Talon Band 2: Shion - Marc Thomas - E-Book

Talon Band 2: Shion E-Book

Thomas Marc

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Beschreibung

Talon kehrt zu seinem Löwenrudel zurück – nur um das Erwachen Shions zu erleben, der die Löwen nach Äonen wieder zu sich ruft … In Kapstadt erfährt der Industrielle Amos Vanderbuildt von der Zerschlagung des Teams, das Talon aufspüren sollte, und schickt eine Mitarbeiterin los. Janet Verhooven sucht mit einem Ortskundigen und der Fotografin Alice Struuten nach diesem geheimnisvollen Weißen – und findet ihn, bewusstlos und halb verdurstet im Niemandsland. Sie nutzt die Gelegenheit und schließt sich ihm an, ohne zu ahnen, dass er einem uralten Ruf folgt, der ihn in einen Tempel tief im Dschungel führt. Sobald sie die Ruinen betreten, werden sie von dessen Wächtern überrascht. Während Talon und seine Begleiter festgehalten werden, eröffnet Shion, der schwarze Löwe, das Ritual um die Rangfolge in der Wildnis Afrikas unter allen Löwen, die er zu sich gerufen hat … ___ Dieser Roman wurde bereits 2018 veröffentlicht und vom Autor für die vorliegende Fassung neu bearbeitet.

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Seitenzahl: 142

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TALON BAND 2

 

 

Impressum

 

© Copyright Marc Thomas

© Copyright 2023 der E-Book-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Minden

 

www.verlag-peter-hopf.com

 

ISBN 978-3-86305-326-0

 

Redaktionelle Betreuung: Wolfgang Kollmann

Covermotiv: Playground.ai | Covergestaltung: Thomas Knip

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

Inhaltsverzeichnis
Impressum
Shion
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Fußnoten

 

 

MARC THOMAS

Shion

Talon Band 2

Kapitel 1

»Ich höre wohl nicht recht?«

Wütend schlug Amos Vanderbuildt mit der Faust auf die Tischplatte. Nur mühsam konnte er sich beherrschen. Zornesfalten zerschnitten die hohe Stirn.

Der Mann Anfang fünfzig kniff die tiefblauen Augen unter seinen buschigen Brauen zusammen und ließ den Blick nicht von dem Mann, der auf der anderen Seite des Schreibtisches stand. Langsam nur löste er sich aus seiner lauernden Haltung und nahm wieder im Stuhl aus schwarz gefärbtem Büffelleder Platz.

»Wo ist das kleine feige Ding?«, richtete er die Worte unterkühlt an seinen Berater.

»Ich habe ihr nahe gelegt, das Unternehmen mit einer wohlwollenden Abfindung zu verlassen«, entgegnete dieser betont ruhig, wobei er die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte und beruhigt war, dass ihn die breite Tischplatte aus durchsichtigem Plexiglas von seinem Chef trennte.

»Mit 20.000 Rand in der Tasche, damit sie den Mund hält«, fügte er noch an, während er unruhig auf der Stelle trat.

Vanderbuildt drehte sich in dem breiten Sessel zur Glasfront in seinem Rücken und ließ den Blick über den Tafelberg schweifen, an dessen Fuß sich die Vororte von Kapstadt ausdehnten. Aus seinem Büro im 38. Stock genoss der Inhaber von Vanderbuildt Industries die Aussicht über die geschwungenen Straßenzüge der Hafenstadt am äußersten Ende von Südafrika. Dies war seine Stadt und er genoss die Macht, die er über die Menschen in ihr hatte. Er wandte sich wieder seinem Berater zu und taxierte den hageren Mann, dessen altbackene Nickelbrille die Augen hinter den Gläsern verbarg.

»Krugers, Sie machen gefährliche Alleingänge«, erwiderte er knapp.

Ein Mundwinkel im kantigen Gesicht des Beraters zuckte. Abwehrend hob er eine Hand, wobei sein etwas zu groß geratener Anzug deutliche Falten warf.

»Mr. Vanderbuildt, Meneer1«, setzte er an, »nur um Ihnen Ärger abzunehmen.«

Sein Arbeitgeber erhob sich aus dem Sessel, bedachte Krugers mit einem scharfen Blick und hob zur Warnung den Zeigefinger.

»Ich entscheide noch immer selbst, welchen Ärger ich mir antue!«

Er trat an die Glasfront seines spartanisch eingerichteten, großräumigen Büros und blickte gedankenverloren über die Skyline der südafrikanischen Stadt, die sich im Morgendunst vor ihm erstreckte.

»Ein ganzes Team erfahrener Söldner ist also ausgelöscht. Und – durch wen?«

Er drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen das Sicherheitsglas.

»Hat sich die südsomalische Miliz nicht beherrschen können?« Der Anflug eines kalten Lächelns entwischte seinen schmalen Lippen. »Ich dachte, ich zahle den Islamisten genug, damit sie sich aus Kenia heraushalten.«

Krugers stützte die Arme auf die Schreibtischplatte und blickte seinen Chef ernst an. Er atmete tief durch, bevor er zu sprechen begann.

»Mr. Vanderbuildt, die Pilotin sagte, es war ein Mann – ein einzelner Mann!«

Krugers kramte in einer Tasche seines Anzugs und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor, das er nun aufklappte und glattstrich. Mit einem kurzen Blick bedachte er den Inhalt, dann fuhr er fort.

»Sie erzählte von einer Art … Tarzan. Er muss wie ein Berserker unter ihnen gewütet haben.«

Er streckte die Hand mit dem Blatt Papier seinem Chef entgegen.

»Ihre Beschreibung hat uns ein ziemlich genaues Phantombild geliefert.«

Vanderbuildt nahm das Blatt entgegen und betrachtete es zunächst nur oberflächlich. Doch mit jeder verstreichenden Sekunde brannte sich sein Blick tiefer auf der Zeichnung fest. Ein überraschtes Leuchten trat in seine Augen. Schnell faltete er den Bogen Papier zusammen und steckte ihn in eine Hosentasche.

»Meneer?«, fragte Krugers überrascht nach. »Soll ich die Angelegenheit untersuchen?« Er räusperte sich und rückte sich die Brille zurecht, um seine Unruhe zu kaschieren. »Wir haben noch Männer in Nairobi, die …«

»Nein, Krugers«, wurde er unterbrochen. Vanderbuildt winkte mit einer ausladenden Geste ab. »Dieser Sache nehme ich mich persönlich an.« Er strich sich mit seinen Fingern über den gepflegten, grau melierten Backenbart. »Sie können gehen.«

Sein Berater nickte nur kurz und verließ das Büro kommentarlos. Die hohen Flügeltüren schlossen sich automatisch hinter ihm.

Vanderbuildt wartete, bis er sich war, allein zu sein, und zog das Papier wieder hervor.

Ich dachte, du wärst tot, konzentrierte er sich auf das Bild. Ein einzelner Mann … du lebst da unten dein wahres Ich aus, hm? Wer hätte gedacht, dass Bergstrøms Forschungen doch noch Früchte tragen!

Er aktivierte die Telefonanlage per Spracherkennung und ließ sich mit der Sekretärin in seinem Vorzimmer verbinden.

»Kirsten, Mej.2 Verhooven soll zu mir kommen.«

Gedankenversunken hing sein Blick an der Zeichnung fest, während er den weiten Raum durchschritt. Nur wenige Minuten später öffnete sich die Tür zu seinem Büro. Eine junge Frau trat voller Elan in den Raum ein und ging selbstbewusst auf ihren Chef zu.

Das hellblaue Kostüm, das sie trug, war zu knapp geschnitten, um als ›seriös‹ durchgehen zu können, doch Vanderbuildt hatte stets großen Wert darauf gelegt, Mitarbeiter um sich zu haben, die seinem Geschmack entsprachen und ihn ansprachen. Vor allem weibliche. Die blonden Haare der frech geschnittenen kurzen Frisur wippten bei jedem Schritt aufreizend. Ihrer Wirkung war sich die junge Frau völlig bewusst, denn selbst in Gegenwart ihres Chefs legte sie ihren herausfordernden Blick nicht ab.

»Mr. Vanderbuildt, Meneer?«, begrüßte sie ihn und schenkte ihm einen leuchtenden Blick.

Der ältere Mann registrierte es mit Amüsiertheit und breitete die Arme offen aus.

»Janet, Liebes! Fein, Sie zu sehen!«, erwiderte er ihren Auftritt. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?«

Ungefragt setzte sich die junge Frau auf die Kante des Schreibtisches und schlug die Beine übereinander. Der ohnehin schon kurze Rock rutschte noch ein Stück nach oben.

»Moment … kommen Sie. Sie wissen, dass ich misstrauisch werde, wenn Sie so freundlich sind. Was steht an?«

Sie bedachte ihn mit einem einstudierten Lächeln und fuhr abwartend mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die kühle Tischplatte. Aus Vanderbuildts Mimik wich jedes spielerische Element. Seine Stimme füllte den Raum völlig aus, während er seine Mitarbeiterin taxierte.

»Wir hatten in Kenia eine Search-and-Rescue-Mission. Einer unserer … Außendienstmitarbeiter ist verloren gegangen. Das Team hat ihn anscheinend gefunden. Wir hatten nur kurz über Satellit Verbindung zu der Einheit.«

Nachdenklich legte er die Hand an das Kinn und senkte den Blick.

»Es sieht so aus, als ob unser Vermisster das gesamte Team ausgelöscht hat.«

Überrascht keuchte Janet Verhooven auf. Sie wusste nur zu genau, welche »Außendienstaktivitäten« Vanderbuildt Industries betrieb. Sie war selbst seit mehreren Jahren im ›inoffiziellen Dienst‹ tätig und hatte Einsätze in der Industriespionage, der Sabotage und der Abwerbung von Mitarbeitern absolviert.

Eine gewisse Unruhe erfüllte sie. Ihre Augen blitzten auf, während sie auf weitere Informationen wartete.

Vanderbuildt ließ sie nicht warten.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, fuhr er mit einem verzerrten Lächeln fort. »Nun, besorgen Sie mir Informationen über ihn – so viel wie möglich! Alle zur Verfügung stehenden Daten sind bereits auf Ihr ComPad übertragen.«

Janet holte das Gerät aus der Jackentasche und rief die Daten hab. Sie verzog den Mund und wirkte unzufrieden.

»Das ist doch nicht alles, oder? Da könnte ich eher nach dem Heiligen Gral suchen.«

Vanderbuildt zog den Zettel hervor und reichte ihr das Phantombild.

»Ah«, entfuhr es der Frau. »Beeindruckend. Haben Sie seine Telefonnummer?«, kommentierte sie das Bild. Sie hatte sich zurückgelehnt und stützte sich auf dem Schreibtisch ab. »Aber wieso nur Informationen? Warum kann ich ihn nicht gleich mitbringen? Bevor er noch mehr Schaden dort unten anrichtet?«

Vanderbuildt blickte kurz aus dem Fenster. Die Sensoren im Glas sorgten dafür, dass die eingebauten Flüssigkristalle die Oberfläche nachdunkelten, sobald die Sonne direkt in den Raum zu scheinen begann.

»Weil er da unten gut aufgehoben ist. Ich weiß, dass ich ihn dort finde«, antwortete er. Kommentarlos ging er an seinen Schreibtisch zurück und zog ein leeres Blatt Papier aus einer Ablage. Schnell machte er sich einige Notizen, ohne die junge Frau zu beachten.

»Ihre Maschine geht in zwei Stunden«, ließ er sie wissen. »Offiziell arbeiten Sie als Bevollmächtige für meine Umweltaktivitäten und verschaffen sich ein Bild über die Zustände in den Nationalparks. Die ansässige Miliz sollte Ihnen alle Probleme vom Leib halten. Auf die Armee verlasse ich mich nicht. Zwei Leute werden Sie dort empfangen – eine Firmenjournalistin und ein ortskundiger Mitarbeiter, beide zu Ihrer freien Verfügung. Beide sind nicht eingeweiht.«

Erst jetzt sah er die junge Frau wieder mit einem gewinnenden Lächeln an.

»Sehen Sie sich nach ihm um. Und berichten Sie mir. Und lassen Sie ein paar schöne Naturfotos für unseren nächsten Firmenblog machen. Umwelt verkauft sich immer gut.«

»Ich weiß nicht«, Janet zog einen Schmollmund und schob herausfordernd das Kinn nach vorne. »Sie verheimlichen mir doch eine ganze Menge!«

Vanderbuildt lachte laut auf.

»Natürlich tue ich das – ich bin Ihr Boss! Eines noch«, fügte er an, »wenn möglich bringen Sie mir eine DNA-Probe von ihm, falls er tatsächlich noch lebt.«

Janet Verhooven lächelte ihn mit einem fragenden Ausdruck in den Augen an und senkte den Blick. Sie streckte sich und rutschte vom Schreibtisch.

»Nun gut«, entgegnete sie ihm. »DNA. Ich sehe, was sich machen lässt. Ich lasse von mir hören.«

Auf ihrem Weg nach draußen achtete sie darauf, ihrem Chef einen guten Blick auf ihren Körper zu bieten, und lächelte ihm im Türrahmen zum Abschied einladend zu. Vanderbuildt sah ihr noch nach, nachdem sich die Türen längst hinter ihr geschlossen hatten. Bei Gelegenheit würde er sich wieder auf eine Nacht zu ihr einladen.

Dann drehte er sich zu dem graubraun verdunkelten Fenster um und sah den Menschen auf der Straße zu, wie sie sich ihren Weg durch die Stadt bahnten. Die Wangenknochen traten hart hervor und zeichneten deutliche Linien in das herbe Gesicht.

Bergstrøm, du würdest Millionen dafür zahlen, zu erfahren, wo sich dein Liebling aufhält …, drehten sich seine Gedanken um das Bild, das sich nicht aus seinem Kopf bannen ließ.

Die alte Löwin grollte zufrieden und drehte sich auf die Seite.

[Etwas weiter oben, mein Sohn], löste sich ein heiseres Fauchen aus ihrer Kehle. Gehorsam kratzten die Finger durch das Fell am Rücken und schabten dabei mehrere kleine Parasiten ab, die sich auf der Haut festgesetzt hatten.

Minuten lang schnurrte T’cha wohlig auf und genoss die Entspannung sichtlich. Dann stieß sie ihren Kopf unwillig vor und fuhr mit der rechten Vorderpranke zur Seite.

[Mmmh, lass gut sein!], beendete sie ihre Muße. Sie legte sich kurz auf den Rücken, suhlte sich in der trockenen Erde und legte sich danach auf den Bauch. Dabei achtete sie darauf, ihre verletzte Schulter nicht allzu sehr zu belasten. Die Schusswunde verheilte besser als gedacht, dennoch brach die Stelle bei jeder unbedachten Bewegung wieder auf.

Gut einen Schritt von ihr entfernt kauerte Talon und fuhr mit den Fingern der rechten Hand rastlos durch den Staub. T’cha stupste ihn leicht an. Talon zuckte ein wenig zusammen und lehnte sich gegen den zerfallenen Rest eines Baumstammes. Die Löwin schmiegte ihren schweren Kopf an seine Seite.

[Du bist abwesend, seitdem wir auf die Menschen gestoßen sind], bemerkte sie. [Ich habe dich in den letzten Tagen nicht gesehen.]

Talon vermied es, in die Augen zu blicken, die ihn intensiv musterten. Zurückhaltend drehte er den Kopf zur Seite. Auf seiner Brust lastete ein unerklärlicher Druck.

»Mir ist mehr aus meiner Vergangenheit bewusst geworden. Doch nichts, was ich wirklich verstehen kann. Es sind Bilder und Namen. Sie ergeben aber keinen Sinn für mich.«

Das Atmen fiel ihm schwer. Er stand auf und machte ein, zwei Schritte, um etwas Luft schöpfen zu können.

»Ein Teil von mir«, fuhr er fort, »… sie gaben mir ein Mittel, und … – alles war anders.«

Sein Blick senkte sich zu Boden. Wirre Eindrücke brachen hervor. Talon schüttelte den Kopf. Hilflos ballte er die Fäuste und schwieg. Lange Augenblicke vergingen, in denen keiner von beiden sprach.

»Es hat nicht gut getan, das zu sehen«, löste es sich schließlich von seinen Lippen. »Da sind Menschen, die mich kennen. Und ich muss damit rechnen, dass sie wieder nach mir suchen.«

T’cha hob den Kopf. Ihre Nasenflügel blähten sich leicht auf.

[Vielleicht sind sie deine Familie – und sie suchen nur ihren verlorenen Sohn?]

»Nein, T’cha! Sie suchen ein verlorenes Stück Beute …«

Die Löwin erhob sich und streckte sich durch. Einen Moment lang sondierte sie die nähere Umgebung und richtete dann ihren Blick auf Talon.

[Du gehörst nicht wirklich zu uns. Das weißt du. N’tche duldet dich nur in unserem Revier, weil ich zu dir stehe], erklärte sie ihm. [Deine Wurzeln liegen woanders.] Sie knurrte kurz und machte einen Schritt nach vorne.

[Das Rudel verlangt schon lange, dass ich dich von mir entbinde. Viele stehen dir misstrauisch gegenüber. Sie werden niemals bereit sein, dich zu akzeptieren, so sehr auch ein Teil von dir unbestreitbar zu uns gehört.]

»Und was hast du ihnen geantwortet?«, richtete er sich an die Raubkatze, ohne ihr in die Augen blicken zu wollen.

[Dass du mein gewählter Sohn bist. Frei, zu gehen, wann immer du willst – aber immer gerne gesehen an meiner Seite.]

Talon unterdrückte das Brennen in seinen Augen und ging vor der Löwin in die Knie. Er umarmte sie an der Schulter und drückte sich fest gegen ihre Flanke.

»T’cha, du bist eine alte Füchsin!«, lachte er auf und gab ihr einen leichten Kuss auf das raue Fell. Zur Antwort schmiegte sie ihren Kopf an seine Seite und genoss die Zuneigung, die er ihr nach all den Monaten immer noch entgegenbrachte.

Plötzlich jedoch ruckte ihr Kopf hoch und sie löste sich mit aller Kraft aus seiner Umarmung. Ihr Blick richtete sich weit in die Ferne. Lauernd zuckten die Barthaare, als nähmen sie eine Witterung auf. Unruhe überfiel den Körper der alten Löwin. Talon taumelte überrascht nach hinten und sah sie verwirrt an.

»Was hast du?«, brachte er hervor.

Sie löste sich nicht aus ihrer wachsamen Starre. Ihre Augen fixierten einen Punkt jenseits des Horizontes und folgten einer Spur, als könnten sie in der Entfernung deutlich eine Bewegung ausmachen.

[Shion. Er ruft], antwortete sie ihm.

Talon öffnete den Mund, um sie zu fragen, wer Shion sei. Doch in diesem Augenblick schossen Schmerzen wie eine tosende Brandung durch seinen Kopf und schlugen tief in ihm ein. Sie zogen ihn mit sich, zwangen seine Augen, in die gleiche Richtung zu blicken wie die Löwin. Die Sturmbö einer grollenden Stimme brauste in ihm auf und prasselte in unverständlichen Lauten auf ihn ein.

»Nein!«, brachte er nur hervor und presste die Hände gegen den schmerzdurchfluteten Kopf. »T’cha, wer …?«

Der Boden schwankte vor seinen Augen. Er schmeckte Blut auf seinen Lippen. Nur verschwommen konnte er sehen, wie sich die Löwin aus ihrer Starre löste und den kleinen Abhang durch das dürre Gras hinabstapfte.

[Shion], erwiderte sie ihm nur. [Er will uns.]

Ruckartig setzte sich Talons Körper in Bewegung. Seine Glieder führten unkontrollierte Bewegungen aus, einer Gliederpuppe gleich, die von ungeschickter Hand geführt wird. Die Landschaft verschwamm in wilden Farben, die sich zu neuen Bildern zusammensetzte.

»Ja, ich folge«, kam es unbewusst über seine Lippen. Im nächsten Augenblick jedoch wehrte sich jede Faser in seinem Leib gegen die beherrschende Macht der lenkenden Stimme.

»Nein! Mein – Weg. Einer, einer – von euch.« Das Blut pochte heftig in seinen Schläfen, während er versuchte, wieder die Oberhand zu gewinnen. »Nein, keiner – von euch!«

[KOMM], dröhnte die Stimme in ihm auf und wischte jeden Widerstand mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit beiseite. Talon spürte, wie sich die Gedanken in ihm auflösten, verflüchtigten, wie die letzten Schleier des morgendlichen Nebels. Deutlich konnte er durch das fremdartige Muster vor seinem inneren Auge den Weg erkennen, der ihm gewiesen wurde.

»Shion«, flüsterte er heiser und folgte der Löwin, die unbeirrt nach Südwesten zog.

Kairo war erfüllt von einer Hitze, die sich schwer über die Straßen legte. Die Menschen in der ägyptischen Millionenstadt waren den kaum auszuhaltenden Mantel eines immerwährenden Smogs längst gewohnt, in dem sich die Abgase einer nicht enden wollenden Autoschlange mit der Feuchtigkeit des träge dahinfließenden Nils vereinten.

Doch an diesem Abend waren die Straßen wie leer gefegt. Eine Hitzewelle suchte die Stadt seit Tagen heim. Selbst in den Cafés hielt sich kaum ein Gast auf, der an einer Wasserpfeife saugend den Verkehr beobachtet hätte. Die Menschen versteckten sich in den Häusern und hofften, dass die Stromversorgung nicht versagen mochte und die Klimaanlage ihnen ein wenig Erholung schenkte.

Jenseits des Stadtkerns gingen die zersiedelten Vororte nahtlos ineinander über. Immer wieder zeugten Geröllhalden und brüchige Ziegelbauten von nie fertiggestellten Bauvorhaben, die hier draußen nach den Unruhen des arabischen Frühlings längst vergessen worden waren. In ihnen lebten jene Bewohner Kairos, denen es selbst an Geld für eine einfache Lehmbehausung fehlte.