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Deutschland: Wege zum Wiederaufstieg
Das Betriebssystem der alten Bundesrepublik funktioniert nicht mehr. Die Folge: Eine in ihrer Substanz großartige Wirtschaftsnation steigt ab. Wir erleben eine Kernschmelze im Innersten unseres produktiven Kerns.
Multiples Systemversagen: Ein Sozialsystem, das mittlerweile gleichen Lohn für keine Arbeit verspricht, beschleunigt den Energieabfall. Das Bildungssystem, die Staatsverwaltung und zunehmend auch das politische System weisen Fehlfunktionen auf, die es den Politikern, den Firmen und zunehmend jedem von uns unmöglich machen, erfolgreich zu sein.
Gabor Steingart analysiert, basierend auf seinen Bestsellern »Deutschland. Der Abstieg eines Superstars« und »Weltkrieg um Wohlstand«, in seinem neuen Buch die Gründe für den Reformbedarf der Wirtschaftsnation Deutschland. Er schaut zurück auf seine glanzvolle Wirtschaftsgeschichte, legt dar, welche Weichenstellungen verpasst wurden, und er zeigt auf, wer – von Adenauer über Kohl bis Merkel und Merz – die Verantwortung dafür trägt. Denn der deutsche Abstieg ist menschengemacht.
Wider die in den Medien gepflegte Verzagtheit zeigt Steingart einen Weg auf, der das Aufstiegsversprechen erneuert. Sein Buch liefert nichts Geringeres als die Betriebsanleitung für den Wiederaufstieg. Pflichtlektüre für alle, die es gut meinen mit der deutschen Demokratie.
Mit 16-seitigem, farbigem Infografikenteil
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 725
Veröffentlichungsjahr: 2025
Bestsellerautor Gabor Steingart schaut zurück auf die einst so glanzvolle Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Er analysiert, wie und warum die entscheidenden Weichenstellungen verpasst worden sind. Und wer – von Adenauer über Kohl bis Merkel und Scholz – die Verantwortung dafür trägt, dass wir dabei sind, unser wirtschaftliches Fundament zu zerstören und unser Wohlstandsversprechen für alle zu verspielen.
Steingart zeigt aber auch Wege auf, wie der Abstieg des Landes gestoppt und der Wiederaufstieg organisiert werden kann, und liefert so auch eine Betriebsanleitung für den Wiederaufstieg einer großartigen Wirtschaftsnation.
Gabor Steingart, geboren 1962, ist einer der profiliertesten deutschen Sachbuchautoren und mehrfach ausgezeichneter Journalist.
Er war von 1990 bis 2010 Spiegel-Journalist in Leipzig, Bonn, Hamburg, Berlin und Washington, von 2010 bis 2018 zunächst Chefredakteur, später Herausgeber, Geschäftsführer und Mitgesellschafter der Handelsblatt Media Group. 2018 gründete er die Medienmarke ThePioneer für unabhängigen und werbefreien Journalismus.
Zu seinen Bestsellern gehören: »Deutschland – Der Abstieg eines Superstars«, »Weltkrieg um Wohlstand«, »Die Machtfrage«, »Unser Wohlstand und seine Feinde«, »Weltbeben«.
Gabor Steingart
Aufstieg und Fall einer großartigen Wirtschaftsnation
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Umschlaggestaltung: ZeroMedia, München
Umschlagabbildung: André Stauch
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-33293-8V001
www.penguin-verlag.de
Für meine Kinder Laszlo, Malina und Timea. Möge die Erzählung von Aufstieg und Fall unserer großartigen Nation von ihnen und vielen anderen als Aufforderung zum Handeln gelesen werden.
Einleitung
TEIL 1Deutschlands Wirtschaftsgeschichte nach 1945
KAPITEL 1 Deutschland: Der Aufstieg und Fall von Nationen
Gnadenlos kriegerisch: Der Weltkrieg um Wohlstand
Gnadenlos friedlich: Der andere Weltkrieg um Wohlstand
KAPITEL 2 Das langsame Schmelzen des produktiven Kerns der deutschen Volkswirtschaft
Kurze Wachstumsgeschichte der Bundesrepublik
Kernschmelze im Energiezentrum
Die Grenzanbieter: Arbeitslose von morgen
Leben auf der Kruste
Der Staat als Energievermittler
Die Sache mit der Produktivität
Die Fabrik der Arbeitslosen
Warum arbeiten?
Das Abgabenprivileg der Spitzenverdiener
Erste Funktionsstörungen im Arbeitsmarkt: Die Gastarbeiter kommen
Die Überforderung des Sozialstaates beginnt
Wohlstand ohne Wachstum: BIP und Staatsverschuldung
KAPITEL 3 Der deutsche Defekt entsteht: Stalin und das deutsche Wirtschaftswunder
Der Wohlfahrtsstaat neuen Typs
Keine Macht für niemanden: Der Anti-Führerstaat
KAPITEL 4 Adenauers Jahrhundertirrtum
Adenauer und die Gewerkschaften: Die »Sozialpartnerschaft« entsteht
Konrad Adenauer und Ludwig Erhard: Früher Konflikt über die Expansion des Sozialstaates
Börsenspekulant Adenauer
Verrechnet: Die neue Rentenformel
KAPITEL 5 Geisterstunde: Willy wählen! Entspannt in die Krise
Die Globalisierung der Neuzeit beginnt – und wird unterschätzt
Die deutsche Wohlstandsillusion
Die informelle Koalition von DGB/SPD/FDP
Die Schattenseite des Erbes von Willy Brandt
KAPITEL 6 Helmut Schmidt: Annäherungen an die Wirklichkeit
Die Globalsteuerung – ein Wundermittel, das keines ist
»Ellenbogengesellschaft« statt »Talfahrt der Wirtschaft«
KAPITEL 7 Helmut Kohl: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
Kohl I: Der vermeintliche Reformer
Kohl II: Der mutige Glückspilz
Der Westen wird zur Kolonie des Ostens
Kohl III: Der Erschöpfte
KAPITEL 8 Schröder, Merkel, Scholz: Der stille Tod der deutschen Reformpolitik
Schröder: Reformer wider Willen
Von Schröder zu Merkel: Bloß keine Reformen!
Merkel I: Die rhetorische Reformerin
Merkel II: Die Opportunistin der Macht
Machtpolitikerin Merkel: Lieber drei Nickköpfe als ein Störenfried
Merkel und die historische Rolle der CDU
Die Merkel-Bilanz: Die 16 verlorenen Jahre
Merkels Neuland: Deutschland und die Digitalisierung
Die Schuldenkanzlerin
Infrastruktur, Bildung, Energie
Olaf Scholz: Chef einer Rückschrittskoalition
TEIL 2 Deutschland und Europa im Weltkrieg um Wohlstand
KAPITEL 9 Die europäische Idee: Eine westliche Sowjetunion entsteht
KAPITEL 10 Weltmacht USA – mit Hitlers Hilfe
Total global: Ein Land blüht auf
Der amerikanische Sozialstaat wird geboren
Kennedy und Keynes, das Traumpaar der Sechzigerjahre – und alle folgen
Die Dollarillusion
Trump und die Folgen
KAPITEL 11 Chinas unaufhaltsamer Aufstieg
Monster Mao und Deng Xiaoping
Der große Sprung zurück
Das rote China: Eine Schadensbilanz
Deng Xiaoping: Der Beginn der chinesischen Exportpolitik
Chinas erfolgreicher und Russlands desaströser Neustart
Marktwirtschaft à la China: Es geht auch ohne Demokratie
Eigenverantwortlichkeit wirkt Wunder
Chinas Anschluss an die Welt: Der neue Deng heißt Xi
KAPITEL 12 Indien: Die Befreiung von der Last kolonialer Vergangenheit
Der Kolonialkomplex: Indiens Angst und sein Weg in den Sozialismus
Der Weckruf: Wie Gorbatschow die Inder zu Reformern machte
Reformer Rao: Ein Rentner dreht auf
Das verschlafene Erbe Raos
Modis Revolution: Als Indien den Turbo zündete
KAPITEL 13 Asien vibriert
Angreifer und Verteidiger
KAPITEL 14 Russland: Requiem auf die Sowjetunion
Die fatale Illusion vom »Ende der Geschichte«
KAPITEL 15 Der Weltarbeitsmarkt: Wie Macht und Reichtum neu verteilt werden
Die eiserne Faust des Marktes: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
Ein Schiff wird kommen – die Arbeitskraft geht auf Reisen
Die Fabriken verlassen ihre Belegschaften
KAPITEL 16 Der Westen im Sturm der Globalisierung
Trump, Vance und die »Hillbillies«
Europa und Deutschland: Billige Arbeitskraft und die Erschließung neuer Märkte
Nachruf auf den »deutschen Fleiß«: Mehr Leben als Erwerb
Mit Sozialstaat oder ohne? König Kunde im Globalisierungsfieber
Wer ist der Nächste?
KAPITEL 17 Die großen Missverständnisse des Westens
Lieber gut geklaut als schlecht selber gemacht
Der nächste Einstein wird Inder sein
Strukturwandel – oder: Stille Abschiede
»Schwärmt aus!« Die Asiaten kaufen Zeit
Schutzmacht Staat: Chinas gelenkte Marktwirtschaft
Umweltzerstörung als Wachstumsmotor – Klimapolitik als Wohlstandsbremse
Wer gewinnt und wer verliert? Eine Zwischenbilanz
Eine neue Unterschicht entsteht – im Westen
Teil 3 Die neue Regierung – oder: Was jetzt zu tun ist
KAPITEL 18 Kanzler Merz: Warten auf die Wende
Merz und Klingbeil: In der Falle der Populisten
Ohne Reformen sind auch Schulden nur Schulden
Flucht in die Außenpolitik
KAPITEL 19 Wer morgen gut und sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen: Eine Agenda des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufbruchs
1. Wirtschaft zuerst! Vom produktiven Kern der Volkswirtschaft her denken
2. Den gesellschaftlichen Fokus neu justieren: Die große Kampagne für ökonomische Bildung
3. Arbeit fördern, Leistung belohnen
4. Auf neue Technologien setzen und den Strommarkt entfesseln
5. Kreditsucht bekämpfen und die Spendierhosen im Schrank lassen
6. Vom Faktor Arbeit zum Faktor Kapital: Den Sozialstaat neu organisieren
Rentenreform: Kapital statt Arbeit
Staatsfonds – Aktienrente – Generationenkapital
Weniger Schwarzarbeit
Fazit
7. Den Staat als Kanzlerdemokratie neu gründen
Keine Angst vor dem starken Kanzler
8. Mehr Freiheit wagen: Weniger Regeln, mehr Eigenverantwortung
9. Einen Marshallplan für Integration auflegen
10. Die Bildungs- und Forschungsrepublik gründen
11. Eine große Erzählung beginnen lassen: Wir, die deutschen Europäer
12. Entpört euch! Medien und Verantwortung
13. Statt eines Schlusswortes: Zukunft kommt von Zuversicht
Danksagung
Literaturverzeichnis
Namensregister
Bildteil
Die Gegenwart ist trügerisch: Deutschland als die größte Wirtschaftsmacht des europäischen Kontinents und drittgrößte Volkswirtschaft der Welt genießt noch immer einen guten Ruf. Auch deshalb wollen Millionen von Flüchtlingen zu uns. Auch deshalb investieren Menschen aus der ganzen Welt ihr Geld in die deutsche Börse und in die deutschen Familienunternehmen. Der DAX bricht einen Rekord nach dem anderen; unsere Staatsverschuldung ist geringer als die aller großen Wirtschaftsnationen, selbst wenn wir die eine Billion, die der alte Bundestag der neuen Regierung genehmigt hat, einbeziehen.
Doch im Kontrollraum der Volkswirtschaft zeichnet sich ein anderes Bild ab: Unser Betriebssystem zeigt deutliche Fehlfunktionen. Der Sozialstaat wirkt überdehnt. Die Armee ist in ihrer jetzigen Verfassung nur bedingt abwehrbereit. Und das politische System neigt zur Selbstbeschäftigung und kann die notwendige Führungsleistung bei der Reform des Staates so nicht erbringen. Im Kontrollraum blinken die Lampen rot.
Ein Faktum, zwei Sichtweisen: Bei der Inflation unterscheidet man zwischen dem Preisniveau und der Steigerungsrate. Die Notenbanker sind froh, wenn die Steigerungsrate kleiner ausfällt als im Quartal zuvor. Dann sprechen sie von »rückläufiger Inflation«. Die Bürger aber schauen nicht auf die Rate, sondern auf das Niveau. Und das Niveau bleibt hoch, auch wenn die Rate fällt. Blicken wir auf Deutschland, ist es genauso: Das Niveau unseres Wohlstands ist noch immer hoch. Das beruhigt. Aber die Rate – also die Steigerungsrate – fällt. Und sie fällt, derweil sie bei anderen steigt. Das führt zum relativen Abstieg, der uns besorgen muss.
Denn dieser relative Abstieg ist kein akademisches, sondern ein politisch-soziales Problem. Wenn dieser Abstieg sich weiter fortsetzt, wird das Durchschnittsgehalt eines Deutschen, das heute ein Drittel unter dem US-Niveau liegt, nach der jüngsten Prognose der Deutschen Bank Research im Jahr 2035 nur noch die Hälfte des US-Niveaus betragen. Deutschland – und das spürt jeder Einzelne und auch die politische Klasse – verliert an Wohlstand, an Gravitas und damit auch an politischem Gewicht. Länder im fortgesetzten relativen Abstieg werden zum Spielball fremder Mächte. Die Versprechungen des deutschen Sozialstaates, das kommt verschärfend hinzu, werden nicht erfüllbar sein. Dem politischen System stehen harte Zeiten bevor. Das ökonomische Versagen kann zu einem Staatsversagen führen.
Mit der neuen Regierung haben wir die Chance – vielleicht die letzte Chance –, diese Entwicklung aufzuhalten und in ihr Gegenteil zu verkehren. Vorausgesetzt, wir können uns frei machen von einer politischen Kultur, die Geschwindigkeit vor Gründlichkeit setzt und deren Analysekraft durch den Mainstream limitiert wird, der genau diese Gründlichkeit fürchtet und sich daher in Wunschdenken flüchtet. »Die Rente ist sicher«, »Der Sozialstaat ist unantastbar«, das sind nur zwei von vielen Glaubenssätzen, die durch die Realität nicht mehr gedeckt sind.
Jeder Genesungsprozess beginnt mit der Anamnese, die dann zur Diagnose und von dort zur Therapie führt. Ohne das Verstehen der Geschichte, also jener Kräfte und Mechanismen, die unser Land nach unten ziehen, kann es keine Genesung geben. Der schnell dahingesprochene Politikersatz »Wir haben kein Erkenntnisproblem« kommt in Wahrheit einer Erkenntnisverweigerung gleich. Schlimmstenfalls werden Erkenntnisse vorgetäuscht, weshalb die Schlussfolgerungen seit Jahrzehnten dürftig ausfallen und die Politik bis heute keine Trendumkehr erreicht hat. Die Therapieversuche – auch die der Merz-Regierung – entsprechen bisher nicht dem Befund, den ich im Folgenden vorlegen werde. Es gibt keine Abkürzung zur Genesung, als sich mit den historischen Ursachen und volkswirtschaftlichen Wahrheiten in großer Ehrlichkeit und maximaler Schonungslosigkeit zu befassen.
Mein Buch Deutschland – Der Abstieg eines Superstars erschien erstmals vor mehr als zwei Jahrzehnten, im März 2004. Das Buch hat sich rund 250 000-mal verkauft, meine entsprechende Spiegel-Titelgeschichte wurde mit dem »Helmut Schmidt Journalistenpreis« ausgezeichnet, der auf dem Buch basierende ZDF-Dreiteiler – produziert von Stefan Aust und Claus Richter – gewann den Deutschen Fernsehpreis.
Der Hintergrund: Die Recherchen zu diesem Buch fielen in jene Zeit, zu der auch Kanzler Gerhard Schröder, Kanzleramtsminister Bodo Hombach und Professor Bert Rürup, damals Chef der fünf Wirtschaftsweisen, sich aus der Lethargie einer »Politik der ruhigen Hand« befreiten und zur Aktion drängten. Der Economist hatte »Deutschland als kranken Mann Europas« porträtiert. Das tat weh. Das trieb die rot-grüne Regierung – entgegen ihrer ursprünglichen Absicht – in eine Phase der Reformen.
Doch welche Enttäuschung: Schröders Agenda 2010 betraf ausschließlich den Arbeitsmarkt. Sie wurde dafür international gefeiert. Von mir nicht. Denn aus der jahrelangen Beschäftigung mit der deutschen Misere und vielen Gesprächen mit Unternehmern, auch international, wusste ich um die tieferen Ursachen für den enormen Druckverlust im Inneren unserer Volkswirtschaft. Zumal zur selben Zeit im Silicon Valley und in China Weltwirtschaftsgeschichte geschrieben wurde.
Aber: Respektiert habe ich die Kraftanstrengung des SPD-Kanzlers dennoch. Durch meinen Austausch mit dem Trio Schröder/Hombach/Rürup wusste ich um ihre politische Limitierung. Die SPD-Linke saß ihnen im Nacken.
Schon der minimalinvasive Eingriff in die deutsche Abstiegsroutine führte zum Machtverlust Schröders – erst der Entzug des SPD-Vorsitzes, schließlich die Flucht in die Neuwahl, und im November 2005 folgte als Requiem auf den Reformkanzler die Kanzlerwerdung von Angela Merkel.
Die eigentliche Enttäuschung war aber nicht er, sondern sie. Er hatte alles riskiert. Sie nichts. Er war der Wagemutige. Sie blieb 16 Jahre die Zauderliese.
Kaum hatte es der Superstar auf die Bestsellerliste geschafft, meldete sich Angela Merkel bei mir. Wir kannten uns noch aus Bonn. Als 29-jähriger Spiegel-Korrespondent hatte ich mit der damals 36-jährigen Angela Merkel mein erstes Interview geführt. Für mich war sie nicht »das Mädchen« (Helmut Kohl), sondern eine sympathische und kluge Frau mit Potenzial. Eine künftige Kanzlerin sah ich damals noch nicht in ihr, wohl aber eine Spitzenpolitikerin im Werden. Das Ambitionsniveau war deutlich höher als bei den anderen Politikerinnen und Politikern ihres Jahrgangs.
Nun also sagte die Oppositionsführerin und spätere Kanzlerkandidatin in der ihr eigenen, schnörkellosen Art: Wir müssen reden. Sie wolle, wenn sie Kanzlerin sei, Deutschland reformieren und sei daher interessiert, die Ursachen des Abstiegs besser zu verstehen.
Wir trafen uns im Konrad-Adenauer-Haus. Mein Bruder im Geiste, der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, war mit von der Partie. Er hatte sich im Methusalem-Komplott mit den Folgen der älter werdenden Gesellschaft befasst. Wir beide trugen ihr vor. Sie fragte nach und schrieb mit.
Im Mai 2005 wurde sie Kanzlerkandidatin, im November Kanzlerin. Als vier Monate später mein neues Buch, Weltkrieg um Wohlstand, erschien, das den Abstieg Deutschlands in die Geschichte der Globalisierung einbettete, meldete sie sich erneut.
Wir trafen uns – diesmal im Kanzleramt. Sie schrieb nicht mehr mit, sondern ließ mitschreiben. An ihrer Seite erschienen Büroleiterin Beate Baumann und der neue außenpolitische Berater der Kanzlerin, Christoph Heusgen.
Ihre Bitte im Vorfeld: Ich solle eine Handvoll Experten mitbringen zu diesem zweistündigen Termin, damit wir gemeinsam die Abstiegsursachen und Wege aus der Misere diskutieren könnten. Sie wolle das Thema sehr ernsthaft anpacken, versicherte sie mir.
So stellte ich ein kleines Team zusammen und erschien in Begleitung von Springer-CEO Mathias Döpfner, Professor Bert Rürup, Deutsche-Bank-Vorstand Rainer Neske und dem Londoner Investmentbanker und Freund David Marsh. Es war eine hochgradig konzentrierte Diskussion. Keine Öffentlichkeit. Keine Tabus. Stillschweigen wurde verabredet.
Die junge Kanzlerin wollte erkennbar eine Reformära starten, die da anknüpfen sollte, wo Schröder gescheitert war. Sie war eine Wissende. Und was noch wichtiger war: Sie war eine Wollende.
Ich verließ das Kanzleramt in dem Hochgefühl, dass bald Großes geschehen werde. Die geistige Trendwende in der Regierungszentrale war eingeleitet. Diese Regierungschefin schien innerhalb ihrer Partei durchsetzungsstärker als Schmidt in seiner, strukturierter und weniger opportunistisch als der Pfälzer Kohl und mutiger noch als Schröder. So kam es mir an jenem Tag vor.
Dass ihrem Wissen das große Nichts folgte, ist die Tragik dieses Landes und beschreibt zugleich die verpasste Chance ihrer Kanzlerschaft. Merkel betäubte sich 16 Jahre lang mit den Routinen des politischen Alltags, zu denen auch Krisen aller Art zählten. Erst in diesen Krisen – Finanzkrise, Griechenland-Rettung, Krimbesetzung und Flüchtlingskrise – unterbrach sie ihre Apathie. Die innenpolitische Reformbaustelle aber hat diese kluge Frau nie betreten.
In ihrer Autobiografie erklärt Merkel, welche Kräfte sie an der Reform von Rente und anderem gehindert haben. Und sie verschweigt nicht, dass ihr selbst der Mut abhandengekommen ist, nachdem sie schlechte Wahlergebnisse und wenig Rückenwind für eine Reformagenda erfahren hatte. Wenn sie heute einen Rat für junge Politiker geben sollte, dann diesen: »Aber jetzt – nachdem ich aus der aktuellen Politik ausgeschieden bin – möchte ich gerade junge Politiker und Politikerinnen ermutigen, weniger Angst zu haben.«
Als Merkel, die Mutlose, konnte sie dem Land keinen Dienst erweisen. Der Befund nach 16 Jahren Merkel und dreieinhalb Jahren Scholz/Habeck/Lindner könnte trostloser nicht ausfallen:
Deutschland stieg und steigt weiter ab, erst schleppend und mittlerweile mit deutlich erhöhtem Tempo. Wie von Roboterhand gesteuert, verlässt ein einstiger Superstar die Spitzengruppe der Volkswirtschaften. Merkel hat das Land nicht in die Freiheit geführt, wie ihr Buchtitel suggeriert, sondern nur tiefer ins Tal der Tränen.
Millionen Deutsche werden diesen Abstieg mit dem Verlust von Einkommen, Wohlstand und einem Mangel an internationalem Respekt bezahlen. Das »Modell Deutschland« – unsere Art, fleißig zu arbeiten und die Früchte dieser Arbeit gerecht zu verteilen – verschwindet vor aller Augen im Nebel der Geschichte.
Dabei hatten es die Deutschen, vor allem die im Westen, nach allem, was die Vergangenheit für das Land sonst noch im Angebot hatte – den Militärstaat der Preußen und das expansive Kaiserreich, das formlose Gebilde von Weimar und schließlich die Hitlerdiktatur –, mit diesem Wirtschaftswunderland nicht so schlecht getroffen.
Die Bewunderung, die uns weltweit zuteilwurde, ist dem Erstaunen und vielerorts bereits dem Entsetzen gewichen: Das Land wirkt nervös bis gereizt, mit den mangelnden Wachstumserfolgen geht ihm die Selbstgewissheit verloren. Der Versuch, seine wachsende Bedeutungslosigkeit mit erhöhter moralischer Lehrtätigkeit in Europa und Asien zu kompensieren, kann nicht funktionieren. Die »wertegeleitete Außenpolitik«, deren Logo der erhobene Zeigefinger der Wilhelm-Busch-Figur Lehrer Lämpel sein könnte, ist das fluide Überbleibsel von »Made in Germany«.
Angela Merkel steht ökonomisch für eine bleierne Zeit, derweil Olaf Scholz und seine Ampel unter dem Banner der »ökologischen Transformation« die deutsche Volkswirtschaft mit einer Politisierung der Energieversorgung und einer Streubombe von Bürokratie nur weiter in die Knie zwangen. Die Unternehmen können unter diesen Bedingungen nicht wachsen, nur auswandern. Merkel ließ die Probleme treiben. Er hat sie vorsätzlich verschärft. Merz ist ebenfalls ein Wissender und war stets ein Kritiker der beiden. Darin gründet die Zuversicht, die ihm heute entgegengebracht wird.
Doch die Volkswirtschaft lässt sich bisher nicht beeindrucken: Aus dem Kontrollraum sendet sie in immer kürzeren Abständen Notsignale. Die offiziellen Wachstumszahlen – leicht erhöht – und die Kursanstiege des DAX vermitteln kein realistisches Bild der Lage, da der Staat sich Wachstum an den Kapitalmärkten dazukauft und die Unternehmensbilanzen durch im Ausland erwirtschaftete Umsätze und Gewinne aufpoliert werden. Wo Deutschland draufsteht, ist nicht mehr Deutschland drin.
Statt, wie offiziell behauptet, Miniwachstum erleben wir im produktiven Kern unserer Volkswirtschaft – was wir später im Detail erläutern – seit über zwei Jahrzehnten einen Schrumpfungsprozess. Die inländische Innovationskraft nimmt ab, die industrielle Produktion zieht sich zurück, und auf breiter Front brechen die Marktanteile der Unternehmen im globalen Wettbewerb ein.
Größer wird nur die Zahl derer, die sich von der Energie der Volkswirtschaft ernähren; bald jeder zweite Ostbürger lebt maßgeblich von Transfergeldern, und 21 Millionen Rentner sind aus der laufenden Produktion mitzufinanzieren, da die Rentenkasse über keine nennenswerten Rücklagen verfügt.
Gut 2,9 Millionen Arbeitslose und rund 5,5 Millionen Bürgergeldempfänger – das entspricht etwa der gesamten Bevölkerung von Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland – kommen hinzu, von denen viele die Fabrik und das Großraumbüro nie betreten haben. Noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte hat es zwischen Leistungsempfängern und Leistungserbringern ein derart ungünstiges Verhältnis gegeben. Das leistungslose Einkommen ist für eine große Gruppe die neue Normalität. Der »Hartzer«, nunmehr zum »Bürgergeldempfänger« geadelt, ist zur Leitfigur einer neuen Zeit aufgestiegen. Deutschland besitzt heute siebenmal mehr Bürgergeldempfänger als Automobilarbeiter – und da sind die Beschäftigten der Zulieferbetriebe schon mitgezählt.
Wir sind Zeitzeugen, wie der Kern im Innern des Produktionsprozesses mehr und mehr schmilzt, beschleunigt durch die vorsätzliche Passivität der Politik – nach Merkel, der Wissenden, kam mit Habeck noch die Ahnungslosigkeit hinzu.
Unter dem Eindruck eines sich verschärfenden Systemversagens habe ich mich nochmal an die Arbeit gemacht. Der Beitrag, den ein Wirtschaftsjournalist und Buchautor in dieser Stunde des multiplen Systemversagens leisten kann, ist, darüber aufzuklären, was ist und wie es dazu kommen konnte. Wider die Ignoranz. Wider das Nicht-sehen-Wollen. Für die Erneuerung, bevor das Systemversagen zum Versagen der Demokratie führt. Auf dass wir das, was Robin Alexander die »letzte Chance« nennt, auch in seiner ökonomischen Grundierung als solche erkennen und nutzen. Ich lege hiermit also eine aktualisierte und um wichtige Aspekte erweiterte Neuauflage von Abstieg eines Superstars vor, verbunden mit den zentralen Analysen aus Weltkrieg um Wohlstand.
Möge diese ungeschminkte Analyse, die mit sehr konkreten Vorschlägen zur Trendumkehr schließt, einer neuen Generation von Lesern helfen, die Geschichte von Aufstieg und Fall besser zu verstehen, und auch Politikern und Unternehmensführern dienlich sein.
Es geht hier um die kühle Analyse der Vorgänge, ohne die Begleitmusik der Nationalhymne: Wann begann jene Kettenreaktion, deren Zerfallsprozesse wir heute erleben? Was waren die ersten Notsignale des Systemversagens? Wer hat, und warum, falsch reagiert? Denn eine Wirtschaftsnation dieser Größe trudelt nicht von allein und nicht allein aufgrund fremder Einflüsse nach unten, weshalb hier immer wieder nach den politisch Verantwortlichen gefragt werden muss. Nicht nur Angela Merkel, Olaf Scholz und Robert Habeck haben sich schuldig gemacht. Das wäre zu einfach.
Die Probleme wurzeln tief in der deutschen Geschichte. Zu erzählen ist daher unsere Wirtschaftsgeschichte als eine Chronologie des früh sich ankündigenden Niedergangs. Wir schauen auf ehrgeizige Ministerpräsidenten und westliche Alliierte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gemeinsam den entscheidungsschwachen Anti-Führer-Staat schufen.
Dank einer weltweit einmaligen Verfassungskonstruktion, die wir einen »deutschen Defekt« nennen müssen, sind wir das wahrscheinlich langsamste Staatswesen der westlichen Welt, wenig sprunghaft, frei von Exzessen, gründlich in jeder Hinsicht – auch in der, dass wir den Weg nach unten seit Jahrzehnten unbeirrt weitergehen.
Der politischen Führung, aber auch der Gesellschaft, ist es bis heute nicht gelungen, angemessen, und das kann hier nur heißen wirkungsvoll, auf den deutschen Niedergang zu reagieren. Lassen wir uns nicht täuschen von dröhnenden Machtworten und kiloschweren Kabinettsbeschlüssen. In der ökonomischen Realität wurden bisher keine Siege errungen. Der Kommentar von NZZ-Chefredakteur Eric Gujer klingt zynisch und entspricht – bisher jedenfalls – der Wahrheit: »Merkel heißt jetzt Merz.«
Alle messbaren Aggregate drehen heute tief im roten Bereich: Die Staatsverschuldung befindet sich auf Rekordniveau, die Innovations- und Wachstumsschwäche ist chronisch, der Sozialstaat wird weiter überdehnt, und in den kommenden zehn Jahren verlassen pro Jahr bis zu 400 000 Beschäftigte den produktiven Kern des Landes. Die Lücke können die zu uns kommenden Migranten nicht schließen, weil zu wenige den Weg in Fabrik, Büro oder eine Bildungseinrichtung finden und zu viele an den Ausgabeschaltern des Sozialstaates landen. Es gibt in Deutschland weder eine Migrations- noch eine Integrationspolitik, die diesen Namen verdient. Das Systemversagen macht vor der Migrationspolitik nicht Halt.
Das Ergebnis dieser Zerstörungsprozesse ist in den Vororten der Städte, in den Arbeiterquartieren, den öffentlichen Schulen und Verwaltungsgebäuden, an den Verspätungsanzeigen der Bahn und beim Einsturz von Brücken mit bloßem Auge zu erkennen.
Wider die um sich greifende Verzagtheit soll hier der Versuch unternommen werden, einen anderen Entwicklungspfad zu beschreiben. Einen, der mehr Chancen für mehr Menschen verspricht, der den Energiekern des Landes wieder vergrößert und so die anstehenden Veränderungsprozesse überhaupt erst beherrschbar macht.
Denn Deutschland erlebt eine Wirtschaftskrise, die sich mit dem Aufstieg der politischen Ränder zu einer Krise der Demokratie weiterentwickeln könnte. Die ehemalige Mitte erfährt parallel zum Energiekern der Volkswirtschaft ihre Schrumpfung. Die politischen Ränder links wie rechts erstarken. Die politische Mitte verfügt im Bundestag über keine Zweidrittelmehrheit mehr.
Die Komplexität der politischen und ökonomischen Problemlagen addiert sich zu einem Festival nervöser Gleichzeitigkeit. Müsste das heutige Deutschland eine Zukunftsverträglichkeitsprüfung ablegen, würde es durchfallen. Das Systemversagen ist chronisch geworden.
Die Eliten taumeln von einem Kontrollverlust zum nächsten. Und den etablierten politischen Parteien ist – angesichts der Umstände, für die sie verantwortlich zeichnen – das Objekt ihrer Gefühlsbewirtschaftung, der Bürger, ins Freie entwischt.
Da stehen die Bürger nun, in Verwirrung und Empörung vereint, und schauen auf eine Wirklichkeit, die sie frösteln lässt.
Das Nervöse und Gehetzte gehört mittlerweile zum Markenkern der Gegenwartspolitik. Was Friedrich Nietzsche seufzend über sich sagte, könnten die politischen Eliten mühelos auch über sich behaupten: »Ich lebte noch, doch ohne drei Schritt weit vor mich zu sehn.«
Die Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik reagieren auf die Zunahme von Konflikt und Komplexität mit einer gefährlichen Ausweichbewegung. Auf Vorstands- und Kabinettssitzungen sucht man nicht mehr zwingend nach Lösungen, sondern nach dem medientauglichen Narrativ, einer gut klingenden Geschichte. Wir erleben das Vordringen von Verhaltensforschern, Datenanalysten und Neurologen in die Entscheidungszentren der Macht.
Mit ihrer Hilfe soll Wirklichkeit nicht mehr verändert, sondern nur anders beleuchtet werden. Auf wachsende Komplexität wird mit Fiktionalisierung, Banalisierung und Emotionalisierung reagiert.
Deutschland ist unverkennbar in das Zeitalter seiner Überforderung eingetreten; mit Folgewirkungen, die schon deshalb beängstigend sind, weil sie sich der Vorhersehbarkeit entziehen.
Der große Knall ist nicht zwangsläufig, aber er ist möglich geworden. Die Gleichzeitigkeit von technologischen Dynamisierungsschüben, wachsender geopolitischer Spannung und einer Elitenkultur des Weghörens hat Winde aufziehen lassen, die uns den perfekten Sturm bringen könnten.
Und dennoch: Die Phänomene, auf die wir in diesem Buch blicken, sind von Menschen gemacht und können also verändert werden. Wir sind keineswegs die Opfer von Naturgesetzen, die im Grande Finale einer Apokalypse zustreben.
Nur wer die Überforderung versteht, kann ihr begegnen. Alle Erneuerung beginnt als neues Denken.
Die Voraussetzungen sind günstig, denn das Bürgertum ist dabei, sich gedanklich aus der Verankerung des Bisherigen zu befreien:
Die Menschen sind nicht »wirtschaftsfeindlich«, nur erwarten sie von Wirtschaft die Chance auf Teilhabe.
Die Menschen sind auch nicht »europamüde«. Sie sind es nur leid, dass die große Idee einer europäischen Gemeinschaft in Bürokratie und Privilegienwirtschaft erstickt wird. Sie wollen sich nicht länger vorschreiben lassen, was ein guter Europäer sagt, denkt und fühlt.
Die Menschen sind auch nicht »politikverdrossen«. Sie lieben jene Politiker, die das tun, was sie sagen, und das sagen, was sie denken. Was sie hassen, sind Klatschparteitage und der Streit um des Kaisers Bart.
Die Menschen sind also nicht einem Fatalismus verfallen. Das könnte den tonangebenden Eliten so passen. Eine große Mehrheit sehnt sich nicht nach Untergang, sondern nach Selbstbestimmung, Teilhabe und Fairness. Von dem mit besorgter Miene vorgetragenen Einwand, dieses oder jenes sei unrealistisch, ja utopisch, lassen sich viele nicht mehr beeindrucken.
Künstliche Intelligenz (KI), selbstfahrende Autos, das in Echtzeit kommunizierende Internet, der Fall der Berliner Mauer und ein schwarzer US-Präsident galten einst ebenfalls als utopisch. Offenbar aber liebt es die Menschheit, Utopien wahr werden zu lassen.
So enthält denn dieses Buch bei aller Schonungslosigkeit der Analyse in hoher Dosierung Zuversicht. Auf dass sich Angst und Unzufriedenheit in Mut und Hoffnung verwandeln. Wir sind die, auf die wir gewartet haben. Oder um es mit Herfried Münkler zu sagen: »Aus historischer Erfahrung klug zu werden, ist einer der Vorzüge von Demokratien. Es geht darum, Holzwege zu vermeiden, die man einst beging.«
Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil behandele ich Deutschlands Wirtschaftsgeschichte seit 1945, von Konrad Adenauer bis Olaf Scholz. Teil 2 erzählt die Geschichte der Globalisierung mit den Schwerpunkten USA, China, Indien und damit dem Entstehen eines Weltarbeitsmarktes wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Teil 3 wirft einen ungeschönten Blick auf den Beginn der Regierung Merz. Zum Schluss lege ich eine Reformagenda vor, die parteipolitisch unabhängig ist und in Tiefe und Ernsthaftigkeit der Diagnose entspricht. Wer mir beim Gang durch die Wirtschaftsgeschichte und in der volkswirtschaftlichen Diagnose gefolgt ist, wird, so hoffe ich, die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform unseres Landes besser verstehen und eine Haltung entwickeln, die dem Ernst der Lage angemessen ist. Der deutsche Abstieg ist eine Tatsache, aber nicht unser Schicksal.
Berlin, im Herbst 2025
Deutschland war im 20. Jahrhundert führend, wenn es um einen schnellen Abstieg ging. Zweimal sauste das Land in den Abgrund. Millionen konnten froh sein, dass sie wenigstens frieren und hungern durften, wo doch Millionen andere auf den Schlachtfeldern krepierten.
Die Suche nach den Verantwortlichen war denkbar einfach, der Blick musste nur nach innen gerichtet werden: Kaiser Wilhelm II. hatte im Sommer 1914 mitgeholfen, einen der überflüssigsten Kriege der Weltgeschichte anzuzetteln. Ihm folgte, kaum war die Erschöpfung der Nation überwunden, Reichskanzler Adolf Hitler, der mit seiner Mord- und Selbstmordlust das Land ein zweites Mal den Abgrund hinunterjagte. Beide hatten den Aufstieg gewollt und den Absturz bekommen.
Die Zivilbevölkerung war nach 1918 körperlich ausgezehrt und psychisch am Ende. Aus der blühenden, sich entwickelnden Bürgergesellschaft der Kaiserzeit war ein Volk geworden, das millionenfach verkrüppelt und in weiten Teilen geistig wirr dem nächsten Unheil entgegenstolperte. Der zweite Anlauf zur Weltherrschaft, gut 20 Jahre später, endete noch schlimmer: Millionen Deutsche waren, weil der Krieg diesmal auch inmitten der Städte geführt wurde, auf das Niveau von Höhlenbewohnern zurückgeworfen, viele mussten in Lumpen gehüllt ein Dasein in Bombenkratern und Ruinen fristen. Es fehlten Trinkwasser, Strom und Lebensmittel, sodass im ersten Winter nach Kriegsende Hunderttausende verhungerten und erfroren.
Viele Wege führen nach unten, aber im vorigen Jahrhundert war die militärische Niederlage eindeutig der am häufigsten benutzte Pfad. Die Deutschen wussten, wie man ihn ganz zu Ende ging. Andere auch: Nach dem Ersten Weltkrieg war das österreichisch-ungarische Reich, das mit seiner präzise arbeitenden Militärmacht und dem byzantinischen Hofzeremoniell viele Zeitgenossen fasziniert hatte, für immer Geschichte. Auch das zunächst stolze und zuletzt lebensmüde Preußen, die Keimzelle des Deutschen Reiches von 1871 und eine der bedeutendsten europäischen Mächte jener Zeit, hatte seinen Einfluss verloren. Offiziell wurde es erst 1947 von den Siegern des Zweiten Weltkrieges für »aufgelöst« erklärt.
Der unbedingte Aufstiegswille und die, oft genug berechtigte, Angst vor dem Niedergang der Nation sind keine Phänomene der Jetztzeit. Es lohnt sich, zurückzuschauen und dann mit großem Schwung auf die krisenhafte Gegenwart zuzusteuern. Vieles lässt sich aus der Distanz klarer erkennen. Wer wollte was, und warum hat es so oft nicht geklappt? Wie kann man die auf- von den absteigenden Staaten unterscheiden? Warum sind gerade die Deutschen ein so unruhiges Volk, das Höhen und Tiefen in derart extremer Weise durchlebt?
Die gültige Währung für auf- und absteigende Staaten war in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts das Leben von Soldaten und Zivilisten, bevor man nach dem Zweiten Weltkrieg zum friedlichen Wirtschaftswettlauf und damit zur Geldwährung überging. In den ersten fünf Jahrzehnten kalkulierten die Mächtigen eindeutig anders als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die militärische Schlacht, das In-Marsch-Setzen von Panzerdivisionen, Fliegerstaffeln und Kriegsschiffen sollten den Aufstieg besorgen. Wer den Nachbarn übertrumpfen wollte, überfiel ihn. Wer nach Weltherrschaft strebte, zettelte den Kampf gegen alle an. Es war die Zeit, als »Besitzen« von »Besetzen« kam. Putin ist der Wiedergänger dieser düsteren Zeit, die mit ihm bis in die Gegenwart hineinragt.
Zahlreiche Nationen, die Spanier und Portugiesen, Franzosen und Briten, Niederländer und Belgier, aber auch die Russen, standen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts vielen als leuchtendes Beispiel vor Augen: Wer gründlich plünderte und brandschatzte, konnte in kurzer Zeit ein veritables Kolonialreich zusammenraffen. Die Geschichte war bis dahin, zumindest aufseiten der Erfolgreichen, eine Geschichte von Invasionen und geglückter Unterwerfung. Der russische Revolutionär Lenin empfand denn auch in einer Mischung aus Bewunderung und Verachtung die imperialen Gepflogenheiten als die »höchste Stufe des Kapitalismus«. Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass es bei all dem martialischen Aufgebot vor allem um ökonomische Expansion ging.
So war es in aller Regel ja auch: Das Militär schloss die Tür auf, die Regierungen und ihre heimischen Firmen brauchten nur noch hineinzustürmen, die Engländer nach Indien, die Franzosen und andere nach Afrika, die Russen nach Zentralasien, die Deutschen nach Südwestafrika (heute Namibia) und Ost-Afrika (heute Tansania); sie alle kamen, um zu raffen, was zu raffen war: Gold, Silber, Zuckerrohr, Baumwolle, Eisenerz und vor allem die Arbeitskraft der Ortsansässigen. Die waren entweder willig, oder sie wurden wie Freiwild gejagt. »Natürlich werden wir sie alle niedermähen«, protzte der junge Winston Churchill im fernen Indien, als sich ihm Aufständische in den Weg stellten.
Es sollte noch ein wenig dauern, bevor US-Präsident Richard Nixon 1971 mit großer Selbstverständlichkeit feststellen konnte: »Ökonomische Macht ist der Schlüssel zu den anderen Formen der Macht.« Denn die Welt zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war eben die Welt der Militärs, sie besaßen den Schlüssel, um alle anderen Formen der Macht zu erlangen. Zumindest glaubten sie das, und die Mehrzahl des Volkes, Intellektuelle und Sozialdemokraten eingeschlossen, glaubte es auch.
Der Beginn der ersten großen Völkerschlacht des vergangenen Jahrhunderts war noch geprägt von romantischer Schwärmerei. »In der vergifteten, verblödeten Atmosphäre von Anno Domini 1914« (Golo Mann) war eine allgemeine Kriegseuphorie ausgebrochen, die auch jene erfasste, die normalerweise zu den Nachdenklichen im Lande zählten. »Der Krieg ist groß und heilig«, rief der Soziologe Max Weber. Und auch Thomas Mann kannte damals kein Halten mehr, wie er später bereitwillig zugab: »Krieg! Es war eine Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.«
Die Sozialdemokraten im deutschen Reichstag hatten den Kriegskrediten und damit der Eroberungsideologie zugestimmt wie die anderen Fraktionen auch. Die Genossen wollten mithelfen, den Aufstieg der Nation und damit den eigenen zu beflügeln. Die Entscheidung vom 4. August 1914 sollte der Partei den Rückhalt in der Gesellschaft sichern. Für die eigene Klientel, also Industriearbeiter und kleine Angestellte, so hoffte der Vorstand der SPD-Fraktion, ließe sich anschließend eine Kriegsdividende in Form steigender Löhne und sozialer Verbesserungen erzielen. Die internationale Solidarität konnte warten, der Krieg war in den Augen auch der Sozialdemokraten die zeitgemäße Form, den eigenen Wohlstand zu mehren. Die Kumpanei mit der deutschen Schwerindustrie, die offen über neue Rohstoffe und zusätzliche Absatzgebiete spekulierte, schreckte nicht mehr. Wobei wie selbstverständlich alle Gruppen der Gesellschaft, Arbeiter wie Fabrikanten, von einem erfolgreichen Feldzug ausgingen.
Die Möglichkeit einer Niederlage und damit das Risiko des Abstiegs wurden, wenn überhaupt, in den Familien besprochen. Das Deutsche Reich kannte keine Parteien mehr. Die Politik des Risikos, des Hin- und Herschaukelns zwischen Drohgebärde und Kooperationsangebot, die es förmlich darauf anlegte, dass Diplomaten früher oder später durch Generäle ersetzt wurden, fand allgemeine Zustimmung. Dass die deutsch-österreichisch-ungarische Kriegserklärung an die Serben eine russisch-französisch-englische Antwort provozieren würde, war kühl kalkuliert. Deutschland sei bereit, tönte ein freudig erregter Großadmiral Alfred von Tirpitz, Chef des Marineamtes, den »Eventualpräventivkrieg« zu führen. Es werde ein Krieg entbrennen, ereiferte sich der badische Gesandte Graf Berckheim, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht erlebt habe.
Recht sollte er behalten, ein solches Abschlachten hatte es seit den Napoleonischen Kriegen nicht mehr gegeben. Es war eine Leistungsschau der Industriekonzerne: Deutsche 42-cm-Mörser vorneweg die »Dicke Bertha« von Krupp, gegen die alliierten Panzer, von Mark I bis Mark IV, unterstützt von britischer Luftaufklärung, auch eine Innovation der damaligen Zeit. Selbst die sich entwickelnde chemische Industrie führte ihre Produkte ins Feld, vornehmlich Chlor, Lost (Senfgas) und Phosgen kamen zum Einsatz. Ganze Landstriche wurden mit Giftgas eingenebelt, allein die Schlacht am französischen Flüsschen Somme, bei der Franzosen und Briten auf 50 Kilometern Breite schließlich einen Geländegewinn von zwei Kilometern erreichten, kostete einer Million Menschen das Leben. Der von allen Seiten geführte »Abnutzungskrieg« war eine Unsinnigkeit ohnegleichen, wie im Rückblick leicht zu erkennen ist.
Am Ende standen die Eliten aller beteiligten Länder blamiert da, hatten sie doch mit hohem Einsatz um ein großes Nichts gespielt. Die Hoffnungen auf mehr Siedlungsfläche und zusätzlichen Wohlstand, auf Kolonien, verstärkten Einfluss und hinter allem die Sehnsucht nach der Vormachtstellung in Europa und der Welt erfüllten sich nicht. Die Annahme der deutschen Intellektuellen, der Waffengang könnte die verspätete Nation endlich auch politisch, sozial und kulturell zusammenschweißen, erwies sich als irreal. Die nationale Frustration der Vorkriegsjahre konnte auch der Waffengang nicht auflösen.
Anders als der Schriftsteller Ernst Jünger es sich erträumt hatte, wurde der Krieg »das Ereignis, das unserer Zeit das Gesicht gegeben hat«. Es war eben nicht das Gesicht eines modernen Messias, sondern das eines toten Soldaten, und selbst die noch Lebenden waren ausgebrannt, traumatisiert und aller Illusionen beraubt. So sah zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Niedergang aus, wobei der tiefe Fall der deutschen Nation auch deshalb von besonderer Dramatik war, weil auf der Treppe nach unten noch längst nicht die letzte Stufe erreicht war.
Die Soldaten kamen 1918 in ein Land zurück, das ihnen weitgehend fremd war. Das ganze System der Hohenzollern-Monarchie brach vor ihren Augen zusammen. Das Kaiserreich, das seine Untertanen zwar schurigelte, gleichwohl aber den unteren Schichten Zugang zu Schulbildung und bescheidenem Wohlstand verschafft hatte, war im Innersten so erodiert, dass selbst seine Nutznießer den Glauben an die Überlegenheit der Monarchie verloren hatten. Noch bevor die ersten Barrikaden revolutionärer Arbeiter in Berlin errichtet wurden, ahnten die alten Eliten, dass ihr Schicksal besiegelt war. »Sieg oder Niederlage, wir bekommen die reine Demokratie«, stöhnte Großadmiral von Tirpitz, als an den Fronten noch die Kanonen donnerten. Dem alten System fehlten die Lernbereitschaft, die Reformlust, die Anpassung an die neuen ökonomischen und politischen Realitäten, sodass der Krieg als Katalysator funktionierte. Er beschleunigte einen Zerfallsprozess, der schon eingesetzt hatte und mit dem Abdanken des Kaisers keineswegs beendet war.
Aus der Saat dieses Krieges konnte kein Wohlstandsstaat erwachsen. Die Scham der Kriegslüstlinge saß tief, als wenn sie geahnt hätten, dass der eigentliche Absturz erst noch bevorstand: Max Weber empfand seine Euphorie im Nachhinein als »unverantwortliches Literatengeschwätz«, der Schriftsteller Erich Mühsam sprach von »großer Eselei«. Die deutschen Intellektuellen, das war deutlich geworden, besaßen keine rechte Vorstellung von der Zukunft.
Innenpolitisch waren die Kompromisse mit den alten Eliten zu Lasten der jungen Demokratie ausgefallen, was ihre Entfaltung vom ersten Tag an hemmte: Der autoritäre Beamtenapparat lebte fort, der Landadel konnte seine Latifundien und damit auch seine Rolle als Einflüsterer retten. Das Heer blieb ein Staat im Staate. Die Kräfte der Demokratie, die damals hätten Kräfte der Revolution sein müssen, waren zu schwach. Der Wunsch der Obersten Heeresleitung, die Unterschriften unter den Friedensvertrag, der in Wahrheit eine Kapitulationsurkunde war, mögen doch die Politiker leisten, war eine Todespille, die erst mit Verzögerung ihre Wirkung entfalten sollte.
Die Historiker gehen heute streng mit den Politikern von einst ins Gericht, wenn sie ihnen, wie Hans-Ulrich Wehler, »mangelnde Kampfeslust und verkümmerte Risikobereitschaft« hinterherrufen. Auch habe es an mitreißenden, machthungrigen Führungspersönlichkeiten gefehlt, um die »Revolution von oben« durch eine Erhebung von unten abzusichern. Fest steht, dass die politischen Parteien in der Sekunde, in der sie erstmals ernsthaft Verantwortung übernehmen sollten, infiziert waren mit einer Niederlage, die nicht in erster Linie die ihre war. Die junge Demokratie zahlte eine Rechnung, die eigentlich noch auf den Kaiser und seine Generalität ausgestellt war.
Die außenpolitische Bilanz des Krieges war zweifellos schockierend für die Zeitgenossen, und dieser Schock trug den Keim der Revanche in sich: die Rückgabe von Elsass-Lothringen an Frankreich, Gebietsverluste auch gegenüber Belgien, Polen, Dänemark, das bescheidene deutsche Kolonialreich fiel an Engländer und Franzosen, gigantische Reparationszahlungen sollten zusätzlich geleistet werden, die Fremdbestimmung des Saarlandes durch Frankreich quälte die Nation ebenso wie die rigorose Verkleinerung der Armee auf ein 100 000-Mann-Heer. Im Innern grassierten Inflation, Arbeitslosigkeit und ein politisches Wutvirus, das in Adolf Hitler ein williges Wirtstier fand. Es folgte die Scheinblüte der Jahre 1933 bis 1938, die durch Zwangslöhne, Zwangsarbeit und eine maßlose Rüstungsproduktion ermöglicht wurde. Der zum Reichskanzler aufgestiegene Hitler hatte sie dem Land verordnet.
Immerhin verschwanden die sechs Millionen Arbeitslosen der Weimarer Jahre, was dem braunen Diktator von einer Mehrheit der Deutschen hoch angerechnet wurde. Selbst in den Augen der Skeptiker war der seltsam unversöhnliche Mann, der sie mit seinen Hasstiraden und seinem Straßenterror erschreckte, nun in ein wärmeres Licht getaucht. Der Historiker Joachim C. Fest urteilt: »Wenn Hitler Ende 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte, zu nennen.«
Die Geschichte kennt bekanntlich keine Konjunktive, und so ging Hitler als der erfolgloseste Regierungschef aller Zeiten in die Geschichte ein. Selbst die ökonomischen Erfolge der ersten Jahre waren Teil jener umfassenden Niederlage, die folgen sollte. Die enormen Rüstungsausgaben dieser Epoche, die einhergingen mit der Auflösung aller Gold- und Devisenreserven, mussten sich fast zwangsläufig in einem Eroberungskrieg entladen. Die Alternative wäre der friedliche Staatsbankrott gewesen.
Daran aber war nicht zu denken. Der Erste Weltkrieg hatte am Beispiel Frankreich in aller Deutlichkeit gezeigt, dass selbst ein militärischer Sieg ökonomisch eine Niederlage bedeuten konnte. Hitler aber ließ sich nicht davon abhalten, es erneut zu versuchen. Kaum hielt er die Hebel der Macht in Händen, baute er den noch immer schwächlichen Militärapparat zum Instrument für Eroberungen aus. Sage und schreibe 52 Prozent des Staatshaushalts (fast ein Viertel des Bruttosozialprodukts) flossen bereits 1938 in die Militärindustrie, das war mehr, als Frankreich, Großbritannien und die USA zusammen für ihre Rüstung ausgaben. Die Wehrmacht hatte sich Ziele gesetzt, die größenwahnsinnig genannt werden müssen. Die Marine plante mit einer derart großen Zahl von Schiffen, dass allein zu ihrer Betankung der gesamte in Deutschland vorhandene Dieselkraftstoff nötig gewesen wäre. Das Ergebnis des Größenwahns ist bekannt: Hitlers Aufstieg zum Reichskanzler brachte schließlich den Niedergang der gesamten Nation, der schon lange vor dem Einmarsch der Sowjetarmee in Berlin im Frühjahr 1945 besiegelt war.
Dass dieser Einmarsch für viele ein Tag der Befreiung war, ist so richtig wie die Feststellung, dass die Mehrzahl der Deutschen ihn so nicht erlebt hat und angesichts ihrer Verstrickung in die NS-Verbrechen auch so nicht empfinden konnte. Deutschland war für alle sichtbar schon wieder abgestiegen: politisch, ökonomisch, militärisch – und durch die industrielle Vernichtung von rund sechs Millionen europäischer Juden (geplant hatten die Nazis die Ermordung von elf Millionen Juden) und einer Vielzahl anderer Minderheiten sank das Land auch noch moralisch so tief wie kein Land zuvor und keines danach. Seither und bis heute, sagte Joschka Fischer, stehe deutsche Außenpolitik »immer mit einem Bein in der Vergangenheit«. Und nicht nur die Außenpolitik, muss man hinzufügen. »Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen«, hat der Schriftsteller Martin Walser 1979 formuliert, was bis heute Gültigkeit besitzt.
Doch wo waren eigentlich die Sieger? Wer hat von den beiden Völkerschlachten profitiert? Oder hatte sich die Methode des militärisch versuchten Aufstiegs von selbst diskreditiert? Erlebten wir im Niedergang des einen Prinzips bereits den Aufstieg des anderen?
Die Suche nach Gewinnern gestaltet sich schwierig, denn auch für die anderen Kriegsteilnehmer, die freiwilligen wie die unfreiwilligen, war diese Art des Kräftemessens alles andere als lohnend gewesen. Die Aufstiegsmethode, die sich bei der Gründung der Kolonialreiche noch als hochgradig wirksam erwies, hatte aufgehört zu funktionieren. Sobald sich halbwegs gleichgewichtige Gegner gegenüberstanden, ob Einzelstaaten, feste Machtblöcke oder nur lose Kriegerallianzen, konnte sich der Sieg so lange hinauszögern, bis er einer Niederlage gleichkam. Alle europäischen Nationen, die sich bis zum Kriegsausbruch 1914 eines bescheidenen Wohlstandes und steigender politischer Bedeutung in der Welt erfreut hatten, erlebten den Ersten Weltkrieg daher als Rückschlag. Die Industrie war zum Teil zerstört, das Vieh musste notgeschlachtet werden, selbst Wälder und Äcker blieben in den ehemaligen Kampfgebieten verwüstet zurück, die Bahnlinien waren unterbrochen, die eben erst errichteten Telegrafenmasten lagen am Boden. Eine gigantische Wertvernichtung war zu besichtigen, deren Summe dem Sechseinhalbfachen der globalen Staatsschulden vor Kriegsbeginn entsprach. Die Welt war um acht Jahre zurückgeworfen, rechnet der britische Historiker Paul Kennedy in seinem Buch Aufstieg und Fall der großen Mächte vor.
Selbst die siegreichen Franzosen, an denen sich Deutschland jahrelang die Zähne ausbiss, konnten ihren militärischen Erfolg nicht genießen, weil es nicht gelang, ihn in einen Sieg der Diplomatie, der Politik, in eine irgendwie geartete Nachkriegsrealität zu übertragen. Das heldenhafte Frankreich von 1914 und das triumphierende Frankreich von 1919 wussten nichts mit dem Erfolg anzufangen, außer den Nachbarn Deutschland mit dem Versailler Friedensvertrag zu demütigen. Was der Krieg nicht vermocht hatte, sollte nun der diktierte Frieden bringen. Selbst der spätere deutsche Außenminister und Verständigungspolitiker Walther Rathenau, der als Delegationsmitglied in Versailles dabei war, zeigte sich schockiert: »Ein wissenschaftlicher Mord, kalt, klar, klug und blutlos.«
Doch die Geschichte des Aufsteigers Frankreich zwischen 1919 und 1939 ist eben, wie der rechtzeitig vor den Nazis nach London emigrierte Publizist Sebastian Haffner es ausdrückte, die Geschichte eines verlorenen Sieges, eines stufenweisen Abstiegs von stolzestem Selbstbewusstsein zur fast schon vollzogenen Selbstaufgabe. Den Siegeslauf der Nazis zu Beginn der Dreißigerjahre verfolgten die Franzosen nahezu ohnmächtig, die Nichterfüllung des »Schandfriedens von Versailles« nahmen sie mehr oder minder mit hängenden Schultern zur Kenntnis. Die eigene Wirtschaft kam nicht auf Touren, was auch der kollektiven Kraftanstrengung zugerechnet werden muss, die der Krieg bedeutet hatte. Mensch und Material waren erschöpft. Hitlers Wehrmacht konnte diese in sich selbst zusammengesackte Grande Nation 1940 in nur sechs Wochen überrennen.
Der Blick nach Großbritannien bietet das gleiche Bild: Den Briten, deren Empire einst ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachte, ist der Erste Weltkrieg nicht gut bekommen, obwohl auch sie auf der Siegerseite standen. Doch nach dem Krieg zählten geschlagene Divisionen und versenkte Schiffe nicht mehr viel. Es war die Wirtschaft, auf die nun alle starrten. Die Bevölkerung tauschte ihre Begeisterung für den Krieg gegen eine Sehnsucht nach Wohlstand und Verlässlichkeit, die nun überall die Stimmung beherrschte. Doch die zivile Wirtschaft hatte unter der Kriegsregierung derart gelitten, dass die neuen Sehnsüchte nicht bedient werden konnten.
Im Gefolge der Schlachten war dem Vereinigten Königreich ausgerechnet die Funktion als Finanzzentrum der Welt verloren gegangen. Alle Versuche der britischen Regierung, die in den Kriegswirren beeinträchtigte Rolle des Finanzplatzes nach dem Ende der Kampfhandlungen schnell wieder herzustellen, misslangen.
Die USA hatten die Zeit für sich genutzt und waren zur größten Gläubigernation aufgestiegen. Die Welt des Geldes blickte nun nach New York. Zwar begannen die Briten hastig, wieder Geld an andere Staaten zu verleihen – doch es war zu spät. Die Amerikaner hatten aus dem in Europa tobenden Krieg den maximalen Profit geschlagen. Sie waren aus Sicht der berufsbedingt nervösen Börsianer plötzlich das, was eben noch die Briten gewesen waren: stabil und stark. Die flüchtige Welt des Geldes liebt es, wenn das industrielle Hinterland, für das die Börse schließlich das Geld eintreibt, mit großer Verlässlichkeit, und das heißt möglichst schwankungsfrei, produziert.
Auch damit konnten die USA dienen: Ihre Industrieproduktion lag 1920 bereits um 22 Prozent über jener der Vorkriegsjahre, derweil die europäischen Kriegsmächte im selben Zeitraum ökonomische Abstiege zu vermelden hatten: Russland minus 87 Prozent; das übrige Europa immerhin minus 23 Prozent. Die Industrieproduktion der Vorkriegszeit wurde erst 1928, also ein Jahrzehnt nach Kriegsende, wieder erreicht.
Der Aufstieg der USA zur Weltmacht, der durch den wenig später folgenden Zweiten Weltkrieg noch beschleunigt wurde, hatte seinen Anfang schon im Jahrhundert davor genommen. Nirgendwo konnte der heranstürmende Kapitalismus so heimisch werden, wobei die Größe des Landes und die Freiheitsliebe, um nicht zu sagen der Freiheitskult seiner Bewohner, ihm sehr entgegenkamen. Frei von jeder Kartellkontrolle konnten mächtige Konzerne entstehen, die im Inland quasi Monopolcharakter besaßen und damit für den Wirtschaftswettkampf draußen gut gerüstet waren. Bereits um 1900 war die United States Steel Corporation das größte Industrieunternehmen der Welt, auch Standard Oil, DuPont und American Tobacco standen derart mächtig da, dass mit dem Sherman Act schon 1890 eine Anti-Kartell-Gesetzgebung nötig wurde. Die Parallelen zu den digitalen Monopolisten von heute sind nicht zu übersehen.
Doch erst im Kontrast zum Kriegskontinent Europa entfalteten all die anderen günstigen Ausgangsbedingungen des Landes ihre volle Wirkung: Der große Binnenmarkt bot mit damals schon über 100 Millionen Menschen gleicher Sprache dem weltweiten Investitionskapital eine attraktive Chance. Als dann die Massenproduktion ihren Siegeszug antrat, verwandelte sich die bunte Einwanderernation, die erst 150 Jahre zuvor gegründet worden war, zur führenden Wirtschaftssupermacht der Erde. Schon 1929 produzierten die USA mit rund fünf Millionen Automobilen knapp zehnmal so viel wie Deutsche, Briten und Franzosen zusammen.
Die ökonomisch potenten Amerikaner, deren Territorium bis heute nahezu unberührt von den Stiefeln fremder Armeen blieb, konnten die kriegerischen Aktivitäten in der Alten Welt für sich nutzen. Die Aufträge aus den zerstörten Gebieten sorgten nach beiden Weltkriegen für kräftige Wachstumsraten. Wer mit einer Umkehrung der im Krieg etablierten Waren- und Geldströme gerechnet hatte, wurde enttäuscht. Warum sollten die Industriekapitäne und Chefs der Geldhäuser den Europäern diesen Gefallen tun? Was war von einem Europa zu halten, das, kaum den Kriegsfolgen entronnen, schon wieder übereinander herfiel? Die 20 Jahre des Friedens, die zwischen dem Ende des Ersten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lagen, erscheinen im Nachhinein doch eher wie eine Ära des zittrigen Waffenstillstands.
Der Kontinent, der einst hätte Gegenmacht werden können zu den Vereinigten Staaten und der nach der Einführung des Euro erneut ähnliche Ambitionen hegte, bot 1945 schon wieder ein Bild der Verwüstung. Politisch war die Lage halbwegs stabil, aber keineswegs erfreulich: Europa war in seiner westlichen Hälfte zu einer Art Protektorat der USA geworden. Ohne den gutmütigen Hegemon lief nicht viel. Im Osten fielen die Staaten, kaum dass die Wehrmacht verschwunden war, in die Hände der Roten Armee und der kommunistischen Parteien. Deutschland blieb für die nächsten 44 Jahre zweigeteilt.
Die USA entwickelten eine Spielart des Kapitalismus, wie sie nur in diesem Reservat gedeihen konnte. Die Sowjetunion übertrug ihr bisheriges Prinzip des »Sozialismus in einem Land« auf 16 Millionen späterer DDR-Bürger, die großenteils unfreiwillig an dem Experiment des »Sozialismus in einer Zone« teilnahmen. Damit war Europa der Kontinent des Eisernen Vorhangs. Man konnte als Europäer schon froh sein, wenn hier nicht zum dritten Mal ein Weltkrieg losbrach. Gelegenheiten dazu gab es reichlich, den Einmarsch der Sowjets in Ungarn (1956), den Mauerbau in Berlin (1961), die Kubakrise (1962), die sowjetische Intervention in der Tschechoslowakei (1968). Und immer herrschte nervöse Anspannung, denn jeder spürte, dass der Eiserne Vorhang unter Strom stand.
Dass die politischen Sicherungen hielten und aus den Nachkriegseuropäern nicht schon wieder Vorkriegseuropäer wurden, darf als das vielleicht größte Glück der letzten 80 Jahre gelten. Die kollektive Vernunft der Nationen, falls es eine solche überhaupt gibt, löste die Scharfmacher beider Seiten ab, brachte schließlich Politiker wie John F. Kennedy, Willy Brandt, Jimmy Carter und Helmut Kohl auf der einen und Leonid Breschnew, Jurij Andropow und seinen Schüler Michail Gorbatschow auf der anderen hervor, die aus politischer Passion oder ökonomischer Not auf Entspannung setzten. Das Risiko eines Dritten Weltkrieges auf dem schon reichlich blutgetränkten Boden Europas wollte lange Zeit niemand eingehen – bis Putin 2022 in die Ukraine einmarschierte und der Nachkriegskonsens des »Nie wieder Krieg« in Europa zerbrach.
Die Japaner sind der zweite große Profiteur des vergangenen Jahrhunderts. Ihre Rolle während des Ersten Weltkrieges schuf die Grundlage für alles, was danach kam. Selbst die tollkühne und am Ende erfolglose Einmischung in den Zweiten Weltkrieg konnte den Vorsprung nicht mehr zerstören. Japan durfte in der Zeit von 1914 bis 1919 die Alliierten mit Kriegsgerät versorgen, ohne selbst Beeinträchtigungen seines Industriepotenzials verkraften zu müssen. Hinzu kam, dass Japan während der Kriegsjahre und größtenteils auch danach die Belieferung jener asiatischen Märkte übernehmen konnte, zu der Deutschland, Frankreich, Italien und England nicht mehr fähig waren. Wieder vollzog sich der Aufstieg eines Landes im Schatten eines Krieges, der anderswo tobte: Importe und Exporte verdreifachten sich, die Stahl- und Zementproduktion legten um 100 Prozent zu. Japan stieg zur mächtigen Schiffsbaunation auf: Im ersten Kriegsjahr verließen 85 000 Tonnen Rohstahl das Land, am Ende waren es fast drei Millionen Tonnen. Erst der Eintritt in den Zweiten Weltkrieg, der morgendliche Überraschungsangriff auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor am 7. Dezember 1941, den die Amerikaner vier Jahre später mit Atombomben beantworteten, stoppte den Höhenflug der asiatischen Industrienation fürs Erste. Ein ökonomischer Niedergang setzte ein, dem allerdings schon in den Fünfzigerjahren, ähnlich wie in Europa, ein Wiederaufstieg folgte. Der fiel so schwungvoll aus, dass er selbst die deutsche Aufbauleistung übertraf.
In Deutschland, wo der Wiederaufstieg zum »Wunder« verklärt wurde und im historischen Gedächtnis bis heute als singuläres Ereignis weiterlebt, blieb zunächst keine Zeit für Vergleiche. Die Angst vor den Japanern kam – aber sie kam deutlich später. Der Blick der durch sich selbst gedemütigten Deutschen blieb nach 1945 zunächst nach innen gerichtet, trotzig und rechthaberisch die einen, voller Scham die anderen. Dass überhaupt ein Wiederaufstieg gelang, war weder in erster noch in zweiter Linie ein Verdienst der Deutschen. Aber wunderbar war es schon. Den Aufbaumühen der ersten Jahre folgte ein Wirtschaftsboom, wie ihn so stark und anhaltend kein anderes Land Westeuropas erlebte. Die Deutschen schufteten mit ähnlicher Emsigkeit und Härte, mit der sie eben noch Krieg geführt hatten, die Arbeit schien immer auch Therapie zu sein, das In-die-Hände-Spucken war vielen Ersatz für das In-sich-Hineinhorchen.
Das ökonomisch messbare Ergebnis fiel beeindruckend aus: Das Pro-Kopf-Einkommen der Deutschen stieg von 1186 Dollar Ende der Fünfzigerjahre (USA zur gleichen Zeit: 2491 Dollar) innerhalb von knapp 20 Jahren auf 10 837 Dollar und hatte damit 1979 das Pro-Kopf-Einkommen der Siegermacht USA leicht überflügelt. Aus Habenichtsen waren Besitzende geworden.
Das neue Deutschland, politisch unterwürfig und militärisch ein Nichts, war zum ökonomischen Riesen aufgeschossen, der militärischen Niederlage folgte der wirtschaftliche Triumph, was die Franzosen und Briten mit Bitterkeit erfüllen musste. »Wir haben die Deutschen zweimal in diesem Jahrhundert geschlagen, jetzt sind sie schon wieder da«, hat die britische Premierministerin Margaret (»Maggie«) Thatcher 1989 gegenüber einem befreundeten Staatsoberhaupt geklagt. Vor der Tür stand die deutsche Wiedervereinigung, die »Eiserne Lady« erwartete ein Wiedererstarken Deutschlands.
Dazu kam es bekanntlich nicht, über die Gründe wird zu reden sein. Nur so viel schon an dieser Stelle: Die Probleme des heutigen Deutschlands, die ökonomischer und politischer Natur sind, wurden bereits in den Nachkriegsjahren eingebaut. Sie sollten aber noch für einige Zeit unsichtbar bleiben. Das Systemversagen besaß eine lange Inkubationszeit.
Wichtig bleibt festzuhalten, dass der Zweite Weltkrieg einen Wechsel der Auf- und Abstiegsmuster mit sich brachte: Mit der Erfindung der Atombombe waren Kosten und Nutzen eines modernen Großkrieges erst einmal unkalkulierbarer geworden, worin der große Vorteil der Bombe lag. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts setzte sich der ökonomische Wettlauf durch, der mit friedlichen Mitteln ein ähnliches Ziel verfolgte: den Aufstieg der eigenen und die Deklassierung der anderen Nationen. Der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter beschrieb den Gezeitenwechsel so: »Die bürgerliche Gesellschaft ist in eine rein wirtschaftliche Form gegossen worden – ihre Fundamente, ihre Tragbalken und ihre Leuchttürme sind alle aus wirtschaftlichem Material hergestellt. Das Gebäude schaut nach der wirtschaftlichen Seite des Lebens. Belohnung und Strafe bemisst sich in Geldgrößen. Aufstieg und Abstieg bedeutet Geldverdienen oder Geld verlieren.«
Aus den Kriegerstaaten waren Kaufmannsstaaten geworden, was dem Geschehen nicht die Härte, den Visionen nicht das Fantastische, dem ganzen Treiben wohl aber die Brutalität nahm. Nun waren auch die politischen Eliten bereit, die Armeestiefel gegen den Rechenschieber zu tauschen.
Staaten geraten auch ohne den Fronteinsatz ihrer Soldaten ins Trudeln. Die ökonomischen Abstürze sind weniger steil und ähnlich schwierig vorhersehbar, sie werden allerdings von den Betroffenen als nicht minder dramatisch empfunden. Die Bürger der DDR verloren mit dem Absturz ihres Staates nicht das Leben, aber doch einen Teil davon: Jene Dinge, die kein Krieg den Menschen normalerweise nimmt, ihre Erfahrung, ihre Bildung, ihr berufliches Netzwerk und damit eben auch ein wichtiger Teil ihrer Biografie, gingen in den Wirren der Wende verloren.
Schuld am ökonomischen Abstieg ist in der Regel das fortgesetzte Unverständnis der Bedingungen und Begleitumstände, unter denen Wohlstand entstehen und Wirtschaft sich entfalten kann. Die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Bürgerkrieg hervorgegangene Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hat nach dem Zweiten Weltkrieg vorgemacht, wie aus dem Abstieg ein Absturz ins Nichts werden kann, ohne dass auch nur ein Soldat zum Gewehr gegriffen hätte. Das System der zentralen Planwirtschaft, zunächst von Lenin und später von Stalin gegen alle Widerstände durchgepeitscht, erwies sich in dem kurz nach Kriegsende gestarteten Wettlauf der Wirtschaftssysteme als nicht überlebensfähig.
Der Sowjetunion fehlte einfach alles, um eine erfolgreiche Supermacht werden zu können – vor allem ausreichend Kapital und am Ende auch die Zeit, um den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft erfolgreich bewerkstelligen zu können. Bis zum letzten Tag war das System der kollektivierten Landwirtschaft, das den Bauern die Scholle, ihren Stolz und damit die Arbeitsmotivation geraubt hatte, nicht in der Lage, das Land zu ernähren. Das parallel dazu installierte System der Industrieplanung, dessen erklärtes Ziel es war, das richtige Produkt am richtigen Tag in der richtigen Menge am richtigen Ort auftauchen zu lassen, scheiterte schon an einfachsten Informationsproblemen.
Doch zunächst ging es bergauf, allen Verwünschungen des Westens zum Trotz. Das sowjetische System der »command economy«, der Kommandowirtschaft, wie es die Amerikaner tauften, brachte es für kurze Zeit zu beachtlichen Wachstumsschüben. Im Zeitraum der beiden Fünfjahrespläne von 1928 bis 1937 vervierfachte sich das russische Nationaleinkommen, der Energieausstoß legte um das Siebenfache zu, die Produktion von Werkzeugmaschinen um das 20-Fache und die für die Landwirtschaft so wichtige Traktorenproduktion konnte sogar um das 40-Fache gesteigert werden. Selbst die eingefleischten Marktwirtschaftler des Westens horchten auf, denn die sowjetische Wirtschaft, die sich notgedrungen für Autarkie entschieden hatte, blieb von der Großen Depression, die der westlichen Welt arg zu schaffen machte, weitgehend verschont.
Es war Stalin, der sich gleich nach dem gewonnenen Zweiten Weltkrieg in die nächste große Schlacht warf, die nun mit wirtschaftlichen Mitteln zu schlagen war. Er hatte es so eilig, dass er sein Land mit einer derartigen Rohheit in Richtung Industriezeitalter trieb, wie sie kein entwickeltes kapitalistisches System je seinen Bewohnern zugemutet hat. Mehrere Millionen Sowjetbürger starben in den Zeiten dieser ökonomischen Mobilmachung.
In den Fünfzigerjahren wurden mit dem Mittel der Planung noch immer beachtliche Erfolge erzielt: Zwischen 1953 und 1957 gelang es den Sowjets, ihre gesamte industrielle Produktion, die schon bis dahin ordentlich gewachsen war, zu verdoppeln. Das Regime presste alle Menschen aus, derer es habhaft wurde, um die Aufstiegsfantasie wahr werden zu lassen: Kriegsversehrte kamen in der Landwirtschaft zum Einsatz, Frauen stellten 30 Prozent der Bauarbeiter und 54 Prozent aller übrigen Werkstätigen, 48 Stunden pro Woche waren das Minimum; jeder musste den ihm zugeteilten Arbeitsplatz annehmen, die Regeln des Jugendschutzes wurden suspendiert. Im Gegenzug kümmerte sich der sozialistische Vielvölkerstaat um die Schulbildung, die Kinderkrippen und, wenn auch in rudimentärer Form, um die Altersversorgung. Viele Kommunisten glaubten reinen Herzens, dass ihre Nation auf dem Weg nach ganz oben sei. Die Nachfolger Stalins träumten in den Sechzigerjahren davon, die USA »zu begraben«, wie sich KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow ausdrückte.
Diese Anfangserfolge hatten den Westen, wo nun alle nach der Zauberformel für den besten aller Aufstiegspfade suchten, nicht unberührt gelassen. Es war ja nicht so, dass man nicht bereit war, heimlich zu lernen. Der Traum von der »gelenkten Wirtschaft«, die sich an den staatlich definierten Bedürfnissen des Volkes und nicht an der Profitgier der Unternehmer orientieren sollte, wurde nun auch im Westen geträumt, besonders intensiv in Frankreich. Von dort schafften es die Ideen der »économie dirigée« sogar bis auf die Lehrpläne deutscher Universitäten. In Deutschland war damit das Ende der Irrfahrt erreicht, in Frankreich sollte die praktische Erprobung der »planification«, geleitet vom »Commissariat général du Plan«, erst noch bevorstehen.
Als es Anfang der Achtzigerjahre in Paris so weit war, hatte das sowjetische System schon die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht, war mit der Einführung moderner Hochtechnologie genauso überfordert wie mit der Koordinierung der Landwirtschaft. Für jeden, der sehen konnte, war schon zehn Jahre vor dem Ableben des sozialistischen Staatenbundes klar: Das Land atmete flach. Die stark eingeschränkte Leistungsfähigkeit zwang zu immer neuen, politisch höchst peinlichen Getreideimporten aus den USA.
Die jährlichen Wachstumsraten des Agrarsektors waren niederschmetternd, sie hatten sich von rund drei Prozent in den Fünfzigerjahren auf etwa zwei Prozent in den Sechzigern abgeschwächt, um in den Siebzigerjahren bei dürren 1,8 Prozent zu landen. In den Achtzigerjahren stand das Herz des Landes fast schon still. Die Sowjetmacht, die zwischenzeitlich ein atomares Gegengewicht zu den USA hatte bilden können, war nicht mehr in der Lage, ökonomisch mitzuhalten. Das Weltall wurde erobert, die Alltagsprobleme aber bekamen die Sowjets nicht in den Griff. Das russische Volk war ein Volk von Habenichtsen geblieben. Besser gebildet als je zuvor, aber frei von Rechten und Eigentum. Der versuchte Sprung von der militärischen Supermacht, was die Sowjetunion war, zur wirtschaftlichen Großmacht, was sie nie wurde, hatte derart an den Kräften gezehrt, dass am Ende auch die militärische Stärke gelitten hatte. Verschwunden ist sie nie. Putin hat die Ressourcen von der Zivilproduktion rechtzeitig in die Rüstungswirtschaft umgeleitet. Unter seiner Führung ist das Land ein wirtschaftlicher Krüppel mit atomarer Keule.
Ausgerechnet die Kommunisten, in deren Theorie das Ökonomische die entscheidende Rolle spielt und alles Weitere als »Überbauphänomen« abgetan wird, schlugen diese Erkenntnis zunehmend in den Wind. Von der eigenen Bevölkerung, die mit ihrem Konsumverzicht das fehlende Kapital für die Expansion heranschaffte, war nichts mehr zu holen. Die Kraft, der Mut und zum Schluss auch der Glaube an die Zukunft des Kommunismus waren irgendwo zwischen Missernte und Fehlplanung verloren gegangen. Das System hatten seine Kräfte derart überdehnt, dass alle Versuche der letzten Reformergeneration, den Staatskörper noch einmal zu beleben, fehlschlagen mussten.
Als die neue Führung unter Michail Gorbatschow schließlich bereit war, die Impulse für Angebot und Nachfrage dem Markt zu überlassen, kam ausgerechnet diese neue Freiheit einem Todesstoß gleich: Welcher Impuls? Welches Angebot? Welcher Markt eigentlich? Ein ganzes Land verstand plötzlich Bahnhof. Aus Millionen von Befehlsempfängern konnten nicht über Nacht selbstbewusste Angestellte und freie Konsumenten werden. Auch das Unternehmertum hatte nie die geringste Chance gehabt, sich zu erproben. Mut, Erfindungsreichtum, eine gewisse Sturheit, kurz alle Eigenschaften, die nun vonnöten waren, konnten einen in den Jahrzehnten davor das Leben kosten. Der Stalinismus hatte die Voraussetzungen, die für das Umsteuern nötig gewesen wären, gründlich ausgerottet. Eine Karikatur jenes Raubtierkapitalismus entstand, vor dem die Kommunisten ihre Bevölkerung immer gewarnt hatten. Gorbatschow sprach 1995 schließlich das Requiem auf eine Supermacht, die in den Geschichtsbüchern der großen Nationen streng genommen nur eine Teilzeitstelle für sich beanspruchen kann: »Die überkommene Form unserer Gesellschaft hatte sich erschöpft. Es zeigte sich, dass sie nicht in der Lage war, auf schnelle Veränderungen im Zeitalter neuer Technologien und der Elektronik zu reagieren. Die Kultur, die Bildung unseres Volkes konnte sich in diesem System nicht verwirklichen. Darum war es – historisch gesehen – zu Ende.«
