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Die berührende Verfilmung mit Tom Hiddleston ab dem 17.10. auf 4k UHD, Blu-Ray, DVD und Digital
Jedes Leben ist ein ganzes Universum
Wer ist Chuck? Die Welt geht unter, Kalifornien versinkt im Meer, das Internet bricht zusammen – doch in einer Kleinstadt im Mittleren Westen herrscht vor allem Dankbarkeit gegenüber Charles »Chuck« Krantz, einem gewöhnlichen Buchhalter, dessen Gesicht allen freundlich von Plakatwänden und aus dem Fernsehen zulächelt. Wer ist dieser Mann, den niemand wirklich zu kennen scheint? Ein Rätsel, das weit zurückreicht … bis in dessen Kindheit bei seiner Großmutter, die ihre unendliche Liebe fürs Tanzen an ihn weitergab, und seinem Großvater, der ihn in die Geheimnisse der Buchhaltung einweihte und unbedingt vor jenem der verschlossenen Dachkammer in der Kuppel ihres viktorianischen Hauses bewahren wollte. Ein Rätsel, das vor allem eine Frage aufwirft: Kann das Schicksal eines Einzelnen die ganze Welt verändern?
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Seitenzahl: 192
Veröffentlichungsjahr: 2025
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen. Seine großen Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
STEPHEN KING
The Life of Chuck
»Chucks Leben«
Kurzroman
Aus dem Englischenvon Bernhard Kleinschmidt
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Life of Chuck« erstmals 2020 in der Sammlung If It Bleeds bei Scribner, New York. Die vorliegende Fassung von »Chucks Leben« wurde der deutschen Ausgabe Blutige Nachrichten entnommen.
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Einzelausgabe mit einem Nachwort des Autors 10/2025
Copyright © 2020, 2025 by Stephen King
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Artwork © Tobis Film
ISBN 978-3-641-34394-1V002
www.heyne.de
Kurz nach dem Tag, an dem Marty Anderson die Reklametafel sah, brach das Internet schließlich endgültig zusammen. Seit den ersten kurzen Unterbrechungen hatte es da schon acht Monate gewackelt. Alle waren sich einig, dass es nur eine Frage der Zeit war, und alle waren sich einig, dass sie sich irgendwie durchschlagen würden, sobald die vernetzte Welt endgültig erlosch – schließlich waren sie früher auch ohne die ausgekommen, oder etwa nicht? Davon abgesehen gab es noch ganz andere Probleme, wie etwa, dass ganze Vogel- und Fischarten ausstarben, und jetzt musste man sich auch um Kalifornien Sorgen machen: Es schwand und schwand und war vielleicht bald ganz verschwunden.
Marty kam spät aus der Schule, weil es der Tag war, den er und seine Kollegen an der Highschool am wenigsten schätzten, der mit dem Elternnachmittag. Diesmal hatte Marty festgestellt, dass nur wenige Eltern daran interessiert waren, über die Fortschritte von Klein Johnny und Klein Janey (oder deren Mangel) zu sprechen. Hauptsächlich wollten sie sich über den wahrscheinlich endgültigen Zusammenbruch des Internets auslassen, durch den ihre Facebook- und Instagram-Accounts erledigt sein würden. Niemand erwähnte Pornhub, aber Marty hegte den Verdacht, dass viele der erschienenen Eltern – weiblich wie männlich – auch den drohenden Untergang dieser Website betrauerten.
Normalerweise hätte Marty die Umgehungsstraße genommen, zack, zack, im Nu zu Hause, aber das war nicht möglich, weil die Brücke über den Otter Creek eingestürzt war. Das war zwar bereits vier Monate her, doch immer noch gab es keinerlei Anzeichen für bevorstehende Reparaturarbeiten, nur orange gestreifte Sperren aus Holz, die bereits wackelig aussahen und längst mit Graffiti-Tags übersät waren.
Da die Umgehung geschlossen war, sah sich Marty wie alle im Osten der Stadt wohnenden Leute gezwungen, direkt durchs Zentrum zu fahren, um sein Haus am Cedar Court zu erreichen. Dank Elternnachmittag war er erst um fünf statt um drei gestartet, also auf dem Höhepunkt der Rushhour, weshalb er für die Fahrt, die in der guten alten Zeit zwanzig Minuten gedauert hätte, mindestens eine Stunde brauchen würde, wahrscheinlich länger, weil auch manche Verkehrsampeln ausgefallen waren. Auf der gesamten Strecke herrschte Stop-and-go-Verkehr mit viel Gehupe, kreischenden Bremsen, sich berührenden Stoßstangen und gereckten Mittelfingern. An der Kreuzung Main und Market Street hing er volle zehn Minuten fest, weshalb er mehr als genug Zeit hatte, die Reklametafel auf dem Gebäude der Midwest Trust zu studieren.
Bisher war dort für eine Fluggesellschaft geworben worden, für Delta oder Southwest, das wusste Marty nicht mehr. Heute Nachmittag war die fröhliche, Arm in Arm dastehende Flugbegleiter-Crew jedoch durch das Foto eines mondgesichtigen Mannes ersetzt worden, dessen schwarz gerahmte Brille gut zu seinen schwarzen, säuberlich gekämmten Haaren passte. Mit einem Kugelschreiber in der Hand saß er an einem Schreibtisch, ohne Sakko, aber mit einer sorgfältig am Kragen seines weißen Hemdes geknoteten Krawatte. Auf der Hand mit dem Kugelschreiber war eine halbmondförmige Narbe sichtbar, die man aus irgendeinem Grund nicht retuschiert hatte. Marty fand, dass er wie ein Buchhalter aussah. Von seinem Hochsitz über dem Bankgebäude aus blickte er heiter lächelnd auf den Verkehrsstau an der Ampel herab. Über seinem Kopf stand in blauen Lettern CHARLESKRANTZ. Unter dem Schreibtisch stand in Rot: 39 WUNDERBAREJAHRE! DANKE, CHUCK!
Marty hatte noch nie von Charles »Chuck« Krantz gehört, aber der musste ein ziemlich hohes Tier bei Midwest Trust gewesen sein, wenn man ihm zum Abschied ein Foto auf einer beleuchteten Reklametafel widmete, die bestimmt mindestens fünf Meter hoch und fünfzehn Meter breit war. Das Foto wiederum musste ziemlich alt sein, denn wenn der Mann beinahe vierzig Jahre im Geschäft gewesen war, müsste er inzwischen weiße Haare haben.
»Oder gar keine mehr«, sagte Marty und strich sich über das eigene schütter gewordene Haar. Fünf Minuten später, als sich vorübergehend eine Lücke auftat, riskierte er es, die wichtigste Kreuzung im Stadtzentrum zu überqueren. Während er mit seinem Prius hindurchschoss, rechnete er jeden Moment mit einer Kollision und ignorierte die geschüttelte Faust eines Mannes, der eine Vollbremsung hinlegen musste, kurz bevor er ihn gerammt hätte.
Am Ende der Main Street überstand er einen weiteren Verkehrsstau und einen weiteren Beinahezusammenstoß. Als er nach Hause kam, hatte er die Reklametafel völlig vergessen. Er fuhr in die Garage und drückte auf die Taste, um das Tor zu schließen. Dann saß er eine ganze Minute tief atmend da und versuchte, nicht daran zu denken, dass ihn am nächsten Morgen derselbe Spießrutenlauf erwartete. Da die Umgehung geschlossen war, gab es schlicht keine andere Wahl. Jedenfalls nicht, wenn er überhaupt zur Arbeit wollte, und in diesem Augenblick kam es ihm reizvoller vor, zu Hause zu bleiben (er hatte genügend Urlaubstage angesammelt).
»Da wäre ich nicht der Einzige«, erklärte er der leeren Garage. Was er nur zu gut wusste. Laut der New York Times (die er jeden Morgen auf seinem Tablet las, falls das Internet funktionierte) feierten weltweit so viele Leute krank wie noch nie.
Mit einer Hand griff er nach seinem Bücherstapel, mit der anderen nach seiner alten, ramponierten Aktentasche, die von all den Schülerarbeiten, die korrigiert werden mussten, ziemlich ausgebeult war. Derart schwer bepackt, stieg er mühsam aus und drückte dann mit dem Hintern die Tür zu. Dabei vollführte sein Schatten an der Wand eine skurrile Tanzbewegung, die ihn laut zum Lachen brachte. Bei dem Geräusch aus seinem Mund fuhr er zusammen; in dieser schwierigen Zeit hörte man kaum noch jemand lachen. Dann fiel ihm die Hälfte der Bücher auf den Garagenboden und setzte seiner aufkeimenden guten Laune ein jähes Ende.
Er sammelte die Einführung in die amerikanische Literatur und Vier kurze Romane ein (momentan las er mit den Zehntklässlern Die rote Tapferkeitsmedaille) und ging ins Haus. Kaum hatte er alles mit viel Mühe auf der Ablage in der Küche deponiert, läutete das Telefon. Natürlich das Festnetz, Mobilfunkempfang gab es praktisch keinen mehr. Manchmal beglückwünschte er sich dafür, dass er im Gegensatz zu vielen Kollegen seinen Anschluss behalten hatte. Die waren jetzt wirklich aufgeschmissen, denn sich einen legen zu lassen konnte man seit etwa einem Jahr komplett vergessen. Man würde eher die Umfahrung wieder benutzen können, bevor man da auf der Warteliste nach ganz oben rückte. Und selbst das Festnetz fiel inzwischen ja häufig aus.
Die Rufnummernerkennung funktionierte zwar nicht mehr, aber er war sich so sicher, wer anrief, dass er einfach abhob und »Yo, Felicia!« sagte.
»Wo hast du gesteckt?«, fragte seine Exfrau. »Ich versuche schon seit einer geschlagenen Stunde, dich zu erreichen!«
Marty erzählte von dem Elternnachmittag und der langen Fahrt nach Hause.
»Geht’s dir einigermaßen?«
»Wird schon, sobald ich was gegessen habe. Und dir?«
»Geht so, aber wir hatten heute sechs weitere.«
Marty musste nicht fragen, was für sechs weitere das waren. Felicia arbeitete als Krankenschwester am City General, wo das Personal sich seit einiger Zeit als Suizidstaffel bezeichnete.
»Das tut mir leid.«
»Ein Zeichen der Zeit.« In ihrem Ton hörte er ein Achselzucken und dachte, dass sechs Selbstmorde an einem Tag Felicia vor zwei Jahren – als sie noch verheiratet gewesen waren – so erschüttert hätten, dass eine schlaflose Nacht unvermeidbar gewesen wäre. Aber offenbar konnte man sich an alles gewöhnen.
»Nimmst du eigentlich weiter das Zeug gegen Magengeschwüre, Marty?« Noch bevor er antworten konnte, sprach sie eilig weiter. »Ich will dich nicht nerven, mach mir bloß Sorgen um dich. Dass wir geschieden sind, heißt schließlich nicht, dass du mir nichts mehr bedeutest, weißt du?«
»Das weiß ich, und ja, ich nehme das Zeug noch.« Was eine halbe Lüge war, weil das ihm vom Arzt verschriebene Medikament nicht mehr erhältlich war, weshalb er sich mit Omeprazol begnügte. Die Wahrheit verschwieg er, weil auch ihm seine Frau noch etwas bedeutete. Seit die beiden nicht mehr miteinander verheiratet waren, kamen sie besser miteinander aus. Gelegentlich hatten sie sogar Sex, zwar nur sporadisch, aber dafür war er verdammt gut. »Freut mich, dass du dich erkundigst.«
»Ehrlich?«
»Allerdings.« Er öffnete den Kühlschrank. Die Auswahl war beschränkt, aber es gab Würstchen, ein paar Eier und einen Becher Blaubeerjoghurt, den er sich als Betthupferl aufheben würde. Dazu drei Dosen Bier.
»Gut. Wie viele Eltern sind überhaupt aufgetaucht?«
»Mehr als erwartet, aber voll war die Bude bei weitem nicht. Reden wollten sie vor allem über das Internet. Offenbar dachten sie, ich wüsste Genaueres darüber, weshalb es ständig den Geist aufgibt. Ich musste ihnen erklären, dass ich Englischlehrer bin, nicht IT-Fachmann.«
»Von Kalifornien hast du gehört, oder?« Sie hatte die Stimme gesenkt, als würde sie ein Geheimnis verraten.
»Ja.« Am Morgen hatte ein gewaltiges Erdbeben, das dritte im Monat und bei weitem das schlimmste, einen weiteren großen Brocken des Golden State im Pazifik versenkt. Erfreulicherweise war die Region zuvor weitgehend evakuiert worden. Weniger erfreulich war, dass jetzt mehrere Hunderttausend Flüchtlinge nach Osten zogen und Nevada in einen der bevölkerungsreichsten Staaten des Landes verwandelten. Benzin kostete dort jetzt fünf Dollar den Liter. Nur gegen bar und nur wenn man überhaupt welches bekam.
Marty nahm eine halb leere Milch aus dem Kühlschrank, schnupperte daran und trank direkt aus der Flasche, ohne sich um das leicht verdächtige Aroma zu kümmern. Er brauchte zwar etwas Richtiges zu trinken, wusste jedoch aus bitterer Erfahrung (und aus schlaflosen Nächten), dass er zuerst seinen Magen auspolstern musste.
»Schon interessant, dass die erschienenen Eltern sich mehr Sorgen um das Internet als um die Erdbeben in Kalifornien gemacht haben«, sagte er. »Wahrscheinlich weil die Regionen, wo Nahrungsmittel produziert werden, noch standhalten.«
»Aber wie lange noch? Im Radio war auf NPR ein Wissenschaftler, der gesagt hat, dass Kalifornien sich ablöst wie eine alte Tapete. Außerdem ist heute wieder ein japanisches Atomkraftwerk überflutet worden. Angeblich hatte man es schon heruntergefahren, und sie behaupten, dass nichts passiert ist, aber das kann ich nicht so recht glauben.«
»Du Zynikerin.«
»Wir leben in zynischen Zeiten, Marty.« Sie zögerte. »Manche Leute meinen, wir leben in der Endzeit, und das sind nicht bloß religiöse Fanatiker. Schon lange nicht mehr. Das sagt dir eine angesehene Mitarbeiterin der Suizidstaffel vom City General. Klar, wir haben heute sechs Menschen verloren, aber dafür achtzehn ins Leben zurückgeholt. Hauptsächlich mithilfe von Naloxon, obwohl …« Wieder senkte sie die Stimme. »Obwohl auch da unser Vorrat stark zur Neige geht. Ich hab den Leiter der Krankenhausapotheke sagen hören, dass wir am Monatsende wahrscheinlich gar nichts mehr haben.«
»Das ist echt beschissen«, sagte Marty mit Blick auf seine Aktentasche. Die ganzen Arbeiten, die er anschauen musste. Die ganzen Rechtschreibfehler, die auf Korrektur warteten. Die ganzen zusammenhanglosen Nebensätze und vagen Schlussfolgerungen, die rot angestrichen werden mussten. Elektronische Hilfen wie die Rechtschreibprüfung und irgendwelche Grammatik-Apps hatten offenbar keine große Wirkung. Er wurde schon müde, wenn er nur daran dachte. »Hör mal, Fel, ich sollte langsam auflegen. Muss Arbeiten benoten und Aufsätze über ein Gedicht von Robert Frost korrigieren.« Bei der Vorstellung, was für Banalitäten ihn in den Aufsätzen erwarteten, kam er sich alt vor.
»In Ordnung«, sagte Felicia. »Ich wollte … mich bloß mal gemeldet haben, ja?«
»Klar doch.« Marty öffnete den Hängeschrank und nahm den Bourbon heraus. Mit dem Eingießen wollte er warten, bis sie aufgelegt hatte, damit sie das Gluckern nicht hörte und wusste, was er tat. Schon Ehefrauen verfügten über eine gewisse Intuition, bei Exfrauen schien sich die zu einem HD-Radar zu entwickeln.
»Darf ich sagen, dass ich dich liebe?«, fragte sie.
»Nur wenn ich dasselbe sagen darf«, erwiderte Marty, während er mit dem Zeigefinger über das Etikett auf der Flasche fuhr: Early Times. Genau die richtige Marke für die Endzeit, dachte er.
»Ich liebe dich, Marty.«
»Und ich dich auch.«
Ein gutes Schlusswort für das Gespräch, aber sie war immer noch dran. »Marty?«
»Was denn, Schatz?«
»Die Welt geht gerade vor die Hunde, und wir können nichts anderes tun, als das beschissen zu finden. Deshalb gehen wir vielleicht auch bald vor die Hunde.«
»Kann gut sein«, sagte er. »Aber immerhin geht Chuck Krantz in Ruhestand, was wohl ein Lichtstrahl in der Dunkelheit ist.«
»Neununddreißig wunderbare Jahre«, ergänzte sie, und jetzt war sie es, die lachte.
Er stellte die Milchflasche ab. »Hast du etwa auch die Reklametafel gesehen?«
»Nein, das hab ich aus einem Werbespot im Radio. Aus der Sendung auf NPR, von der ich dir erzählt hab.«
»Wenn die auf NPR Werbespots bringen, ist wirklich das Ende der Welt gekommen«, sagte Marty. Darüber lachte Felicia wieder, was ihn froh machte. »Sag mal, wieso kommt Chuck Krantz eigentlich zu solchen Ehren? Der sieht wie ein Buchhalter aus, und ich hab noch nie von dem gehört.«
»Keine Ahnung. Die Welt ist voller Geheimnisse. Keine scharfen Sachen, Marty. Ich weiß, dass du daran denkst. Trink lieber ein Bier.«
Während er auflegte, lachte er zwar nicht, lächelte aber. Exfrauenradar. Hochauflösend. Er stellte den Bourbon in den Schrank zurück und nahm sich stattdessen ein Bier. Dann warf er ein paar Würstchen in den Topf und ging in sein kleines Arbeitszimmer, um festzustellen, ob das Internet funktionierte, während er darauf wartete, dass das Wasser kochte.
Das Internet funktionierte sogar minimal besser, als wie üblich dahinzukriechen. Er ging auf Netflix, um sich beim Verzehren seiner Würstchen eine Folge von Breaking Bad oder The Wire anzuschauen. Der Begrüßungsbildschirm erschien mit Angeboten, die sich zum Abend zuvor nicht verändert hatten (obwohl auf Netflix vor noch nicht langer Zeit praktisch jeden Tag was Neues gekommen war), aber bevor Marty entscheiden konnte, welchen Bösewicht er sehen wollte, Walter White oder Stringer Bell, erlosch das Bild wieder. Das Wort SUCHE erschien, dazu der kleine rotierende Kreis.
»Scheiße«, sagte Marty. »Das wird heute bestimmt nichts …«
Da verschwand der Kreis, und das Bild war wieder da. Nur sah man jetzt nicht mehr den Begrüßungsbildschirm von Netflix, sondern Charles Krantz, der lächelnd an seinem mit Akten beladenen Schreibtisch saß, einen Kugelschreiber in der mit einer Narbe verzierten Hand. Über ihm stand CHARLESKRANTZ, darunter 39 WUNDERBAREJAHRE! DANKE, CHUCK!
»Wer zum Teufel bist du eigentlich, Chucky?«, sagte Marty. »Wieso bist du so wichtig?« Aber dann, als hätte sein Atem das Internet wie eine Geburtstagskerze ausgeblasen, verschwand das Bild, und die Nachricht auf dem Bildschirm lautete VERBINDUNGVERLOREN.
An diesem Abend gab es keine Verbindung mehr, und dabei blieb es. Wie die Hälfte von Kalifornien (bald würden es drei Viertel sein) war das Internet verschwunden.
Was Marty am nächsten Tag als Erstes bemerkte, während er rückwärts aus der Garage fuhr, war der Himmel. Wie lange war es her, dass er ein derart makelloses Blau gesehen hatte? Einen Monat? Sechs Wochen? Inzwischen gab es beinahe ständig Wolken, dazu Regen (manchmal als Nieseln, manchmal als Wolkenbruch), und an Tagen, wo sich die Wolken verzogen, blieb der Himmel von den Bränden im Mittleren Westen normalerweise trüb. Die Brände hatten bereits einen Großteil von Iowa und Nebraska verwüstet und griffen jetzt, angefacht von stürmischen Winden, auf Kansas über.
Als Zweites bemerkte er Gus Wilfong, der die Straße entlangtrottete. Seine überdimensionierte Lunchbox schlug ihm an den Oberschenkel. Gus trug eine Khakihose, aber dazu eine Krawatte. Er hatte eine Leitungsposition beim städtischen Hoch- und Tiefbauamt inne. Obwohl es erst Viertel nach sieben war, wirkte er so müde und abgespannt, als wäre sein langer Arbeitstag zu Ende anstatt anzufangen. Aber wenn der gerade erst anfing, wieso ging Gus dann auf sein Haus zu, das neben dem von Marty stand? Und außerdem …
Marty ließ das Fenster herunter. »Wo ist denn dein Wagen?«
Gus lachte kurz und humorlos auf. »Der steht auf dem Bürgersteig auf halber Höhe vom Main Street Hill, zusammen mit etwa hundert anderen.« Er stieß hörbar die Luft aus. »Puh, kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal drei Meilen zu Fuß gegangen bin. Was wahrscheinlich mehr über mich sagt, als du wissen willst. Falls du tatsächlich zur Schule willst, Kumpel, musst du erst mal ein ganzes Stück auf der Route 11 rausfahren und dann auf der 19 einen Bogen schlagen. Das sind mindestens zwanzig Meilen, und reichlich Verkehr gibt’s da bestimmt auch. Kann sein, dass du rechtzeitig zur Mittagspause eintriffst, aber da würde ich nicht drauf zählen.«
»Was ist denn passiert?«
»Auf der Kreuzung Main und Market hat sich ein Krater gebildet. Ein ziemlich riesiger, Mann! Möglicherweise hat der ganze Regen, den wir hatten, was damit zu tun, aber in erster Linie wohl die mangelnde Instandhaltung. Gott sei Dank ist dafür nicht ausgerechnet meine Behörde zuständig. Im Krater liegen mindestens zwanzig Fahrzeuge, vielleicht auch dreißig, und manche von den Leuten darin …« Er schüttelte den Kopf. »Die haben das nicht überlebt.«
»Du lieber Himmel«, sagte Marty. »Da hab ich erst gestern Abend gestanden. Im Verkehrsstau.«
»Dann sei froh, dass du nicht heute Morgen da warst. Sag mal, hast du was dagegen, wenn ich kurz einsteige? Mich ’nen Moment zu dir setze? Bin völlig erledigt, und Jenny hat sich bestimmt wieder schlafen gelegt. Da will ich sie nicht aufwecken, vor allem nicht mit so ’ner schlechten Nachricht.«
»Klar.«
Gus stieg ein. »Das ist übel, mein Freund.«
»Echt beschissen«, stimmte Marty zu. Dasselbe hatte er am Vorabend zu Felicia gesagt. »Da kann man nur gute Miene zum bösen Spiel machen.«
»Ich mache aber keine gute Miene«, sagte Gus.
»Nimmst du dir heute frei?«
Gus hob die Hände und ließ sie auf die Lunchbox in seinem Schoß sinken. »Weiß nicht so recht. Wenn ich herumtelefoniere, finde ich vielleicht jemand, der mich abholen kann, aber viel Hoffnung hab ich nicht.«
»Wenn du dir freinimmst, verlass dich lieber nicht darauf, dass du dir was auf Netflix oder Youtube anschauen kannst. Das Internet ist wieder abgestürzt, und ich hab den Eindruck, dass es diesmal dabei bleibt.«
»Von Kalifornien hast du wahrscheinlich gehört«, sagte Gus.
»Heute Morgen hab ich den Fernseher nicht angeschaltet. Hab ein bisschen länger geschlafen.« Marty machte eine Pause. »Ehrlich gesagt, wollte ich es mir ersparen. Gibt es denn was Neues?«
»Ja. Der Rest ist auch dahin.« Gus überlegte. »Na ja … sie sagen, dass zwanzig Prozent von Nordkalifornien noch standhalten, was in Wirklichkeit wahrscheinlich zehn bedeutet, aber die Regionen, wo unsere Nahrungsmittel herkommen, sind verschwunden.«
»Das ist ja schrecklich!« Was natürlich stimmte, aber statt Schrecken, Entsetzen und Kummer spürte Marty nur eine Art betäubte Betroffenheit.
»Kann man wohl sagen«, stimmte Gus zu. »Zumal sich der Mittlere Westen gerade in Holzkohle verwandelt und die Südhälfte von Florida jetzt praktisch ein Sumpf ist, wo nur noch Alligatoren hausen können. Hoffentlich hast du genügend Essen in der Speisekammer und im Gefrierschrank, jetzt sind bei uns nämlich alle größeren Regionen, die Nahrungsmittel produzieren, erledigt. In Europa auch. In Asien gibt es schon Hungersnöte mit Millionen Toten. Und eine Pestepidemie, hab ich gehört.«
Von Martys Einfahrt aus sahen sie weitere Leute aus Richtung Stadtzentrum kommen, viele in Anzug und Krawatte. Eine Frau in einem hübschen rosa Kostüm stapfte in Sneakers mühsam dahin, ihre High Heels in der Hand. Soweit Marty wusste, hieß sie Andrea Sowieso und wohnte in der nächsten oder übernächsten Straße. Hatte Felicia ihm nicht erzählt, dass sie bei Midwest Trust arbeitete?
»Und die Bienen!«, fuhr Gus fort. »Die waren schon vor zehn Jahren gefährdet, aber jetzt sind sie total verschwunden, bis auf ein paar Völker unten in Südamerika jedenfalls. Kein Honig mehr, von Honigkuchenpferden ganz zu schweigen. Und wenn’s keine Bienen mehr gibt, die die restlichen Obstbäume bestäuben …«
»Moment mal«, sagte Marty. Er stieg aus dem Wagen und trabte los, um die Frau in dem rosa Kostüm einzuholen. »Andrea? Heißen Sie nicht Andrea?«
Misstrauisch drehte die Frau sich um und hob ihre Schuhe, wohl um sich notfalls mit den Absätzen zu wehren. Marty begriff; inzwischen gab es mehr als genug Leute, die einen Sprung in der Schüssel hatten. Deshalb blieb er in einiger Entfernung stehen. »Ich bin der Mann von Felicia Anderson.« Eigentlich der Ex, aber Mann hörte sich potenziell weniger gefährlich an. »Sie kennen Felicia doch, oder?«
»Tu ich. Wir waren gemeinsam im Nachbarschaftskomitee. Was kann ich für Sie tun, Mr. Anderson? Ich habe eine lange Wanderung hinter mir, und mein Wagen steckt im Stadtzentrum in einem offenbar endgültigen Stau fest. Tja, und die Bank, bei der ich arbeite, die ist … am Kippen.«
»Am Kippen«, wiederholte Marty. Vor seinem geistigen Auge sah er ein Bild des Schiefen Turms von Pisa. Mit dem Abschiedsfoto von Chuck Krantz auf der Spitze.
»Sie steht am Rand von diesem Krater. Reingestürzt ist sie zwar noch nicht, aber viel fehlt nicht. Bestimmt wird sie für abbruchreif erklärt. Wahrscheinlich ist damit auch mein Job erledigt, zumindest in der Innenstadtfiliale, aber was soll’s. Ich will jetzt nur noch nach Hause und die Füße hochlegen.«
»Ich hab eine Frage zu der Reklametafel auf dem Gebäude. Haben Sie die gesehen?«
»Wie hätte ich die übersehen können?«, antwortete sie. »Schließlich arbeite ich da. Außerdem habe ich die Graffitisprüche gesehen, die man überall findet – Chuck, wir lieben dich, es lebe Chuck, Chuck in Ewigkeit –, und die Spots im Fernsehen.«
»Wirklich?« Marty erinnerte sich daran, was er am Vorabend auf Netflix gesehen hatte, kurz bevor die Verbindung abgebrochen war. Da hatte er es als besonders nervige Werbung abgetan.
»Na ja, jedenfalls auf den örtlichen Sendern. Im Kabelfernsehen vielleicht nicht, aber das kriegen wir nicht mehr rein. Schon seit Juli nicht.«
»Wir auch nicht.« Da er mit der Fiktion angefangen hatte, immer noch Teil eines Wirs zu sein, kam es ihm angemessen vor, damit weiterzumachen. »Bloß Kanal acht und zehn.«
Andrea nickte. »Keine Werbespots für Autos oder Eliquis oder Bob’s Möbeldiscount mehr. Bloß noch Charles Krantz, neununddreißig wunderbare Jahre, danke, Chuck. Eine ganze Minute lang, bevor die üblichen Wiederholungen fortgesetzt werden. Sehr merkwürdig, aber was ist das heutzutage nicht? Aber jetzt muss ich wirklich nach Hause.«
»Hat dieser Charles Krantz denn nichts mit Ihrer Bank zu tun? Geht er denn nicht da in Ruhestand?«