Tatort Naschmarkt - Reinhardt Badegruber - E-Book

Tatort Naschmarkt E-Book

Reinhardt Badegruber

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Beschreibung

In Band 9 der Falter-Krimianthologien steht der Naschmarkt, der bekannteste Lebensmittel- und Detailmarkt Wiens, im Zentrum kriminologischer Ermittlungen. Durch seine zentrale Lage an der Wienzeile und das breite Warenangebot ist er für Einheimische wie für Wienbesucher ein Anziehungspunkt. Eine Einkaufstour durch den Markt wird zur kulinarischen und kulturellen Weltumrundung. Dem Flair des Wiener Naschmarkts, diesem Biotop inmitten der Großstadt, mit seiner Farbenpracht, den unterschiedlichen Sprachen und mannigfaltigen kulinarischen Verlockungen, haben sich die Autorinnen und Autoren dieses Buchs hingegeben und zu 13 Kriminalgeschichten inspirieren lassen. Die Protagonisten der Geschichten – ob Gemüsestandlerin, Flohmarkthändler, Lokalbesitzer, Magistratsbeamter, Diebin oder Schmarotzer – sind in ihrer Persönlichkeit so vielfältig wie das Warenangebot des Marktes. Manche von ihnen werden zu Tätern, manche zu Opfern.

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Seitenzahl: 270

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Edith Kneifl (Hg.)

Tatort Naschmarkt

13 Kriminalgeschichten aus Wien

Falter Verlag

© 2015 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.

1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

T: +43/​1/​536 60-0, E: [email protected], W: www.falter.at

Alle Rechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub: 978-3-85439-559-1

ISBN Kindle: 978-3-85439-563-8

ISBN Printausgabe: 978-3-85439-529-4

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

Die Handlung der folgenden Kurzgeschichten ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort ~ Edith Kneifl

Gerhard Loibelsberger ~ Der Rigoletto vom Naschmarkt

Lisa Lercher ~ Mit Ablaufdatum

Thomas Schrems ~ Der Kostgänger von Mariahilf

Irmtraut Karlsson ~ Schwiegermuttermörder

Reinhardt Badegruber ~ Ständer, Standler, Sandler

Nora Miedler ~ Es war einmal … am Naschmarkt

Günther Pfeifer ~ Die Wohnung des Clowns

Sylvia Treudl ~ Die Gräfinnen

Christian Klinger ~ Einer bleibt immer übrig

Andreas P. Pittler ~ Der Hölle Rache

Eva Gründel ~ Der letzte Zug

Manfred Wieninger ~ Meine liebsten Naschmarkt-Kriminellen

Edith Kneifl ~ Diebin vom Naschmarkt

Herausgeberin, Autorinnen und Autoren

Fußnoten

Vorwort

Gerüche wie aus Tausend und einer Nacht, exotische Früchte, Gewürze aus dem fernen Osten, paradiesische Aromen – allein die Fülle an Delikatessen und deren Farbenpracht müssen jedem Feinschmecker das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Dazu das Stimmengewirr fremdländischer Laute, man wähnt sich in einem türkischen Basar oder auf einem usbekischen oder maghrebinischen Markt und befindet sich doch mitten in der ehemaligen Kaiserstadt Wien.

Wer liebt ihn nicht, diesen Naschmarkt, der sich von der Secession bis zur Kettenbrückengasse erstreckt. Eingebettet zwischen pariserisch anmutenden Wohnbauten und Otto Wagners prächtigen Jugendstilhäusern an der Linken Wienzeile sowie den Stationsgebäuden, die der große Wiener Architekt Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen des Stadtbahnbaus errichtete, ist und bleibt der Naschmarkt mit seinen halboffenen, flaschengrünen Marktständen einer der schönsten Märkte Europas.

1916 wurde er als kriegsbedingtes Provisorium an seinem heutigen Standplatz eröffnet. Die an orientalische Märkte erinnernden Standeln erfreuten sich auch nach dem Untergang der Habsburgermonarchie großer Beliebtheit. In der Nazizeit wurden all jene Händler, die jüdischen Glaubens waren, vertrieben oder ermordet. Einige mutige Standler versteckten allerdings ehemalige jüdische Kollegen und ihre Familien in ihren Wohnungen. (Siehe Beppo Bayerl: »Der Naschmarkt – Wege durch Wiens kulinarisches Herz«.)

Nach dem Krieg war der Markt ein wichtiges Zentrum des Schwarzhandels. In den Siebzigerjahren wäre er beinahe einem wahnwitzigen Straßenprojekt zum Opfer gefallen. Heute gehört dieser wunderbare Multi-Kulti-Schmelztiegel zu den größten Touristenattraktionen der Stadt. Angehörige zweiundsechzig verschiedener Ethnien bieten auf dem Gelände des überdachten Wienflusses ihre Waren feil.

Auf dieser kleinen, pulsierenden Insel inmitten der Großstadt spielten schon immer Frauen eine wichtige Rolle. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verdrängten die sogenannten Fratschlerinnen, amtlich als Bolettenweiber bezeichnet, die Bauern, die hier ihre Waren anboten. Diese Marktfrauen waren in ganz Wien bekannt für ihr loses Mundwerk und den Gebrauch deftiger Schimpfwörter und »beherrschten mit souveräner Machtfülle den ganzen Platz« (Wilhelm Kisch, 1910). In jüngster Zeit wurden die kleinen Plätze und Hauptwege am Naschmarkt nach einigen dieser starken Frauen, wie zum Beispiel der berüchtigten Haverschesser Mariedl, benannt.

Der Naschmarkt war von Anfang an einem steten Wandel unterworfen. Seit einigen Jahren jedoch schreiten diese Veränderungen für so manchen Wiener und so manche Wienerin allzu rasant voran. Weniger Souvenirs, weniger Textil und mehr Schweinefleisch und Milchprodukte wünschen sich die einen. Weniger Wasabi-Nüsse, Trockenfrüchte und Mohnzelten, dafür mehr frisches, preiswertes Obst und Gemüse die anderen.

Florierende Gastronomiebetriebe nehmen heute ein Drittel des Marktes ein, gefühlt ist es aber schon mindestens die Hälfte, da auch die kleinen Händler neuerdings ihre Waren, sowie Kaffee und Bier, an ihren Ständen verabreichen dürfen. Das ist auch notwendig, denn anders könnten sie wohl kaum überleben.

Dass der Naschmarkt neben der Lebensfreude, die er versprüht und die nicht zuletzt sein unvergleichliches Flair ausmacht, auch ein Ort mehr oder weniger offen ausgetragener Konflikte ist und immer schon war, versteht sich von selbst.

Als ich zwölf Wiener Kriminalschriftstellerinnen und -schriftsteller einlud, Kriminalgeschichten über diesen bekanntesten Markt Wiens zu schreiben, stieß ich auf einhellige Begeisterung. Denn welcher Schauplatz könnte sich besser für einen spannenden oder mysteriösen Krimi eignen als dieser aufregende Markt in Mariahilf? Ein Wunder, dass bisher noch nicht mehr literarisches Blut am Naschmarkt geflossen ist.

Freuen sie sich auf spannende und komische Geschichten über unverwechselbare Naschmarkttypen, kleine Gauner und brutale Gewaltverbrecher, über Sonnenbrillenträger, Prosecco-Schlürfer und Caffè-Latte-Tanten, raffinierte Flohmarktstandler und resolute Gemüsehändlerinnen.

Viel Vergnügen auf Wiens berühmtestem Markt wünscht Ihnen

die Herausgeberin Edith Kneifl

Wien, im April 2015

Gerhard Loibelsberger

Der Rigoletto vom Naschmarkt

Eine Kriminalgeschichte aus dem Kriegswinter 1916

»La donna é mobile …«

»Kusch, Hinnicher! Sing deitsch!«

So wurde der Kriegsversehrte Giovanni Newerkla von einem kräftigen Kerl angeherrscht, der einen schweren Rucksack mit sich schleppte.

»Die Katzelmacher-Sprach kannst da in Oasch schiabn.«

Rosen-Roserl, eine Fratschlerin1 von einem Nachbarstand, schaltete sich ein:

»Ja, am Häusl, da kannst italienisch singen. Damit des Scheißn besser funktioniert.«

Und zu dem kräftigen Kerl sagte sie:

»Dauernd singt er italienisch, des Krippelgspül2. Dabei kann er’s eh a auf Deitsch.«

Der Kräftige drehte sich um, ging die zwei Schritt zu dem singenden Krüppel zurück und hob bedrohlich seine Rechte. Der Kriegsversehrte duckte sich. Statt eine Watschen3 zu kassieren, wurde er nur geschubst.

»Gemma, Rigoletto! Für mi singst du’s jetzt auf Deitsch.«

Das zerschossene Gesicht sah ihn hündisch an, der verunstaltete Körper holte tief Luft und dann erklangen wunderbare Töne über den winterlichen Naschmarkt:

»O wie so trügerisch sind Weiberherzen;

mögen sie klagen, mögen sie scherzen.

Oft spielt ein Lächeln um ihre Züge;

oft fließen Tränen, alles ist Lüge.

Habt ihr auch Schwüre zum Unterpfande,

auf leichtem Sande habt ihr gebaut,

habt ihr gebaut,

habt ihr gebaut.«

Plötzlich löste sich aus seinem Schatten ein blasses Mädchen, das mit glockenheller Stimme die Melodie weiterträllerte. Mittlerweile waren zahlreiche Passanten stehengeblieben. Dienstmädeln, Köchinnen, ein Beamter des Marktamtes und sogar eine gnädige Frau, die mit ihrem Dienstmädel hier am Markt war. Als das blasse Mädchen die Melodie zu Ende gesungen hatte, herrschte ein Augenblick Stille, dann folgte Applaus. Auch einige Münzen wurden in die Kappe geworfen, die vor dem Musikantenpärchen lag. Der kräftige Kerl mit dem Rucksack brummte »na also, es geht ja a auf Deitsch …« und warf eine Krone in die Kappe. Nur die gnädige Frau zog a Schnoferl und gab nichts, mit der Begründung:

»In patriotischen Zeiten wie diesen hör ich grundsätzlich keinen Verdi. Nur mehr Wagner und Beethoven!«

Worauf die Rosen-Roserl, die sich auch schon vorher eingemischt hatte, zu den umstehenden Köchinnen und Dienstboten sagte:

»Des is typisch. Die, die a Geld ham, ham ka Herz.«

Und die Pichler-Pauli, eine weitere Fratschlerin, raunzte:

»Geh, die Gnädige kenn i eh. Die is mehr a Nodige4 als a Gnädige. Die hätt am liebsten ollas gschenkt.«

***

Der kräftige Kerl stapfte durch die Reihen von neu erbauten und noch leer stehenden Marktständen vor in Richtung Kettenbrücke. Dort erhob sich in strahlendem Weiß das neue Marktamt mit seinem Uhrtürmchen. Es war acht Minuten vor zwölf und der Kräftige knurrte leise:

»I muass aunzahn5. Sonst sind die Marktamtswappler6 alle beim Mittagessen.«

Er beschleunigte seinen Schritt und betrat sechs Minuten vor zwölf das Amtsgebäude. Nun befand er sich in einem großen Raum, den ein fix montierter Tisch in der Mitte teilte. Hinter dem Tisch waren die Beamten, davor das Marktvolk, die Fratschlerinnen und andere Bittsteller. Der Kräftige hatte Glück. Vor ihm zog gerade eine enttäuscht mit den Schultern zuckende Fratschlerin ab, der Beamte, der sie abgewiesen hatte, warf einen prüfenden Blick auf seine Taschenuhr.

»Sie! Herr Amtsrat …«

»Was wollen S’?«

»Mit Ihnen reden! Über einen fixen Stand.«

Der Beamte lächelte gelangweilt und winkte ab:

»Das wollen jetzt alle.«

Der Kräftige ließ den Rucksack von seiner Schulter gleiten und auf den Tisch vor dem sanguinischen Beamten krachen. Der zuckte zusammen. Leise entgegnete er:

»Aber i, der Gruber-Willi, i hab Argumente.«

Er öffnete ein wenig den Knoten des Stricks, der den Rucksack oben zusammenhielt und ließ den Beamten hineinschauen. Der Beamte nickte und sagte nun ebenfalls leise:

»Gehen S’ raus. Und warten S’ beim Hintereingang.«

Willibald Gruber, seines Zeichens Fleischselcher aus Kleinwetzdorf, tat, wie ihm geheißen, und musste nicht lange warten. Die Tür wurde aufgesperrt, der Sanguiniker führte ihn zum Markamtsleiter. Dieser schlüpfte gerade in seinen Wintermantel und brummte ungehalten:

»Zwölf Uhr ist es, Stankowits, was stören Sie mich?«

»Bitte untertänigst um Vergebung, aber das sollten Sie sich anschauen.«

Der Amtsrat warf ebenfalls einen Blick in den Rucksack, atmete tief ein und schloss dabei die Augen. »Speck …«, murmelte er begeistert. Nach einem kurzen Augenblick der Verzückung befahl er dem Kräftigen:

»Legen S’ die Speckseiten da auf den Tisch. Wie viele sind das? Drei Stück? Gut. Zwei nehme ich, eine bekommen Sie, Stankowits.«

»Zu gütigst … danke schön … danke …«, murmelte der Sanguiniker und machte eine tiefe Verbeugung. Während der Marktamtsleiter die auf seinem Schreibtisch liegende Zeitung benutzte, um die Speckseiten einzupacken, kommandierte er:

»Sie wollen natürlich einen der neuen, gemauerten Stände haben, net wahr? Sie bekommen einen. Stankowits, Sie geben ihm den von dem Sauerkraut-Tandler.«

»Aber, aber …«

»Stankowits, es gibt kein Aber! Sie nehmen jetzt von dem Herrn da die Personalien auf, Gewerbeschein etc., etc. und geben ihm einen Mietvertrag für besagten Stand. So! Das war’s, meine Herren. Ich empfehle mich, Mahlzeit!«

Damit klemmte er die riesigen, in Zeitungspapier verpackten Speckstücke unter den Arm und verließ das Zimmer. Stankowits packte sein Stück ebenfalls hastig in Zeitungspapier ein und murmelte:

»Kommen S’ mit, Herr Gruber! Erledigen wir den Papierkram jetzt gleich. Weil was ma ham, das hamma.«

***

»Speck …«, murmelte Oberinspector Joseph Maria Nechyba in seinen aufgezwirbelten Schnurrbart. »Ich hätte so einen Gusto auf ein Stückerl Speck …« Er saß an seinem Küchentisch und hatte Hunger. Die Versorgung mit Lebensmitteln war jetzt im dritten Kriegsjahr ein absoluter Jammer. Nahezu alles war rationiert und gestreckt. So gab es zum Beispiel Streckbutter, das war mit Magermilch gestreckte Butter, und Kriegsbrot, in das aufgrund des Getreidemangels alles Mögliche beigemengt wurde. Und Fett? Ha! Da gab es die mit Magermilch gestreckte Butter und sonst, wenn man Glück hatte, etwas Speiseöl. Von Schmalz und Speck konnte man nur träumen. Oder sie zu horrenden Preisen am Schwarzmarkt kaufen. Nechyba seufzte laut, stand schwerfällig auf und schlurfte zur Küchenkredenz. Er nahm eine halbvolle Flasche mit Trebernem sowie ein Stamperl heraus, setzte sich und schenkte ein. Das erste Stamperl brannte wie Feuer. Das zweite, das er nun langsamer trank, rann dann wie Öl hinunter. Eine wohlige Wärme machte sich in seinem hungrigen Magen breit. Gelangweilt nahm er die Zeitung zur Hand und blätterte lustlos darin. Er sah die üblichen Nachrichten mit Meldungen über Siege oder die erfolgreiche Abwehr der Feinde an dieser oder jener Front, plötzlich aber blieb sein müder Blick an folgender Nachricht hängen:

Zur Verlegung des Naschmarktes.

Der Magistrat erläßt folgende Kundmachung: Der auf der Fläche vor dem Freihaus bestehende Naschmarkt im 4. Bezirk wird in der Zeit von 16. bis 26. Nov. 1916 auf den zwischen der Rechten und Linken Wienzeile einerseits und dem Getreidemarkt und der Steggasse neu errichteten Marktplatz verlegt. Für die Uebersiedlung der Marktparteien wird angeordnet:

1. Die Marktparteien des Groß- und Kleinmarktes mit Ausnahme der im Punkt 2 aufgezählten haben in der Zeit von 16. Nov. bis einschließlich 23. Nov. auf den neuen Marktplatz zu übersiedeln.

2. Die Marktparteien nachfolgender Gewerbe: Fleischhauer, Selchwarenverschleißer, Wildbret- und Geflügelhändler und Fischhändler haben in der Zeit vom 20. bis einschließlich 26. Nov. auf den neuen Marktplatz zu übersiedeln.

Die Stand- und Lagerplätze des alten Naschmarktes haben die bisherigen Marktparteien zu räumen und zwar die im Punkt 1 aufgezählten in der Zeit von 20. bis 26. Nov., die in Punkt 2 aufgezählten in der Zeit von 27. bis 30. Nov. In der Zeit von 16. bis 26. Nov. kann nach Maßgabe der Uebersiedlung der Parteien ein Verkauf auf beiden Marktplätzen stattfinden. Die Zuweisung der Verkaufsplätze auf dem neuen Marktplatz erfolgt durch das Marktamt.

Mit 26. Nov. 1916 wird der bisher auf dem Platze vor dem Freihause abgehaltene Markt aufgelassen. Vom 27. Nov. 1916 an ist der Verkauf der Marktwaren auf allen Stand- und Lagerplätzen des aufgelassenen Marktplatzes verboten.

Für den neuen Markt gelten die Vorschriften der Marktordnung für die k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien.

Nechyba brummte »jetzt ist der alte Naschmarkt auch Geschichte« und klappte erbost die Zeitung zu. Alles änderte sich, dachte er, und selten wird was besser. Versunken in trüben Gedanken döste er ein.

***

Zornig kritzelte der Sauerkraut-Tandler Anton Lehmann vor sich hin. Immer wieder strich er bereits Geschriebenes durch, knüllte das beschriebene Stück Papier zusammen und warf es wütend auf den Boden. Er atmete tief durch, dann nahm er ein neues Blatt Papier, tauchte die Feder in das Tintenfass und setzte aufs Neue zu schreiben an. Auch diesmal endete die Schreiberei in einer wüsten Kritzelorgie. Wieder zerknüllte er das Blatt und warf es zornig auf den Boden, wo schon etliche andere zerknüllte Papierbögen lagen. Lehmann raufte sich die Haare, stand auf, lief in dem engen Marktstand wie ein Tier in einem Käfig hin und her. Als er sich schließlich beruhigt hatte, setzte er sich, nahm ein neues Blatt, tauchte die Feder ins Tintenfass, und siehe da, nun konnte er in Ruhe fertigschreiben. Er seufzte erleichtert, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Als die Tinte am Papier getrocknet war, nahm er das Blatt und las den soeben verfassten Text noch einmal durch. Zufrieden faltete er es zwei Mal zusammen und steckte es in ein Kuvert. Neuerlich vor Erleichterung seufzend griff er zur Schnapsflasche, die neben ihm stand, und nahm einen kräftigen Schluck. Er entspannte sich, sein Kopf fiel nach vorne und er begann unregelmäßig zu schnarchen. Im flackernden Schein der Petroleumlampe, der einzigen Lichtquelle im Stand, warf der auf einem Schammerl7 Sitzende einen obskuren Schatten an die Wand.

Plötzlich flackert die Lampe. Ein Luftzug. Ein Schatten an der Wand. Eine Hand greift nach der langen, hölzernen Zange, mit der normalerweise die Salzgurken aus dem Fass herausgeholt werden. Eine andere Hand fährt dem Schlafenden grob ins Gesicht und hält ihm die Nase zu. Gurgelnd wacht der Sauerkraut-Tandler auf und schnappt nach Luft. Genau in diesem Moment wird einer der beiden länglichen Holzteile der Zange in seinen Schlund gerammt. Ein kräftiger Stoß folgt. Lehmann keucht, grunzt und zappelt mit Händen und Füßen. Noch ein Stoß. Kakophonisches Krächzen. Blutige Schaumblasen quellen aus Lehmanns Mund. Noch ein Stoß. Er treibt die Zangenhälfte weit die Speiseröhre hinab. Das Opfer wird schlagartig blau im Gesicht. Eisern hält die Hand dessen Nase zu. Keine Luft. Ein letztes Aufbäumen. Schaumig-blutiges Gegurgel. Dann fällt der Sauerkraut-Tandler tot vornüber.

***

»Vater, Vater lei ma d’ Scher! Am Naschmarkt gibt’s a Leiche mehr!«

Joseph Maria Nechyba traute seine Ohren nicht. Was sang der Gassenbub da? Es war gerade einmal Viertel nach acht Uhr morgens und Nechyba war auf dem Weg ins Büro. Mit donnernder Stimme rief er ihm nach:

»Was singst denn da für an Blödsinn? Rotzbub!«

Der Bub wandte sich um und rief mit hochrotem Kopf:

»Ka Blödsinn, gnä’ Herr! Ka Blödsinn! Heut in der Nacht hat der Rigoletto am Markt einen umbracht!«

Nechyba machte kehrt. Statt zur Greislerin Lotte Landerl führte ihn sein Weg nun hinunter auf den Markt. Dort rannte er in den Polizeiagenten Drabek.

»Tschuldigen, Herr Oberinspector! Aber i hab’s eilig. Da liegt nämlich a Leich am Naschmarkt.«

»Na das schau ma uns aber gemeinsam an …«

»Selbstverständlich, Herr Oberinspector.«

Schnaufend und schwitzend erreichten die beiden Polizeiagenten schließlich den neuen, gemauerten Stand, um den sich bereits eine dichte Menschenmenge versammelt hatte. Drabek machte Nechyba den Weg frei. Schließlich standen sie vor dem Sauerkrautler, aus dessen Maul die eine Hälfte einer Gurkenzange herausragte, als wäre sie ein langer, hölzerner Bart.

Die anwesenden Uniformierten salutierten vor Nechyba, der der ranghöchste Polizist in der Runde war. Vorsichtig besah er den Toten und brummte:

»Also das hab ich a noch nie gesehen. Dass a Mensch mit einer Gurkenzange erstochen oder besser gesagt erstickt worden ist. Meine Herren, wir leben in Zeiten … Früher hat’s so was net gegeben.«

»Hier hamma einen Tatverdächtigen. Z’erst hat er die Leich gfunden, dann wollt er sich davonmachen. Drauf hat ihn der neue Standbesitzer, der Fleischselcher Gruber, aufg’halten, weil er ihm verdächtig vorkommen is. In seinem Gwand hamma dann das da gfunden.«

Der Beamte zeigte Nechyba ein mächtiges Küchenmesser. Der Oberinspector musterte zuerst das Messer und dann den Verdächtigen, einen Kriegsversehrten. Er konnte einen leichten Schauder nicht unterdrücken und murmelte:

»Bist du der Rigoletto?«

Als das bedauernswerte Geschöpf nickte, wendete sich Nechyba ab und befahl:

»Die Leich kommt so, wie sie is, zum Doktor Haberda in die Sensengasse8. Und der Sängerknabe, der Rigoletto, kommt mit mir ins Polizeigebäude mit. Gemma, meine Herren!«

***

Im Polizeigebäude schubste Joseph Maria Nechyba den Giovanni Newerkla vor sich her. Allerdings nicht mit der Härte, mit der er dies normalerweise tat. Im Gegenteil: Bei dieser erbärmlichen Kreatur hatte er allergrößte Skrupel, körperliche Gewalt anzuwenden. Im Verhörraum nahm er vis-à-vis von Rigoletto Platz und brummte:

»Newerkla, was is? Legst nieder?9«

»I hab nix gmacht. I weiß von nix. I bin net der, der dem Sauerkrautschneider die Holzzangen einegsteckt hat.«

»Woher weißt, dass das Mordinstrument a Holzzange war?«

»Das weiß do a jeder am Naschmarkt.«

»Ah so?«

»A jeder. A jeder …«

»Und wofür is das Messer gut?«

»Das brauch ich … ich sing am Naschmarkt … und manchmal wollen mich dann so Lausbuben abstieren10. Da brauch i das Messer …«

»Was? Willst sie abstechen?«

»Nein, natürlich net. Nur erschrecken …«

Und dann blinzelte ihn das eine unversehrte Auge so verständnisheischend, so naiv bittend und gleichzeitig so unendlich armselig an. Nechyba drehte sich der Magen um. Er stand auf und verließ den Verhörraum. Dem Pospischil, der durch das Guckloch alles beobachtet hatte, befahl er:

»Jetzt übernimmt Er das Verhör. Gemma!«

Pospischil ging mit gesenktem Haupt in den Verhörraum. Er baute sich direkt vor dem zusammengekrümmt auf seinem Sessel hockenden Verdächtigen auf und starrte ihn wortlos an. Nechyba, der Pospischil gut kannte, dachte sich: Jetzt gibt er ihm gleich so eine fürchterlich Fotzn11, dass er vom Sessel fliegt. Doch nichts dergleichen geschah. Pospischil setzt sich und versuchte mit ruhiger Stimme Informationen aus seinem Gegenüber herauszubekommen. Der Informationsgehalt von Rigolettos Antworten blieb dürftig. Nichts, was die Polizeiagenten nicht ohnedies schon wussten, kam dabei ans Tageslicht. Schließlich stand Pospischil wortlos auf und ging zur Tür. Als er sie hinter sich geschlossen hatte und Nechyba ihn fragend ansah, seufzte er:

»Nein! Dem kann i keine einehauen. Tut … tut mir … mir wirklich leid, Herr Oberinspector. Der is schon gstraft genug.«

Nechyba glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. Pospischil, der sich in solchen Situationen normalerweise wie ein von der Leine gelassener Bullterrier aufführte und die Verdächtigen grün und blau schlug, gab klein bei. Nechyba musste grinsen.

»Is schon gut, Pospischil. Gehen S’ auf Ihren Platz und fertigen Sie das Verhörprotokoll an. I lass inzwischen die arme Seele da drinnen laufen …«

***

Nachdenklich ging Nechyba zu seinem Dienstzimmer zurück, wo er bereits erwartet wurde. Der Polizeiagent Drabek stand rauchend am Gang. Als er den Oberinspector sah, rief er:

»Ah! Da sind Sie ja, Nechyba. Ich muss Ihnen was Interessantes zeigen.«

»Nur mit der Ruhe, mein lieber Drabek. Zuerst lass ma uns ein Bier kommen, dann setz ma uns in Ruhe hin und dann red ma.«

Nechyba drehte am Stand um, ging einige Zimmer zurück, öffnete eine Tür und befahl:

»Paul, holen S’ uns a Bier von unten. Da! Da haben S’ a Marie12.«

Nachdem das Bier gebracht worden war und Nechyba und Drabek jeder einen langen Zug aus ihren Gläsern gemacht hatten, wischte sich Nechyba den Bierschaum aus dem Schnauzbart und brummte:

»So da, Drabek, was haben S’ mir Interessantes zu erzählen?«

Drabek hatte schon zuvor einen Stapel Papier aus seiner Jackentasche gezogen und auf den Schreibtisch des Oberinspectors gelegt. Er schob ihm nun diesen Stapel hin, griff in die Sakko-Innentasche und legte ein Briefkuvert darauf.

»Das alles hab ich bei dem Sauerkraut-Tandler gefunden, lag alles am Boden herum.«

Nechyba sah die Zetteln durch, die wildes Gekritzel enthielten. Offensichtlich handelte es dabei um Briefentwürfe. Er schenkte ihnen keine weitere Beachtung, öffnete indes das Kuvert und faltete den darin enthaltenen Brief auseinander. Dessen Inhalt lautete folgendermaßen:

Hochwohlvermögender Herr Marktamtsleiter, Euer Gnaden!

Ich bitte um einen Augenblick Aufmerksamkeit, da es wichtig ist. Folgendermaßen hat es sich zugetragen: Ihr Untergebener, der Beamte Stankowits, hat von mir 50 Kronen gefordert und erhalten, dafür, dass ich meinigen neuen Stand beziehen darf. Nun muss ich hier plötzlich wieder ausziehen und verliere nicht nur den Stand, sondern auch mein Geld. Letzteres ist zu befürchten, da der Beamte Stankowits meiner Rückforderung bezüglich meines Geldes nicht nachkommen will.

Hochwohlvermögender Herr Marktamtsleiter, inständig bitte ich Sie, diesen Pallawatsch13 zu einem günstigen und gerechten Ende zu bringen.

Hochachtungsvoll, Anton Lehmann

Konzessionierter Händler von Essiggemüse,

Sauerkraut und Znaimer Salzgurken

Nechyba ließ den Brief sinken und sah Drabek ernst an.

»Na ja … Wenn der Sauerkraut-Tandler wirklich lästig wie eine Wanze war, könnten dem Stankowits schon die Nerven durchgegangen sein. Drabek, trinken S’ aus, wir gehen!«

***

»Gehen S’ auf d’ Seitn! Stehen S’ mir net im Weg!«, schnaufte Nechyba und schob seine immer noch gewaltige Leibesfülle14 gnadenlos durch die Menschenmenge im Marktamt, dicht gefolgt von Drabek. Vor dem Tisch angekommen, der die Wartenden von den Marktamtsbeamten trennte, zückte er seine Polizeiagentenkokarde und dröhnte durch den Raum:

»Wer ist der Stankowits?«

Ein sanguinischer Kerl zuckte zusammen, Nechyba deutete mit dem Zeigefinger auf ihn:

»Stankowits, wir müssen reden. Machen wir’s da oder kommst mit ins Polizeigebäude?«

Der Sanguiniker atmete tief durch und rang um Haltung:

»Wir sind nicht gemeinsam auf der Schulbank gesessen, Herr Inspector! Ich verbitte mir das Du-Wort.«

Drabek lachte laut auf:

»Werd net frech Stankowits! Erstens ist das da ein Oberinspector und zweitens sind wir mit so Pülchern15 wie dir grundsätzlich per Du. Also red ma da oder bei uns?«

Stankowits war blass geworden, er klappte einen Teil des trennenden Tisches in die Höhe. Nechyba und Drabek spazierten in den für die Marktsamtmitarbeiter reservierten Raum. Apropos Raum: Es herrschte Stille. Das Marktvolk gaffte schadenfroh, einer sagte halblaut:

»Endlich gehen die Kiberer gegen die Marktamt-Pülcher vor.«

Stankowits ging voran in sein Arbeitszimmer, das er mit zwei Kollegen teilte. Nechyba schmiss die anderen beiden aus dem Zimmer hinaus und ließ sich ächzend auf einen der frei gewordenen Sessel fallen. Er nickte Drabek zu, der Lehmanns Brief aus der Sakko-Innentasche zog und ihn Stankowits in die Hand drückte:

»Da! Lies!«

Stankowits nahm den Brief, las und begann zu zittern.

»Ich hätt dem Lehmann das Geld schon zurückgezahlt …«

»Leider is er tot.«

»Mausetot«, ergänzte Nechyba. „Also, Stankowits, schau ma uns die Fakten an: Du hast den Lehmann um Geld geprellt. Der wollte es zurückhaben. Du wolltest es behalten und hast ihn maukas gmacht16.«

»Wenn das kein Motiv is …«, ergänzte Drabek.

»Aber i war’s net. Das war der Rigoletto. Das wissen alle am Naschmarkt! Außer Ihnen, meine Herren …«

»Der Rigoletto hat kein Motiv …«, brummte Nechyba. Stankowits’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, er legte den Kopf schief, grinste höhnisch und sagte leise: »Ah so? Na dann fragen S’ doch einmal seine Tochter …«

***

Nechybas Magen knurrte. Deshalb befahl er Drabek, den Stankowits zu weiteren Verhören ins Polizeigebäude zu schaffen. Er selbst aber wollte das neue Beisl ausprobieren, das sich im gerade erst fertiggestellten Teil des Naschmarktes ein Stückerl stadteinwärts vom Marktamt befand. Hier, in der Eisernen Zeit, bestellte er sich als Erstes einmal ein Krügel Bier. Da sein Magen immer lauter knurrte, fragte er den Wirt, was es denn zum Bier dazugäbe.

»Heut is fleischloser Tag. Also haben wir nur Gemüse. A Spinatschnitzel können S’ haben.«

»Na danke! I will was zum Bier dazu.«

»Wie Sie wissen, dürfen wir Wirte seit September kein Gebäck mehr verkaufen. Aber hausgmachte Pogatscherln17 kann ich Ihnen anbieten.«

Nechyba strahlte:

»Grammelpogatscherl?«

Der Wirt lachte laut auf:

»Sie machen Witze! Wo soll ich denn die Grammeln18 herkriegen? Das sind ganz normale Pogatscherln ohne Grammeln. Schmecken tun s’ trotzdem gut.«

»Bringen S’ mir fünf Stück.«

Der Wirt ging grinsend ab und murmelte:

»Na servas, der hat an Hunger …«

Nechyba genoss zu seinem Krügel Bier die Pogatscherln, sein Magen beruhigte sich und er hätte wahnsinnig gerne ein weiteres Krügerl getrunken. Doch daran war nicht zu denken. Denn auch die Bierausschank war infolge der allgemeinen Lebensmittelknappheit per Gesetz auf ein Bier pro Gast und Gasthaus beschränkt. Wenn er noch eines trinken wollte, musste er weiterziehen. Andererseits sollte er dringend mit der Tochter von dem Rigoletto reden. Plötzlich trat ein kräftiger Kerl an seinen Tisch und sprach ihn an:

»Tschuldigen Sie, wenn ich störe, Herr Inspector …«

»Oberinspector …«

»Tschuldigen, Herr Oberinspector … ich bin der Gruber-Willibald, der Nachmieter vom ermordeten Sauerkraut-Tandler.«

»Ah ja …«

»Ich hab heut den Stand zusammengräumt und die Sauerkraut- und Gurkenfässer hab ich wegbringen lassen. Dann hab ich meine eigene Ware in den Stand eingeräumt, aber ich war ziemlich bald ausverkauft.«

»Ja und?«

»Na dann hab i den Stand innen ein bisserl geputzt. Alles abgewischt und den Boden zusammenkehrt. Und dabei hab ich das gfunden …«

Willibald Gruber legte ein abgerissenes Bettelarmband vor Nechyba auf den Tisch.

»Das is in einer Ecke am Boden gelegen. Justament dort, wo auch die Leich von dem Sauerkraut-Tandler gelegen is …«

***

Nechyba läutete bei Newerkla. Schritte näherten sich, die Tür ging auf und der Oberinspector blickte in eine vom Krieg geschaffene Kraterlandschaft, die früher einmal Giovanni Newerklas Gesicht war.

»Herr Oberinspector?«

»Komm, lass mich rein, Newerkla. Ich muss mit deiner Tochter reden …«

»Nicht! Lassen S’ die Kleine in Ruh! I bitt Sie!«

»Ich tu ihr nix. Ehrenwort, Newerkla. Aber ich muss mit ihr reden.«

Widerwillig gab Giovanni Newerkla den Weg in die Wohnung frei. Nechyba war beeindruckt. Es handelte sich um eine schöne Zweizimmerwohnung mit Vorzimmer, Küche und Nebenräumen. An den Wänden hingen überall Musikinstrumente, Fotos und Erinnerungsstücke, die von den Auftritten des Wienerliedsängers Fritz Newerkla sowie von Opernaufführungen, in denen seine Frau, die Mezzosopranistin Giovanna Belfonte, mitgewirkt hatte, zeugten. Zu Nechybas Überraschung waren Vater und Tochter nicht alleine. Die Rosen-Roserl vom Naschmarkt saß am Kopfende des Bettes, in dem die Kleine lag. Sie beäugte Nechyba misstrauisch und brummte:

»Was willst du denn da, Kiberer?«

Nechyba schluckte ob der derben Anrede. Er beherrschte sich und antwortete höflich:

»Ich muss mit der Kleinen reden.«

»Der geht’s net guat. Die is krank …«

Nechyba nahm einen Stuhl und setzte sich ebenfalls ans Kopfende des Bettes. Mit leiser Stimme fragte er die Kleine:

»Wie geht’s dir denn?«

Das Kind wendete den Blick ab und schwieg.

»Hast Schmerzen? Soll ich einen Doktor rufen?«

»Der Doktor war schon da«, brummte Giovanni Newerkla.

»Was hat sie denn? Was fehlt ihr?«

Die Rosen-Roserl hielt der Kleinen die Ohren zu und flüsterte giftig:

»Der Lehmann, die alte Drecksau, hat sich gestern an ihr vergriffen. Die Pichler-Pauli hat ihn dabei erwischt. Die Kleine war ganz blutig … untenrum …«

Nechyba bekam einen Schweißausbruch. Er setzte die Melone ab, wischte sich mit einem Taschentuch über Stirn und Nacken. Beim Wegstecken des Tuchs fischte er das zuvor erhaltene Bettelarmband aus der Jackentasche. Nervös begann er damit zu spielen. Ihm fehlten die Worte.

Das Klimpern des Schmuckstücks erregte die Aufmerksamkeit der Kleinen. Sie fixiert das Armband und wandte sich dann an die Rosen-Roserl:

»Tante Rosa, wieso hat der Mann dein Armband?«

Nechyba stockte der Atem. Er sah die Fratschlerin scharf an und fragte:

»Gehört das dir?«

Die Rosen-Roserl wurde knallrot im Gesicht, ließ aber keinen Ton vernehmen. Nun insistierte das Kind:

»Tante Rosa, das ist doch deines. Hat er dir’s gestohlen?«

Die große, kräftige Frau stammelte:

»Nein, ich hab’s gestern Nacht verloren …«

»Im Stand vom Johann Lehmann. Dafür hab ich einen Zeugen.«

Die Rosen-Roserl sprang auf, fixierte den Oberinspector mit wütendem Blick und zischte:

»Wie ich das von der Kleinen g’hört hab, hab i ka Ruah gfundn … i bin zum Naschmarkt owe19 und hab gsehn, wie die alte Drecksau einen Brief gschriebn hat … als er dann eingschlafn is, hab i mi einegschlichn, ihm den Frnak20 zug’haltn und die Sauerkrautzange gnommen …«

Ihr Blick wanderte weit weg, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Und dann … dann hab ich ihm das Trumm21 einegrammt … Stoß um Stoß … gnadenlos … so wie er mir als Kind sein grausliches Trumm einegrammt hat …«

Lisa Lercher

Mit Ablaufdatum

In jedem Ende steckt ein neuer Anfang

Die Arbeit in der Bioabfallaufbereitungsanlage faszinierte Schurl immer noch. Der Mist, den die Kollegen vom Karottenballett, wie die Mitarbeiter der MA 48 liebevoll im Volksmund genannt werden, ins Rinterzelt lieferten, wurde hier von Verunreinigungen gesäubert, durchmischt und mit Wasser versetzt. Danach brachte man das Material zur Kompostierung in das Werk in der Lobau.

Schurl, dessen Schicht bald zu Ende war, wartete, bis der Container von der Ladefläche gehoben worden war. Braungrüner Matsch platschte, kollerte und rann aus dem orangen Metallbehälter. Doch etwas irritierte ihn. Schurl kniff die Augen zusammen und reckte den Hals. Dann riss er die Arme in die Höhe und rannte los, wild gestikulierend, um den Vorarbeiter auf sich aufmerksam zu machen. Es dauerte eine Weile, bis das Förderband stoppte.

Der Anblick war verstörend, wie man an den Gesichtern der Hinzugeeilten ablesen konnte. Schurl hatte nicht verhindern können, dass ihm ein Schwall Magensäure mit dezenter Jägermeisternote über die Papillen geschwappt war. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, das unappetitliche Gemisch zurück in seinen Magen zu zwingen.

Die Presse hatte gute Arbeit geleistet. Was vom Kopf übriggeblieben war, war ziemlich deformiert. Jedenfalls konnte Schurl keine Gesichtszüge erkennen. Trotz des Grauens, das er empfand, starrte er immer noch wie hypnotisiert auf die zerquetschte Leiche, die mit dem Biomüll aus dem Container gefallen war. Eine dunkel verfärbte Hand lugte aus den vergammelten Resten von Krautköpfen und Jägersalat. Der Gatsch beim Fuß, der in einem durchweichten Lederschnürschuh steckte, stammte vermutlich von Zitrusfrüchten, vielleicht auch von Äpfeln. So genau konnte man das nicht mehr sagen. »Pfoa«, sagte der mittlerweile hinzugekommene Chef der Truppe und ergänzte seinen knappen Kommentar mit einem herzhaften »So a Schaas!«. Dann zückte er sein Handy, um den nächsthöheren Vorgesetzten zu verständigen.

Vier Tage davor

Vickerl war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen! Gretl Habersack quälte sich schnaufend von der U-Bahn über die ausgetretenen Steinstufen der Station Kettenbrückengasse hinauf. Die verwahrlosten Männer, die sich im gefliesten Eingangsbereich leise unterhielten und dabei die Schnapsflasche kreisen ließen, ignorierte sie ebenso wie den Giftler, der Passanten um Kleingeld für Hundefutter anschnorrte. Sein Schäfermischling, der vor der Klotür kauerte, hatte die Schnauze auf die Vorderpfoten gelegt und bedachte Gretl mit einem treuherzigen Blick. Wäre sie mit ihren Gedanken nicht ganz woanders gewesen, hätte sie bestimmt Mitleid mit dem Tier verspürt.

Sie drückte energisch die Schwingtür auf, die auf den Vorplatz führte. Der späte Dezembernachmittag empfing sie mit feinen Nebeltröpfchen, die ihr wie ein Schleier kühl über das Gesicht wischten. Auf dem nassen Asphalt spiegelten sich die Scheinwerfer der Autokolonnen, die sich die Rechte und Linke Wienzeile entlangstauten. Es stank nach Abgasen und ein wenig nach Kanal. Das war ihr immer noch lieber als der Dunst von ungewaschenen Menschen, Nikotin und Alkohol, der Gretl gerade eben noch in die Nase gestiegen war.

Zwischen den beiden Straßenzügen lag, wie eine Insel, der Naschmarkt. Hinter den blau gerahmten Fenstern des Marktamtes, gleich gegenüber der U-Bahn-Station, war es dunkel. Die zentrale Verwaltungsstelle, die auch für die Kontrolle der Standler zuständig war, hatte am Feiertag geschlossen.

Gretl zog das Kopftuch tiefer in die Stirn. Der abgetragene Wollmantel spannte um ihre stämmige Gestalt. Die Füße steckten in knarzenden Gesundheitsschuhen, auf deren braunem Leder Streusalz helle Ränder hinterlassen hatte. Der grippale Infekt, der sie zwei Wochen ins Bett gezwungen hatte, war überstanden. Vom Kreislauf her war sie jedoch noch nicht auf der Höhe. Umso mehr verwünschte sie ihren Mann, dieses »unnediche Maunnsbüd«, das ihr keine andere Wahl gelassen hatte, als nach dem Rechten zu sehen. Ihre Nasenspitze war feucht und vor Kälte gerötet. Sie wischte mit dem Handrücken darüber. Ein Mädchen, das ihr über den Zebrastreifen entgegenkam, wich erschrocken zur Seite, als sie Gretls grimmigen Gesichtsausdruck wahrnahm. Dabei galt Gretls Groll gar nicht dem Kind, sondern Vickerl, ihrem Mann. »Dem sog is heit«, murmelte sie im Selbstgespräch, während ihr Blick abwesend über den Bereich glitt, wo samstags der Bauernmarkt abgehalten wurde.