bibliothek gewesen. Die jetzigen Herren hatten die Regale mit Fotos abgeschossener deutscher Flugzeuge und sinkender U-Boote dekoriert, mit Heftzwecken in die Buchrücken gepinnt. Das Ölgemälde über dem Kamin hatte jemand mit einer Fotografie Winston Churchills überklebt. Kultur war im Augenblick kein Thema.

Craig Nicholls war vielleicht dreißig Jahre alt. Mit dem Gefangenenlager hatte der Offizier eigentlich nichts zu tun, aber er musste über beste Kontakte dort verfügen, um aus den Hunderten von Gefangenen genau den Mann herauspicken zu können, den er für seinen geplanten Einsatz haben wollte. Dass Wolf gerade zum Tode verurteilt worden war, störte ihn nicht. Nicholls gehörte zur SOE,der Special Operations Executive, einem britischen Geheimdienst. Der Tee, den er Wolf anbot, schmeckte lausig. Das Angebot, das er ihm machte, war nicht viel besser. Als er seine Ausführungen dazu beendet hatte, sagte Wolf: »Um es kurz zusammenzufassen, ich soll mit einer Gruppe von Agenten in das Führerhauptquartier eindringen und es in die Luft sprengen.«

»Nicht nur die Wolfsschanze. Vor allem den Führer.«

»Mehr nicht?« Auch Wolf hatte seinen Humor noch nicht verloren. Das war eine unmögliche Aufgabe.

»Es ist nicht so unmöglich, wie Sie jetzt denken«, sagte Nicholls. »Wir haben alles durchgespielt. Aber ob es tatsächlich gelingt, lässt sich nur herausfinden, wenn man es versucht.«

Wolf schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wenn es schiefgeht, haben Sie zumindest Ihr Leben um ein paar Wochen verlängert. Monate vielleicht. Wir schicken Sie ja schließlich nicht ohne ein umfassendes Training nach Ostpreußen. Und natürlich wollen wir, dass Sie nicht nur Ihren Auftrag ausführen, sondern dass Sie am Ende lebend zurückkommen. Sie und Ihr Team. Sie haben Glück, Herr Oberleutnant, dass wir Ihnen dieses Angebot machen.«

Glück war eine relative Sache. Wolf dachte an die toten Kameraden, die mit seinem U-Boot untergegangen waren.

»Es kommen mehrere Dinge zusammen«, fuhr Nicholls fort. »Zum einen brauchen wir einen Deutschen für dieses Projekt. Mindestens einen Deutschen. Anders kann das Team in Ostpreußen nicht überleben. Zufällig kommen Sie von dort. Wir wissen, dass Sie in Reimsdorf, sozusagen neben dem Führerhauptquartier, aufgewachsen sind.«

Wolf nahm einen Schluck von seinem Tee. »Sie sprachen von mehreren Dingen.«

»Ja. Der zweite Punkt ist, dass Sie ein Offizier sind. Jung genug, um sich einer riskanten Aufgabe zu stellen, aber nicht so jung, dass wir befürchten, dass Sie leichtsinnig sein könnten.«

Wolf hob die Augenbrauen. Es war leichtsinnig gewesen, dass er aufgetaucht war, um Überlebende zu retten. Und es gab keine Garantie dafür, dass er nicht auch in Zukunft leichtsinnig sein würde. In Zukunft. In diesem Moment begriff Wolf, dass er an die Zukunft dachte. Es gab eine Zukunft. Eine riskante Zukunft, aber immerhin würde er weiterleben. Er wollte weiterleben. Um beinahe jeden Preis. Er würde das Angebot des Engländers annehmen. »Gibt es noch etwas?«, fragte er.

»Der dritte Punkt ist, dass Sie kein Nazi sind. Zumindest kein überzeugter.«

»Bin ich nicht? – Ich bin Offizier der Deutschen Kriegsmarine. Jahrgang 1919, Crew 39. Glauben Sie im Ernst, die Marine hätte mich zum U-Boot-Kommandanten ausgebildet, wenn ich nicht Mitglied der Partei gewesen wäre?«

Der Engländer schüttelte den Kopf. »Dass Sie in die Partei eingetreten sind, wie die meisten Ihrer Landsleute, das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist Ihr Verhalten.«

»Was meinen Sie damit?«

»Herr Oberleutnant, als Kommandant eines Kriegsschiffes kannten Sie natürlich den Befehl, den Großadmiral Dönitz vor einem Jahr erteilt hat: Jeglicher Rettungsversuch von Angehörigen versenkter Schiffe, also auch das Auffischen von Schwimmenden, hat zu unterbleiben. Rettung widerspricht den primitivsten Forderungen der Kriegführung. Sie haben sich nicht daran gehalten. Sie haben Schiffbrüchige gerettet.«

»Im Zweifelsfall tue ich das, was mein Gewissen mir vorschreibt«, murmelte Wolf. Er hatte damit nicht nur gegen den Befehl des Großadmirals verstoßen, sondern auch das Boot und seine Besatzung in Gefahr gebracht.

»Schiffbrüchige aufzunehmen war klar verboten. Aber Sie haben noch mehr getan. Anstatt die Leute an Bord zu behalten, bis Sie wieder in Deutschland waren, haben Sie sie an der Küste abgesetzt. An der Küste von Wales. Sie sind ein unerhörtes Risiko eingegangen. Warum haben Sie das getan?«, fragte Nicholls und beugte sich auf seinem Stuhl vor.

»Das wissen Sie doch sowieso«, erwiderte Wolf.

»Ich möchte es aber gern von Ihnen hören, Herr Oberleutnant. Mit Ihren eigenen Worten.«

»Sie meinen die Frau mit dem Kind, die wir an Bord genommen hatten?« Wolf war sich sicher, dass es Nicholls darum ging. »Die Jüdin. Ich konnte sie doch nicht mit nach Deutschland nehmen, bei all den Schikanen, denen sie dort ausgesetzt wäre, es hätte ihren Tod bedeuten können …«

Der Engländer unterbrach ihn. »Inzwischen sind Millionen Unschuldiger gestorben, vollkommen sinnlos. Warum sollen weitere Millionen Menschen sterben, wenn nur ein Einziger sterben müsste? Derjenige, der an allem schuld ist?«

»Warum töten Sie Adolf Hitler nicht selbst? Warum haben Sie es nicht schon längst getan?«

»Weil wir nicht an ihn herankommen. Die Wolfsschanze ist außerhalb der Reichweite unserer Bomber.«

»Aber der Führer sitzt nicht ständig in der Wolfsschanze. Manchmal ist er in Berlin, manchmal macht er Urlaub in Berchtesgaden …«

Craig Nicholls lachte. »Leider teilt uns Hitler nicht mit, wann er sich wo aufhält. Aus der Ferne lässt sich das Problem nicht lösen. Jemand muss hin und ihn dort exekutieren, wo man ihn am sichersten antrifft. Und das ist nun einmal in der Wolfsschanze.«

Wolf selbst hatte einen Verräter zum Tode verurteilt. Wenn er sich auf dieses Vorhaben einließ, war er dann nicht ebenfalls ein Verräter?, fragte er sich.

Der Engländer bemerkte seine Zweifel. »Sie haben Ihre Entscheidungen bisher nach Ihrem Gewissen getroffen«, konstatierte er.

»Ja«, sagte Wolf.

»Wenn wir nicht eingeschritten wären, hätte Ihr Gewissen Ihnen sogar diktiert, einen Menschen zu töten«, fuhr Nicholls fort. »Sie haben ein Ehrengericht einberufen und einen Mitgefangenen zum Tode verurteilt.«

»Der Mann hat Einzelheiten der Luftverteidigung verraten«, sagte Wolf nun aufgebracht. »Einzelheiten der Luftverteidigung einer deutschen Großstadt. Details über die Tarnung der Stadt, über die Verteilung der Flak-Batterien, der Scheinwerferstellungen, über die Position der Sperr-Ballone rings um Hamburg …«

»Kriegswichtige Informationen also?«

»Ob kriegswichtig oder nicht spielt in diesem Fall doch gar keine Rolle«, ereiferte Wolf sich weiter. »Es ging um den Schutz der Frauen und Kinder! Er hat die Informationen für eine Handvoll Zigaretten preisgegeben!«

Wolf wusste nicht wirklich, was der Mann als Gegenleistung erhalten hatte. Viel konnte es aber nicht gewesen sein.

»Was Sie nicht wissen können, Herr Littke, ist, dass unser Angriff auf Hamburg bereits stattgefunden hat, und zwar ein paar Wochen, bevor Ihr sogenannter Verräter seine armseligen Informationen ausgeplaudert hat. Vom 24. Juli bis zum 3. August, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Wir haben diese Informationen nicht gebraucht. Wir haben die Stadt auch so gefunden. Hamburg existiert nicht mehr«, konstatierte Nicholls lakonisch.

Wolf starrte den Engländer an. Das war ungeheuerlich. Konnte das wahr sein?

»Eine Katastrophe.« Nicholls lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Nicht die erste und nicht die letzte. So etwas verhindern Sie nicht, indem Sie einen einzelnen Verräter umbringen. So etwas verhindern Sie nur, wenn der Krieg aufhört. So schnell wie möglich. Töten Sie Hitler. Sprengen Sie die Wolfsschanze in die Luft!«

13. Oktober 1943

Der erste Schritt ist getan, dachte Nicholls. Aber es war wirklich nur ein erster Schritt. Nun mussten die technischen Voraussetzungen geschaffen werden, um diesen Plan des britischen Geheimdienstes zu verwirklichen. Dazu brauchte der Offizier nicht nur die Zustimmung seiner unmittelbaren Vorgesetzten in der SOE, sondern zumindest die Duldung durch die Regierung. So kam es, dass an der Lagebesprechung am Nachmittag des nächsten Tages neben verschiedenen Militärs auch ein Vertreter des Kriegskabinetts teilnahm.

Die Besprechung fand ebenfalls wieder in der Bibliothek von Grizedale Hall statt. Nicholls hatte einige der Bilder an den Wänden austauschen lassen, um die Notwendigkeit des geplanten Anschlags zu unterstreichen. Anstatt sinkender Unterseeboote hingen dort nun Aufnahmen, die nach den Angriffen auf Coventry und London gemacht worden waren. Diese Bilder waren nicht in der Presse erschienen. Sie zeigten getötete Frauen und weinende Kinder. Auf einer etwas älteren Aufnahme war ein triumphierender Adolf Hitler zu sehen.

Nicholls begrüßte die Anwesenden. »Meine Herren, Sie alle wissen, dass wir seit Langem daran arbeiten, einen Anschlag auf Adolf Hitler zu verüben, um den Krieg zu beenden. Da Hitler mehrere Hauptquartiere hat, wissen wir allerdings nie im Voraus, wann er sich wo aufhält.«

»Heißt das, die Attentatspläne werden jetzt erst einmal auf Eis gelegt?«, wollte der Minister vorschnell wissen. Die Aktivitäten des Geheimdienstes SOE unterstanden dem Ministry of Economic Warfare, das wegen seiner unrealistischen Einschätzung der Kriegslage von vielen als »Ministerium für Wunschdenken« bezeichnet wurde. Roundell Palmer hatte dort vor einem Jahr den glücklosen Hugh Dalton abgelöst.

»Davon kann keine Rede sein.« Nicholls schüttelte den Kopf. »Aber sprechen wir über die Hauptquartiere: Das eigentliche Zentrum der deutschen Regierung ist in Berlin. Die Reichskanzlei verfügt über alle erforderlichen Einrichtungen, um von dort die Geschicke des Reiches zu lenken. Allerdings hat sich Adolf Hitler bisher während des Krieges äußerst selten dort aufgehalten. Damit bleiben innerhalb des deutschen Einflussbereiches eigentlich nur zwei Orte, von denen er das Geschehen kontrollieren kann. Das eine ist der Berghof in Berchtesgaden, und das andere ist die Wolfsschanze in Ostpreußen.«

Craig Nicholls zeigte die Lage der beiden Orte auf einer Übersichtskarte, die seine Mitarbeiter ebenfalls an die Wand gepinnt hatten.

»Ein möglicher Anschlag auf den Berghof, das Unternehmen Foxley, ist in Vorbereitung. Drei verschiedene Varianten sind denkbar. Variante 1: Ein Kommando unserer Leute dringt in den Berghof ein und erschießt Hitler. Variante 2: Wir unternehmen einen Anschlag auf den Sonderzug des Führers in dieses Hauptquartier. Variante 3: Scharfschützen lauern ihm beim Schloss Kleßheim auf …«

»Was ist das für ein Schloss?«, wollte Palmer wissen.

»Schloss Kleßheim liegt in der Nähe von Salzburg. Adolf Hitler nutzt es gelegentlich für Staatsempfänge und macht dort manchmal auf seiner Reise nach Berchtesgaden Station.«

»Aber Adolf Hitler befindet sich zur Zeit nicht in Berchtesgaden, sondern in Ostpreußen, in der Wolfsschanze«, stellte Palmer fest.

Nicholls nickte. »Aus diesem Grunde haben wir parallel zur Operation Foxley einen zweiten Attentatsplan ausgearbeitet, unsere Operation Wolfsley. Unsere Agenten für diesen Plan stehen bereit. Und das ist die Lage!« Craig Nicholls wies auf die Wolfsschanze auf der Übersichtskarte. »Hier ist das Führerhauptquartier. Und hier ist England. Die Entfernung beträgt 1400 Kilometer. Die Einsatzreichweite unserer Bomber beträgt 2650 Kilometer.«

»Bestens«, bemerkte Palmer.

»Nicht wirklich«, wandte Nicholls ein. »Unser Flugzeug muss hin- und zurückkommen. Und dazu fehlen 150 Kilometer.«

»Mein Gott, die 150 Kilometer, die da fehlen, die müssen sich doch irgendwie rausholen lassen! Durch langsameres Fliegen vielleicht, was weiß ich! Ich bin kein Flieger«, polterte Palmer.

»Nein, die paar Kilometer, wie Sie es nennen, lassen sich nirgendwo rausholen. Hinzu kommt, dass wir nicht den kürzesten Weg benutzen können. Wir fliegen über Jütland und dann, so weit es geht, über die Ostsee, um der deutschen Flak aus dem Weg zu gehen. Und den deutschen Nachtjägern.«

Einer der Offiziere studierte die Karte aus der Nähe, maß die Entfernungen mit einem Zollstock ab. »Von Moskau wären es nur tausend Kilometer«, stellte er nüchtern fest.

»Richtig«, erwiderte Craig Nicholls knapp. Alle Anwesenden waren sich allerdings der Tatsache bewusst, dass ein Einsatz britischer Bomber von Russland aus nicht zur Diskussion stand. Die Amerikaner hatten in dieser Angelegenheit bei Stalin vorgefühlt, aber die Sowjetunion hatte sich in dieser Hinsicht bisher als äußerst unkooperativ erwiesen.

Der Minister verlor endgültig die Geduld. Er sprang auf und rief: »Meine Herrschaften, das ist alles unergiebig, was wir hier diskutieren. Fest steht, dass wir Flugzeuge haben, die von hier bis zur Wolfsschanze fliegen können. Also werden wir den Einsatz unserer Agenten wie geplant durchziehen. Wie Sie es anstellen, dass Sie obendrein die Maschine wieder heil nach England zurückbringen, das sind technische Details, die ich gar nicht wissen will. Dafür sind Sie zuständig!«

Damit hatte Nicholls völlig freie Hand! »Danke«, sagte er. »Genau das wollte ich von Ihnen hören.«

»Muss Churchill eingeschaltet werden?«, fragte einer der Offiziere. Nicholls warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Es konnte nur Probleme geben, wenn eine Geheimdienst-Operation wie diese auf der politischen Ebene diskutiert würde.

Der Mann aus dem Kriegskabinett lächelte. »Er sollte eingeschaltet werden«, sagte er. »Wenn ich ihn heute Nachmittag beim Tennis sehe, werde ich ihn auf unser Vorhaben ansprechen.«

Das war eine gute Antwort. Craig Nicholls war sich ziemlich sicher, dass der britische Premierminister keinen Tennisplatz betreten würde.

Am Ende der Besprechung nahm Nicholls den Minister zur Seite. »Ich habe noch eine Frage, die die Rückkehr unserer Agenten betrifft. Wir haben die Absicht, sie mit einem Unterseeboot aus der Ostsee abzuholen. Aber es gibt da ein kleines Problem …«

»Sie meinen das U-Boot-Netz der Deutschen?«

Nicholls nickte. Im Grunde waren es mehrere U-Boot-Netze, die die Durchfahrt durch die dänischen Meerengen versperrten. Entscheidend war aber das Netz im Öresund, das die Deutsche Kriegsmarine mit stillschweigender Duldung der Schweden im Jahre 1940 verlegt hatte. Es reichte bis weit in die schwedischen Hoheitsgewässer hinein. »Das Netz ist eine klare Verletzung der Neutralität. Bei der jetzigen Kriegslage sollten wir darauf dringen, dass es entfernt wird.«

»Erwarten Sie bitte keine Wunder«, entgegnete Palmer. »Vordringlich ist für uns zunächst einmal, dass die Lieferung von schwedischem Eisenerz und von Kugellagern nach Deutschland gestoppt wird. Wir werden uns zu gegebener Zeit um die Netze kümmern. Mehr kann ich nicht versprechen.«

Das reicht nicht aus, dachte Nicholls.

17. Oktober 1943

Der erste Teil der Agentenausbildung erfolgte in der Special Training School 5 in Wanborough Manor bei Guildford. Der vollständige Kurs dauerte normalerweise vier Wochen, die Kandidaten, die als Agenten ungeeignet erschienen, wurden währenddessen ausgesiebt. Diesmal wurde der Lehrgang abgekürzt, da diejenigen, die den Anschlag auf die Wolfsschanze verüben würden, bereits feststanden.

Für den Einsatz in Ostpreußen kamen nur wenige Personen in Frage. Sie alle mussten über besondere Fähigkeiten verfügen. Inzwischen wusste Wolf, wer seine Partner sein würden. Sie waren zu viert. Der Weißrusse Igor Danilowitsch war mit seinen einundvierzig Jahren der älteste von ihnen, siebzehn Jahre älter als Wolf. Er machte einen verschlossenen Eindruck. Seine Aufgabe bestand darin, Kontakt zu den Partisanen in den Wäldern südöstlich von Rastenburg aufzunehmen und sie möglichst in das Vorhaben einzuspannen. Igor war der Einzige von ihnen, der kein Deutsch sprach. Leszek Dolecki, der Pole, vierundzwanzig Jahre, sah am wenigsten so aus, wie Wolf sich einen Attentäter vorstellte: Er machte einen eher gemütlichen und etwas unsportlichen Eindruck. Angeblich hatte er Verwandte in der polnischen Untergrundarmee, die ihnen im Notfall weiterhelfen konnten. Aaron, einunddreißig Jahre alt, ein schwedischer Jude, brannte darauf, sich an Hitler zu rächen. Die Nazis hatten seine Zwillingsschwestern, die in Deutschland lebten, ins KZ gesteckt. Er war der Einzige, der Wolf mit offenem Misstrauen begegnete. Er war bei Nicholls vorstellig geworden und hatte darum gebeten, das Unternehmen leiten zu dürfen. Ohne Erfolg. Aaron sprach zwar fließend Deutsch, aber er war Journalist und verfügte über keine militärische Ausbildung.

Ob Igor oder Leszek in militärischen Dingen erfahren waren, wusste Wolf nicht. Es war letzten Endes nicht entscheidend. Alles, was sie für ihren Auftrag wissen und können mussten, würde man ihnen bei ihrer Agentenausbildung beibringen. Wie Igor sprachen die meisten Ausbilder kein Deutsch, sondern nur Englisch.

Jetzt saßen sie zusammen in ihrer Unterkunft, einer schlichten Hütte, deren Fachwerk aus Betonpfeilern mit einer einfachen Lage von Ziegeln vermauert war. Die Stimmung war gedrückt. Leszek war derjenige, der es direkt aussprach: »Wir sind sehr unterschiedlich«, sagte er. »Im normalen Leben wären wir uns wahrscheinlich nie begegnet. Wir kommen aus verschiedenen Ländern, aus verschiedenen Kulturen. Der eine glaubt an Gott, der andere an Jahwe, wieder ein anderer an Stalin oder vielleicht auch an gar nichts. Das müssen wir vergessen. Wir müssen alles vergessen, was uns trennt. Nur wenn wir bedingungslos zusammenarbeiten, können wir unseren Auftrag erfüllen.«

»Bist du Soldat gewesen?«, fragte Igor.

Leszek nickte. »Ich habe meine Heimat gegen die Deutschen verteidigt.«

Wolf war beeindruckt, Igor scheinbar nicht. »Wo?«, fragte er knapp.

»Bei Bydgoszcz. Nördlich der Stadt. Von dort haben wir den Angriff der Deutschen – ich meine, den Angriff der Faschisten – zurückgeschlagen. Aber dann sind sie weiter im Süden durchgebrochen, und wir mussten zurück. Am Ende sind wir in Gefangenschaft geraten.«

Aaron wurde hellhörig. »Du warst in deutscher Kriegsgefangenschaft?«

Leszek nickte. »Oflag XA in Itzehoe. Nördlich von Hamburg ist das.«

»Und wie kommt es, dass du jetzt hier bist?«, fragte Aaron misstrauisch.

»Ich bin geflüchtet.«

»Einfach so?«

»Nicht ›einfach so‹! Aber besonders schwierig war es auch nicht. Ende Oktober 1939 hatten ja alle geglaubt, dass der Krieg vorbei ist. Unsere Freunde in England und Frankreich hatten uns im Stich gelassen. Niemand hat einen Finger gerührt, als Hitlers Truppen in Polen eingefallen sind. Und dann war Polen vom Feind besetzt. Die sogenannte polnische Frage war in Hitlers Sinne gelöst, Danzig war wieder deutsch. Weitere Gebietsansprüche gab es nicht. Wozu jetzt noch Krieg führen? Die meisten von uns dachten, dass man uns jetzt freilassen würde. Sie glaubten, sie brauchten nur abzuwarten, und dann würde alles gut. Ich habe nicht abgewartet. Unser Lager war zwar mit Stacheldraht umzäunt, es gab Wachtürme und Posten mit Maschinengewehren, aber die Kontrollen waren nicht allzu streng. Ich bin nachts unter dem Zaun durch und dann ab in Richtung Dänemark. Dänemark war ja noch nicht besetzt. Von dort dann mit einem Dampfer nach England.«

Aaron schüttelte den Kopf. Er glaubte die Geschichte nicht. Das klang zu einfach.

»Natürlich war meine Situation besser als die der meisten meiner Kameraden«, ergänzte Leszek. »Ich stamme ja aus dem Teil Polens, der früher zu Deutschland gehört hat. Westpreußen. Bydgoszcz hieß früher Bromberg. Ich habe eine deutsche Schule besucht, weil meine Eltern glaubten, dass die besser sei als die polnische. Vielleicht war sie das. – Hat jemand mal Feuer?«

Wolf reichte Leszek seine Streichhölzer. Niemand sagte etwas. Leszek sah ein, dass er noch mehr erzählen musste. Er rauchte ein paar Züge und fuhr dann fort: »Das größte Problem nach der Flucht aus dem Lager war die Kleidung. Wir trugen ja noch die polnische Uniform, und darauf war ein rotes Dreieck aufgenäht. Das hätte ich leicht abtrennen können, aber es blieb die polnische Uniform, und mit der konnte ich mich nicht sehen lassen. Was habe ich also gemacht? Nach meiner Flucht aus dem Lager bin ich nachts nach Itzehoe in die Innenstadt gegangen und habe Namensschilder an den Türen studiert. Und – das wird dich jetzt interessieren, Aaron! – als ich einen jüdisch klingenden Namen ausgemacht hatte, habe ich die Leute aus dem Bett geklingelt. Sie haben mir weitergeholfen. Die Klamotten, die mir der Mann gegeben hat, passten zwar nicht besonders gut, aber doch immerhin gut genug, dass ich damit nicht auffiel.«

»Und der Mann hatte keine Angst?«, fragte Aaron.

»Todesangst hatte er. Er und seine Familie. Aber sie haben mir trotzdem weitergeholfen.«

»Aber am nächsten Morgen muss deine Flucht aus dem Lager doch aufgefallen sein. Die Deutschen werden Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben, um dich wieder einzufangen«, vermutete Igor.

»Nichts in der Art. Die Kontrollen waren unglaublich lasch. Nur einmal im Monat gab es eine sogenannte Stempelkontrolle, bei der wir mit unserem Ausweis antreten mussten und überprüft wurde, ob der Mann auf dem Foto im Ausweis tatsächlich noch vorhanden war. Ich bin direkt nach so einer Kontrolle geflohen.«

»Und wie bist du über die Grenze nach Dänemark gekommen?«

»Mit einem Güterzug. Ich hing unter einem der Waggons.«

Aaron schien mit den Antworten zufrieden. Er wandte sich jetzt an Wolf: »Und du, Wolfgang?«

»U-Boot-Kommandant«, sagte Wolf. »Das wisst ihr ja. Mein Boot ist versenkt worden. Die Engländer haben mich gefangen genommen.«

Wolfs Boot war beim Angriff auf einen Geleitzug versenkt worden. Der Schwarze Mai 1943 war das Ende des erfolgreichen U-Boot-Krieges gewesen. Wie Wolf inzwischen wusste, hatte Dönitz die Atlantikschlacht danach wegen zu hoher Verluste abgebrochen.

»Wie viele Besatzungsmitglieder hat so ein U-Boot?«, fragte Aaron.

»Ungefähr 50. Wir waren 48 an Bord. Wieso fragst du?«

»Und wie viele davon sind in Gefangenschaft geraten?«

»Vier Mann.«

»Das ist nicht viel!«, sagte Aaron. Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Heißt es nicht: Der Kapitän geht als Letzter von Bord?«

Wolfs Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was willst du damit sagen?«, zischte er. »Willst du behaupten, dass ich aus Feigheit gerettet worden bin?«

»Ruhig, Wolf!«, beschwichtigte Igor ihn. »Ganz ruhig!«

Wolf achtete nicht auf ihn. »Ich will dir sagen, wie das gewesen ist! Wir sind aufgetaucht gefahren, um zu dem Geleitzug aufzuschließen. Bei Tag, sonst hätten wir es sowieso nicht geschafft. ONS5, ein Geleit aus langsam fahrenden Frachtern und Tankern. Das Flugzeug haben wir nicht sehen können, weil es uns genau aus der Sonne angegriffen hat. Das Metox-Gerät und die Bali-Antenne, dieses wunderschöne Spielzeug, das uns vor Ortung aus der Luft warnen sollte, hat uns nicht gewarnt. Wahrscheinlich haben die Engländer ein neues, verbessertes Ortungssystem eingesetzt, das unsere hohen Herrschaften noch nicht kannten. Ich habe Alarmtauchen befohlen, aber es war viel zu spät. Gleich die erste Bombe hat unser Boot direkt getroffen. Am Heck, kurz hinter dem Turm. Das Boot ist abgesackt wie ein Stein. Wir standen zu zweit oben, und bevor wir irgendetwas machen konnten, lagen wir auch schon im Wasser. Zwei weitere Männer sind noch rausgekommen, der Rest nicht. Ein englisches Kriegsschiff hat uns aufgefischt. So ist das gewesen!«

»Ruhig, Wolf!«, wiederholte Igor. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Niemand macht dir einen Vorwurf, alles ist gut.«

»Ich wollte dich nicht angreifen oder beleidigen«, verteidigte Aaron sich. »Aber was wir vorhaben, ist lebensgefährlich. Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe.«

»Nun weißt du es«, sagte Igor. »Wolf ist kein Feigling. Das haben wir eigentlich natürlich auch schon vorher gewusst, nicht wahr?«

»Und du? Was motiviert dich, an dieser Mission teilzunehmen«, fragte Wolf, noch immer erzürnt, zurück. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm mit Misstrauen begegnete. Aaron war ihm unheimlich. Er war sich ganz sicher, falls er einen Fehler machte, würde Aaron versuchen, ihm die Leitung der Gruppe aus der Hand zu nehmen. Er sprach perfekt Deutsch, und er war älter und erfahrener als Wolf.

Aaron sah ihm direkt in die Augen. »Ich denke, das ist doch wohl offensichtlich. Hitler ermordet die Juden. Ich bin Jude. Ich ermorde Hitler.«

»Wer sagt, dass Hitler die Juden ermordet? Das ist doch bolschewistische Gräuelpropaganda. Die Juden müssen arbeiten. Dazu gibt es die Konzentrationslager, aber …«

»Wolfgang hat keine Ahnung, Aaron«, unterbrach Igor Wolf und hob beschwichtigend die Hände. »Bevor du jetzt wieder in die Luft gehst, Wolf, nimm bitte zur Kenntnis: Die Juden werden in den Konzentrationslagern ermordet. Tausende. Hunderttausende. Zigeuner auch. Und Kommunisten, nebenbei bemerkt. Ich bin Kommunist. Da hast du mein Motiv, warum ich an diesem Selbstmordkommando teilnehme.«

Wolf schüttelte den Kopf. »Blanker Unsinn«, sagte er. Natürlich hatte er von dem Gerücht gehört: Kameraden in der Marine hatten sogar darüber gemunkelt, dass die Seife aus toten Juden hergestellt würde und dass die Aufschrift RIF, die sich auf jedem Seifenstück fand, eigentlich »Ruhe in Frieden« oder gar »Reines Juden-Fett« bedeutete. In Wahrheit stand RIF für »Reichsstelle für industrielle Fette«.

»Bist du einmal in einem Konzentrationslager gewesen, Wolfgang?«, fragte Aaron.

»Nein, natürlich nicht. – Aber du?«

»Ich auch nicht«, gab Aaron zu. »Aber ich habe mit jemandem gesprochen, der dort gearbeitet hat.« Er griff in seine Jackentasche und legte eine Ausweiskarte auf den Tisch. Ausweis Nr. 514 stand da. Der SS-Unterscharführer Hans Geschke, SS-Nr. 277432, geb. 4.6.1914, ist Angehöriger der Wachkompanie des Konzentrationslagers Auschwitz. Er ist berechtigt, Waffen zu tragen. Alle Behörden werden ersucht, ihm nötigenfalls Schutz und Hilfe zu gewähren. Der Lagerkommandant. Das Foto zeigte einen Mann in SS-Uniform.

»Wie kommst du an den Ausweis von diesem Geschke?«, fragte Wolf.

»Wie du sicher weißt, bin ich schwedischer Staatsbürger«, sagte Aaron. »Und ich bin Journalist. Als Vertreter der neutralen Presse konnte ich mich relativ frei innerhalb Deutschlands bewegen. Ich habe bis vor einem Jahr in den schwedischen Zeitungen über die Dinge berichtet, über die ich schreiben durfte, ohne dass sie von der deutschen Zensur gestrichen wurden. Oder von der schwedischen Zensur, die gab es auch. Also nichts über Nazi-Verbrechen, nichts über die KZs. Aber bei einer Fahrt nach Polen, ins Generalgouvernement, wie das heute heißt, habe ich etwas mehr erfahren können. Mir saß im Schnellzug von Berlin nach Warschau ein Mann in SS-Uniform gegenüber. Das war dieser Geschke. Er hat mir einiges über die mörderischen Vorgänge in Auschwitz erzählt und über das, was die Nazis inzwischen als Endlösung der Judenfrage bezeichnen.«

»Er hat dir erzählt, dass Juden ermordet werden?« Wolf konnte es nicht glauben.

Aaron schüttelte den Kopf. »So weit ist er nicht gegangen«, sagte er. »Aber ich habe genug gehört. Jedenfalls habe ich am Ende dem Herrn Geschke den Ausweis abgenommen. Er brauchte ihn nämlich nicht mehr. Tote brauchen keine Ausweise.«

»Du hast ihn umgebracht?«, fragte Leszek ungläubig.

»Das ist das Einzige, was gegen Nazis hilft«, erwiderte Aaron ungerührt.

»Du hast ihn einfach ermordet, nur weil er ein Nazi ist?«

Aaron seufzte. »Wir sind im Krieg. Dies ist kein Cricket-Spiel oder sonst irgendeine faire sportliche Auseinandersetzung, sondern ein Kampf auf Leben und Tod. Wir hatten eine heftige verbale Auseinandersetzung. Wir waren nicht allein im Abteil, aber die anderen Fahrgäste haben so getan, als ob sie das alles nichts anginge. Als dieser Geschke schließlich aufstand und zum Klo gehen wollte, bin ich ihm nach. Auf dem Gang stand niemand. Als er die Klotür aufmachte, habe ich mich mit ihm zusammen hineingedrängt. Er dachte, ihm könne nichts passieren. Er dachte, er sei stärker als ich. Er hat sich getäuscht.«

»Das bleibt ein Mord«, wiederholte Leszek.

»Was starrt ihr mich so an? Wir sind im Krieg, begreift ihr das nicht? Wolf, du bist Soldat, du hast geschossen, um zu töten. Dasselbe gilt auch für dich, Leszek. Du hast im September 1939 bei Bydgoszcz auf die Deutschen geschossen. Du hast geschossen, um zu töten. Und jetzt wollen wir Hitler töten. Ihn und seine Komplizen. So viele wie möglich. Ist das Mord? Nein, meine Freunde, das ist Krieg. Und wer dazu nicht bereit ist, der sollte besser zu Hause bleiben.«

1. November 1943

Seit ihrem Gespräch in der Unterkunft waren zwei Wochen vergangen. Sie hatten nie wieder über dieses Thema gesprochen, aber Wolf gingen Aarons Behauptungen noch immer durch den Kopf. Er konnte nicht glauben, dass die Geschichte stimmte. Wahrscheinlich hatte dieser Geschke in seiner Todesangst alles zugegeben, was Aaron hören wollte. Aber es hatte ihm nichts genützt; der Jude hatte ihn trotzdem umgebracht. Aaron wurde ihm immer unheimlicher.

Nach dem Einzelkämpfertraining ging es in das schottische Hochland. Sie waren in Arisaig House untergebracht, einem alten Herrenhaus, das die Armee bei Kriegsbeginn beschlagnahmt hatte. Es lag inmitten der Einsamkeit. Bonnie Prince Charlie hatte sich hier bei seiner Flucht durch das Hochland versteckt. Und hier sollten die Agenten zeigen, dass auch sie in der Wildnis überleben konnten.

Wolf stellte fest, dass es in der Tat sehr schwierig war, sich nur mit Hilfe einer Karte in einer ihm völlig fremden Landschaft zurechtzufinden, die so ganz anders aussah als seine ostpreußische Heimat. Hier gab es keinen Wald, keine Häuser und keine Straßen. Nur Berge, und die sahen alle gleich aus.

Er hatte gedacht, wenn es mit dem Training ernst würde, würde der Jude als Erster ausfallen. Er hatte sich geirrt. Der hagere Journalist war ein zäher Bursche, und er war der Einzige aus der Gruppe, der sich im lautlosen Kampf Mann gegen Mann mit Wolf messen konnte.

Leszek schien etwas schwerfällig. Sicher lag das zum Teil daran, dass er größer war als alle anderen, wodurch seine Bewegungen eine Spur unbeholfen wirkten. Außerdem hatte er mehr Gewicht mit sich herumzutragen.

Igor war mit seinen einundvierzig Jahren der Älteste. Er war zugleich auch der Besonnenste. Er trug einen Ring, war demnach verheiratet, aber über seine Familie redete er nicht. Leszek hatte ihn einmal direkt gefragt, aber der Weißrusse hatte nicht geantwortet.

9. November 1943

Die abschließende Geländeübung begann damit, dass sie mit dem Auto etwa hundert Kilometer weit gefahren und dann einzeln irgendwo in der Wildnis ausgesetzt wurden. Sie sollten innerhalb von drei Tagen zum Lager zurückmarschieren – jeder für sich allein. Sie durften keine fremde Hilfe suchen oder annehmen, und sie sollten den Kontakt zu den Kameraden meiden. Trotz aller Bemühungen ließ es sich nicht vermeiden, dass man sich auf dem langen Weg irgendwo traf. Der erste Kamerad, dem Wolf begegnete, war Aaron. Es war am frühen Nachmittag des ersten Tages. Der Jude lag flach auf dem Boden auf einer kleinen Felskuppe und beobachtete mit dem Fernglas irgendetwas, das Wolf von seinem Standort aus nicht sehen konnte. Wolf stieg zu ihm nach oben.

Aaron hatte ihn längst bemerkt. »Guck mal!«, sagte er.

Unten im Tal lag eine einsame Hütte, und auf der kleinen Weide, die der Bauer von Felsbrocken befreit hatte, saß eine blonde junge Frau auf einem Melkschemel und molk eine Kuh.

Neben ihr saß Igor, der Weißrusse, aber was er tat, konnte Wolf mit bloßem Auge nicht erkennen.

»Er hilft ihr, die Kuh zu melken«, sagte Aaron. Er reichte Wolf das Fernglas.

Igor hatte seine Hände nicht an der Kuh, sondern an der jungen Frau, und die hatte ganz offensichtlich nichts dagegen.

»Der lässt ja mal nichts anbrennen«, murmelte Wolf. »Wenn allerdings jetzt der Bauer kommt, hat unser Freund Probleme.«

Aaron schüttelte den Kopf. »Der Bauer kommt nicht«, sagte er. »Das ist ein sheeling, so etwas wie eine Almhütte. Die Kühe auf der Alm zu hüten ist Frauenarbeit. Normalerweise eine ziemlich langweilige Tätigkeit.«

»Heute ganz offensichtlich nicht«, sagte Wolf. »Wir müssen weiter. Kommst du mit?«

Aaron schüttelte den Kopf. Vielleicht war ihm Wolf ebenfalls nicht ganz geheuer. Aber vielleicht wollte er auch nur allein sein.

12. November 1943

Wolf hatte nicht geglaubt, dass sie es alle schaffen würden, ihre Unterkunft Arisaig House innerhalb von drei Tagen zu erreichen. Er hatte sich geirrt. Leszek war tatsächlich als Erster eingetroffen, mit keuchendem Atem und hochrotem Kopf. Er hatte es allen zeigen wollen, dass er fitter war, als sie glaubten. Er war den letzten Kilometer gerannt, weil er dachte, Aaron sei direkt hinter ihm. Es war aber Wolf gewesen, der eine Viertelstunde nach dem Polen im Lager eintraf. Aaron kam kurz danach.

Igor traf erst wenige Minuten vor Mitternacht ein. Offenbar hatte er seinen Aufenthalt in der Almhütte so lange wie irgend möglich ausgedehnt. Wolf betrachtete es als seine Pflicht, wach zu bleiben, bis auch der letzte Kamerad eingetroffen war. »Da bist du ja endlich«, flüsterte er. Im nächsten Moment war er eingeschlafen.

Auch der Weißrusse schlief sofort ein. Wenig später fuhr Igor erschrocken aus dem Schlaf hoch. Jemand hatte geschrien! Igor sprang aus dem Bett und machte Licht. Es war Wolf gewesen. Er murmelte irgendetwas, das der Weißrusse nicht verstand. Igor legte dem Deutschen die Hand auf die Schulter. Wolf seufzte tief, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter.

Keiner der anderen war wach geworden. Igor löschte das Licht.

15. November 1943

Für die Ausbildung zum Fallschirmspringer wurde die Gruppe auf den Flugplatz Ringway bei Manchester verlegt, auf dem auch das Fallschirmtraining der Royal Air Force stattfand. Die Unterkünfte der Gruppe waren genauso primitiv wie im Gefangenenlager. Wolf war besorgt, weil sie direkt auf dem Flugplatzgelände wohnten. Der Ausbilder lachte ihn aus: Die Deutsche Luftwaffe hatte Machester zuletzt im Juni 1941 angegriffen, und auch damals nur die Stadt, keine militärischen Ziele.

Die Ausbildung zum Fallschirmspringer begann mit endlosen gymnastischen Übungen.

»Wir wollen nicht zum Ballett!«, bemerkte Wolf, dem der alberne Sport am vierten Tag zum Hals raushing.

»Eure Beinmuskeln müssen gestärkt werden«, erwiderte der Ausbilder. »Es wäre wenig förderlich, wenn ihr mit dem Fallschirm in Feindesland abspringt und euch gleich bei der Landung ein Bein brecht. Oder auch nur den Fuß verstaucht. Ihr wäret geliefert.«

Eine Woche lang quälten sie sich mit der Gymnastik, dann wurde es ernst. Der erste Sprung erfolgte in einer leeren Flugzeughalle von einem Gerüst, an dessen oberem Ende sich eine Art Plattform befand. Wolf schätzte die Höhe auf 25 Meter. Sie wurden an einem Stahlseil befestigt. Beim Sprung sollte eine Bremsvorrichtung greifen, die den Aufprall auf den Betonboden etwa auf die gleiche Geschwindigkeit wie beim Fallschirmsprung herunterbremste. Wolf war als Erster an der Reihe. Er zögerte eine Sekunde. »Jetzt springst du in den Tod«, dachte er. Aber dann sprang er doch. Die Bremse funktionierte.

Es folgten Trainingssprünge von einem Fesselballon und schließlich von einem Whitley-Bomber. Das schwierigste war die Landung. Der Aufprall entsprach in etwa einem Sprung aus drei bis vier Metern Höhe. Gelandet wurde mit dem Wind im Rücken. Sieben Trainingssprünge hatte jeder von ihnen zu absolvieren, einen davon in der Nacht.

Anschließend wurden sie nach Beaulieu in Südengland verlegt, wo weiteres Agententraining folgte.

1. Dezember 1943

Beaulieu war ein romantischer kleiner Ort am südöstlichen Rand des New Forest, südlich von Southampton. Sie waren zwar nicht im Palace House, dem noblen Herrenhaus von Beaulieu, untergebracht, sondern in kleineren Häusern in der Umgebung. Aber jedes dieser Häuser wirkte wie ein Palast im Vergleich zu den Quartieren, die sie bisher erlebt hatten.

Ein junger englischer Major, der nur noch einen Arm hatte, projizierte Fotos der Personen auf eine Leinwand, mit denen sie in der Wolfsschanze zu rechnen hatten. »Am wichtigsten ist natürlich Adolf Hitler«, sagte er. »Der Führer ist aufgrund seines ungewöhnlichen Schnauzbartes leicht zu identifizieren.«

Wolf fragte sich, ob sie auf den Arm genommen werden sollten. Jeder von ihnen wusste, wie der Führer aussah, und es war absolut sicher, dass jeder ihn erkennen würde, wenn er ihm begegnete.

»Der Führer hat einen großen Schäferhund namens Blondie. Solch ein Tier braucht natürlich Bewegung. Hitler legt großen Wert darauf, den Hund selbst spazieren zu führen. Das ist einer seiner Schwachpunkte. Und eine der Gelegenheiten, wo man den Mann ohne große Begleitung erwischen kann.«

Wolf warf einen Blick zur Seite. Leszek neben ihm schrieb eifrig mit.

»Was machen wir mit dem Tier?«, wollte Igor wissen.

»Wir wissen nicht, ob der Hund scharf ist. Erschießen Sie zuerst den Hund, dann den Führer.«

Theorie, dachte Wolf. Alles Theorie. Er rechnete nicht damit, Adolf Hitler und Blondie irgendwo in den Wäldern Ostpreußens allein anzutreffen. Es würde alles ganz, ganz anders sein.

Auf der Leinwand war ein Foto von Hermann Göring zu sehen. »Hier sehen Sie den zweitmächtigsten Mann in Nazi-Deutschland, den Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe und Stellvertreter des Führers«, erklärte der Major. »Im Weltkrieg war er ein erfolgreicher Jagdflieger.«

Das Bild zeigte Göring in seiner Marschallsuniform.

»Der dritte Mann, auf den Sie achten müssen, ist der Minister für Volksaufklärung und Propaganda.« Joseph Goebbels hielt auf dem Foto offenbar eine Rundfunkansprache. »Was Sie hier nicht sehen können, ist sein Klumpfuß.«

Davon hatte Wolf bisher nur gerüchteweise gehört. Ob die daraus resultierende Behinderung beim Gehen in Erscheinung trat, wusste der Engländer nicht.

»Kommen wir nun zum vierten Mann der Führungsriege Nazideutschlands, zu Heinrich Himmler …«

Wolfs Gedanken schweiften ab. Würde es ihm tatsächlich gelingen, mit seiner kleinen Truppe von Desperados ein Mitglied oder mehrere Mitglieder dieser Mannschaft in die Luft zu sprengen? Nach außen hin bemühte er sich zwar, den Eindruck zu erwecken, dass sie das selbstverständlich schaffen würden, aber er hatte erhebliche Zweifel.

Er warf einen Blick auf seine Mitstreiter. Wie sah es mit ihrem Optimismus aus? Das ließ sich schwer beurteilen. Sie alle lauschten scheinbar konzentriert den Worten des Offiziers. »Sie kennen wahrscheinlich aus der Großwildjagd den Begriff der ›Big Five‹, der Großen Fünf also. Damit sind die eindrucksvollsten Tiere gemeint, die man in Afrika jagen kann. Der Löwe, der Elefant, das Nashorn, der Leopard und der Büffel. In unserem Fall ist der Löwe ohne Zweifel Adolf Hitler, der Elefant selbstverständlich Hermann Göring …«

Leszek lachte. Wolfgang bemerkte jetzt, dass der Pole gar nicht mitschrieb, wie er gedacht hatte, sondern dass er die Nazigrößen zeichnete. Gerade war er dabei, Adolf Hitler eine Löwenmähne zu verpassen.

»Der Leopard ist Joseph Goebbels, das Nashorn Heinrich Himmler. Aber wer ist der Büffel?«

»Der Ochse – pardon, ich meine den Büffel –, das ist Ribbentrop«, sagte Wolf. »Er ist bedeutungslos. Warum steht er mit auf dieser Liste?«

»Weil er sich genau wie die anderen hohen Tiere ein eigenes Hauptquartier in der Nähe der Wolfsschanze hat einrichten lassen«, sagte der Offizier. »Er residiert im Schloss Steinort, 15 Kilometer vom Führerhauptquartier entfernt. Am besten wäre es natürlich, Sie würden alle auf einen Streich erledigen. Ribbentrop ist übrigens nicht so bedeutungslos, wie Sie glauben. Sein Außenministerium hat kürzlich auf drei verschiedenen Wegen Friedensfühler ausgestreckt, zum Glück auf eine völlig amateurhafte Weise, die keiner Antwort bedurfte, aber man muss ihn im Auge behalten.«

Leszek zeichnete einen Ochsen mit riesigen Hörnern.

»Dann gibt es noch eine sechste Person, die Sie nicht außer Acht lassen dürfen: Walter Schellenberg. Wir haben kein Foto von diesem Mann, nur eine sehr vage Beschreibung. Schellenberg ist dreiunddreißig Jahre alt, schlank, mittelgroß, hellgraue Augen. Schachspieler. Er ist der jüngste General der SS. Er hat direkte Beziehungen zu Heinrich Himmler, arbeitet im Bereich Spionageabwehr und ist aufgrund seiner hohen Intelligenz und seiner Skrupellosigkeit Ihr wichtigster direkter Gegenspieler. Sein Arbeitsplatz ist im Reichssicherheitshauptamt in Berlin, Prinz-Albrecht-Straße 9. Er ahnt bisher nichts von unserem Vorhaben. Aber seine Aufgabe ist es, Dinge wie unseren geplanten Anschlag auf das Führerhauptquartier rechtzeitig zu entdecken und zu verhindern.«

25. Dezember 1943

Weihnachten schien die Sonne. Der Lunch unterschied sich in nichts von den übrigen Mittagsmahlzeiten. Jetzt saß Wolf in einer windgeschützten Ecke hinter ihrer Unterkunft und betrachtete das Foto von Inge. Es war nur ein ganz gewöhnliches Passbild, inzwischen ziemlich abgegriffen, und Inge sah ernster aus als im wirklichen Leben. Ernster und älter. Sie trug ihre BDM-Uniform, die weiße Bluse und das schwarze Halstuch mit dem Lederknoten.

»Darf ich?« David Norton setzte sich neben Wolf. Einer der netteren Ausbilder. »Ein hübsches Mädchen«, sagte er.

»Ja. Sie heißt Inge.« Inge Nikoleit.

Auf einem Dorffest hatten sie sich kennengelernt, auf Wolfs letztem Heimaturlaub. Einen halben Tag und eine Nacht hatten sie zusammen verbracht. Am Morgen danach hatte Wolf ihr so gut es ging das Stroh aus den Haaren gesucht. Sie hatte ganz stillgesessen und es sich gefallen lassen. Am Ende hatte Wolf ihr ein Foto gegeben, das ihn als Marineoffizier zeigte. Ob sie überhaupt noch an ihn dachte? Vielleicht nicht. Er hätte ihr schreiben sollen, aber die Post wäre zensiert worden, und wenn sie überhaupt angekommen wäre, dann bei Inges Eltern, und die wussten nichts von seiner Existenz.

»Das ist ein gefährlicher Auftrag, auf den du dich da eingelassen hast«, sagte Norton. »Zu gefährlich.«

»Was meinst du damit?«

»Hast du mal etwas von Schiller gehört?«

»Schiller? Ja, klar, und von Goethe auch.«

»Ich meine nicht den Dichter. Ich meine Siegmund Schiller, den Agenten. Den haben wir auch hier ausgebildet, genau wie dich. Er sollte für einen Spionageauftrag mit dem Fallschirm über Deutschland abspringen. Das hat er auch gemacht. Aber der Fallschirm hat sich nicht geöffnet.«

»Nicht geöffnet?«, fragte Wolf. »Warum?«

»Der Fallschirm ist manipuliert worden.«

»Wie das?« Wolf starrte David Norton an. »Das verstehe ich nicht. Ein toter Agent nützt doch niemandem etwas!«

»Das stimmt nicht, Wolf. Ein toter Agent kann ziemlich nützlich sein. Die Leiche wird gefunden, der Fallschirm, das Funkgerät, und die Deutschen wissen sofort: Hier ist ein Fallschirmagent abgestürzt.«

Wolf sah den Sinn noch immer nicht.

»Die Deutschen werden denken, dass dieser Schiller nur einer von vielen Agenten ist, die wir im Laufe der letzten Monate über Deutschland abgesetzt haben. Darauf deuten auch die Unterlagen hin, die wir ihm mitgegeben haben. Und damit hat er seinen Zweck erfüllt.«

Wolf schwieg. Er hatte nicht erwartet, dass SOE mit fairen Mitteln kämpfte. Aber dass seine Auftraggeber so weit gehen würden, hätte er nicht gedacht. »Warum erzählst du mir das?«, fragte er.

»Schiller habe ich es nicht erzählt. Das war falsch«, sagte Norton.

Wolf konnte sich nicht vorstellen, dass man ihn und seine ganze Gruppe von Agenten sinnlos opfern würde. »Was willst du mir sagen?«

»Steig aus!«, sagte der Mann leise.

Wolf schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht!«, erwiderte er. »Ich habe mein Todesurteil in der Hand gehalten. Es ist nicht widerrufen worden, nur ausgesetzt. Dieser Auftrag ist meine einzige Chance.«

3. Januar 1944

»So, nun zeig uns einmal, wie es aussieht, dieses Führerhauptquartier!« Der englische Offizier hatte eine Karte mitgebracht, die er jetzt auf dem Tisch ausbreitete.

Wolf erschrak. Er war zwar in der Nähe aufgewachsen, aber bezüglich der genauen Lage hatte er nur eine sehr vage Vorstellung. Er riss sich zusammen. Es ging um seine Fähigkeit, das Kommando anzuführen. Die Karte, die der Engländer mitgebracht hatte, war zum Glück lediglich eine Übersichtskarte. »Großblatt 30a Rastenburg – Lötzen – Arys« stand darauf. »Karte des Deutschen Reiches 1:100000«. Die Karte war in Schwarz-Weiß gedruckt, und Wolf sah auf den ersten Blick gar nichts. Anstelle von Höhenlinien enthielt sie sogenannte Schraffen, durch die das Kartenbild beinahe einheitlich grau wirkte. »Hier ist Rastenburg«, sagte er. Zum Glück hatte er den Ort nach kurzem Suchen am linken Blattrand entdeckt.

»Und hier ist Reimsdorf. Hier bin ich geboren.« Er zeigte auf einen kleinen Ort südlich von Rastenburg.

»Ja, aber wo ist das Führerhauptquartier?«, fragte der Engländer.

»Genau hier«, behauptete Wolf. Inzwischen hatte er sich auf der Karte orientiert. Er war sich sicher, dass die Wolfsschanze an einer Bahnlinie lag. Davon gab es östlich von Rastenburg nur zwei. Die eine ging nach Süden, in Richtung Arys. Sie führte durch offenes Gelände. Das Hauptquartier würde aber aus Gründen der Tarnung mit Sicherheit im Wald liegen, also kam nur die andere Bahnlinie in Frage. Wolf deutete auf ein ausgedehntes Forstgebiet, das auf der Karte als »die Görlitz« bezeichnet wurde.

Der Offizier schaute ihn fragend an, und Wolf begriff, dass er es genauer wissen wollte. Ohne zu zögern, zeichnete er mit dem Finger einen Kreis im zentralen Teil des Waldes, rings um den Bahnhof Görlitz-Kurhaus. »Hier ist es«, sagte er.

Der Engländer schien zufrieden.

Zur Sicherheit fügte Wolf noch hinzu: »Das Ganze ist natürlich durch einen hohen Zaun mit Stacheldraht gesichert, und auf der Innenseite gehen schwer bewaffnete Posten ständig auf und ab. Aber wenn man den Plan kennt, den jeweiligen Dienstplan, meine ich, dann kann man sich sehr gut darauf einstellen und ohne besondere Schwierigkeiten in das Gelände eindringen.«

Das war glatt gelogen. Wolf hatte keine Ahnung, wie das Führerhauptquartier gesichert war. Aber wenn sie einmal dort waren, würde er es schon herausfinden.

»Wir sind uns darüber im Klaren, dass Sie eine sehr schwierige Aufgabe vor sich haben«, erklärte der Engländer. »Aber sie müssen nicht auf gut Glück blind mit dem Fallschirm über feindlichem Gebiet abspringen. Wir haben unsere Leute vor Ort, die Sie in Empfang nehmen und Ihnen weiterhelfen werden.«

Davon war bisher noch nicht die Rede gewesen. »Wer soll das sein?«, fragte Wolf.

»Der Mann unseres Vertrauens in Königsberg ist ein gewisser Bernd Nitz. Ein ausgewiesener Nazi-Gegner, der über hervorragende Verbindungen verfügt und alles organisieren kann, was für einen erfolgreichen Ausgang der Mission erforderlich ist.«

Was für ein Zufall, Bernd Nitz, ausgerechnet! Wolf kannte Bernd Nitz gut. Sie hatten zusammen die Oberschule besucht und gemeinsam allerlei dumme Streiche ausgeheckt. Nitz war immer der Anführer gewesen, aber er war auch ein Angeber und hatte am Ende immer seine Überlegenheit zu deutlich zur Schau gestellt. Mit zunehmendem Alter hatte Wolf begriffen, dass die Aktionen, die Bernd vorschlug, oft auch eine Portion Bosheit enthielten, und das passte Wolf nicht. Und als dann noch die Geschichte mit Edda passiert war, hatte Wolf sich von Bernd Nitz abgewandt.

»Sie sind skeptisch?«, fragte der Engländer.

»Nein«, behauptete Wolf. »Aber Königsberg ist von Rastenburg ziemlich weit entfernt. Vor Ort kenne ich mich auf jeden Fall besser aus als dieser Bernd Nitz.«

»Er wird Sie aber in Empfang nehmen.«

»Ich brauche kein Empfangskomitee. Je mehr Leute in unser Vorhaben eingeweiht sind, desto größer ist die Gefahr, dass irgendjemand zufällig etwas ausplaudert«, sagte Wolf bestimmt.

»Ich möchte aber darauf hinweisen, dass eine Landung ohne Empfangskomitee problematisch ist. Das Empfangskomitee besteht aus mindestens vier Mann. Drei davon markieren das Dreieck, in dem die Agenten landen sollen, durch farbige Lichter. Die werden eingeschaltet, wenn das Flugzeug auf Hörweite herangekommen ist. Der vierte Mann ist der Fahrer, der das Fluchtfahrzeug bereithält. Bitte vergessen Sie nicht, die Landung ist der gefährlichste Augenblick der ganzen Unternehmung. Das Empfangskomitee stellt sicher, dass es keine unerwünschten Zuschauer gibt. Und es sorgt außerdem für den Transport zu einer sicheren Unterkunft.«

»Kein Empfangskomitee!«, wiederholte Wolf. Dabei blieb er.

5. Januar 1944

Eine der schrecklichsten Unterrichtsstunden war die Unterweisung in der Wirkungsweise von Luftangriffen.

»Sie können jederzeit in einen Luftangriff geraten«, erklärte der Referent.

Ja, vielleicht. Aber das war unwahrscheinlich. Wolf sah, wie die verschiedenen Sprengbombentypen an die Leinwand projiziert wurden. Die Wirkung der Bomben war beeindruckend und erschütternd zugleich. Der junge Offizier, der sie unterrichtete, zeigte nicht nur Aufnahmen von einem Testgelände, sondern auch Bilder, die Aufklärungsflugzeuge nach dem Angriff auf Köln aufgenommen hatten. Von den meisten Häusern in der Innenstadt standen nur noch die Außenmauern.

»Sprengbomben verursachen erhebliche Schäden. Es ist möglich, mit einer solchen Bombe einen ganzen Wohnblock in Trümmer zu legen«, dozierte der Referent. »Die eigentliche Aufgabe der Sprengbomben ist jedoch eine andere. Durch ihre Explosion sollen Dächer abgedeckt und Fenster zerstört werden, um den Weg für die nachfolgenden Brandbomben zu bereiten. Die Schäden, die Sie hier auf den Fotos aus Köln sehen, sind im Wesentlichen ein Ergebnis der Brandbomben.«

Das war nichts Neues. Bis zu diesem Punkt war Wolf mit der Theorie des Bombenkrieges vertraut.

»Wenn ihr das Pech habt, von einer Sprengbombe getroffen zu werden oder wenn eine solche Bombe in eurer Nähe detoniert, dann seid ihr schlicht und ergreifend tot. Ob das ein Pech ist oder ein Glück, das wage ich persönlich nicht zu beurteilen, denn – wie gesagt – nach den Sprengbomben kommen die Brandbomben. Und wenn man zufällig dasteht, wo die herunterkommen, dann sieht das so aus.«

Wolf riss entsetzt die Augen auf. Das Bild auf der Leinwand zeigte zwei Menschen, die auf einer Straße am Boden lagen. Der eine war tot und vollkommen verkohlt, der andere stand in Flammen. Das nächste Bild machte deutlich, dass der Mann noch lebte. Er wälzte sich ganz offensichtlich am Boden, aber das hatte keine Wirkung auf die Flammen. Auf der dritten Aufnahme lag er wie tot auf dem Rücken und brannte immer noch.

»Das ist die Wirkung von Phosphor. Ich zeige euch das, damit ihr wisst, was zu tun ist, wenn ihr mit Brandbomben in Berührung kommt. Der erste und wichtigste Punkt, den ihr nicht vergessen dürft, ist, dass sich Phosphor an der Luft von selbst entzündet. Wenn ihr also das Feuer einfach nur ausschlagt, dann brennt es im nächsten Moment erneut los. Um Schlimmeres zu verhüten, ist es absolut notwendig, sofort die Kleidung von den betroffenen Körperpartien zu entfernen. Wenn Phosphorteilchen auf die Haut gelangt sind, müssen sie vorsichtig abgebürstet werden. Am besten mit Wasser, in der Badewanne oder in einem Teich. Wenn kein Wasser zur Verfügung steht, hilft energisches Abreiben mit Sand. Bei stärkeren Verbrennungen muss der Verletzte sofort ins Krankenhaus. Während des Transports sollte man auf jeden Fall genügend Wasser dabeihaben, um eventuell neu auftretende Brände löschen zu können.«

Einfacher gesagt als getan, dachte Wolf. Wo sollte nach einem Bombenangriff ein intaktes Krankenhaus sein?

»Ich habe eine Frage«, sagte Igor, »warum zeigen Sie uns das? Ich meine, da, wo wir eingesetzt werden, besteht doch kaum die Gefahr, dass wir mit Brandbomben in Berührung kommen. Unser Einsatzgebiet liegt in Ostpreußen, und bis dahin fliegen unsere Bomber sowieso nicht.«

»Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme«, sagte der Offizier. »Man weiß nie, was im Laufe eines Einsatzes alles passieren kann.«

Igor schüttelte ungläubig den Kopf.

»Die weitere Behandlung sieht dann so aus, dass verbrannte Hautfetzen abgetragen werden. Dasselbe gilt auch für sogenannte Nekrosen. Das sind abgestorbene Gewebepartien, so ähnlich wie Frostbeulen. Die bilden sich nicht nur bei extremer Kälte, sondern auch bei extremer Hitze. Sie erschweren die Wundheilung. Unter der toten Oberfläche kann es zu Bakterienwachstum kommen und im schlimmsten Fall zu einer Blutvergiftung.«

»Das sind ja üble Aussichten«, sagte Leszek.

Es war kurz nach Mitternacht. Die Tür zu ihrer Baracke flog auf. Wolf schreckte aus dem Schlaf hoch. Jemand machte Licht. Es war Sergeant Milford Neil, einer ihrer Ausbilder. Er zerrte Leszek hinter sich her.

»Das ist das Ende Ihrer Karriere als SOE-Agent«, fuhr der Sergeant Leszek an.

Wolf sprang aus dem Bett. »Was soll das?«

»Sehen Sie das nicht? Der Mann ist sturzbetrunken. Hat sich vom Gelände geschlichen und sich im nächstbesten Pub volllaufen lassen. Der Wirt hat uns angerufen …«

Leszek sagte gar nichts. Er ließ sich auf sein Bett fallen und starrte mit ausdruckslosem Gesicht an die Decke.