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Der 2. Teil der großen »Amerika«-Saga von Jörg Kastner: Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der junge Zimmermannssohn Jacob Adler wird wegen vermeintlichen Mordes gesucht. Seine einzige Hoffnung, den Verfolgern zu entkommen, ist die Flucht nach Amerika. Doch anstatt in Hamburg ein Ticket für die Überfahrt zu ergattern, wird er von einem verschlagenen Winkelagenten übers Ohr gehauen. Kurzerhand schleicht sich Jacob als blinder Passagier an Bord des Auswandererschiffs ALBANY. Dort findet er in dem Auswanderer Martin Bauer einen treuen Freund und Weggefährten. Er selbst wird zum Beschützer der jungen Irene Sommer, die ein Kind erwartet und in Amerika den Vater ihres ungeborenen Kindes finden möchte. Das zusammengewürfelte Trio muss schnell lernen, sich aufeinander zu verlassen, denn an Bord der ALBANY herrschen grausame Zustände: Die Brutalität der Schiffsbesatzung, mangelhafte Nahrungsvorräte und Krankheiten lassen die Überfahrt zur Hölle werden. Und gerade, als Irenes Wehen einsetzen, gerät die ALBANY in einen schweren Sturm … Jörg Kastners große »Amerika«-Saga begleitet die beiden Auswanderer Jacob Adler und Irene Sommer in die Neue Welt. Mit ihnen suchen zahllose Menschen – Verarmte, Verbitterte, Verfemte – eine neue Heimat jenseits des Atlantiks. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten warten auf die Auswanderer viele unbekannte Gefahren: Naturkatastrophen, wilde Tiere, Banditen und Indianer. Zudem tobt in Amerika ein erbarmungslos geführter Bürgerkrieg. Doch trotz aller Bedrohungen durchqueren Jacob und Irene den riesigen Kontinent und begegnen dabei so manch berühmter Persönlichkeit. Jede Mühsal und jedes Abenteuer nehmen die beiden auf sich für ihre neue Heimat – Amerika.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2014
Jörg Kastner
Folge 2 der großen SagaAmerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Roman
Als der junge Zimmermann Jacob Adler nach dreijähriger Wanderschaft in seinen Heimatort Elbstedt zurückkehrt, ist dort nichts mehr wie vorher. Seine Mutter ist tot, der Vater und die Geschwister sind verschwunden. Angeblich nach Amerika ausgewandert, wo ein Onkel Jacobs in Texas eine Plantage betreibt. Jacobs Verlobte ist jetzt die Frau von Bertram Arning, Sohn des reichen »Bierkönigs« Conrad Arning. Der Bierbrauer-Clan scheint hinter allem zu stecken. Ein Duell, zu dem Jacob von Bertram Arning herausgefordert wird, stellt dieser als Mordversuch dar. Jacob muss fliehen und schlägt sich nach Hamburg durch, um eine Passage nach Amerika zu ergattern. Hier gewinnt er in dem Bauernsohn Martin Bauer einen treuen Freund. Aber er fällt auch einem betrügerischen Winkelagenten in die Hände und muss sich schließlich als blinder Passagier an Bord des Auswandererschiffes ALBANY schleichen.
Das weiße Tuch der großen Segel reflektierte das Mondlicht und zeigte die Position der schlanken Bark an, die auf südlichem Kurs durch die Wasserwüste der Nordsee glitt. Fünf Tage und Nächte dauerte die Reise bislang, und noch verhielt sich das Meer verhältnismäßig ruhig, als halte es den Atem an für Größeres. So hatte die ALBANY, um rasch voranzukommen, alle Segel gesetzt, die jetzt an den drei hohen Masten im Wind knatterten. Ging die Fahrt auch gut voran, so stand die weite Reise von Hamburg nach New York doch erst an ihrem Beginn. Einem Mann kam sie besonders lang vor: dem blinden Passagier, der in einer beengten Höhle unter einem Ruderboot zwischen Fock- und Großmast lag und den Geräuschen der Nacht lauschte.
Jacob Adler, der seine vermutlich nach Amerika ausgewanderte Familie in dem großen, fremden Land jenseits des Atlantiks suchen wollte, wusste nicht mehr, wie er sich drehen und wenden sollte. Eingesperrt in Enge und auch bei Tag herrschender Dunkelheit, war die Schiffsreise für ihn zur Qual geworden. Aber er wagte es nicht, sein Versteck zu verlassen, um sich die Beine zu vertreten, auch nicht nachts. Zu nah war die Bark noch den heimatlichen Gefilden.
Der aufgrund einer falschen Anschuldigung wegen Mordversuches steckbrieflich gesuchte Zimmermann befürchtete, der Kapitän könne einen niederländischen oder britischen Hafen anlaufen und ihn den Behörden übergeben, um sich das ausgesetzte Kopfgeld in der beachtlichen Höhe von einhundert Talern zu verdienen.
Einzig und allein der Umstand, dass Jacob nichts von der üblen Seekrankheit verspürte, die trotz der ruhigen See einigen Passagieren schwer zu schaffen machte, erleichterte ihm sein Los ein wenig.
Dabei hatte er die Passage bezahlt. Doch der verräterische Schifffahrtsagent August Bult hatte ihn an die Polizei verraten, sodass Jacob nur mithilfe seines neuen Freundes Martin Bauer, den er in Hamburg kennengelernt hatte, an Bord der ALBANY gelangt war.
Das amerikanische Schiff sollte ein paar Hundert deutsche Auswanderer nach New York bringen. Der stämmige Bauernsohn Martin Bauer war einer der vielen, die auf engstem Raum im Zwischendeck zusammengepfercht waren. Nur wenige Passagiere konnten sich den Luxus der Überfahrt in einer Kabine leisten, die ihnen zwar nicht allein gehörte, ihnen aber wenigstens eine eigene Koje bot.
Jacob hatte von Martin, der ihm jede Nacht zu essen und zu trinken brachte, gehört, die ALBANY sei derart überladen, dass sich im Zwischendeck nicht – wie üblich – vier Passagiere eine Schlafstelle teilen mussten, sondern fünf bis sechs. Wenn man bedachte, dass eine solche aus Brettern bestehende Lagerstatt keine sieben Fuß im Quadrat maß, war das zum Schlafen weit weniger Raum als Jacob zur Verfügung stand.
Aber die regulären Passagiere hatten wenigstens tagsüber ihren Auslauf auf Deck, während Jacob sich besonders ruhig verhalten musste und in der ständigen Gefahr schwebte, von einem der herumtollenden Kinder entdeckt zu werden.
Trotz dieser Gefahr hatte Jacob es aufgegeben, seinen Tagesablauf, wollte man von so etwas überhaupt sprechen, nach den Zeiten von Helligkeit und Dunkelheit einzuteilen. Da es bei ihm stets dunkel war, schlief er auch schon mal tagsüber und blieb dafür nachts wach.
In diesen Nächten, so wie jetzt, hörte er gern dem Meer zu, das gegen die ständig knarrenden Planken spülte und eine eigene Melodie zu singen schien. Diese Melodie war ein Lied, das von fernen Küsten, unbekannten Länden und aufregenden Abenteuern erzählte. Jacob hörte das Lied gern und malte sich dabei die tollsten Dinge über das geheimnisvolle Land Amerika aus.
Ob es dort wirklich zottige Bären gab, doppelt so hoch wie ein ausgewachsener Mann? Wilde Indianer, die ihren Feinden die Haarpracht bei lebendigem Leib abschnitten und als Siegeszeichen an ihre Gürtel hängten? Und Flüsse, so breit, dass man mit bloßem Auge das andere Ufer nicht erkennen konnte?
Jacob hatte viele Geschichten über Amerika gehört, wenn er und die anderen Handwerksburschen nachts beisammensaßen und sich mit Erzählungen die Zeit vertrieben. Er hatte nicht geahnt, so kurz nach Beendigung seiner Wanderschaft selbst nach diesem sagenhaften Land der Freiheit und Gleichheit zu fahren.
Aber er hatte auch nicht damit gerechnet, sein Elternhaus abgerissen und auf dem Grundstück ein neues Lagerhaus der Brauerei Arning vorzufinden. Louisa Vogel, die er hatte heiraten wollen, war die Frau von Bertram Arning, dem Sohn des alten Bierkönigs, wie der Brauereibesitzer Conrad Arning genannt wurde. Jacobs Mutter lag auf dem Elbstedter Friedhof. Sein Vater und seine drei Geschwister waren verschwunden, angeblich auf der Elbe nach Hamburg gefahren, um von dort aus nach Amerika auszuwandern. Ein fast verbrannter Brief seines Vaters deutete darauf hin. Und der Umstand, dass Jacobs Onkel Nathan Berger, ein Bruder seiner Mutter, eine große Pflanzung in Texas besaß.
Darum fuhr Jacob, als von Bertram Arning verleumdeter Flüchtling, über das große Meer und lauschte dem Lied der Wellen, das plötzlich durch menschliche Stimmen gestört wurde …
*
Anfangs drangen die Stimmen nur verhalten und bruchstückhaft an Jacobs Ohr, sodass er die Worte nicht verstehen konnte. Es waren die Stimmen mehrerer Männer, die er auch noch nicht verstand, als sie lauter sprachen. Aber er erkannte, dass es Englisch war, wie es vom größten Teil der Schiffsbesatzung gesprochen wurde. Die ALBANY war ein amerikanischer Segler mit dem Heimathafen New York, und bis auf einige Ausnahmen bestand die Mannschaft aus Amerikanern.
Dann jedoch mischten sich deutsche Worte in die englischen. Die verängstigte Stimme einer jungen Frau.
»Nein, bitte, lassen Sie mich. Nein!«
Die eben noch laut anschwellende Stimme brach ab, wurde von hastigen Schritten abgelöst, die auf Jacobs Versteck zukamen.
Wieder sprach ein Mann, aber diesmal auf Deutsch, wenn auch mit einem starken Akzent. »Wohin denn, Fräulein? Die ALBANY ist nicht sehr groß? Sie wollen doch nicht etwa ins Wasser hüpfen? Bleiben Sie hier, bei uns sind Sie gut aufgehoben!«
»Was … was wollen Sie von mir?«, fragte die Frau, jetzt recht nah bei Jacob. Ihre Stimme zitterte so sehr vor Angst, dass sie sich fast überschlug.
»Wir wollen nur lieb zu Ihnen sein, Fräulein«, sagte der Mann mit dem starken Akzent und begleitete seine Worte mit einem schmutzigen Lachen. »Sie haben es doch gern, wenn Männer lieb zu Ihnen sind, nicht wahr?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Dein kleines Geheimnis verrät, wie sehr du Männer magst. Meine Freunde und ich mögen kleine Fräuleins sehr gern. Und wenn du lieb zu uns bist, erzählen wir auch nichts von deinem Geheimnis dem Kapitän.«
Jacob hörte Schritte, den spitzen Schrei einer Frau und lautes Poltern, dann ein paar erstickte Rufe der Männer auf Englisch. Er hielt es nicht länger in seinem Versteck aus, hob das Ruderboot ein wenig an und streckte seinen Kopf nach draußen.
Mond, Sterne und die wenigen Deckslaternen tauchten die Szenerie in ein diffuses Licht, das aber ausreichte, um Einzelheiten zu erkennen. Eine Frau lag nahe der Steuerbordreling zwischen Jacobs Versteck und dem Großmast auf Deck, von drei Männern bedrängt. Die Seeleute hielten die Frau fest und hinderten sie am Sprechen. Einer griff in ihr Kleid und riss es mit einem heftigen Ruck in Fetzen. Für eine Sekunde konnte die verschreckte Frau ihr Gesicht freimachen und wollte laut schreien. Aber schon lag wieder eine große Hand auf ihren Lippen, sodass sie nur ein ersticktes Röcheln zustande brachte.
Einer der Seeleute sagte etwas in seiner Muttersprache, und alle lachten. Wieder wurde der Wehrlosen ein Teil des Kleides abgerissen.
Das war der Augenblick, in dem Jacob das schwere Ruderboot einfach nach hinten warf, vom Boden hochschnellte und mit nach vorn gesenktem Kopf, wie ein wütender Stier, auf die kleine Gruppe losstürmte.
Die drei Seeleute waren so überrascht, dass sie erst an keine Gegenwehr dachten. Ihre Köpfe ruckten hoch, und sie starrten den hochgewachsenen, breitschultrigen Mann, der aus dem Nichts zu kommen schien, ungläubig an wie einen leibhaftigen Klabautermann.
Jacob riss zwei von ihnen im ersten Ansturm um. Einer der beiden, ein stoppelbärtiger, untersetzter Kerl, verkrallte sich in dem jungen Zimmermann, und sie rollten über das Deck, bis sie gegen den Großmast prallten.
Sein Gegner war auf ihm zu liegen gekommen und wollte ihm die zur Faust geballte Rechte mitten ins Gesicht jagen. Aber Jacob nahm den Kopf zur Seite, und die Faust krachte gegen den Mast. Der Untersetzte verschluckte seinen darob ausgestoßenen Schmerzensschrei, als ihn Jacobs Faust unter das Kinn traf und in die Pardunen des Großmastes schleuderte.
Gerade noch rechtzeitig kam Jacob wieder auf die Beine, denn inzwischen gingen ihn die beiden anderen Seeleute von zwei Seiten an. Einer von ihnen, ein pockennarbiger Kerl mit einer großen, feuerroten Narbe quer über der linken Wange, hielt ein geöffnetes Klappmesser in der Rechten. Der andere, ein baumlanger, knochiger Mann, hatte seine bloßen Hände mit gespreizten Fingern klauenartig ausgestreckt, als warte er nur auf eine Gelegenheit, Jacob zu erwürgen.
Der Knochige sprang auf einmal vor, und seine Hände streiften Jacobs Gesicht. Aber der junge Deutsche tauchte unter seinem Klammergriff weg, schnappte sich ein Bein des Langen und brachte ihn mit einem heftigen Zug zu Fall.
Das geschah schnell, aber nicht schnell genug. Aus den Augenwinkeln bemerkte Jacob das Aufblitzen des Messers dicht an seinem Gesicht. Gleichzeitig hörte er den warnenden Schrei der auf Deck liegenden Frau.
Blitzartig wirbelte er herum, sah das Narbengesicht vor sich und das große Messer. Diese Bewegung rettete ihn, weil die Klinge jetzt nicht sein Gesicht traf, sondern nur der Messerknauf gegen seine Schläfe schlug. Für Sekunden war ihm, als habe der Schöpfer Mond und Sterne schlagartig ausgelöscht und die Deckslaternen noch dazu.
Als die Dunkelheit verschwand, lag er rücklings auf dem Deck, und der Mann mit dem roten Mal beugte sich über ihn. Sein von unzähligen Pockennarben gesprenkeltes Gesicht war ausdruckslos, mit Ausnahme seiner dunklen, von dichten schwarzen Brauen beschatteten Augen. In ihnen schien die Vorfreude darauf zu glimmen, Jacob im nächsten Moment den Garaus zu machen.
Jacob wollte seine Arme hochreißen, um den anderen abzuwehren, aber sein Gegner kniete sich auf den linken Arm. Der rechte wurde brutal aufs Deck genagelt, als der Knochige auf den Ellbogen trat und auf den am Boden Liegenden herabgrinste.
»Fahr zur Hölle, du deutsches Schwein!«, zischte der Mann mit dem Messer in seinem von einem heftigen amerikanischen Akzent geprägten Deutsch und stieß die Klinge auf Jacobs Gesicht herab.
Jacob sah die stählerne Spitze schon seine Haut aufreißen, als ein schwerer Schuh gegen die Waffenhand krachte. Das Messer wurde durch die Luft geschleudert, bis es mit der Klinge ins Deck fuhr und dort federnd stecken blieb.
»Einen Unbewaffneten abstechen?«, fragte auf Deutsch der alte Seebär, dessen Annäherung niemand bemerkt hatte. »Ist der Messerheld in dir mal wieder zum Leben erwacht, Bob?«
Jacob kannte ihn. Er war ein deutscher Seemann und hieß Piet Hansen. Jacob und Martin hatten sich mit ihm vor der Abfahrt der ALBANY im Hamburger Hafen unterhalten. Martin hatte seinem Freund erzählt, dass Hansen mitbekommen hatte, wie der Zimmermann sich unter dem Ruderboot versteckte. Aber irgendwie schien er die beiden Freunde zu mögen und hielt deshalb dicht. Allerdings spendierte Martin ihm auch dafür jeden Tag eine Extraration Rum.
Der narbige Messerheld musste jener Bob Maxwell sein, vom dem Hansen ihnen in Hamburg erzählt hatte. Ein ziemlich übler Geselle, der gleichwohl der Erste Steuermann der ALBANY war und somit gleich nach dem Kapitän kam. Hansen dagegen, das wusste Jacob von Martin, segelte als Zweiter Steuermann auf der Bark.
»Was mischst du dich ein, Piet?« entgegnete Maxwell mit hassverzerrtem Gesicht. »Die Sache hier geht dich nichts an!«
»Es soll mich nichts angehen, wenn du einen Passagier in Stücke schneidest?«
»Einen blinden Passager!« Der Messerstecher zeigte auf das umgestürzte Ruderboot. »Er hatte sich unter dem Boot versteckt.«
»Das ist noch lange kein Grund, ihn umzubringen.« Der Seebär mit dem dunklen, von vielen grauen Fäden durchzogenen Bart, drehte sich um und zeigte auf die junge, halb nackte Frau, die jetzt aufgestanden war und zitternd vor dem Eingang zum Zwischendeck stand. »Und was ist mit ihr? Kannst du das auch erklären, Bob?«
»Das kann ich!«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Die Deutsche ist schwanger, und sie hat keinen Mann!«
Für ein paar Sekunden klappte Hansens Kinnlade herunter, und er sah die Frau mit einer Spur von Mitleid an.
»Schwanger«, wiederholte er nachdenklich und ließ dann seinen Blick über alle Beteiligten der nächtlichen Auseinandersetzung schweifen. »Ich glaube, wir sollten jetzt besser den Käpten benachrichtigen.«
*
Weitere Seeleute erschienen, von Piet Hansen alarmiert, auf Deck. Sie fesselten Jacobs Arme mit einem dicken Seil an den Oberkörper und brachten ihn tief unter Deck in den Laderaum.
Auf dem Weg dorthin sah er zum ersten Mal das Zwischendeck, wo die Auswanderer wie Vieh zusammengepfercht waren. Es roch hier auch wie in einem Viehstall. Ein paar Augen blickten die kleine Gruppe neugierig an, aber die meisten der Schlafenden und Schlafsuchenden kümmerten sich nicht um die Unruhe. So etwas waren sie gewöhnt, wo doch Hunderte von Menschen auf engstem Raum zusammenhockten.
Jacob war fast erleichtert, als sie das Zwischendeck hinter sich ließen und über hohe Stufen hinabstiegen ins Dunkel des riesigen Frachtraums, der jetzt von der Laterne eines Seemanns erhellt wurde. Sie beleuchtete Kisten und Fässer verschiedener Größen sowie die unterschiedlichsten Gepäckstücke, in denen die Habseligkeiten der Auswanderer verstaut waren.
Im Zwischendeck war nicht genug Platz, um dort alles unterzubringen, weshalb das meiste Gepäck der Passagiere hier gelagert wurde. Wer etwas von den Sachen aus dem Frachtraum benötigte, musste Geduld zeigen, wie Jacob später erfuhr. Der Frachtraum wurde nur an bestimmten Tagen für die Passagiere geöffnet und auch dann immer nur für einen bestimmten Teil der Auswanderer, damit das Gedränge nicht zu groß wurde.
Einer seiner Bewacher versetzte Jacob einen groben Stoß, der ihn zu Boden warf, wo er hart mit dem Kopf gegen ein großes Fass stieß. Der Seemann sagte etwas auf Englisch, und seine Begleiter brachen in Gelächter aus.
Die Männer stiegen die Treppe wieder hinauf ins Zwischendeck und verschlossen die Luke, die den Zugang zum Frachtraum von den Auswanderern trennte. Völlige Finsternis umgab Jacob, als er das Knarren der schweren Riegel über sich hörte und dann das Quietschen des großen Schlüssels.
Die Schritte der das Zwischendeck verlassenden Seeleute entfernten sich. Bald hörte der Gefangene nur noch die Geräusche des Schiffes. Das Plätschern des Wassers klang hier unten viel lauter als oben an Deck, befand sich der Frachtraum doch zu einem guten Teil unterhalb der Wasserlinie. Auch das Knarren der Schiffsplanken hörte sich hier lauter an und vermischte sich mit dem leisen, beständigen Stöhnen der Fracht, die durch die Schiffsbewegungen um ein paar Zoll hin und her geschoben wurde.
Ab und zu hörte er Geräusche von oben aus dem Zwischendeck. Wütende Flüche von Leuten, die im Schlaf gestört worden waren. Schritte, wenn es einer der Passagiere in dem stickigen Quartier nicht mehr aushielt und an Deck ging, um frische Luft zu schnappen. War auch die junge Frau, die von Maxwell und seinen Begleitern überfallen worden war, nach oben gegangen, um frischen Atem zu schöpfen?
Als ihn die Seeleute nach unten schafften, war Jacob an ihr vorbeigeführt worden. Er hatte in ihre grünblauen Augen gesehen, die Dankbarkeit und Erleichterung ausdrückten, aber auch Angst.
Angst um Jacob?
Oder hatte die Frau Angst um sich selbst?
Was hatte dieser narbengesichtige Maxwell noch gesagt? Die Frau war schwanger. Jacob hatte davon nichts bemerkt, als er an ihr vorbeiging. Aber es war nicht besonders hell dort oben, und er hatte sie nur für wenige Sekunden angesehen. Er hatte nicht auf ihren Leib geschaut, sondern in ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht, das von golden schimmernden Locken umrahmt wurde.
Weshalb war es so bedeutsam, dass sie schwanger war und keinen Mann hatte? So wichtig, dass Piet Hansen sich erst nach dieser Mitteilung entschloss, den Kapitän zu unterrichten.
Jacob grübelte noch darüber nach, als etwas heftig gegen sein rechtes Bein stieß. Er hörte ein lautes Quieken, dann erfolgte ein neuer Stoß gegen sein Bein, und etwas kroch an Jacob entlang.
Eine Ratte!
Es konnte nur eine jener unerwünschten Schiffspassagiere sein, die kaum eine Fahrt ausließen und nicht selten zur Plage wurden. Jacob, der noch immer am Boden lag, wälzte sich herum, um den ungebetenen Besucher zu vertreiben. Unter lautem Gequieke huschte etwas in der Dunkelheit davon.
Aber es dauerte nicht lange, und das große Nagetier war wieder da, diesmal mit Verstärkung. Es musste etwa ein halbes Dutzend Ratten sein, das plötzlich über den gefesselten Mann kam.
Erschienen sie in so großer Zahl, weil sie in ihm einen mächtigen Eindringling sahen, einen Feind? Oder eine willkommene Bereicherung ihres Speiseplans?
Jacob schrie auf, als er kleine, scharfe Zähne an seinem Arm spürte. Er wälzte sich noch stärker hin und her als zuvor und konnte die Angreifer dadurch für kurze Zeit auf Distanz bringen. Er nutzte die Verschnaufpause, um sich an einem der großen Fässer hochzuziehen. Als die Ratten zurückkehrten, stand er zum Glück auf seinen Füßen.
Er trampelte wild herum, führte einen verrückten Tanz in der Dunkelheit auf, um ein paar der kleinen Biester zu erwischen und wenigstens so schwer zu verletzen, dass sie ihren Angriffsplan aufgaben. Ein paarmal traf er wohl die Ratten, aber kaum so schwer, dass er ihnen wehtat. Die Dunkelheit erlaubte ihm nur ein blindwütiges Herumtrampeln, keine gezielte Verteidigung.
Aber dann hatte er Glück. Er erwischte eine Ratte mit vollem Tritt und schleuderte sie weit in den Frachtraum hinein. Erst nach ein paar Sekunden klatschte sie irgendwo gegen eine Holzwand oder einen Gepäckstapel. Sie schien sich nicht mehr zu rühren; jedenfalls hörte er nichts.
Das brachte die übrigen Tiere zur Räson. Sie zogen sich von Jacob zurück.
Hatten sie endgültig genug, oder gönnten sie sich nur eine Verschnaufpause?
Oder schmiedeten sie gar einen neuen Angriffsplan?
Jacob wusste nicht, ob ihr Verstand dazu ausreichte. Aber er wusste, dass er sich nach seinem engen Versteck unter dem Ruderboot zurücksehnte, das er in den langen, einsamen Nächten so oft verflucht hatte.
Da hörte er ein lautes Quietschen …
*
Jacob fuhr unwillkürlich zusammen, als er an einen neuen Angriff der Schiffsratten dachte. Aber dann erkannte er, dass jenes Geräusch von oben kam, wo sich der Durchgang zum Zwischendeck befand. Jemand hatte offenbar das Schloss geöffnet, und der Gefangene hatte das Quietschen des Schlüssels gehört. Ja, es stimmte. Jetzt wurden die Riegel zurückgezogen, und dann klappte jemand die schwere Luke auf.
Obwohl das einfallende Licht nicht besonders stark war, blendete es den an die Dunkelheit gewöhnten Mann, und er kniff die Augen zusammen. Er musste länger hier unten gewesen sein, als er gedacht hatte, dass seine Augen auf die Helligkeit so ablehnend reagierten.