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Eine revolutionäre Erfindung – und ihre Zukunft Tim Berners-Lee ist der womöglich einflussreichste Erfinder der modernen Welt. Geboren im selben Jahr wie Bill Gates und Steve Jobs, teilte er seine Erfindung, das World Wide Web, ohne sie kommerziell zu verwerten. Auch deshalb konnte sich diese Technologie so schnell über den gesamten Globus verbreiten. Mit ihr wurde die Menschheit zur ersten digitalen Spezies: Hier, im Web, vernetzen wir uns, hier leben, arbeiten, streiten und träumen wir. In seinem Buch erzählt Berners-Lee, wie er als Ingenieur am Schweizer Forschungszentrum CERN auf die Idee kam, das damals noch junge Internet mithilfe von standardisierten Protokollen und Hypertext-Links in eine offene Plattform für alle und jeden zu verwandeln. Er läutete damit ein neues Zeitalter der Kreativität und Kollaboration ein. Zugleich aber wurden Kräfte entfesselt, die nichts mit der ursprünglichen Idee des Web gemein hatten: Staaten und Konzerne machten sich daran, das Internet für Macht- und Profitzwecke zu instrumentalisieren. Wann und warum geriet die Utopie, die hinter dem Web stand, ins Wanken? Und wie können wir diese Utopie nicht nur wiederbeleben, sondern auch Wirklichkeit werden lassen? Mit der Ankunft von KI stehen wir an der nächsten Schwelle der Entwicklung, entscheidende Weichen müssen gestellt werden. Tim Berners-Lee zeigt, worauf es dabei ankommt – und warum es sich mehr denn je lohnt, für eine freie und selbstbestimmte Zukunft im Web zu kämpfen.
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Seitenzahl: 503
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tim Berners-Lee
Die unvollendete Geschichte des World Wide Web
Eine revolutionäre Erfindung – und ihre Zukunft
Tim Berners-Lee ist der womöglich einflussreichste Erfinder der modernen Welt. Geboren im selben Jahr wie Bill Gates und Steve Jobs, teilte er seine Erfindung, das World Wide Web, ohne sie kommerziell zu verwerten. Auch deshalb konnte sich diese Technologie so schnell über den gesamten Globus verbreiten. Mit ihr wurde die Menschheit zur ersten digitalen Spezies: Hier, im Web, vernetzen wir uns, hier leben, arbeiten, streiten und träumen wir.
In seinem Buch erzählt Berners-Lee, wie er als Ingenieur am Schweizer Forschungszentrum CERN auf die Idee kam, das damals noch junge Internet mithilfe von standardisierten Protokollen und Hypertext-Links in eine offene Plattform für alle und jeden zu verwandeln. Er läutete damit ein neues Zeitalter der Kreativität und Kollaboration ein. Zugleich aber wurden Kräfte entfesselt, die nichts mit der ursprünglichen Idee des Web gemein hatten: Staaten und Konzerne machten sich daran, das Internet für Macht- und Profitzwecke zu instrumentalisieren.
Wann und warum geriet die Utopie, die hinter dem Web stand, ins Wanken? Und wie können wir diese Utopie nicht nur wiederbeleben, sondern auch Wirklichkeit werden lassen? Mit der Ankunft von KI stehen wir an der nächsten Schwelle der Entwicklung, entscheidende Weichen müssen gestellt werden. Tim Berners-Lee zeigt, worauf es dabei ankommt – und warum es sich mehr denn je lohnt, für eine freie und selbstbestimmte Zukunft im Web zu kämpfen.
Tim Berners-Lee, geboren am 8. Juni 1955 in London, erfand im Jahr 1989 am Schweizer CERN das World Wide Web. Seitdem hat er sich durch seine Arbeit für Inrupt Inc., das World Wide Web Consortium (W3C), das Open Data Institute und die World Wide Web Foundation unermüdlich für gemeinsame Standards, offenen Webzugang für alle und die Macht des Einzelnen im Web eingesetzt. Er ist Professor emeritus am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und seit 2016 Research Fellow an der Universität Oxford. Als entschiedener Fürsprecher der positiven, weltverändernden Kraft von Technologie erhielt Berners-Lee den Seoul Friedenspreis 2022 für digitale Souveränität. Das Time Magazine nahm ihn in die Liste der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts auf.
Karsten Petersen, Jahrgang 1957, studierte Elektrotechnik an der University of Delaware (USA). Er übersetzt in erster Linie Bücher aus den Bereichen Biografien und Sachbuch aus dem Englischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Bill Gates, Frances Haugen, Ayaan Hirsi Ali, Parag Khanna, Adam Kucharski, Jaron Lanier, Dan McCrum und Adam Tooze.
Die englische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel «This Is for Everyone» bei Macmillan, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«This Is for Everyone» Copyright © 2025 by Bolon Management Limited
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München, nach dem Original von Farrar, Straus & Giroux
Coverabbildung Cover Design by Rodrigo Corral; Cover Art by Violet Dine
ISBN 978-3-644-01824-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Rosemary und unsere Kinder Alice, Jamie, Ben, Lyssie und Indi
Ich war 34 Jahre alt, als ich im Mai 1990 zum ersten Mal die Idee für das World Wide Web präsentierte. Damals arbeitete ich als Programmierer an einem Teilchenbeschleuniger in der Schweiz. Niemand vermisste das Web, und fast niemand erwartete, dass daraus etwas werden würde. Ich war noch nie im Silicon Valley gewesen, hatte keinen Zugang zu Risikokapital und war weit entfernt von Computer-Science-Forschungseinrichtungen wie der Stanford University oder dem Massachusetts Institute of Technology (MIT). Ich hatte keine Erfolge als Erfinder vorzuweisen, besaß keine Patente, hatte nie eine Firma gegründet, nie ein Team von Mitarbeitern geführt und lediglich ein paar Forschungsberichte veröffentlicht.
Ich arbeitete am CERN (ursprünglich der Europäische Rat für Kernforschung, heute die Europäische Organisation für Kernforschung) im schweizerischen Genf, der größten und komplexesten internationalen Forschungseinrichtung für Teilchenphysik, die je errichtet wurde. Das CERN hatte die Mission, das elementare Wesen von Materie zu erforschen: Was ist Materie? Und wie entsteht sie? Zu diesem Zweck wurden dort Strahlen von subatomaren Teilchen auf einer gigantischen ringförmigen Rennstrecke beschleunigt, immer schneller und schneller, um sie dann am Ende aufeinanderprallen zu lassen und zu erforschen, was dabei passiert. Ich war daran beteiligt, die Software zu entwickeln, die es all den Computern und Messinstrumenten dort ermöglichte, untereinander zu kommunizieren.
Die Arbeit am CERN machte eine Menge Spaß. Es gab Projekte und Menschen aus der ganzen Welt und viele unterschiedliche Arten von Computern, von Mainframes (Großrechnern) im Rechenzentrum über Workstations in den Steuerungszentralen bis hin zu den Mikroprozessoren, die in dem 27 Kilometer langen Arbeitstunnel rings um den Beschleuniger im Einsatz waren, 300 Meter unter der Erde. Um den Überblick über diese komplexen Systeme zu behalten, brauchte ich – das heißt, eigentlich brauchten sie – ein leistungsfähiges Informationssystem, das all diese Projekte, die unterschiedlichen Computersysteme, all die Teams, Menschen und Ideen miteinander verband. (Wussten sie, dass sie so etwas brauchten? Keineswegs.)
Ich hatte lange darüber nachgedacht, wie man so etwas bewerkstelligen könnte. Dann, ungefähr 1988, packte mich die Idee, zwei bereits vorhandene Computertechnologien zu einer einzigen Plattform zu verschmelzen. Die erste davon war das Internet – ein Protokoll, um Computer miteinander zu verbinden; vermutlich haben Sie schon mal davon gehört. Die zweite Technologie war Hypertext, was bedeutet, dass ein gewöhnlicher linearer Text – etwa eine Bedienungsanleitung oder ein Protokolleintrag – durch das Hinzufügen von «Links» zum Leben erweckt wird. Meine Idee bestand darin, Internetnutzern über solche Hypertext-Links eine einfache Möglichkeit zu bieten, sich im Netz zurechtzufinden.
So eine dezentrale Struktur konnte einen Netzwerkeffekt auf Kreativität hervorbringen – neue Trends, Möglichkeiten und Produkte würden auftauchen, wenn viele Millionen Menschen auf der ganzen Welt beginnen würden, sich zu vernetzen, Inhalte zu teilen und einander zu folgen. Wenn man alles Mögliche ins Netz stellen konnte, würde nach einiger Zeit so gut wie alles dort zu finden sein. Weil mithilfe meines Konzepts so viele Menschen, Systeme und Länder sich miteinander verbinden konnten, nannte ich es das World Wide Web. Doch als ich dann anderen von dieser Vision erzählte, schienen die meisten von ihnen mich für ein bisschen exzentrisch zu halten.
Das CERN hatte den Auftrag, die Ursprünge von Materie zu erforschen, aber nicht, die Entwicklung von experimentellen Netzwerktechnologien zu fördern. Dennoch plädierte ich bei meinen Chefs am CERN unermüdlich dafür, Mittel bereitzustellen, um die Arbeit am World Wide Web voranzutreiben. Ich nutzte jede Gelegenheit, um über das Thema zu sprechen, präsentierte es in Meetings, skizzierte es auf einem Whiteboard für jeden, der auch nur das geringste Interesse zeigte, und fand sogar Möglichkeiten, im privaten Umfeld dafür zu werben. Meryl Dalitz, eine Freundin von mir, erinnert sich, wie ich das Konzept des Web mit einem Skistock in den Schnee zeichnete, an einem Tag, den wir eigentlich ganz entspannt auf der Piste verbringen wollten.
Ich glaube nicht, dass Meryl sehen konnte, was mir vorschwebte. Was sie aber sehen konnte, war meine Leidenschaft. Diese Leidenschaft erfüllt mich auch heute noch, über 30 Jahre später. Ich glaube, dass ich heute sogar noch mehr Leidenschaft habe als damals. Die Skizze, die ich damals in den Schnee zeichnete, ist längst geschmolzen, aber meine Idee – das World Wide Web – wird heute von über der Hälfte der Menschheit genutzt. Es ist eine der erfolgreichsten Erfindungen aller Zeiten. Ganz so, wie ich es mir erhofft hatte, ermöglichte es eine Blüte menschlicher Kreativität und vielfältiger Ausdrucksmöglichkeiten, und ich glaube, wir stehen erst am Anfang. Ich glaube sogar, dass die einzigen Grenzen für das, was im Internet geschaffen werden kann, die Grenzen unserer eigenen menschlichen Vorstellungskraft sind.
In diesem Buch möchte ich die Geschichte der Entstehung des World Wide Web erzählen. Wie mir das CERN schließlich etwas Zeit zugestand, um daran zu arbeiten, und wie ich die erste Webseite, den ersten Webbrowser und den ersten Webserver auf die Beine stellte, alles auf ein und demselben Computer in einem kleinen Raum im zweiten Stock des Gebäudes für Computing and Networking. Wie ich meine ersten Mitstreiter online traf und wie aus diesem kleinen, einzelnen Server ein kleines Netzwerk von Servern wurde, dann ein großes Netzwerk von Servern und schließlich ein riesiges Netzwerk von Servern, das so schnell immer weiter wuchs, dass wir innerhalb von zehn Jahren die ganze Welt erobert hatten.
Ich möchte erzählen, wie das Web sich entwickelt hat. Im Jahr 1994 verließ ich das CERN und ging ans MIT, wo ich in den folgenden 28 Jahren ein Konsortium leitete, das die Weiterentwicklung des Web von einer primitiven Sammlung von Netzwerk-Tools zu dem leistungsstarken Technologiesystem begleitete, das heute einen Großteil des Online-Lebens ermöglicht. Heute ist das Web überall, auf unzähligen Geräten, es stellt die meisten der Apps bereit, die Sie nutzen, und es liefert den Großteil der Inhalte, die Sie auf Ihrem Smartphone abrufen. Es überträgt Streaming-Programme auf Ihr Smart-TV und dient als Frontend für Transaktionen auf der ganzen Welt im Gegenwert von einer Billion Dollar pro Tag. Das ist aber nicht einfach von selbst passiert – es brauchte eine riesige Menge an gemeinschaftlicher Arbeit, um das Web auf diese Weise zu entwickeln. Diese Arbeit geht ständig weiter und treibt neue Technologien voran, etwa die Videokonferenz-Funktionalität, Augmented Reality und vor allem künstliche Intelligenz (KI), deren Auswirkungen wir gerade erst zu verstehen beginnen.
Im Bereich der KI-Forschung kommt es ständig zu neuen Durchbrüchen, was es schwierig macht, den Überblick zu behalten. Aus technischer Sicht vollzieht Software, die das menschliche Hirn nachahmen soll, ihre «Evolution» auf Computern, von denen manche so groß sind, dass sie ein ganzes Lagerhaus füllen, andere dagegen erstaunlich klein. Solche KI-Systeme brauchen Daten, um trainiert zu werden, und ein Großteil dieser Daten (vor allem für Systeme wie ChatGPT) stammt aus dem Internet. Die darauf basierenden Systeme sind so leistungsfähig, dass es wie Zauberei erscheint.
In absehbarer Zukunft wird sich unser Leben durch KI-Agenten verändern, die in der Lage sein werden, mit dem Internet zu interagieren und Handlungen auszuführen, um bestimmte Aufgaben zu erledigen. Vielleicht werden Sie dann einen solchen Agenten anweisen, Ihren Urlaub zu buchen oder Ihre Steuererklärung zu machen; vielleicht setzen Sie ihn ein, um Ihren Kindern Nachhilfeunterricht zu erteilen oder Lebensmittel zu bestellen. Der Agent geht online, um solche Aufträge zu erledigen, und lernt dabei ständig dazu. Wie Sie in diesem Buch sehen werden, stellte ich mir schon seit Mitte der 1990er-Jahre solche Web-Agenten vor – allerdings konnte ich damals noch nicht ahnen, welche Formen sie eines Tages annehmen würden! Die KI-Welle ist eine der größten Chancen aller Zeiten; sie verspricht, der Menschheit großen Nutzen zu bringen. Aber aus Erfahrung wissen wir, dass wir auch vorsichtig sein müssen – diese Technologie ist so mächtig, dass sie zu bedrohlichen dystopischen Entwicklungen führen kann.
Bedauerlicherweise haben wir schon gesehen, auf welche Weise Dinge schiefgehen können. In den vergangenen Jahrzehnten habe ich dafür gekämpft, dass das Internet transparent, Open Source (quelloffen) und frei zugänglich bleibt. Leider ist in den letzten Jahren neben all der Kreativität, Ermächtigung und Kooperation, die ich am Web so schätze, ein kleiner, aber wichtiger Teil davon – nämlich die addiktiven Formen von Social Media – zu einem irreführenden und toxischen Suchtmittel herangewuchert. Das hat kaum noch etwas mit meiner ursprünglichen Vision zu tun. Da aber dieser kleine Teil des Web in so hohem Maße suchterzeugend ist, verbringen viele Menschen viel zu viel Zeit damit, was wiederum dazu führt, dass der Großteil des Web-Traffic sich auf eine Handvoll großer Plattformen konzentriert, die die privaten Daten ihrer User sammeln und sie an profitorientierte Datenhändler verkaufen oder sogar an repressive Regierungen weitergeben. Auch das hat kaum noch etwas mit meiner Vision zu tun. Noch schlimmer ist es aber, wenn autoritäre Regierungen das Internet nutzen, um Desinformationen zu verbreiten und ihre eigenen Bürger zu überwachen, was überhaupt nichts mehr mit meiner Vision zu tun hat. Während wir das Gute am Web nutzen und feiern, müssen wir uns auch mit seinen negativen Aspekten auseinandersetzen.
Im Zeitalter von KI sind diese Bedrohungen drängender denn je. Um zu gewährleisten, dass Web-Agenten dem Menschen dienen – und nicht dem Gewinnstreben von Großkonzernen, nicht Regierungen und nicht sich selbst –, ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir heute Systeme entwickeln, bei denen der Mensch an erster Stelle steht. In der Anfangszeit des Web habe ich meine Design-Tools einzelnen Menschen zur Verfügung gestellt und nicht etwa staatlichen Stellen oder Unternehmen, denen es hauptsächlich um ihren Profit ging. Das war eine der besten Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe. Heute müssen wir Tools entwickeln, die wieder das Individuum ermächtigen.
Zum Glück gibt es Möglichkeiten, das Web so fortzuentwickeln, dass es der Menschheit wesentlich besser dient. Wenn die User mehr Kontrolle über alle ihre Daten haben, sind sie in der Lage, sich gegen Kräfte zu wehren, die ihre Nutzererfahrungen beeinträchtigen, und können sich neue Tools suchen, die ihr Leben verbessern. Im Rahmen meiner eigenen Arbeit habe ich zusammen mit engagierten Researchern am MIT ein System namens «Social Linked Data Protocol», kurz «SoLiD», entwickelt. Es ermöglicht dem User, die Kontrolle über sämtliche Daten in seinem Leben zu übernehmen und diese Daten zusammenzuführen, um neue Erkenntnisse hervorzubringen. Es führt das Web zu seinen Wurzeln zurück, indem es Content Creatorn neue Tools für die Zusammenarbeit mit anderen zur Verfügung stellt und zugleich dem User das Eigentum an seinen Daten zurückgibt. Wenn KI-Agenten sich weiterentwickeln, werden sie SoLiD womöglich sogar nutzen können, um vertrauenswürdige Plattformen zu implementieren, die beachtliche neue Dienste anbieten. «Vertrauen» ist hier das Schlüsselwort – in der Welt, die mir vorschwebt, wird Ihre Beziehung zu einem KI-Agenten ebenso sehr von Privilegiertheit und Vertraulichkeit geprägt sein, wie Sie es von Ihrer Kommunikation mit einem Anwalt oder Arzt erwarten würden.
Als ich gebeten wurde, im Rahmen der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 2012 in London eine Live-Botschaft an einige hundert Millionen Zuschauer in aller Welt zu richten, schrieb ich: «This Is for Everyone.» Heute, im Zeitalter von KI, glaube ich, dass dies erst recht wahr ist. Wir können das Web wieder zu einem Tool machen, das über kulturelle Grenzen hinweg Zusammenarbeit, Kreativität und Mitgefühl fördert. Wir können das Internet reparieren, und der nächste Mensch, der Webtools entwickelt, kann die Grenzen unserer Ausdrucksmöglichkeiten im Web erweitern und verdient unser Vertrauen. Ich weiß nicht, wer diese Person ist, und kann nicht vorhersagen, woher sie kommen wird. Aber ich weiß, dass es diese Leidenschaft gibt und dass wir das Web zurückerobern können, wenn wir alle unseren Verstand dafür einsetzen. Es ist noch nicht zu spät.
Ich wurde 1955 geboren, im selben Jahr wie Steve Jobs und Bill Gates. Unser Jahrgang würde auf der Welle der Computertechnologie surfen wie kein anderer davor oder danach. Mein Vater und meine Mutter waren beide Mathematiker und Elektronikingenieure. Sie arbeiteten bei Ferranti Limited, einem in Manchester ansässigen Elektrounternehmen, das den ersten kommerziellen Computer in Großbritannien baute. Die beiden lernten sich um 1950 kennen, als sie gemeinsam an dem Ferranti Mark 1 und seinem Nachfolger, dem Mark 1*, arbeiteten. (Letzterer brachte über 4,5 Tonnen auf die Waage.) Das Entwicklerteam war in der «Tin Hut» untergebracht, einem schuppenartigen Anbau am Gebäude der Elektronikfabrik. Mein Vater arbeitete in der Abteilung für Entwicklung und Programmierung des Rechners, während meine Mutter mit einem Lochstreifenstanzer in Binärcode programmierte. Sie produzierte einen aufgerollten Papierstreifen mit Löchern, die Einsen darstellten, und fehlenden Löchern, die für Nullen standen – sie kannte den Maschinencode in- und auswendig, sodass sie den Streifen einfach gegen das Licht halten und direkt den Code ablesen konnte. Als George Harrisons Mutter mit ihm schwanger war, hörte sie klassische indische Musik auf BBC. Als meine Mutter mit mir schwanger war, nahm sie mich mit zu Besuchen bei Kunden, die einen Computer gekauft hatten und denen sie beim Programmieren half. Ich erinnere mich noch, wie ich als kleiner Junge mich und meine Geschwister in solchen abgerollten 5-Kanal-Lochstreifen einwickelte.
Ich bekam den Namen «Timothy», nach einem Cousin meines Vaters, der im Krieg gefallen war. Meine Eltern besaßen eine Doppelhaushälfte im Londoner Stadtteil East Sheen, zwischen Richmond Park und der Themse, in der sie ab 1954 bis zu ihrem Tod in den 1990er-Jahren lebten. Das Haus lag in der Nähe der Upper Richmond Road, der Hauptstraße von Sheen, mit ihren Geschäften – Metzger, Bäcker, Fischladen und Gemüsehändler. Ich war das älteste von vier Kindern, und meine Mutter, Mary Lee, unterbrach nach meiner Geburt ihre berufliche Laufbahn, um ihre beträchtliche intellektuelle Energie in unsere Erziehung zu lenken. Sie war eine außergewöhnliche Frau, die bei ihren Kindern Kreativität und Neugier förderte.
Uns Kindern machte das Leben in meinem Elternhaus ungeheuer viel Spaß. Meine Eltern ließen die Zügel locker und befolgten eine Erziehungsphilosophie, die meine Mutter als «wachsame Nachsichtigkeit» bezeichnete. Zu besonderen Anlässen organisierte sie Schatzsuchen, zum Beispiel, wenn wir zelten gingen. Sie veranstaltete die besten Kindergeburtstage mit fantastischen Themen – ich erinnere mich noch, dass sie in einem Jahr für eine «Geburtstagsparty im Weltraum» Astronauten-Fußstapfen an der Zimmerdecke befestigte. Sie bastelte ihren ganz besonderen eigenen Kalender, ein großes, rundes Zifferblatt mit 365 Tagen, die rings um den äußeren Umkreis angeordnet waren, und jedes Jahr brachte sie auf der Vorderseite eine neue Karte an, auf die sie das Jahr schrieb. Auf dem Zifferblatt trug sie alles ein, was im Laufe des Jahres auf uns zukam – vor allem sämtliche Schulferien –, damit wir sehen konnten, wie lange sie noch entfernt waren. Wenn sie das Zifferblatt jeden Tag ein bisschen weiter drehte, notierte sie jedes besondere Ereignis an den einzelnen Tagen, und wenn das Zifferblatt seine Umdrehung vollendet hatte, konnten wir das ganze Jahr auf einen Blick erfassen. Es war eine geniale Erfindung, die jedem traditionellen Wandkalender in jeder Hinsicht überlegen war. Bis heute habe ich eine Kopie des runden Kalenders meiner Mutter in meinem Büro an der Wand hängen, um mich an sie zu erinnern und an ihre Art, immer nach unkonventionellen Wegen zu suchen, Aufgaben zu erledigen.
Als Jugendlicher an der Emanuel School.
Meine Eltern hatten beide ein kurzes «Kriegsstudium» absolviert und im Krieg mit Elektronik gearbeitet. Nach dem Krieg ging meine Mutter nach Australien, wo sie am Mount Stromlo Observatory in der Nähe von Canberra arbeitete. In ihrer Freizeit machte sie Touren durchs Outback, mit einem kleinen Zelt aus gebrauchter Fallschirmseide und einem Werkzeugkasten hinten auf ihrem Motorrad. Sie stellte fest, dass sie das meiste am Motorrad mit einem Stück Draht und einer Zange reparieren konnte. Diese Unverwüstlichkeit, die sie sich auf solchen Campingtouren angeeignet hatte, war eine ihrer wichtigsten Stärken, die sie an uns weitergab: Manchmal zelteten wir mit der ganzen Familie auf einem Campingplatz des National Trust oder sogar im Garten von Freunden. Einmal fuhren meine Eltern mit den damals drei Kindern quer durch Frankreich, und auch hier übernachteten wir unterwegs im Zelt, bis wir uns bei einem Freund in Genf einquartierten. Die Erfahrung, dass ich in einem kleinen Zelt einen Sturm abwettern konnte, hat mich abgehärtet und geerdet – ich weiß, dass ich eigentlich nichts anderes brauche.
Der Wand-Drehkalender meiner Mutter.
Meine Mutter kämpfte immer für Gleichbehandlung am Arbeitsplatz. Etwa zu der Zeit, als sie bei Ferranti anfing, waren die weiblichen Beschäftigten der Firma außer sich vor Wut, als sie erfuhren, dass sie schlechter bezahlt wurden als Männer, die zur gleichen Zeit eingestellt worden waren. Die Frauen von Ferranti wählten meine Mutter als Sprecherin, um mit der Unternehmensleitung zu verhandeln. Sie setzte höhere Löhne für die weibliche Belegschaft durch, und bald darauf wurde bei Ferranti die gleiche Bezahlung für Männer und Frauen eingeführt.
Mein Vater Conway war ein Mathematiker und Statistiker mit einem Faible für mathematische Spiele. Er war der Sohn von Helen Campbell Gray, einer mondänen kanadischen Society-Lady, die im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester nach Großbritannien gekommen war, einen britischen Soldaten geheiratet und später für die Zeitschrift «Vogue» geschrieben hatte. Als mein Vater meiner Mutter einen Heiratsantrag machte, fand sie zunächst keine Gnade vor Helens Augen, weil diese meinte, meine Mutter sei nicht gut genug für ihren Sohn. Doch bald darauf änderte meine Großmutter ihre Meinung – meine Mutter hatte eine einnehmende Wirkung auf Menschen.
Wir lernten, Freude an Mathematik zu haben, wo immer sie auftauchte, und bald erkannten wir, dass sie überall auftauchte. Ein Aspekt der Arbeit meines Vaters war die Warteschlangentheorie, die sich mit dem Vorrücken von Menschen, Objekten oder Informationen in einer Warteschlange befasste. Als er sich einmal auf einen Vortrag vorbereitete, rekrutierte er mich und meine Geschwister, um Konzepte der Theorie zu veranschaulichen: Wir stellten uns in einer Reihe auf, jedes Kind mit ein paar Bällen – die zu bearbeitende Aufgaben symbolisierten –, und kickten sie von einem zum anderen. Anhand der Warteschlangentheorie konnten seine Zuhörer nachvollziehen, wie lange jedes Kind warten musste, bis es an die Reihe kam zu kicken, und wo ein Ball sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden würde. Mein Vater wusste auch sehr gut, wo Computer an ihre Grenzen stießen, und sprach oft über Dinge, die Menschen leichtfielen, Maschinen aber eher nicht.
Mein Vater war brillant, aber manchmal auch ein bisschen zerstreut. Einmal nahm er mich mit, um seine Hemden aus der Reinigung abzuholen. Er nahm die Hemden entgegen, ließ mich aber in meinem Kinderwagen dort stehen. Ein anderes Mal parkte er unser Auto an einer Böschung an der Themse. Als er zurückkam, war es in der Flut, die von der Nordsee aus in den Flusslauf drückte, abgesoffen. Als er eines Tages mit Kollegen von Manchester nach London zurückfuhr, konnte er an der Einlassschranke im Bahnhof seine Rückfahrkarte nicht finden. Seine Kollegen überzeugten den Fahrkartenkontrolleur, dass er sein Ticket einfach nur verloren hatte und ständig Dinge vergaß. Als er nach Hause kam, fragte ihn meine Mutter: «Conway, wo ist denn das Auto?»
Wir Kinder – meine Brüder Peter und Mike und meine Schwester, die nach unserer Großmutter ebenfalls Helen hieß – waren einander sehr nahe. Meine Mutter hatte ein einfaches System für die Hausarbeit: Sie ließ jede Aufgabe von dem jüngsten Kind erledigen, das dazu in der Lage war. (Mit diesem cleveren Trick erreichte sie, dass die jüngeren Kinder sie anbettelten, Hausarbeit erledigen zu dürfen.) Unsere Familie war eine eingeschworene Gemeinschaft, die alles gemeinsam machte und viel Zeit zusammen im Freien verbrachte. Wenn wir Freunde auf dem Land besuchten, brachten wir unsere Zelte mit und campten zu sechst auf dem Rasen.
Ich besuchte die Sheen Mount Primary School, die staatliche Grundschule in unserer Nachbarschaft, gekleidet in meiner Schuluniform – Shorts, Jackett und Krawatte. Meine engsten Freunde waren Nick Barton und Christopher Butler. Jeden Tag nach der Schule rannten wir in den nahe gelegenen Richmond Park, ein tausend Hektar großes, offenes Gelände im Londoner Stadtteil Richmond Hill, bewaldet mit alten Bäumen und bevölkert von äsenden Rotwildrudeln. Andere Jungs begeisterten sich für Fußball und hörten die Beatles, aber ich verbrachte meine Freizeit zum größten Teil in diesem Park. (Ich habe die damalige Popkultur mehr oder weniger komplett verpasst – als ich meine Frau Rosemary kennenlernte, konnte sie kaum glauben, dass ich noch nie etwas von Bruce Springsteen gehört hatte.)
Das, was ich an Kultur aufsog, kam durch meine Eltern, die gerne ins Theater gingen und klassische Musik hörten. Ich erinnere mich gern daran zurück, wie wir gemeinsam aus Oscar Wildes Komödie «The Importance of Being Earnest» (deutsche Fassung: «Ernst sein ist alles») vorlasen, wobei mein Vater die Rolle der Furcht einflößenden Lady Bracknell übernahm. («Eine Handtasche?!») Der Mittelpunkt des Hauses war nicht der Fernseher, sondern ein großes altes Bücherregal mit Glastüren, in dem die Encyclopedia Britannica, mehrere gewichtige Atlanten, Vaters Mathebücher und das Gesamtwerk von William Shakespeare standen. Und dort stand auch – was sich später als relevant erweisen sollte – ein pingeliges viktorianisches Handbuch für praktische Arbeiten im Haushalt mit dem Titel «Enquire Within Upon Everything» (sinngemäß etwa: «Hier kannst du alles nachschlagen»).
Damals war die Gruppe der Menschen, die mit Computern arbeiteten, noch relativ klein, und so ist es kein Wunder, dass meine Eltern Alan Turing kennenlernten, einen der bedeutendsten Vordenker der Informatik. Während des Zweiten Weltkriegs war Turing der versierteste Codeknacker Großbritanniens gewesen. Er war ein schlanker und gut aussehender Universalgelehrter, der 1936/37 – also einige Jahre bevor die Hardware für den Bau eines Computers verfügbar wurde – ein mathematisches Modell für eine solche Maschine ausgearbeitet hatte, das als «Turingmaschine» bekannt wurde. Dann setzte sein Team dieses Konzept in Bletchley Park, einem vornehmen englischen Landhaus nordwestlich von London, in die Praxis um und baute einen elektromechanischen Apparat namens «Colossus», mit dem es gelang, den Code der deutschen Chiffriermaschine «Enigma» zu knacken. Nach dem Krieg wurde Turings Arbeit jahrzehntelang geheim gehalten, aber heute schreiben viele Historiker Turing und seinem Team das Verdienst zu, den Krieg um mehrere Jahre verkürzt zu haben.
Während er in Bletchley Park arbeitete, machte Turing Joan Clarke – einer Kollegin, die ebenfalls Mathematikerin war – einen Heiratsantrag. Aber dann löste er die Verlobung wieder und gestand ihr, dass er homosexuell war und heimliche Beziehungen zu Männern hatte. (Damals standen homosexuelle Handlungen in Großbritannien unter Strafe.) In dieser Zeit nahm er auch als Langstreckenläufer an Wettkämpfen teil; 1938 hätte er sich beinahe für den olympischen Marathonlauf qualifiziert. Nach dem Krieg arbeitete Turing mit dem Ferranti Mark 1 und versuchte ihm beizubringen, eine einigermaßen passable Partie Schach zu spielen. (Was ihm allerdings nicht gelang: Der mit Lochstreifen gefütterte Computer war zu primitiv, und unter den Computerpionieren war noch ziemlich unklar, welche Probleme für einen Computer leicht und welche schwer zu lösen waren. Schach war ausgesprochen schwer!) Bei der Arbeit mit diesem Computer lernten mein Vater und meine Mutter Alan Turing persönlich kennen.
In einem 1950 veröffentlichten Papier mit dem Titel «Computer Machinery and Intelligence» spielte Turing ein bahnbrechendes Gedankenexperiment durch, das er «The Imitation Game» nannte. In diesem Spiel stellte er sich einen Computer vor, der in der Lage war, ein Gespräch zu führen, das nicht von einem Gespräch mit einem echten Menschen zu unterscheiden war. Jedes Computerprogramm, das dies schaffte, hätte den «Turing-Test» bestanden. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis eine Maschine diesen Test auch nur annähernd bestehen würde – und selbst dann spielte das Web eine entscheidende Rolle dabei. Aber ich greife vor.
Die Anfänge der Computertechnik im Vereinigten Königreich wurden in «The Imitation Game» dargestellt, einem 2014 erschienenen Alan-Turing-Biopic. Als der Film herauskam, unterwarfen ihn meine Eltern – die damals schon über 90 waren – einem ziemlich vernichtenden Faktencheck und kritisierten daran, dass Turings Sexualität und bestimmte Rechenmaschinen, mit denen sie während des Krieges gearbeitet und die sie dabei lieb gewonnen hatten, nicht richtig dargestellt worden seien. Im Jahr 1952 wurde Turing wegen «grober Unzucht» verurteilt, nachdem er gestanden hatte, ein sexuelles Verhältnis mit einem Mann gehabt zu haben – erst 2013 wurde er posthum durch Königin Elizabeth II. begnadigt. Er starb 1954, sehr wahrscheinlich durch Suizid. (Die Polizei fand einen angebissenen, mit Zyankali präparierten Apfel neben seinem Bett.)
Ich wurde im Jahr darauf geboren. Wir sind uns nie begegnet, aber Turing hatte einen fundamentalen Einfluss auf meine Eltern. In dieser Zeit, an diesem Ort, mit diesen ganz besonderen Eltern, in dieser außergewöhnlichen Familie geboren zu werden, war ein großes Privileg – auch wenn ich erst viel später begriff, wie einzigartig es war.
Mit elf Jahren wechselte ich an die Emanuel School, eine weiterführende Schule, die nur eine kurze Zugfahrt von meinem Elternhaus entfernt war. Das akademische Niveau an dieser Schule war hervorragend, und es gab auch einen optionalen Zweig, der zum offiziellen Übertritt zur anglikanischen Konfession führte und den ich wählte. (Warum? In erster Linie, um mit dem Strom zu schwimmen.) Im Zuge dessen musste ich ziemlich intensive Predigten über mich ergehen lassen, in denen in den glühendsten Farben der Zorn Gottes und die Verdammnis im ewigen Höllenfeuer heraufbeschworen wurden. Meine Mutter war nach den Lehren der Christian Science erzogen worden und trat zur Church of England über, als sie meinen Vater kennenlernte. Sie war ziemlich gläubig, aber auch eine echte Wissenschaftlerin: Ihrer Meinung nach sollte über jedem Kircheneingang der Satz «Alles in diesem Gotteshaus sollte metaphorisch aufgefasst werden» in Stein gemeißelt sein. Sie war liberal in dem Sinne, dass sie meinte, hinter verschlossenen Türen sollten die Menschen tun und lassen dürfen, was sie wollten, solange es keinem anderen schadete.
Ich war etwas skeptischer veranlagt; wenn ich mich recht entsinne, habe ich als kleines Kind nicht einmal an den Weihnachtsmann geglaubt. Richard Dawkins hat einmal festgestellt, dass Religionen die Tendenz haben, Jugendliche dazu zu bringen, sich ihrem Glauben zu verschreiben, bevor ihr rationales Denken überhaupt ein Niveau erreicht hat, auf dem sie die ganze Sache durchschauen können. So war es auch bei mir – meine Konfirmation in der Emanuel School fiel ungefähr in die Zeit, als ich beschloss, das gesamte Glaubensgebäude in Bausch und Bogen abzulehnen. Vielleicht hatten all die Predigten über Höllenfeuer und Verdammnis meinem Glauben den Rest gegeben. Statt der Bibel las ich mit wachsender Begeisterung Science-Fiction-Romane, wurde zum Fan von Robert A. Heinlein und dem Foundation-Zyklus von Isaac Asimov. Stanley Kubricks Science-Fiction-Epos «2001: Odyssee im Weltraum» kam gerade in die Kinos, als mir der Glaube abhandenkam. Ich sah den Film damals im Kino und habe ihn mir seither noch viele Male angesehen.
Die Emanuel School war im britischen Sprachgebrauch eine «Direct Grant»-Schule, was bedeutet, dass sie als unabhängige Privatschule geführt, aber vom Staat finanziert wurde. Die Schule hatte eine noble Tradition, die bis zu ihrer Gründung im Jahr 1594 zurückging. Leider war sie eine reine Knabenschule, was meine soziale Entwicklung unermesslich verzögert haben muss. Meine beiden Brüder gingen ebenfalls dorthin.
Zwar hatten wir immer etwas zu essen auf dem Tisch, aber meine Eltern waren nicht gerade wohlhabend. Wir übernachteten nie in Hotels, und es war eine beträchtliche Ausgabe, bei Harrods Schuluniformen für vier Kinder zu kaufen. Ich hatte das Glück, dass der Staat meine Schulgebühren übernahm, als ich auf die Emanuel School kam. Und ich hatte das Glück, dass die Stadt London mir ein Studium an einer Universität meiner Wahl – einschließlich Oxford – finanzieren würde, wenn ich zwei A-Levels (die Hochschulreife) erreichte. Meine Eltern leisteten einen Beitrag, aber im Grunde genommen habe ich eine kostenlose Bildung erhalten, und ich wuchs in der Vorstellung auf, dass im Laufe der Zeit die Gesellschaft unsere Kinder stärker unterstützen würde statt weniger. Leider hat sich das nicht bewahrheitet: Die Emanuel School ist, wie viele andere «Direct Grant»-Schulen auch, heute eine unabhängige private Einrichtung.
Die Grundschule fiel mir relativ leicht, aber als ich mich darauf vorbereitete, auf die Emanuel School zu gehen, warnte mich meine Mutter, dass der Stoff in der nächsten Stufe wesentlich schwieriger und die Schüler viel klüger sein würden. (Als ich nach Oxford ging, sagte sie mir das Gleiche. Sie behielt recht.) Mein Lieblingsfach an der Emanuel School war Mathematik, unterrichtet von Frank Grundy, einem großartigen Lehrer, der zufällig auch ein sehr guter Bridge-Spieler war. Frank drückte ein Auge zu, wenn seine Schüler hinten im Klassenzimmer Karten spielten, aber nachdem ein Spiel zu Ende war, übte er strenge Kritik daran, wie ein Blatt gespielt worden war. Unter seiner Aufsicht büffelte ich für zwei meiner «A-Levels» und bereitete mich auch in Mathe auf die Aufnahmeprüfung in Oxford vor. Peter Jones, ein anderer Mathelehrer, gab in seiner Mittagspause zusätzliche Stunden, um uns in Vektoranalysis zu unterrichten. Ich erinnere mich, dass ich Peter einmal fragte, warum wir denn Stoff lernen sollten, der in keiner A-Level-Prüfung vorkommen würde. «Es ist einfach so schön», sagte er.
Unser Chemielehrer «Daffy» Purnell war wunderbar ermutigend und lustig. Als Prüfungsfächer für die A-Levels konnten wir uns typischerweise zwischen Physik und entweder Mathematik und Chemie oder reiner Mathematik und angewandter Mathematik entscheiden. Die Schule änderte den Stundenplan so, dass drei von uns alle vier Fächer belegen konnten. Daffy sagte, er wisse, dass ich ein geborener Mathematiker sei, aber ich wäre trotzdem in jeder seiner Chemiestunden willkommen. Ich glaube, am nervösesten war ich vor der praktischen Chemieprüfung, bei der man eine geheimnisvolle Substanz bekommt und dann herausfinden soll, um was es sich handelt. Am Prüfungstag kam ich nach ein paar Experimenten zu dem Schluss, dass es Natriumsulfit sein könnte. Da ich mich mit verwandten Chemikalien nicht gerade gut auskannte, bat ich um zwei lange Reihen mit leeren Reagenzgläsern und füllte die Röhrchen der ersten Reihe mit der unbekannten Chemikalie und die anderen mit Natriumsulfit. Dann gab ich von jedem einzelnen flüssigen Reagens, das ich im Labor finden konnte, jeweils ein paar Tropfen in jedes Reagenzglas-Paar, um zu sehen, ob sie gleich reagierten. Zu meiner Enttäuschung unterschieden sich die Reaktionen in einem der Paare! Da ich keine Zeit mehr hatte, mir einen Plan B auszudenken, gestand ich einfach auf dem Prüfungsbogen meinen Misserfolg ein – aber anscheinend gefiel den Prüfern meine Logik und ich bekam ein «A». Vielleicht steckt da irgendwo eine Lehre drin.
Parallel dazu wurde ich bei uns zu Hause in Computer Science unterrichtet. Eine der Aufgaben meines Vaters bestand darin, für Ferrantis CEO Basil de Ferranti Reden zu schreiben. («Rümpfe nie die Nase über die Sonate eines Erzherzogs», pflegte mein Vater zu sagen, «man weiß nie, wer sie tatsächlich komponiert hat.») Er entwickelte die Kunst, Computer mit einfachen Analogien zu beschreiben, etwa indem er binäre Mathematik mit Münzen von einem Penny, einem halben Penny und einem Farthing erklärte. Eine der Lieblingsdemonstrationen meines Vaters war ein kaskadierendes System von Wasserstrahlen, die er so anordnete, dass sie veranschaulichten, wie Strom durch die Schaltkreise eines Computers floss. Wenn man die Wasserstrahlen richtig anordnete, konnte man ein «Logikgatter» simulieren, das seinen Output nach einfachen Regeln änderte. Wenn man solche Logikgatter zu einer Kette zusammenschaltete, konnte man rudimentäre Rechenoperationen durchführen, etwa «1 + 0» oder «1 + 1». Und durch Verketten dieser primitiven Teile konnte man einen Computer bauen – eine sogenannte «universelle» Turingmaschine, die in der Lage ist, alle von einem Computer durchführbaren Aufgaben zu bewältigen.
Computer waren aufregend, aber schon damals wusste ich, dass sie nicht alles können. Aus Gesprächen mit meinem Vater hatte ich gelernt, dass ein Computer zwar Dinge in Tabellen erfassen, sich aber nicht ohne Weiteres an zufällige Assoziationen erinnern kann – flüchtige Zusammenhänge, wie sie entstehen, wenn man zum Beispiel eine Tasse Kaffee riecht und sich dadurch an eine Reise nach Äthiopien drei Jahre zuvor erinnert fühlt. Obwohl ich noch jung war, begann ich zu überlegen, wie ich ein Programm konzipieren konnte, das solche zufälligen Assoziationen – beliebige Verknüpfungen – zu speichern vermochte. Tatsächlich fragte ich mich schon als Jugendlicher manchmal, ob nicht vielleicht solche Verknüpfungen – statt der Objekte, die sie miteinander verknüpften – das eigentlich Wichtige waren.
Während ich an der Emanuel School war, beschloss ich, meinen eigenen Computer zu bauen. Wie hätte ich denn sonst an einen Computer kommen können? Einen Personal Computer wie den Apple II sollte es erst ein paar Jahre später geben, und selbst wenn es damals schon so etwas gegeben hätte, wäre es für mich unerschwinglich gewesen. Zudem bekommt man, wenn man es selbst baut, ein besseres Gefühl für so ein System, von der CPU bis hin zur Backplane. Bis ich dieses Projekt fertiggestellt hatte, sollte es noch Jahre dauern, und es bildete den Ausgangspunkt für meine Reise. Tatsächlich war es, wie ich später mitbekam, für viele Ingenieure meiner Generation eine Art Initiationsritual, einen Computer von Grund auf selbst zu bauen – so fingen auch Bill Gates und Steve Wozniak an.
Ich hatte schon etwas Erfahrung mit Elektronikprojekten. Mit meinen Freunden Nick und Christopher hatte ich einen Elektromagneten gebaut, indem ich einen Eisennagel im Kamin erhitzte, dadurch weich machte und ihn dann mit Kupferdraht umwickelte. Wir schlossen ein Ende dieses Elektromagneten an eine Batterie an und verbanden das andere Ende mit einer Mausefalle, wodurch wir eine Art improvisierter Kanone gebastelt hatten, die ferngesteuert Raketen aus Holz abfeuern konnte. Mithilfe von Elektromagneten hatte ich auch versucht, ein paar einfache elektrische Relais – elektrisch gesteuerte Schalter – zu bauen, war aber schnell an die Grenzen dessen gestoßen, was man damit realistischerweise bauen konnte.
Dann kam der Transistor. Ah, der Transistor! Das Wunder der Technik des 20. Jahrhunderts, das die Welt eroberte. Der Transistor war damals ein sechs Millimeter großes Bauteil mit zentimeterlangen Anschlussdrähten, das zwischen Ein- und Aus-Zustand umschalten konnte, um das Fließen von elektrischem Strom zu steuern. Im Grunde genommen ist es ein einfacher, kostengünstiger elektrisch gesteuerter Schalter. Mit einigen wenigen Transistoren kann man ein Logikgatter bauen, ähnlich denen, die mein Vater mit Wasserstrahlen demonstriert hatte, oder jenen, die wir mit Relais gebastelt hatten. Als ich 14 war, setzten die Apollo-Ingenieure solche Transistoren ein, um Neil Armstrong und Buzz Aldrin auf die Oberfläche des Mondes zu bringen. Auch jetzt noch bildet der Transistor die technische Grundlage für jeden Computer – er wurde nur im Laufe der Zeit immer kleiner und kleiner. Ein heutiger Transistor ist dünner als ein Strang menschlicher DNA.
Bis Anfang der 1970er-Jahre war der Preis von Transistoren dank eines Booms der industriellen Fertigung in Asien stark gefallen. In einem Ramschladen in der Londoner Tottenham Court Road konnte ich damals für ein paar Pfund eine Tüte mit hundert Transistoren kaufen, die bei der Qualitätskontrolle in der Fabrik ausgemustert worden waren. Solche Transistoren hatten alle möglichen Formen und Größen, und die Hälfte von ihnen war kaputt – um eine funktionierende Charge zu bekommen, musste man sie einzeln prüfen und die kaputten aussortieren, was ein ziemlich mühsamer Job war. Aber wenn man damit durch war, hatte man den einfachen elektronischen Grundbaukasten, mit dem man so ziemlich alles bauen konnte.
Mein erstes Projekt war, eine Weiche für meine Modelleisenbahn zu basteln. Dann baute ich eine Gegensprechanlage, die das obere und das untere Stockwerk unseres Hauses miteinander verband. («Er hat sich als Techniker im Haus sehr nützlich gemacht», pflegte meine Mutter später zu sagen.) Ich kaufte mir ein «Breadboard», eine einfache Steckplatine, auf der man elektronische Schaltungen aufbauen konnte, und begann, darauf meine ausgemusterten Transistoren zu Logikgatter-Ketten zusammenzuschalten. Auf dem Breadboard konnte man in ein paar Minuten eine Schaltung aufbauen, und wenn sie funktionierte, konnte man sie auf einer gedruckten Leiterplatte zusammenlöten, um sie zu fixieren. So baute ich eine Schaltung für eine Zugpfeife und automatisierte ein paar Funktionen meiner Modelleisenbahn.
Die Modelleisenbahn war mein ganzer Stolz gewesen, bis sie am Ende komplett von der Elektronik abgelöst wurde. Kein Wunder, denn die Emanuel School lag auf einem keilförmigen Gelände zwischen zwei Eisenbahnstrecken, die nach Brighton beziehungsweise Bournemouth führten und von dem geschäftigen Bahnhof Clapham Junction aus nach Süden verliefen. In der majestätischen Zeit der Dampflokomotiven konnte ein Junge kaum die Emanuel School besuchen, ohne süchtig nach Eisenbahnen zu werden. Wir hörten das rhythmische Rollen der stählernen Räder auf den Schienen und den hohen Pfeifton der Loks, der durch die ganze Stadt schrillte. Die Lokomotive selbst war eine großartige Maschine, sie zischte und schnaufte, wenn sie ihren Weg über die Gleise nahm und dabei dicke Schwaden aus weißem Dampf und schwarzem Rauch hinter sich ließ. Leider endete die Ära der Dampflokomotiven gegen Ende der 1960er-Jahre, von einer Handvoll historischer Strecken abgesehen. Ich bin froh, dass ich sie noch erleben durfte.
So kam ich von Eisenbahnen zur Elektronik und von Elektronik zum Computer. Damals wurde Computer Science allerdings weder als A-Level-Kurs noch im Grundstudium an der University of Oxford angeboten. Also schloss ich die Schule mit A-Levels in reiner und angewandter Mathematik, Physik und Chemie ab, dazu O-Levels, unter anderem in Latein. Wie die meisten meiner Lehrer an der Emanuel School war auch mein Mathelehrer Frank Grundy ein Oxford-Absolvent, und rückblickend wurde mir klar, dass er mich vom ersten Tag an als potenziellen Oxford-Kandidaten betrachtet und auf ein Studium dort vorbereitet hatte. Trotzdem hielt ich es für vernünftig, auch Cambridge zumindest in Betracht zu ziehen, und eines Tages erwähnte ich das ihm gegenüber. Erst blinzelte er etwas irritiert, und dann sagte er ganz langsam, als spräche er aus weiter Ferne: «Ja, da könntest du dich wohl auch bewerben.» Und so wurde es dann Oxford.
Da Computer Science nicht angeboten wurde, musste ich ein verwandtes Fach wählen. Meine Eltern hatten beide Mathe studiert, und in der Schule war Mathe mein bestes Fach gewesen. Andererseits war Elektronik zu Hause meine Leidenschaft, und sie war viel praxisnäher. Ich überlegte mir, dass Physik sozusagen in der Mitte zwischen den beiden lag. Das stellte sich dann als Irrtum heraus – Physik ist natürlich ein eigenständiges Fach mit einer eigenen Mentalität und Philosophie –, aber letztlich war es eine glückliche Entscheidung. Ich absolvierte die Mathe-Aufnahmeprüfung in Oxford und beschloss, Physik zu studieren, falls ich dort angenommen würde.
Die University of Oxford besteht aus mehreren kleineren Colleges, und die Studenten arbeiten drei Jahre lang mit einem engagierten Tutor zusammen, um sich auf ihren Abschluss vorzubereiten. Parallel dazu bieten die Fachbereiche der Universität Vorlesungen an und stellen Labors zur Verfügung. Ich bewarb mich für ein Studium am Queen’s College. Dort war John Moffat, ein renommierter Professor für Kernphysik, der Tutor.
Nachdem ich bei der Aufnahmeprüfung eine passable Note bekommen hatte, wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Am Tag des Gesprächs weckte mich früh das Läuten der Glocken im Clock Tower der Queen, und ich kleidete mich so, wie ich es passend hielt, um mich an der altehrwürdigen University of Oxford vorzustellen – grünes Cordjackett, gelbes Hemd, braune Hose und Krawatte von Marks and Spencer. (Zur Erinnerung: Das war 1973.) Als ich in Moffats Büro eintrat, stellte ich zu meiner etwas verlegenen Erleichterung fest, dass er genau das Gleiche trug. Ich war zwar noch kein Oxford-Akademiker, konnte aber schon einen im Fernsehen spielen.
Das Vorstellungsgespräch lief gut. Ich wurde mit einer «Exhibition» aufgenommen – einem kleinen Stipendium. Im Laufe der Jahre wurde Moffat zu einem hervorragenden Mentor für mich. Wir begannen mit Grundkursen über Fehleranalyse und Mathematik für Wissenschaftler. John Moffat unterrichtete uns in allen Teilbereichen der Physik, etwa in Thermodynamik, Quantenmechanik, Atomphysik und so weiter, aber nicht immer in derselben Reihenfolge, in der die Vorlesungen an der Uni gehalten wurden. Er hielt sich nicht an die Vorlesungen – natürlich konnten wir sie uns anhören, wenn wir das wollten, aber unabhängig davon gab er jedem von uns jede Woche etwas Lesestoff aus dem Lehrbuch auf und ein paar Übungen, die wir bis zur nächsten Woche fertig haben sollten. Ich nahm meine Aufgaben mit und erledigte sie, und in der Woche darauf sah er sich dann meine Lösungen an.
John sagte, ich hätte immer eine ganz eigene Art, Aufgaben zu lösen: Ich verwendete immer meine eigene, unkonventionelle Notation anstelle der gängigen Variablen, und manchmal ging ich mit einem etwas schrägen Lösungsansatz an eine Aufgabe heran. Moffat – und dafür werde ich ihm ewig dankbar sein – ließ sich ganz darauf ein und versuchte, die Dinge aus meiner Perspektive zu sehen. Bei einer Aufgabe, die er mir gestellt hatte, grübelte er eine ganze Weile darüber nach, wie meine seltsame Notation zu verstehen war. Schließlich sah er mich an und sagte mir, ich hätte die Aufgabe richtig gelöst – nur hier, an dieser Stelle auf der vierten Seite, hätte ich ein Minuszeichen vergessen. Diese Fähigkeit, das große Ganze aus der Sicht und mit dem Vokabular einer anderen Person zu betrachten, war eine unglaubliche Gabe, die er besaß – und die schwer zu erlernen war.
Ich fand es toll in Oxford, auch wenn das Queen’s College damals noch nicht ganz im 20. Jahrhundert angekommen war. Zum einen war das gesamte College immer noch ausschließlich Männern vorbehalten; bis 1979 wurden keine Studentinnen aufgenommen. Zum Dinner mussten wir jeden Abend einen Talar tragen und an langen Mahagoni-Banketttischen Platz nehmen, während Servierkräfte das Essen brachten. Vorne, auf einem erhöhten Podium, saßen die Dozenten und Postdocs in ihren Roben. (Wenn Sie schon mal einen Harry-Potter-Film gesehen haben, kennen Sie das – die Szenen in der Great Hall von Hogwarts wurden in Oxford gedreht, allerdings im Christ Church College, nicht im Queen’s College.)
Nach dem Dinner begaben sich die Studenten in den gemütlichen Bierkeller, der sich am Ende einer Treppe im Front Quad befand. Alkohol war aus dem Leben in Oxford nicht wegzudenken, wenn auch nicht in Form der exzessiven Saufgelage, denen – so hört man – nachfolgende Generationen sich hingaben. Eine Nacht auf dem Rasen, nachdem ich bei einem Umtrunk in der Wohnung des Rektors zu tief ins Glas geschaut hatte, war mir eine nachhaltige Lektion.
Die Colleges haben weder eigene Labors noch solche großen Hörsäle wie im Fachbereich Physik, was bedeutete, dass wir gemeinsam mit Studenten der anderen Colleges in Oxford unsere praktischen Experimente durchführten und Vorlesungen besuchten. Wenn man von vorn den voll besetzten Hörsaal überblickte, war das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern schon ziemlich erschreckend. Trotzdem begegnete ich in einer jener frühen Vorlesungen in der allerersten Studienwoche – ich glaube, es war eine Vorlesung über Fehleranalyse – meiner ersten Freundin, einer brillanten Studentin, die den gleichen Abschluss anstrebte. Wir wurden immer enger, und bald waren wir ein Paar. Zu Beginn meines zweiten Studienjahrs bezog ich ein Zimmer im College selbst, mit Blick auf die Queen’s Lane, über einem Coffeeshop, der sich selbst als der älteste in Europa bezeichnete. Morgens wurde ich durch das Rumpeln von Doppeldeckerbussen, wenn sie in den zweiten Gang schalteten, aus dem Schlaf gerissen und wachte mit dem Geruch von abgestandenem Kaffee auf.
Architektonisch gesehen war Oxford eine Stätte, die gänzlich dem Ruhm Gottes gewidmet war. Im Speisesaal hingen Porträts großer Theologen und der verblichenen Erzbischöfe der Church of England, und die Colleges boten besondere Stipendien an für Studenten, die als Organist fungierten oder im Chor sangen. Die Gottesdienste fanden in einem prächtigen Kuppelsaal statt, das Licht strömte durch die mit Heiligenbildern geschmückten Glasfenster. Aber mein rationaler Geist drängte in die entgegengesetzte Richtung.
Ich begann, auf freundliche Art, mit dem Kaplan zu diskutieren. Zu einem großen Teil fand ich die Weisheit der Kirche nach wie vor nützlich, und die Gottesdienste hatten immer noch viele Anknüpfungspunkte und einen Wert für mich. Ich fühlte mich keineswegs unwohl, wenn ich zum morgendlichen Kaffee beim Kaplan ging, sofern ein Freund mich dorthin mitnahm. Tatsächlich war der Kaplan des Queen’s College eine gute Ressource; einmal setzte ich ihn als Datenpunkt zum Thema «Kultur» ein. «Stolz –», fragte ich ihn, als wir uns einmal auf dem Hof begegneten, «wie definieren Sie dieses Gefühl, und ist es etwas Gutes?»
«Verkommene Selbstachtung – und meistens nicht», antwortete er. Das merkte ich mir. Ich konnte nicht ahnen, dass ich Jahrzehnte später und einen Ozean entfernt in eine Kultur eintauchen würde, die Stolz sehr wichtig nimmt.
Die Kirche selbst erschien mir als eigennützig, vielleicht sogar ein wenig räuberisch, und bald darauf erklärte ich mich zum Atheisten. Immerhin: Eine Religion, bei der man weise Seelsorger, festliche Gottesdienste aus freudigem oder traurigem Anlass, erhabene Musik und eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten finden konnte, ohne schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge glauben zu müssen – so etwas hätte ich nützlich gefunden. Ich bezog meine moralische Unterweisung von John Moffat, der auch heute noch eines meiner Vorbilder ist. Manche Undergrads hatten einen Moral-Tutor, der für Wohlbefinden und Verhalten zuständig war, und einen anderen Tutor für akademische Belange, aber für mich war Moffat beides.
Zusammen mit den anderen Physikstudenten an Queen’s College, Lady Margaret Hall, Keble College und St. Catherine’s College bildeten wir eine eng verbundene Gruppe. Auf dem Cherwell, einem schönen kleinen Flüsschen, das durch Oxford fließt und in die Themse mündet, machten wir Bootsfahrten mit traditionellen «Punts», hölzernen Stechkähnen mit flachem Boden, die mit einer langen Stange am Heck vorwärtsgeschoben werden. Einen Punt über ein Gewässer zu staken, ist eine praktische Lektion in Physik. Man sucht sich einen festen Stand auf den Latten am Boden des Bootes, richtet die riesige Stange senkrecht auf, lässt sie auf den Grund des Flusses fallen und schiebt das Boot exakt in die gewünschte Richtung. Dann fährt die ganze Gruppe unter den herabhängenden Weidenzweigen hindurch, ausstaffiert mit breiten Strohhüten, Gitarren, Lehrbüchern, Picknickkörben, Vorlesungsskripten und nicht zuletzt einer großen Flasche Wein, die zwecks Kühlung an einer kurzen Leine hinter dem Boot durchs Wasser gleitet.
Die achtwöchigen Trimester waren voll, sodass mein Elektronik-Hobby hauptsächlich in den Ferien in London stattfand. Zu dieser Zeit hatte ich die ausgemusterten Transistoren hinter mir gelassen und war auf General Purpose Integrated Circuits umgestiegen (allgemein einsetzbare integrierte Schaltungen). Der führende Anbieter zu dieser Zeit war Texas Instruments, der Logik-Controller verkaufte, die direkt in ein Breadboard eingesteckt werden konnten. Die TTL-Chips (Transistor-Transistor-Logik) der Serie 7400 waren in immer mehr Funktionskombinationen erhältlich und kamen in einer erstaunlichen Vielzahl früher Unterhaltungselektronikgeräte zum Einsatz. Jeder Chip war etwa so groß wie eine Büroklammer und kostete nur ein paar Pfund. Die Verdrahtung der 7400er-Chips war in einem Keramikgehäuse versteckt; um die richtigen Controller-Chips in der richtigen Kombination auf dem Breadboard zusammenzuschalten, musste man ihre jeweiligen Schaltpläne zurate ziehen und sich vor seinem geistigen Auge vorstellen, auf welchen Wegen der Strom durch die Transistorgates im Inneren der Chips floss.
Für einen richtigen Computer hätte ich eine ansehnliche, vielleicht sogar viel zu große Zahl von 7400er-Chips gebraucht, also setzte ich mir ein bescheideneres, aber immer noch befriedigendes Ziel: ein Computer-Terminal zu bauen. Ein Terminal ist das Teil, über das der Mensch mit dem Computer spricht – im Physiklabor waren die Terminals, über die wir mit den Computern kommunizierten, eigentlich Fernschreiber (engl. «teletypewriter», kurz «TTY»), die ihren Output unter lautem Rattern mit 10 Zeichen pro Sekunde auf lange Papierrollen druckten. Diese Fernschreiber waren für den Einsatz am Computer angepasste Telegrafenmaschinen aus der Zeit, als Telex noch die schnellste Methode war, um eine Nachricht um die Welt zu schicken. Doch damals wurden papierlose Terminals mit Tastatur und Bildschirm, sogenannte «Visual Display Units», immer beliebter.
Mit der Hilfe eines Klassenkameraden, Peter Gilyard-Beer, beschloss ich, aus einem alten Fernseher meinen eigenen Monitor zu bauen. Ich machte einen örtlichen Fernsehtechniker ausfindig und fragte ihn, ob er vielleicht Fernseher mit kaputtem Empfangsteil, aber funktionierendem Bildschirm habe. Er seufzte und sagte, ja, so etwas habe er in der Tat, und zeigte hinter sich auf einen großen Turm kaputter Geräte hinten in seinem Laden. Er verkaufte mir eines davon für einen Appel und ein Ei, und er gab mir sogar ein zweites mit, für alle Fälle.
Damals arbeiteten Fernseher mit einer scannenden Kathodenstrahlröhre (engl. «cathode ray tube», kurz «CRT»). Durch das Vakuum in der Röhre schossen Elektronenstrahlen auf den Bildschirm, die sich von der linken oberen bis zur rechten unteren Ecke schlängelten und 50-mal pro Sekunde aktualisiert wurden. Mit Petes Hilfe fand ich die Stelle in der Elektronik des Fernsehers, wo ich ein Kabel anschließen konnte, um anstelle des gesendeten Videosignals mein eigenes einzuspeisen. Das alles machte ich in meinem Zimmer unterm Dach, aber den zweiten Fernseher ließ ich unten auf dem Tisch im Flur stehen und schickte ihm dasselbe Signal, damit meine Eltern sehen konnten, welche Fortschritte ich machte. Nach all der Arbeit mit Elektronik, die sie beide im Krieg gemacht hatten, wussten sie, dass es eine respektable Leistung war, den Sprung von horizontalen Linien auf dem Bildschirm zu vertikalen zu schaffen. Als das erreicht war, nahm ich ein Raster von 16 Zeilen mit jeweils 64 Zeichen in Angriff.
Nachdem ich das grundlegende Bildschirmraster hinbekommen hatte, war der letzte Schritt, eine Tastatur anzuschließen. Dabei kam mir das Glück zu Hilfe: Ich hatte mir einen Sommerjob in einem Holzlager gesucht, und als ich eines Tages ein großes Fass mit Hobelspänen entsorgte, fand ich auf dem Boden eines großen Müllcontainers eine ausrangierte alte Rechenmaschine. Sie war uralt und hatte hundert Tasten, die in Zehnerreihen angeordnet waren. Doch das Entscheidende war, dass jede Taste einen eigenen elektrischen Schalter hatte. Also übermalte ich die Tasten mit weißer Farbe und beschriftete sie mithilfe von Rubbelbuchstaben mit dem Alphabet. Dann schloss ich an jede Taste eine kleine Platine an, die den elektromechanischen Output in einen binären Code umwandelte, den die Logik-Controller auf dem Breadboard lesen konnten.
Nun hatte ich ein Terminal. Ich brachte es ins Physiklabor, und der Ingenieur, der sich dort um den Minicomputer kümmerte, eine PDP-8, erlaubte mir, es für Testzwecke anzuschließen – allerdings nur unter der Bedingung, dass ich einen «optischen Isolator» baute (ein Verbindungsstück mit LEDs, Fotozellen und Air Gap) und davorschaltete, um seinen kostbaren Computer davor zu schützen, von meinem tückischen Terminal beschädigt zu werden. Sollte mir recht sein.
In gewisser Weise war es ein glücklicher Umstand, dass im Laufe dieser ganzen Entwicklung, wann immer ich ein Bauteil brauchte, das ich nicht selbst zusammenbasteln konnte – etwa einen Transistor oder nun einen Speicherchip, der die 1024 Zeichen meines neuen Displays speichern konnte –, die Industrie es zu einem Preis produzierte, den ich mir leisten konnte. Darum habe ich das Gefühl, dass mein Jahrgang – nicht meine ganze Generation von Babyboomern, sondern vor allem die Leute, die kurz vor 1955 geboren wurden – wie auf einem fliegenden Teppich auf der Welle des technischen Fortschritts gesurft sind. Ein paar Jahre früher wäre alles viel zu teuer oder nicht existent gewesen, während es ein paar Jahre später schon selbstverständlich und ein alter Hut war.
Mein Terminal konnte keinen Programmcode ausführen, aber im Jahr 1974, meinem letzten in Oxford, stellte Motorola den «Mikroprozessor» 6800 vor – einen voll funktionsfähigen Computer auf einem einzigen Chip. Oh, welch ein wunderschönes kleines Ding: ein fünf Zentimeter langes Gehäuse mit 40 Anschluss-Pins, das kastanienbraun und golden im Licht schimmerte und die eigentliche Turingmaschine enthielt: die CPU («central processing unit») oder Zentraleinheit, welche die im Speicher abgelegten Programmanweisungen ausführt. Anstatt den Prozessor auf ein einziges Motherboard (Hauptplatine) zu setzen, wie es viele Heimcomputer-Anwender machten, hatte ich mir ein 19-Zoll-Rack zugelegt, das ich durch Einstecken von Erweiterungskarten relativ einfach ausbauen konnte. Der M6800 wurde mit einem «Assembler» geliefert, einer primitiven Programmiersprache, mit der man einfache Programme schreiben und ausführen konnte. Gegen Ende meines Studiums begann ich, mit meinem Computer ein bisschen anzugeben – ein voll funktionsfähiger Rechner, den ich buchstäblich aus Schrott gebaut hatte.
In Oxford wird die Zensur für das gesamte, vier Jahre lange Grundstudium durch die Ergebnisse bei den «Finals» bestimmt, einer Serie von mörderischen, in Präsenz abzulegenden Abschlussprüfungen, die sich über etwas mehr als eine Woche hinziehen. Als der erste Prüfungstermin näher rückte, räumte ich meine Mikrochips beiseite, hielt mich vom Bierkeller fern und fing an, rund um die Uhr zu büffeln. (Meine Freundin und ich teilten uns eine Wohnung mit unseren Kommilitonen Janet und George, die beide verbissen versuchten, den gleichen Physikstoff zu verinnerlichen.) Gekleidet in der traditionellen akademischen Robe mit weißem Hemd, die als «subfusc» bekannt ist, machten wir uns schließlich auf den Weg in die Exam Schools in der High Street, wo wir zuletzt vor zwei Jahren gewesen waren, um die ersten Prüfungen zu absolvieren. Ich setzte mich an einen der kleinen, in gleichmäßigen Abständen rasterförmig angeordneten Tische und öffnete den Umschlag mit den Aufgaben.
Nach den Prüfungen ließen wir die Sau raus. Zusammen mit ein paar anderen Physikstudenten vom Queen’s College kletterten wir aufs Dach des Collegegebäudes, schlichen uns zum Clock Tower und schmückten die Zeiger der großen Uhr mit zwei Unterhosen, die wir irgendwo gefunden hatten. Dann schrieben wir die Euler’sche Formel (eiπ + 1 = 0) auf den Turm, um den Verdacht auf den Fachbereich Mathematik zu lenken. (Es ist wichtig, Dampf abzulassen und dieses Zeug aus dem System zu bekommen, wenn man jung ist.) Ein paar Wochen später bekam ich einen netten Brief von Moffat, in dem er mir meine Prüfungsergebnisse mitteilte. «Herzlichen Glückwunsch zu einem wohlverdienten First», schrieb er mir. Dieser «First Class Honours»-Abschluss (unter den oberen 30 Prozent des Prüffelds) war ebenso sehr sein Verdienst wie mein eigener.
Nach den Abschlussprüfungen heiratete ich im reifen Alter von 22 Jahren meine Freundin Jane. Heutzutage hätten wir wohl schon vor der Eheschließung als Partner zusammengelebt, aber damals war das noch anders. Mit einem First von der University of Oxford konnte ich an so gut wie jeder Universität der Welt einen Doktor in Physik machen. Doch je näher ich meinem Abschluss kam, desto klarer wurde mir, dass eine akademische Laufbahn nicht meine Berufung war. Ich verehrte Moffat, aber ich hatte kein Vorbild, das einen Doktortitel in Physik gemacht und dabei tatsächlich Freude gehabt hätte. Vielleicht lag es an der damaligen Zeit – die Teilchenphysik-Forschung geriet in den späten 1970er-Jahren zunehmend ins Stocken –, doch die Physiker, die ich kannte, schienen einfach nicht besonders glücklich zu sein. Ich hatte die beste Zeit meines Lebens in Oxford, aber die Physik war für mich nie mehr als ein Umweg. Mein Schicksal, wie immer es sich auch manifestieren mochte, musste etwas mit Computern zu tun haben.
Wenn diese Geschichte sich heute abspielen würde, wäre ich vielleicht an die Stanford University gegangen. Oder wenn nicht, dann hätte ich mich zumindest jener Szene von Leuten angeschlossen, die Computer bauten. Aber das habe ich nicht gemacht, und zwar ganz einfach, weil ich nicht wusste, dass diese Möglichkeit existierte. Im Jahr 1977 kamen keine Headhunter aus dem Silicon Valley zum Career Day an die University of Oxford. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich damals überhaupt schon wusste, dass es das Silicon Valley gibt.
Vielmehr kamen die Recruiter in Oxford von ein paar Unternehmensberatungen und den drei großen Telekommunikationskonzernen: GEC, ITT und Plessey. In einem langweiligen grauen Anzug mit Krawatte absolvierte ich ein paar Vorstellungsgespräche, aber letztlich war Jane und mir der Standort am wichtigsten. Die britische Niederlassung des US-Elektrokonzerns General Electric Company befand sich in der etwa 150 Kilometer nordwestlich von London gelegenen Stadt Coventry, die im Krieg zerbombt und danach aus Beton wiederaufgebaut worden war. (Der Interviewer sagte, Coventry sei toll – und zwar, weil man so einfach von dort wegkomme.) Die Niederlassung des US-Elektrokonzerns ITT war in Harlow in der County Essex im Nordosten von London, einer deprimierenden «New Town», die in Gewerbe- und Wohngebiete mit «Grünzonen» dazwischen unterteilt war. Der Hauptsitz des britischen Elektronikherstellers Plessey befand sich in Poole, einem wunderschönen alten Fischerstädtchen an der Südküste Englands, wo das Meer mit einem riesigen unbebauten Naturhafen verbunden ist, der sich zwischen der Stadt und den Purbeck Hills erstreckt. Als Jane und ich am Bahnhof Poole aus dem Zug stiegen, blühten die Narzissen und man hörte schon vom Bahnsteig aus die Möwen und das Klappern der Fallen an den Masten der Jollen, die im Hafen vertäut lagen. Hier waren wir richtig!
Um in Poole leben zu können, mussten wir für Plessey arbeiten. Unweit des Büros in Poole baute Plessey Telefon-Vermittlungsstellen und die technisch ausgefeilten, fehlertoleranten Computer, mit denen sie betrieben wurden. Dort landete Jane. Es gab auch einige ältere Gebäude, in denen die Abteilung «Private Communications Systems» neuartige Produkte aus Mikroprozessoren baute. Dort zeigte man mir, wie der Supermarkt Sainsbury’s mithilfe eines Barcode-Scanners in Verbindung mit einem Kassettenrekorder und einem Modem seine Lagerhaltung von einer Etage über dem Laden auf ein On-Demand-Bestellsystem umstellen konnte. In dieser Abteilung landete ich und arbeitete dort an neuartigen Systemen zur Automatisierung von Bibliotheken.
Wir hatten ein gutes Leben in Poole. Oft gingen wir mit unseren Freunden Paul Rouse und seiner Frau Lisa an der Küste spazieren, wenn sie uns besuchten. Paul war der andere Typ in Oxford gewesen, der sich einen Computer selbst gebaut hatte, aber ich hatte ihn erst kurz nach der Abschlussprüfung kennengelernt. Als wir uns dann schließlich begegneten, wurden wir sofort Freunde fürs Leben. Oft wanderten wir in den Limestone Hills und beobachteten, wie die Brandung der Nordsee an die Kreideklippen von Winspit krachte. Bei einem solchen Spaziergang im Jahr 1977 – einer verregneten Wanderung entlang einer Hügelkette an der Küste, über die der Wind hinwegfegte – erzählte mir Paul, der wesentlich besser in Mathe war als ich, von einem kürzlich erschienenen Paper der Kryptografen Rivest, Shamir und Adelman. Darin zeigten sie, wie man aus Primfaktoren zwei sehr große Zahlen produzieren kann, von denen man eine öffentlich macht und die andere geheim hält. Dies war Kryptografie mit einem «Public Key», einem öffentlichen Schlüssel, ein Verfahren, das sich die Tatsache zunutze machte, dass es einfach ist, zwei Primzahlen zu multiplizieren, aber so gut wie unmöglich, aus dem Produkt wieder die ursprünglichen Primzahlen zu ermitteln – als wolle man versuchen, aus einem Rührei wieder ein ganzes Ei zu machen.
Das war ein überwältigender Moment für mich; und er veränderte die Welt für immer. Geldautomaten, rechnerferne Anwender-Logins und alles, was verschlüsselt über das Internet übertragen wird, nutzt heute dieses sogenannte RSA-Verfahren. Als wir 1994 ein «s» an das «http» anhängten und damit das Protokoll für verschlüsselte Datenübertragung einführten, um das Internet sicher zu machen, war das alles nur dank dieses Papers möglich. Diese Verschlüsselung ermöglichte geschützte Online-Botschaften. Ich war erstaunt über die Schönheit des Verfahrens.
