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Paris, um 1900. Der junge Ferdinand wächst in einer engen Pariser Passage heran, in der die Mutter ein kleines Modegeschäft führt. Der Vater ist ein cholerischer Versicherungsangestellter, seinen Sohn hält er für einen Versager. Céline porträtiert Ferdinands Eltern und die anderen Händler als die typischen stets zu kurz gekommenen Kleinbürger mit ihrem verbissenen Groll auf alle anderen, die da oben wie die da unten. Ferdinand bricht verschiedene Lehren ab, geht nach England, kann sich auch dort keine Existenz aufbauen. Er kehrt nach Frankreich zurück und wird schließlich Arzt in einem Pariser Armenviertel. Céline denunziert die Niedrigkeit, mit der alle, die doch selber um ihre Existenz ringen, sich gegenseitig verfolgen. Wie schon mit «Reise ans Ende der Nacht» erweitert er mit «Tod auf Raten» die französische Literatursprache um sämtliche Schattierungen von Mündlichkeit, er zieht alle Register, vom Poetischen bis zum Unflat – seinerzeit ein Schock. Der Roman gilt neben «Reise ans Ende der Nacht» als einer der wirkmächtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. Seine zynische Härte, verzweifelte Sehnsucht und grimmige Komik, in eine Prosa voll rhythmischen Schwungs gefasst, machten ihn weltberühmt. Hinrich Schmidt-Henkel hat das Buch mit neuem Titel (bislang «Tod auf Kredit») neu übersetzt, die Auslassungen früherer Versionen ergänzt und ein Nachwort verfasst.
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Seitenzahl: 1088
Veröffentlichungsjahr: 2021
Louis-Ferdinand Céline
Roman
Mit einem Nachwort des Übersetzers
Paris, um 1900. Der junge Ferdinand wächst in einer engen Pariser Passage heran, in der die Mutter ein kleines Modegeschäft führt. Der Vater ist ein cholerischer Versicherungsangestellter, seinen Sohn hält er für einen Versager. Céline porträtiert Ferdinands Eltern und die anderen Händler als die typischen stets zu kurz gekommenen Kleinbürger mit ihrem verbissenen Groll auf alle anderen, die da oben wie die da unten. Ferdinand bricht verschiedene Lehren ab, geht nach England, kann sich auch dort keine Existenz aufbauen. Er kehrt nach Frankreich zurück und wird schließlich Arzt in einem Pariser Armenviertel. Céline denunziert die Niedrigkeit, mit der alle, die doch selber um ihre Existenz ringen, sich gegenseitig verfolgen. Wie schon mit «Reise ans Ende der Nacht» erweitert er mit «Tod auf Raten» die französische Literatursprache um sämtliche Schattierungen von Mündlichkeit, er zieht alle Register, vom Poetischen bis zum Unflat – seinerzeit ein Schock.
Der Roman gilt neben «Reise ans Ende der Nacht» als einer der wirkmächtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. Seine zynische Härte, verzweifelte Sehnsucht und grimmige Komik, in eine Prosa voll rhythmischen Schwungs gefasst, machten ihn weltberühmt. Hinrich Schmidt-Henkel hat das Buch mit neuem Titel (bislang «Tod auf Kredit») neu übersetzt, die Auslassungen früherer Versionen ergänzt und ein Nachwort verfasst.
Louis-Ferdinand Céline (eigentlich Louis-Ferdinand Destouches), geboren 1894 in Courbevoie, nahm am Ersten Weltkrieg teil, studierte Medizin, war Armenarzt in einer Pariser Vorstadt, bevor er als Romancier und Essayist bekannt wurde. Seine bekanntesten Werke: «Reise ans Ende der Nacht», «Guignol’s Band I/II», «Tod auf Raten». War umstritten wegen seiner antisemitischen Äußerungen, floh gegen Kriegsende nach Dänemark und wurde in Abwesenheit wegen Kollaboration verurteilt, später rehabilitiert. Céline starb 1961 in Meudon.
Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959, lebt in Berlin. Er übersetzt u. a. auch Jean Echenoz, Édouard Louis, Jon Fosse, Tomas Espedal und Tarjei Vesaas. Ausgezeichnet wurde er mit dem Jane Scatcherd-Preis, dem Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (zusammen mit Frank Heibert).
Die Originalausgabe erschien 1952 unter dem Titel «Mort à crédit», Copyright bei Éditions Gallimard, Paris.
Der Übersetzer dankt sehr herzlich dem Deutschen Literaturfonds e. V., der seine Arbeit mit einem großzügigen Werkstipendium gefördert hat.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Mort à crédit» Copyright © 1952 by Éditions Gallimard, Paris
Lektorat Hans-Ulrich Müller-Schwefe
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg
Coverabbildung ullstein bild – adoc-photos
ISBN 978-3-644-01263-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Lucien Descaves[1]
Angezogen! Hose an!
Oft ist zu kurz sie, mal zu lang.
Weste, Hemd und Jacke ohne Klagen!
Käppi, ein Paar Schuh, das hält
um die ganze weite Welt
– wenn es wird auf See getragen …
Gefängnislied[1]
Da wären wir wieder allein. Das alles ist so zäh, so schwer, so traurig … Bald werde ich alt sein. Und dann ist endlich Schluss. So viele Leute sind in mein Zimmer gekommen. Haben alles Mögliche gesagt. Und doch nicht groß was gesagt. Sind wieder gegangen. Sind alt geworden, elend und langsam, jeder an einem Ende der Welt.
Gestern um acht Uhr ist Madame Bérenge, die Concierge, gestorben. Ein großer Sturm kommt in der Nacht auf. Ganz oben, wo wir sind, erzittert das Haus. Sie war eine sanfte und liebenswerte und treue Freundin. Morgen wird sie in der Rue des Saules beerdigt. Sie war wirklich alt, so alt, wie man nur werden kann. An dem Tag, als sie zum ersten Mal gehustet hat, hab ich zu ihr gesagt: «Legen Sie sich bloß nicht hin! … Schlafen Sie im Sitzen!» Mir war es gleich verdächtig … Und jetzt das … Und was solls …
Ich hab nicht immer als Arzt praktiziert, Scheißberuf das. Ich werde ihnen allen, die mich gekannt haben, schreiben, dass sie gestorben ist, Madame Bérenge, allen, die sie gekannt haben. Wo sind sie? …
Von mir aus dürfte der Sturm noch viel mehr Lärm veranstalten, je mehr, desto besser, bis die Dächer einstürzen, bis kein Frühling mehr kommt, bis unser Haus verschwindet.
Madame Bérenge, die wusste, dass alle Kümmernisse von den Briefen kommen. Ich weiß nicht mehr, wem ich schreiben soll. All diese Leute sind so fern … Sie haben ihre Seelen verstellt, um besser zu betrügen, besser zu vergessen, um immer über etwas anderes zu reden …
Die alte Madame Bérenge … Ihr Hund, der schielende, der wird wohl abgeholt und weggeschafft …
Der ganze Kummer der Briefe, seit bald zwanzig Jahren ist er bei ihr gelandet. Er ist da, im Geruch des kürzlich eingetretenen Todes, dem unglaublich sauren Geschmack … Er hat sich gerade entfaltet … Er ist da … Er streunt herum … Er kennt uns, wir kennen ihn mittlerweile. Er wird nie wieder gehen. Das Feuer in der Pförtnerloge muss gelöscht werden. Wem werde ich schreiben? Ich habe niemanden mehr. Kein Lebewesen mehr, das sanft den freundlichen Geist der Toten auffangen könnte … Um danach noch sanfter zu den Dingen zu sprechen … Mut für einen selbst!
Zum Ende zu hat meine gute alte Hausmeisterin gar nichts mehr sagen können. Bekam keine Luft mehr, hielt mich bei der Hand … Der Briefträger kam herein. Er hat sie sterben sehen. Ein kleiner Schluckser. Das wars. Viele Leute kamen einst zu ihr, die zu mir wollten. Sie sind wieder verschwunden, fern, sehr fern in der Vergessenheit, um sich eine Seele zuzulegen. Der Briefträger nahm seine Mütze ab. Ich, ja ich könnte meinen ganzen Hass herausschreien. Ich weiß. Ich mache das später, wenn sie nicht zurückkommen. Lieber erzähle ich Geschichten. Ich werde solche erzählen, dass sie wiederkommen, extra, um mich zu töten, von den vier Enden der Welt. Und dann ist Schluss, und ich kann endlich zufrieden sein.
In der Linuty-Stiftung, der Klinik, wo ich arbeite, habe ich schon tausendfach unangenehme Bemerkungen für die Geschichten kassiert, die ich erzähle … In dieser Hinsicht ist mein Cousin Gustin Sabayot ganz strikt: Ich müsste unbedingt meine Art und Weise ändern. Er ist ebenfalls Arzt, aber auf der anderen Seite der Seine, in La Chapelle-Jonction. Gestern hatte ich keine Zeit, ihn zu besuchen. Natürlich wollte ich ihm von Madame Bérenge erzählen. Ich kam zu spät auf die Idee. Sprechstunden abhalten ist ein anstrengender Beruf. Gustin ist abends auch völlig fertig. Fast alle Leute stellen nervige Fragen. Es hilft nichts, sich beeilen zu wollen, man muss ihnen zwanzigmal sämtliche Details des Rezepts erklären. Sie haben Freude daran, einen zum Reden zu zwingen bis zur Erschöpfung … Mit all den schönen Ratschlägen fangen sie dann nichts an, absolut nichts. Aber sie fürchten, wir könnten uns nicht richtig bemühen, und zur Sicherheit lassen sie nicht locker; es geht um Schröpfköpfe, Röntgenbilder, Blutproben … wir sollen sie von oben bis unten abtatschen … Sollen alles messen … Den Blutdruck und was sonst noch für Blödsinn … Gustin, der praktiziert schon seit dreißig Jahren in La Jonction. Meine Jammergestalten, da denk ich schon dran, die werd ich eines schönen Morgens nach La Villette[1] schicken, da können sie heißes Blut trinken. Das macht sie dann schon früh morgens fertig. Ich weiß wirklich nicht, was ich noch tun soll, um sie abzuschrecken …
Vorgestern wollte ich ihn auf jeden Fall besuchen gehen, also Gustin, in seiner Wohnung. Bis zu seinem Kaff sind es von mir zwanzig Minuten zu Fuß, wenn man erst mal über die Seine ist. Gar kein nettes Wetter. Trotzdem schwinge ich mich auf. Ich denke, nehmen wir doch den Bus. Ich beeile mich, mit der Sprechstunde fertig zu werden, schleiche mich durch den Verbands-Flur raus. Ein Weibsbild erspäht mich und hält mich fest. Schleppende Aussprache, wie meine. Die Erschöpfung eben. Außerdem raue Stimme, das liegt am Alkohol. Jetzt jammert sie rum, will mich mitschleifen. «Kommen Sie, Herr Doktor, bitte, bitte! … meine kleine Tochter, meine Alice! … In der Rue Rancienne! … nur einen Steinwurf von hier! …» Ich muss nicht unbedingt mitgehen. Die Sprechstunde hab ich ja eigentlich hinter mir! … Sie lässt nicht locker … Jetzt sind wir draußen … Ich hab die Kränkler so was von über … Hab seit heut früh schon dreißig Nervensägen repariert … Kann nicht mehr … Sollen sie doch husten! Sollen sie spucken! Sollen sie vom Fleisch fallen! Sollen sie verschwuchteln! Sollen sie in die Luft gehen mit dreißigtausend Gasen im Hintern! … Mir doch völlig schnuppe! … Aber die Heulsuse da hat mich im Klammergriff, hängt mir fest am Hals, bläst mir ihre Verzweiflung entgegen, voller Rotem … Mir fehlt die Kraft, mich zu wehren. Die lässt mich nicht mehr los. Wenn wir in der Rue des Casses sind, die ist lang und völlig unbeleuchtet, dann verpass ich ihr vielleicht einen Arschtritt … Ich werd schon wieder weich … Krieg kalte Füße … Schon geht die Leier von vorn los. «Meine kleine Tochter! … Ach bitte, bitte, Herr Doktor! … Meine kleine Alice! … Kennen Sie sie? …» Es ist ein ganzes Stück bis zur Rue Rancienne … Liegt gar nicht auf meinem Weg … Ich kenne sie. Hinter der Kabelfabrik … Ich höre ihr in meiner Benommenheit zu … «Wir haben nur 82 Francs pro Woche … mit zwei Kindern! … Und mein Mann ist ganz fürchterlich zu mir! … Eine Schande ist das, lieber Herr Doktor! …»
Alles Geschwätz, mir schon klar. Stinkt muffig, nach schlechtem Atem vom Magen her …
Wir kommen vor der Bruchbude an …
Ich geh hoch. Setz mich endlich hin … Die Kleine trägt Brille.
Ich lasse mich neben ihrem Bett nieder. Immerhin spielt sie noch ein bisschen mit ihrer Puppe. Ich will sie ein wenig amüsieren. Ich kann wirklich lustig sein, wenn ich mir Mühe gebe … Dem Tod geweiht ist die kleine Krabbe nicht … Sie atmet nicht sehr frei … Lungenödem, ganz klar … Ich bringe sie zum Lachen. Gleich kriegt sie keine Luft mehr. Ich beruhige die Mutter. Die Schlampe nutzt aus, dass ich in ihrer Butze festsitze, um sich auch gleich noch untersuchen zu lassen. Wegen der blauen Flecken, ihre Beine sind voll davon. Sie schiebt sich den Rock hoch, ganz marmoriert sind ihre Stelzen von den Prügeln, sogar tiefe Brandwunden sind mit dabei. Der Schürhaken. So einer ist also ihr Alter. Ich gebe einen Rat … Mit einem Faden veranstalte ich ein sehr lustiges Auf und Ab mit der schäbigen Puppe … Rauf geht es mit der und runter, bis zum Türgriff … besser das als zu quatschen.
Ich horche ab, es rasselt reichlich. Ist aber eigentlich halb so schlimm … Ich beruhige sie noch mal. Wiederhole zwei Mal dieselben Worte. Genau das macht einen so fertig … Jetzt lacht die Kleine sich weg … Wieder kriegt sie kaum noch Luft. Ich muss abbrechen. Sie wird schon blau … Vielleicht ein bisschen Diphtherie? Mal schauen … Einen Abstrich machen? … Morgen! …
Der Erzeuger kommt nach Hause. Mit 82 Francs pro Woche gibt es hier nur noch Cidre, keinen Wein. «Ich trink den jede Menge. Kann man gut von pissen!», verkündet er sofort. Jetzt trinkt er aus der Flasche. Er zeigt es mir … wir finden beide, dass es der kleinen Süßen gar nicht so übel geht. Mich begeistert vor allem die Puppe … Ich bin zu müde, um mich mit Erwachsenen und Prognosen zu befassen. Die reinste Pest sind die Erwachsenen! Bis morgen nehm ich mir keinen mehr vor.
Mir doch schnuppe, wenn sie mich nicht ernst nehmen. Ich trinke noch mal auf seine Gesundheit. Mein Hausbesuch ist gratis, Überstunden halt. Die Mutter bringt mich wieder zu ihren Beinen zurück. Ich äußere eine letzte ärztliche Meinung. Dann gehe ich die Treppe runter. Auf dem Bürgersteig ist da auf einmal ein kleiner hinkender Hund. Er folgt mir ungebeten. Heute Abend hängen sich alle an mich dran. Ein kleiner Fox ist dieser Hund da, ein schwarz-weißer. Ich würde sagen, er hat sich verlaufen. Undankbare Leute, die armen Schlucker von da oben. Bringen mich nicht mal runter zur Tür. Sicher fangen sie gleich wieder an, sich zu prügeln. Ich kann sie schnauzen hören. Soll er ihr doch sein Schüreisen bis zum Anschlag in den Hintern schieben! Die richtige Lektion für die Schlampe! Wird sie lehren, mich zu behelligen!
Ich gehe nach links … Richtung Colombes, kurz gesagt. Der kleine Hund läuft mir noch immer nach … Nach Asnières kommt La Jonction und dann mein Cousin. Aber der kleine Hund hinkt schwer. Er schaut mich aufmerksam an. Tut mir leid, dass er sich so plagen muss. Ist dann doch besser, ich gehe zurück. Wir gingen über den Pont Binet und dann an den Fabriken entlang. Als wir hinkamen, war die Ambulanz gerade noch offen … Ich sag zu Madame Hortense: «Der kleine Kläffer braucht was zu fressen. Soll jemand Fleisch holen für ihn … Morgen ganz früh rufen wir beim ‹Tierschutz› an … Die kommen ihn dann mit einem Wagen holen. Heut Abend müssen wir ihn einsperren.» Dann ging ich beruhigt wieder weg. Aber der Hund war zu scheu. Hatte zu viel abgekriegt. Auf der Straße geht es böse zu. Als am nächsten Morgen wer das Fenster aufmachte, hat er nicht lang gefackelt, ist rausgesprungen, auch vor uns hatte er Angst. Er dachte, wir hätten ihn zur Strafe eingesperrt. Der verstand gar nichts mehr. Hatte keinerlei Vertrauen mehr. Fürchterlich, so was.
Gustin, der kennt mich gut. Im nüchternen Zustand ist er ein ausgezeichneter Ratgeber. Ein Experte in Sachen Stil. Auf seine Meinung ist Verlass. Nicht für einen Groschen eifersüchtig. Er verlangt nicht mehr viel von der Welt. Er pflegt einen alten Liebeskummer. Den will er nicht aufgeben. Spricht auch nur selten davon. Eine nicht grad seriöse Frau war das gewesen. Gustin ist eine gute Seele. Der ändert sich nicht mehr, solang er lebt.
Bis dahin trinkt er ein klein wenig …
Mein Schwachpunkt hingegen ist der Schlaf. Hätte ich immer gut geschlafen, ich hätte nie eine Zeile geschrieben …
«Du könntest doch» – das ist Gustins Meinung – «erfreulichere Dinge erzählen … so hin und wieder … Es geht nicht immer übel zu im Leben …» Das stimmt schon in gewisser Weise. In meinem Fall liegt durchaus Besessenheit vor, Voreingenommenheit. Beweis: In den Zeiten, wo ich so furchtbar, noch viel mehr als heute, Ohrensausen und andauernd Fieberanfälle hatte, da war ich sehr viel weniger melancholisch … Da heckte ich die schönsten Träume aus … Madame Vitruve, meine Sekretärin, die hat das auch mal zu mir gesagt. Sie wusste gut, wie ich mir den Kopf zermarterte. Wenn man so großzügig ist, verschleudert man seine Schätze, man verliert sie aus den Augen … Also dachte ich: «Die Vitruve, die hat sie irgendwo verräumt, alte Zicke das …» Wahre Wunder waren das … Skizzen zu einer Sage … die reine Ekstase … In diesem Genre werde ich mich von nun an tummeln … Zur Sicherheit krame ich tief in meinen Papieren … Finde nichts wieder … Rufe Delumelle an, meinen Vertreiber[2]; ich möchte ihn mir zum Todfeind machen … Ächzen soll der unter meinen Beschimpfungen … Damit der sauer wird, braucht es schon was! … Der pfeift drauf! Er besitzt Millionen. Er antwortet, ich solle Urlaub nehmen … Endlich kommt sie an, meine gute Vitruve. Ich traue ihr nicht über den Weg. Aus guten Gründen. Wo hast du mein schönes Werk hingetan?, attackiere ich sie aus heiterem Himmel. Hunderte Gründe hatte ich, mindestens, ihr zu misstrauen …
Die Linuty-Stiftung befand sich vor dem Bronze-Ballon an der Porte Pereire. Sie kam dorthin, um mir die Abschriften zu geben, fast jeden Tag, wenn ich mit meinen Kranken fertig war. Ein kleines provisorisches Gebäude, inzwischen ist es abgerissen. Mir gefiel es dort nicht. Die Schichten waren zu regelmäßig. Linuty, Gründer der Stiftung, war ein schwerreicher Millionär, dem es darum ging, dass alle gratis medizinisch betreut und geheilt werden sollten. Philanthropen sind scheißlästig. Mir für mein Teil wäre ein kleines Business bei der Stadtverwaltung lieber gewesen … Gemütliche Impfungen … Eine kleine Lizenz für Atteste … Vielleicht sogar ein Duschbad … Kurz und gut, eine Art Rentnerdasein. Und Amen. Aber ich bin weder a Jid noch Kanake, weder Freimaurer noch Absolvent der École Normale, ich kann mich nicht gut aufspielen, bin nicht zuverlässig genug[3], hab keinen guten Ruf … Seit fünfzehn Jahren schauen sie mir in der Zone zu, wie ich mich abstrample, die übelsten Typen, die sich alles Mögliche rausnehmen, haben für mich nichts als Verachtung übrig. Noch ein Glück, wenn ich nicht gefeuert werde. Die Literatur ist da ein Ausgleich. Ich hab keinen Grund zur Klage. Mutter Vitruve tippt meine Romane ab. Sie hängt an mir. «So, jetzt hör mal her!», sag ich zu ihr, «meine Beste, jetzt stauch ich dich zum letzten Mal zusammen! … Wenn du meine Sage nicht wiederfindest, verlass dich drauf, dann ist finito, vorbei mit der Freundschaft. Keine kuschelige Kooperation mehr! … Kein Gewichse … Schluss mit Du-auf-Du! … Fertig ab! …»
Sie bricht in Wehklagen aus. Die Vitruve ist wirklich schrecklich, ob man sich nur ihr Gesicht anschaut oder ihre Arbeit. Eine reine Pflichtnummer. Ich habe sie seit England an den Hacken. Die Folge eines Schwurs. Wir kennen uns nicht erst seit gestern. Ihre Tochter Angèle in London hat mich einst schwören lassen, ihr in allen Lebenslagen behilflich zu sein. Und ich habe mich gut um sie gekümmert, das kann ich wohl behaupten. Ich habe mein Versprechen gehalten. Den Angèle-Schwur. Der geht auf die Kriegszeit zurück. Und eigentlich kennt sie sich ja auch wirklich mit vielem aus. Gut. Schwatzhaft ist sie im Grunde nicht, aber sie erinnert sich … Ihre Tochter Angèle, das war mal ein Charakter. Unglaublich, wie gemein eine Mutter sein kann. Angèle ist tragisch geendet. Ich erzähle das bei Gelegenheit, wenn man mich dazu zwingt. Angèle hatte noch eine Schwester, Sophie, die taube Nuss, in London, die hatte sich da drüben niedergelassen. Und dann hier noch Mireille, die kleine Nichte, die sämtliche schlechten Eigenschaften der anderen auf sich versammelt, ein richtiges Miststück, eine Synthese.
Als ich aus Rancy umgezogen bin an die Porte Pereire, da haben mir beide das Geleit gegeben. Rancy hat sich so verändert, von der Stadtmauer und der Bastion ist fast nichts mehr übrig. Fette, schwarze, riesige Trümmer, sie werden aus dem weichen Erddamm gezogen wie Baumstümpfe. Das wird alles dahingehen, die Stadt frisst ihr altes Zahnfleisch auf[4]. Jetzt braust der Bus der Linie PQa durch die Ruinen. Bald stehen überall nur noch Halb-Wolkenkratzer aus Backstein herum. Man wird schon sehen. Mit der Vitruve gab es immer einen Wettstreit um die Widrigkeiten. Sie behauptete, sie habe viel mehr zu leiden. Unmöglich war das. Was Falten anging, da hatte sie schon recht, sie hat viel mehr davon als ich! Unerschöpflich sind die Falten, das üble Gerunzel der schönen Jahre im Fleisch. «Wahrscheinlich hat Mireille sie verräumt, Ihre Papiere!»
Ich gehe mit ihr los, begleite sie zum Quai des Minimes. Sie wohnen zusammen, ganz in der Nähe von Bitronnelle, der Schokoladenfabrik, Hôtel Méridien nennt sich das.
In ihrem Zimmer herrscht ein unglaubliches Durcheinander, lauter Trödel und Tand, vor allem Wäscheartikel, nichts als ganz billiges Zeug, überhaupt nicht haltbar.
Madame Vitruve und ihre Nichte, die haben es beide mit dem Unterleib. Drei Injektoren besitzen sie, dazu eine vollständige Apparatur und ein Gummi-Bidet. Das alles zwischen den beiden Betten, dazu ein großer Zerstäuber, den sie aber noch nie so richtig zum Spritzen gebracht haben. Ich will über die Vitruve nicht allzu Schlechtes sagen. Vielleicht hat sie in ihrem Leben mehr Zumutungen erdulden müssen als ich. Das stimmt mich wenigstens milder. Wenn das anders wär, würde ich ihr entsetzliche Prügel verpassen. Ganz hinten im Kamin hatte sie die Remington verstaut, die war noch nicht mal abbezahlt … Angeblich. Ich zahle nicht so viel dafür, dass sie meine Sachen abtippt, stimmt schon, obwohl … fünfundsechzig Centimes die Seite, aber insgesamt kommt da ganz schön fett was zusammen … Vor allem bei dicken Büchern.
In Sachen Schielaugen, da hab ich nie was Schlimmeres gesehen als die Vitruve. Der schiere Anblick tat schon weh.
Bei den Karten, also beim Tarock, da machte dies wilde Geschiele einen gewissen Eindruck. Sie legte sie den kleinen Kundinnen, die Seidenstrümpfe kaufen kamen … die Zukunft gab es auf Kredit noch dazu. Wenn sie dann Zweifel hatte oder schwer am Nachdenken war, wanderten ihre Blicke hinter den dicken Brillengläsern hin und her, wie bei einer echten Languste.
Vor allem seit den «Scherereien» gewann sie an Einfluss in der Gegend. Sie kannte sämtliche gehörnte Ehemänner. Sie zeigte sie mir vom Fenster aus, und sogar die drei Mörder, «Ich hab die Beweise!». Außerdem hatte ich ihr einen alten Laubry-Apparat für den Blutdruck geschenkt und ihr eine kleine Massage gegen Krampfadern gezeigt. Auch ein Beitrag zu ihren Nebeneinkünften. Ihr Ehrgeiz zielte auf Abtreibungen oder besser noch darauf, eine blutige Revolution anzuzetteln, damit überall von ihr gesprochen werde, dass die Zeitungen darüber schrieben.
Wenn ich sie in den Winkeln ihres Durcheinanders stöbern sah, wie sehr mich das anwiderte, das könnte ich niemals ganz aufschreiben. Jeden Augenblick werden überall auf der Welt sympathische Menschen von Lastern überfahren … Mutter Vitruve verströmte einen pfeffrigen Geruch. Das gibt es bei Rothaarigen oft. Ich glaube, Rothaarige haben das Schicksal von Tieren, ein rohes, tragisches, es steckt im Pelz. Nur zu gern hätte ich sie niedergeschlagen, wenn ich sie so allzu laut reden hörte, über all die Erinnerungen … So heiß sie auch immer war, genug Liebe konnte sie nur schwer finden. Höchstens mit einem Besoffenen! Außerdem musste es schon sehr dunkel sein, mit Schönheit war sie nicht gesegnet! In dieser Hinsicht tat sie mir leid. Ich war ihr ein Stück voraus auf der Straße der schönen Harmonien. Auch das fand sie nicht gerecht. Wenn es eines Tages mal sein müsste, hatte ich fast schon das Zeug dazu, mir den Tod zu leisten! … Ich lebte von den Zinsen der Ästhetik. Ich hatte viele Ärsche gelutscht, wunderschöne … das muss ich gestehen, das reinste Licht. Ich hatte von der Unendlichkeit genascht.
Ersparnisse hatte sie keine, das alles spürt man sofort, braucht man gar nicht drüber zu reden. Um was zu beißen zu haben und für ihren Spaß noch dazu musste sie die Kunden mittels Erschöpfung fertigmachen oder sie überrumpeln. Die reinste Hölle.
Nach sieben Uhr abends sind die meisten kleinen Arbeiter zu Hause. Ihre Frauen stecken im Abwasch fest, das Männchen lässt sich von Radiowellen umspülen. Dann legt die Vitruve meinen schönen Roman beiseite, der Existenzkampf wartet. Von einem Treppenabsatz zum anderen trippelt sie in ihren fadenscheinigen Strümpfen, ihren schäbigen Pullovern. Vor der Krise schlug sie sich noch ganz gut durch, dank der Kredite und ihrer Art, die Kunden zu behumsen, aber wer sich beschwert, dass er beim Kümmelblättchen[5] verloren hat, kriegt jetzt denselben Tinnef als Trostpreis dazu. Nichts mehr mit fairen Bedingungen. Ich hab versucht, ihr zu erklären, dass für all das die Japanerlein verantwortlich waren … Sie wollte mir nicht glauben. Ich warf ihr vor, sie hätte meine schöne Sage absichtlich in ihrem Müll vergraben …
«Ein Meisterwerk ist das!», fügte ich hinzu. «Ganz sicher finden wir das wieder! …»
Sie grinste nur … Wir durchwühlten gemeinsam ihren Haufen Klimbim.
Und endlich kam dann auch die Nichte, sehr verspätet. Diese Hüften musste man gesehen haben! Der reinste Skandal von Hinterteil … Fein gefältelt ihr Rock … Damit er in die Tonart passte. Das Akkordeon des Schlitzes. Nichts geht verloren. Der Arbeitslose ist hoffnungslos, er ist sinnlich, hat aber keinen roten Heller, um mal einen auszugeben … Aber er ist Kundschaft. «Klasse Arsch!», warfen sie ihr hin … Ins Gesicht. Hinten im Flur, weil sie nicht wussten, wohin mit ihrem Ständer. Junge Leute mit hübscherem Schnütchen als andere, die kriegen leicht mal was zum Vögeln ab, die können das Leben genießen. Erst später hat sie runter auf die Straße gemusst, um sich dort durchzuschlagen! … nach allerlei Katastrophen … Im Moment amüsierte sie sich noch …
Aber sie fand meine schöne Sage auch nicht wieder. Ihr war mein «König Krogold»[6] völlig wurscht … Nur ich allein machte mir darum Sorgen. Ihre Schule, wo sie lernte, wie mans macht, das war ein Musette-Lokal an der Porte Brancion, kurz vor der Eisenbahnlinie, das «Petit Panier».
Sie ließen mich nicht aus den Augen, während ich mich ereiferte. Sie sahen mich als «verloren» an, und zwar restlos und vollkommen. Nichtsnutz, Schüchterling, Intellektueller und so. Aber jetzt hatten sie überraschenderweise vor allem davor Schiss, dass ich mich verkrümelte. Was würden sie wohl anstellen, fragte ich mich, wenn ich jetzt gehen würde? Die Tante dachte oft daran, da bin ich felsensicher. Eiskalt konnte es einem überlaufen bei dem Lächeln, das sie aufsetzten, sobald ich auch nur ungefähr vom Reisen sprach …
Neben ihrem erstaunlichen Hinterteil hatte diese Mireille schmachtende Augen, einen einnehmenden Blick, aber eine wuchtige Nase, den reinsten Zinken, die war ihr Unglück. Wenn ich sie ein bisschen demütigen wollte, bemerkte ich: «Also wirklich, Mireille! einen Kolben wie ein Kerl hast du da im Gesicht! …» Auch wusste sie sehr schön Geschichten zu erzählen, wie ein Matrose liebte sie das. Tausend Dinge erfand sie, erst zu meinem Vergnügen, später dann zu meinem Verdruss. Für gute Geschichten hab ich einfach eine Schwäche. Sie nutzte das aus, fertig. Am Ende unserer Beziehungen ging es gewalttätig zu, aber sie hatte die Tracht Prügel schon tausendmal verdient, sogar, dass ich sie ausgeknipst hätte. Hat sie am Ende selber zugegeben. Ich war wirklich großmütig … Hab sie mit gutem Grund bestraft … Haben alle gesagt … Leute, die es wissen mussten …
Ohne Gustin Sabayot Unrecht zu tun, kann ich gut noch mal sagen, dass der sich nicht gerade zerriss für seine Diagnosen. Die stellte er munter über den Daumen gepeilt.
Wenn er zu Hause losging, schaute er erst mal in den Himmel hoch: «Ferdinand», meinte er zu mir, «heute kommen sicher die Rheumatiker …! Hundert Sous drauf! …» Das las er alles aus den Wolken. Ganz daneben lag er selten, denn mit der Temperatur und den diversen Temperamenten, da kannte er sich aus.
«Ha! Jetzt kommt Affenhitze nach der kalten Luft vorher! Merk dirs! Das ist der Moment für Kalomel, kann ich dir jetzt schon sagen! Gelbsucht liegt in der Luft! Der Wind hat gedreht … Nord nach West! Kälte nach Schauern! … Zwei Wochen Bronchitis. Die können alle gleich in der Falle bleiben! … Wenn ich hier was zu sagen hätte, ich würde meine Rezepte im Bett ausstellen! … Eigentlich, Ferdinand, gibt es nichts als Geschwätz, wenn die herkommen! … Wenn einer noch was daran verdienen würde, da wäre das was anderes … aber für uns? … Was kommt da bei rum? … im Monat? … ich könnte sie behandeln, ohne sie zu sehen, meine Kränkler! Von hier aus! Da würden sie auch nicht mehr ersticken und nicht weniger! Müssten nicht mehr kotzen als sowieso schon, wären nicht noch gelber oder röter oder blasser, nicht noch blöder … C’est la vie! …» Wo er recht hatte, da hatte Gustin wirklich recht.
«Du denkst, die wären krank? … Das ächzt … das rülpst … das humpelt … das hat Pusteln … Du willst dein Wartezimmer leer kriegen? Auf einen Schlag? selbst von denen, die sich die Lunge aus dem Halse keuchen? … Schlag einen Ausflug ins Kino vor! … Ein Glas aufs Haus in der Kneipe gegenüber! … wirst schon sehen, wie viele dir dann bleiben … Die belämmern dich vor allem, weil sie sich öden. Am Tag vor einem Fest lässt sich kein Mensch hier blicken… Den Unglücklichen, merk dir, was ich sage, denen fehlt es nicht an der Gesundheit, sondern an etwas zu tun … Du sollst ihnen Ablenkung bieten, Zerstreuung, sollst sie beeindrucken mit ihrem Auswurf … ihren Fürzen … ihrem Knirschen … sollst Befunde bieten … Fieber … Gegurgel … Unerhörtes! … Sollst dich ihnen widmen … dich für sie begeistern … Dafür sind deine Diplome da … Ah! sich mit dem Tod vergnügen, während man ihn sich heranzieht, so ist der Mensch, Ferdinand! Die wollen ihren Tripper behalten, die Syphilis, all ihre Tuberkel. Die brauchen das! Genauso ihre tröpfelnde Blase, ihr brennendes Rektum, das spielt alles keine Rolle! Aber wenn du dir genügend Mühe gibst, wenn du es schaffst, sie zu begeistern, dann warten sie auf dich mit dem Sterben, das ist dann die Belohnung! Sie halten dich hin bis ganz zum Ende.»
Wenn es wieder regnete zwischen den Schloten des E-Werks, verkündete er: «Ferdinand! jetzt gibt es wieder Hexenschüsse! … Wenn heut nicht ein Dutzend damit kommt, geb ich dem Dekan mein Diplom zurück!» Aber wenn es von Osten her Ruß regnete, das ist die trockenste Himmelsrichtung, von den Bitronnelle-Öfen her, dann wischte er sich ein schwarzes Körnchen von der Nase: «Ich will in den Arsch gefickt sein, hörst du? wenn nicht gleich heut Nacht die Lungenkranken geronnenes Blut spucken! Gottverdammtnochmal! … Sicher zwanzig Mal wird man mich wecken! …»
An manchen Abenden machte er es sich einfach. Stieg vor seinem gewaltigen Schrank mit Arzneimittelproben auf das Trittleiterchen. Direktverteilung war das, gratis und ohne Feierlichkeiten wurden die Mittel ausgeteilt …
«Haben Sie Herzflattern? Frau Krummbein?», fragte er eine Jammergestalt. – «Nein, hab ich nicht!» … «Aber Sodbrennen? … Und Ausfluss? …» «Schon! ein klein wenig …» «Dann nehmen Sie mal das hier, fällt mir grad ein … mit zwei Litern Wasser … das wird Ihnen enorm guttun! … Und die Gelenke? Tun die Ihnen nicht weh? … Haben Sie keine Hämorrhoiden? Und mit dem Stuhlgang alles, wie es soll? … Hier haben Sie Zäpfchen von Pepet! … Und auch Würmer? Was von bemerkt? … Hier, die reinsten Wundertropfen … Fünfundzwanzig, vor dem Schlafengehen! …»
Er schlug sein gesamtes Lager los … Für jede Störung, jede Anfälligkeit und Marotte war etwas dabei … So ein Kranker ist schrecklich gierig. Sobald er sich irgendeinen Dreck einwerfen kann, hat er, was er will, dann verzieht er sich befriedigt, voll Angst, man könnte ihn zurückrufen wollen.
Mit dieser Verschenkerei hab ich Gustin in zehn Minuten eine Sprechstunde abhalten sehen, die bei sorgfältigem Vorgehen mindestens zwei Stunden gedauert hätte. Aber mir konnte man in Sachen Abkürzen nichts vormachen. Ich hatte da mein eigenes kleines System.
Jetzt wollte ich ihn wegen meiner Sage sprechen. Den Anfang hatte man unter Mireilles Bett entdeckt. Die Lektüre enttäuschte mich sehr. Hatte mit der Zeit nicht gewonnen, meine Romanze. Nach Jahren des Vergessens ist dies Werk der Phantasie nur noch altmodisch … Na, Gustin sagte mir immer offen und ehrlich seine Meinung. Ich führte ihn gleich in die Atmosphäre ein.
«Gustin», sagte ich wie nebenhin, «du bist ja nicht immer so bescheuert gewesen wie heute, nicht so verblödet durch die Verhältnisse, Dienst, Suff und das übelste Geknechte … Kannst du dich für einen kleinen Augenblick wieder zur Poesie emporschwingen? … mit Herz und Schwanz kurz einer gewiss tragischen, doch noblen, strahlenden Heldenerzählung zuwenden! … Wärst du dazu imstande? …»
Da saß er, Gustin, dösig auf seinem Trittleiterchen, vor den Proben, dem übervollen Schrank … Er gab keinen Mucks mehr von sich … wollte mich nicht unterbrechen …
«Es geht», setzte ich ihn ins Bild, «um Gwendor den Herrlichen, Fürst von Christianien … Wir treffen ein … Er stirbt … genau jetzt, wo ich mit dir rede … Sein Blut rinnt aus zwanzig Wunden … Gwendors Armee hat eben eine vernichtende Niederlage erlitten … König Krogold höchstselbst hat Gwendor im Schlachtengetümmel erkannt … Hat ihn attackiert … Gar nicht faul, dieser Krogold … Hat eigenhändig für Gerechtigkeit gesorgt … Gwendor hatte ihn verraten … Der Tod macht sich über Gwendor her und vollendet sein Werk … Hör dir das an!
Im schwindenden Licht des Tages legt sich der Schlachtenlärm … Fern reiten die letzten Garden von König Krogold von dannen … In der Dämmerung erhebt sich das gewaltige Todesröcheln einer ganzen Armee … Sieger und Besiegte hauchen ihre Seele aus, jeder nach seiner Weise … Allmählich weichen Schreie und Röcheln der Stille, immer schwächer werden sie, immer seltener …
Unter einem Haufen seiner Leute begraben, verblutet Gwendor langsam … In der Morgendämmerung erscheint ihm der Tod.
‹Hast du verstanden, Gwendor?›
‹Ja, oh Tod, ich habe verstanden! Schon gleich am Morgen dieses Tages … Ich spürte in meinem Herzen, in meinem Arm auch, in den Blicken meiner Freunde, sogar im Schritt meines Pferdes eine traurige, langsame Verzauberung, dem Schlafe gleich … Mein Stern verlosch zwischen deinen eisigen Händen … Alles begann mir zu entgleiten! Oh Tod! Welche Reue! Meine Schande ist unermesslich! … Sieh diese armen Leiber! … Auch das ewige Schweigen kann das nicht mildern! …›
‹Es gibt keine Milde auf dieser Welt, Gwendor! nur im Märchen! Alle Königreiche enden in einem Traum! …›
‹Oh Tod! Gib mir noch ein wenig Zeit … einen Tag oder zwei! Ich will herausfinden, wer mich betrogen hat …›
‹Alles ist Trug, Gwendor … Niemand kann die Leidenschaften festhalten, vor allem die Liebe ist nur eine Blüte des Lebens im Garten der Jugend.›
Und der Tod hebt den Fürsten sanft auf … Der wehrt sich nicht mehr … Er ist gewichtlos … Dann bemächtigt sich ein schöner Traum seiner Seele … Der Traum, den er oft geträumt hat, als er noch klein war, in seiner mit Pelzen gepolsterten Wiege in der Erbprinzenkammer, behütet von seiner mährischen Amme, im Schloss des Königs René …»
Gustin saß da, seine Hände baumelten zwischen den Knien herab …
«Ist das nicht schön?», will ich wissen.
Er traute der Sache nicht. Er mochte nicht wieder zum Kind werden. Er wehrte sich dagegen. Ich sollte ihm das Ganze noch einmal erklären … das Warum? … Und das Wie? … Das ist nicht so leicht … Das ist empfindlich wie ein Schmetterling. Es braucht ein Nichts, schon ist es hinüber, beschmutzt einen. Was hat man schon davon? Ich behelligte ihn nicht weiter damit.
Um meine Sage schön weiterzuspinnen, hätte ich mich bei zartfühlenden Leuten kundig machen können … die mit der Welt der Gefühle vertraut sind … mit den tausend Varianten des Liebesgesäusels …
Ich ziehe mich lieber selbst aus dem Sumpf.
Zartfühlende Leute sind häufig nicht imstande zu genießen. Die haben die Peitsche verdient. So was ist unverzeihlich. Ich werd Ihnen jedenfalls König Krogolds Schloss beschreiben:
«… Ein enormes Biest mitten im Wald, eine gedrungene, erdrückende Masse, in den Fels gehauen … aus dem Sumpf gestampft, lauter Gesimse voller Friese und Giebel … allerlei Wehrtürme … Aus der Ferne, vom Meer aus dort hinten … die Wipfel des Waldes wogen und schlagen gegen die Außenmauern …
Der Späher reißt die Augen auf vor Angst, gehenkt zu werden … Noch höher … Ganz weit oben … An der Spitze von Morehande, dem Schatzturm, klatscht das Banner in den Sturmböen … Es trägt das königliche Wappen. Eine Schlange mit abgeschlagenem Kopf, das Blut fließt aus dem Hals! Wehe den Verrätern! Gwendor, tu Buße! …»
Gustin konnte nicht mehr. Er döste ein … Schnurchelte sogar. Ich geh wieder hin, seinen Laden dichtmachen. Ich sage zu ihm: «Auf gehts! Komm, wir machen einen Spaziergang an der Seine! … Das wird dir guttun …» Er blieb lieber sitzen … Aber weil ich nicht lockerlasse, rafft er sich endlich auf. Ich schlage ein kleines Café auf der anderen Seite der Ile aux Chiens vor … Da schläft er wieder ein, trotz des Kaffees. Hier ist es aber auch wirklich gemütlich, gegen vier Uhr nachmittags, das ist die Tageszeit, in der die Bistros träumen … In der Zinnvase drei künstliche Blumen. Alles auf der Uferstraße ist vergessen. Sogar der alte Schluckspecht am Tresen findet sich damit ab, dass die Wirtin ihm nicht mehr zuhört. Ich lasse ihn in Ruhe, also Gustin. Der nächste Schlepper weckt ihn sicher. Der Kater hat seine Alte sitzen lassen, jetzt wetzt er sich die Krallen.
So, wie er, Gustin, die Hände hält, wenn er ratzt, kann man leicht seine Zukunft vorhersagen. Der ganze Mensch steht in den Pfoten, mit Haut und Haar. Bei Gustin ist die Lebenslinie ziemlich ausgeprägt. Bei mir eher die Glücks- und Schicksalslinie. In Sachen Lebensdauer bin ich nicht gut weggekommen … Ich frage mich, wann es wohl so weit ist? Am Daumenansatz habe ich eine Furche … Wird wohl irgendwo im Hirn ein Äderchen platzen? Um die Ecke von der Rolandischen Furche? … In der kleinen Windung der «Dritten»? … Die Stelle habe ich im Leichenschauhaus oft studiert, zusammen mit Metitpois … So ein Iktus ist ganz winzig … Ein kleiner Krater, stecknadelkopfgroß, im Grau der Furchen … Da ist die Seele rausgeschlüpft, das Phenol und alles. Vielleicht wirds aber leider auch ein schwammiges Geschwür am Rektum … Ich würde viel drum geben, dass es das Äderchen wird … Na dann, auf die Gesundheit! … Zusammen mit Metitpois, einem wirklichen Meister, habe ich manchen Sonntag damit verbracht, mich in die Furchen zu vertiefen … Die Todesarten zu erkunden … Das tat er leidenschaftlich, der alte Knacker … Er wollte eine Vorstellung bekommen. Er persönlich wünschte sich nichts mehr als eine gemütliche Überflutung beider Ventrikel auf einmal, wenn ihm mal die Stunde schlagen würde … Er war mit Ehren überhäuft! …
«Der exquisiteste Tod, merken Sie sich das gut, Ferdinand, ist jener, der uns im empfindlichsten Gewebe trifft …» Er drückte sich preziös aus, gewunden, subtil, dieser Metitpois, wie die Männer zur Zeit von Charcot[7]. Viel genutzt hat es ihm nicht, auf die Rolandische Furche zu spekulieren, auf die «Dritte» und den grauen Kern … Irgendwann ist er am Herzen gestorben, das ging wirklich nicht gemütlich zu … ein schwerer Anfall von Angina pectoris, zwanzig Minuten hat das gedauert. Die ersten hundertzwanzig Sekunden hat er sich noch ganz gut gehalten mit seinen klassischen Zitaten, seinen Vorsätzen, mit Caesar als Vorbild … aber die restlichen achtzehn Minuten lang hat er gebrüllt wie am Spieß … Dass man ihm das Zwerchfell herausrisse, das Gedärm bei lebendigem Leibe … Dass man ihm mit zehntausend Klingen durch die Aorta fahre … Er wollte uns das alles vor die Füße kotzen … Das war kein Spaß. Auf allen vieren kroch er durch den Salon … Zerwühlte sich die Brust … Röhrte in seinen Teppich rein … Trotz dem Morphium. Das tönte durch sämtliche Stockwerke, bis auf die Straße hinaus … Unter dem Flügel ist er verendet. Wenn die Äderchen des Herzmuskels so zerplatzen, eins nach dem anderen, das ist schon eine besondere Musik … Wirklich ungünstig, dass man so einen Anfall nicht übersteht. Es gäbe da für jedermann Weisheit und Geistesgröße zu gewinnen.
Jetzt aber Schluss mit der Besinnlichkeit, bald schlug die Stunde der Geschlechtskranken. Das spielte sich in La Pourneuve ab, hinter La Garenne. Wir praktizierten gemeinsam. Genau wie vorhergesehen, pfiff ein Schleppdampfer[8]. Zeit, sich zu verkrümeln. Bei den Geschlechtskranken gab es ein raffiniertes System. Die mit Tripper und die mit Syph schlossen beim Warten auf ihre Spritzen Bekanntschaft. Vorher Peinlichkeit, nachher die reine Freude. Sobald es im Winter dunkel wurde, trafen sie sich schnell beim Schlachthof am Ende der Straße. Diese Art Kranke haben es immer furchtbar eilig, aus Angst, sie könnten hinterher keinen mehr hochkriegen. Der alten Vitruve war das aufgefallen, als sie mich besuchen kam … Die jungen Männer, denen zum ersten Mal der Schwanz tropft, die werden ganz melancholisch, es macht ihnen gewaltig was aus. Sie fing sie am Ausgang ab … Machte einen auf Mitleid … auf rührende Anteilnahme … «Na, brennt es schlimm, Kleiner? … Das kenn ich … Ich hab das schon oft behandelt … Ich hab da einen sehr guten Tee … Komm mit zu mir nach Hause, ich koch dir einen …» Noch zwei oder drei Milchkaffee, und das Bürschchen gab ihr seinen Saft. Einmal gab es abends an der Mauer einen Aufruhr, ein wie ein Esel bestückter Kanake vögelte einen kleinen Konditor, so zum Spaß, gleich neben dem Häuschen des Wachmanns. Dieser Heini war an Prügeleien gewöhnt, er hörte erst mal alles mit, das Gemurmel, das Gejammer und dann die lauten Schreie … Der Junge wand sich, zu viert hielten sie ihn fest … Trotzdem entkam er in die Butze des Alten, suchte Schutz vor den Widerlingen. Der verrammelte die Tür. «Er hat sich dann da drin rannehmen lassen! Oh ja!», da war die Vitruve sicher, sie gab ihren Senf dazu.
«Ich hab den Bullen doch gesehen, durch die Jalousie! Die haben ihren Spaß gehabt, alle beide! Der Dicke und der Junge, alles eine Sorte! …»
Sie glaubte nicht an Gefühle. Sie sah das Schlechte, sie sah das Rechte. Nach La Pourneuve mussten wir den Bus nehmen. «Fünf Minuten hast du schon noch», meinte Gustin. Er hatte es absolut nicht eilig. Wir setzten uns gleich neben den Unterstand, den vor dem Aufgang zur Brücke.
Da an der Uferstraße, Nummer 18, haben meine Eltern im Winter 92 ihr klägliches Geschäft geführt, lang ists her.
Ein Laden für «Modewaren, Blumen und Federn» war das. Als Modelle gerade mal drei Hüte im einzigen Schaufenster, das wurde mir oft erzählt. In dem Jahr fror die Seine zu. Und im Mai wurde ich geboren. Ich bin der Frühling. Schicksal hin oder her, irgendwann hat man das Älterwerden satt und dass sich alles um einen herum verändert, Häuser, Zahlen, Straßenbahnen und Haarfrisuren. Kurzer Rock oder gekniffter Hut, altbackenes Brot, Schiff auf Rädern, jetzt ist die Luftfahrt letzter Schrei, alles dasselbe! Dir wird die Sympathie verdorben. Ich will mich nicht mehr ändern. Ich könnte mich über so allerhand beklagen, aber mit lauter Sachen bin ich verheiratet, ich bin bejammernswert und vergöttere mich im selben Maß, wie die Seine verrottet ist. Wer je die krumme Straßenlaterne an der Ecke vor Nummer 12 austauscht, der bereitet mir schweren Kummer damit. Wir sind an die Zeit gebunden, das ist ein Fakt, aber für unseren Dienstgrad haben wir schon genug herumgezeitigt.
Da sind die Lastkähne … Angeblich hat jeder von ihnen ein Herz. Dick und fett pocht es im schwarzen Echo der Brückenbögen. Das genügt. Es zersprengt mich. Ich beklage mich nicht mehr. Aber bitte, nicht noch mehr davon. Würden die Dinge, so unvollkommen wir sie finden, uns mit sich fortreißen, wir müssten vor Poesie sterben. Wäre irgendwie auch ganz angenehm. Was Verführerisches und verstohlenen Zauber angeht, hielt Gustin sich an meine Ansichten, nur zum Vergessen verließ er sich lieber aufs Trinken. Gut … In seinem gallischen Schnurrbart hingen immer noch ein bisschen Gesöff und Sehnsucht …
Bei den Geschlechtskranken pflegten wir auf einem großen Blatt Papier hintereinander Striche zu machen … Das genügte. Ein roter Strich: Salvarsan … Grün: Quecksilber! … Auf gehts! Der Rest war Routine … ganz gemächlich … Die Soße in die Hinterbacken gespritzt, in die Ellenbeuge … Das spickte den Patienten wie geschmiert … Grün! … Arm! … Gelb! … Hinterbacke! … Rot … Hinterbacke gleich wieder! … Zack in den den Arsch! Und wieder Hinterbacken. Wismut! Schlampe! Blau! Pissende Röhre! Verfault! … Unterbuxe hoch! … Tupfer! … Ein Rhythmus, bei dem man mit muss. Eine Breitseite nach der anderen … Langweiler ohne Ende … Stocksteife Ständer! Prügel! Tropfende Schwänze! Triefende! Eiternde! Grobe, gestärkte Wäsche, starr wie Karton! Gono! hin und her! Königin der Welt! Der Arsch ihr Thron! Gewärmt im Sommer wie im Winter! …
Kalt die Verlorenen, sie misstrauen! Und anvertrauen einander dann tausend Fickrezepte, um noch viel besser zu stöpseln! Und mehr! … Dass Julienne ganz ahnungslos bleibt … Nie wiederkommen … Uns belügen! … Vor Freude heulen … Harnröhre voller Nadeln! Gespaltener Zipfel! Schwanz im Mund! Und auf gehts, Fotze!
Da kommt schon «Krankenakte 34», der Angestellte mit der dunklen Brille, ein Schüchterner und kleiner Schlaumeier, der fängt sich alle halbe Jahre den Tripper absichtlich ein, in der Cour d’Amsterdam[9], um dann besser mit dem Schwengel büßen zu können … er spritzt seine Rasierklingen in die dummen Dinger von den Kontaktanzeigen … Das ist sein Gebet! so sagt er … Der «34er» ist eine enorme Bazillenschleuder! das hat er in unseren Abort geschrieben!: «Ich bin der Schreck der Scheiden … Hab meine große Schwester gefickt … Hab mich ein Dutzend Mal verlobt!» Ein sehr pünktlicher Kunde, still und unkompliziert, er freut sich immer, wieder bei uns zu sein.
Damit verdienen wir unsere Brötchen, immer noch leichter, als Bahnstrecken zu schottern.
Als wir in La Pourneuve ankommen, meint Gustin so zu mir: «Hör mal, Ferdinand, da vorhin … als ich eingedöst bin, versuch nicht, mir zu widersprechen … da hast du mir die Handlinien gelesen … Was hast du gesehen?»
Ich kannte seine Sorge nur zu gut, damals war die Leber schon lange seine Schwachstelle, außerdem hatte er ihretwegen die übelsten Albträume … Er legte sich allmählich eine Zirrhose zu …
Morgens hörte ich ihn oft ins Spülbecken kotzen … Ich beruhigte ihn, was hätte es gebracht, seine Sorgen zu vergrößern. Der Schaden war ja angerichtet. Hauptsache, er behielt seine Stelle.
In La Joction hatte er so gut wie sofort seinen Posten bei der Wohlfahrt bekommen. Gleich nach dem Studium, dank einer kleinen Abtreibung, anders lässt es sich nicht sagen, an der Gespielin eines seinerzeit recht konservativen Gemeinderats … Gustin hatte sich gerade eben daneben niedergelassen, arm wie eine Kirchenmaus. Es war glatt gelaufen, damals zitterten seine Hände noch nicht. Beim nächsten Mal war es die Frau des Bürgermeisters. Noch ein Erfolg! … Aus Dankbarkeit ernannten sie ihn zum Armenarzt.
Erst waren sie alle sehr zufrieden mit ihm in dieser Funktion. Und dann irgendwann gefiel er den Leuten nicht mehr so … Sie hatten seine Fresse und sein Verhalten satt … Konnten ihn nicht mehr verknusen. Und haben alles unternommen … sich darin überboten, ihm die Hölle auf Erden zu bereiten. Machten ihn genussvoll fertig; warfen ihm alles Mögliche vor, er hätte schmutzige Hände, würde sich bei den Dosierungen vertun, kenne sich mit Gift nicht aus … Würde exzessiv aus dem Maul stinken … Würde geknöpfte Schuhe tragen[10] … Als sie ihm derart gründlich zugesetzt hatten, dass er sich kaum mehr aus dem Haus traute, als man ihm hinreichend klargemacht hatte, dass man ihn jederzeit so leicht loswerden konnte wie einen Furz, da besann man sich auf einmal anders und duldete ihn wieder, ebenso grundlos, hatte es wohl einfach satt, ihn so hässlich und so verachtenswert zu finden …
Dreck, Neid, Missgunst der ganzen Abteilung war auf seinen Kürbis niedergegangen. Er hatte die hasserfüllte Galle der Sesselfurzer seines eigenen Ladens abgekriegt. Die Verbitterung schon beim Aufwachen morgens angesichts all der Maladen des Bezirks – 14000 Alkoholiker mit ihrem Magenschleim, der lästige Harnverhalt von 6422 Tripperkranken, den er nicht abzustellen schaffte, die Ovarienzuckungen von 4376 Menopausenfurien, die hartnäckige Angst von 2266 Bluthochdruckgeplagten, die unversöhnliche Verachtung von 722 Gallekranken mit Migräne, der obsessive Argwohn von 47 Bandwurmwirten, dazu 352 Mütter von Kindern mit Spulwürmern, die ganze durchgeknallte Horde, die große Rotte der Masochisten mit all ihren Spezialitäten. Leute mit Ausschlag, Eiweiß im Urin, mit Zucker, die ganzen unnützen Stinker, Zitterer, Scheidenentzündungen, diejenigen, die hiervon «zu viel» hatten und davon «zu wenig», die Verstopften, die ganzen Arschlöcher voller Reue, dieser ganze Haufen Morast, diese ganze vorüberziehende Welt voller Mörder, seit dreißig Jahren, Tag und Nacht, strömte ihm das alles in die Fresse, das alles marschierte vor seiner Brille auf.
In La Jonction hauste er mitten in diesem Scheißdreck, direkt über der Röntgenabteilung. Da hatte er seine Dreizimmerwohnung in einem Haus, richtig aus Stein, das waren nicht nur so dünne Pappwände wie heute überall. Um sich gegen das Leben zu wappnen, bräuchte es Dämme, zehnmal so hoch wie in Panama, und unsichtbare kleine Schleusen. Da wohnte er seit der Weltausstellung, der großen, seit den schönen Tagen von Argenteuil.
Jetzt standen rings um die Klinik lauter «Hochhäuser».
Von Zeit zu Zeit suchte Gustin immer noch ein bisschen Ablenkung … Nahm dann ein Mädchen mit hoch, aber oft kam das nicht mehr vor. Sobald Gefühle mit im Spiel waren, packte ihn der Katzenjammer. Nach dem dritten Treffen … Da soff er lieber … Auf der anderen Straßenseite lag ein Bistro; grüne Fassade, sonntags mit Musike, sehr bequem für ein paar Fritten, auf die verstand sich die Köchin wie keine andere. Der Schnaps verbrannte Gustin, für mich ist daran nicht mal mehr zu denken, seit mir Tag und Nacht die Ohren rauschen. Das macht mich fertig, ich sehe schon aus, als hätte ich die Pest. Manchmal horcht Gustin mich darum ab. Er sagt mir aber auch nicht, was er davon hält. In diesem einzigen Punkt sind wir diskret. Ich hab auch so meinen Kummer, das kann man wirklich sagen. Er kennt meinen Fall, er will mir einen Gefallen tun: «Na los, Ferdinand, lies mir deinen Riemen vor! aber bitte nicht zu schnell! Und fuchtel nicht so rum. Dich macht das müd, und mir wird schwummerig vor Augen.»
«König Krogold, seine Recken, seine Pagen, sein erzbischöflicher Bruder, die Heeresgeistlichkeit, der ganze Hofstaat sanken nach der Schlacht erschöpft im Zelt mitten im Heerlager hin. Die schwere goldene Mondsichel, Geschenk des Kalifen, war, da es ans Ausruhen ging, nicht auffindbar … Er krönte sonst den königlichen Baldachin. Zur Strafe wurde der verantwortliche Hauptmann windelweich geprügelt. Der König legt sich hin, will schlafen … Er leidet an seinen Verletzungen. Er kann nicht einschlafen. Der Schlaf verweigert sich … Er verflucht die Schnarcher. Er steht auf. Er steigt über Liegende hinweg, tritt auf Hände, geht hinaus … Draußen ist es so kalt, dass es ihn schaudert. Er humpelt, geht trotzdem weiter. Die lange Reihe der Karren umringt das Lager. Die Wachmannschaften schlafen. Krogold wandert die langen Verteidigungsgräben entlang … Er führt Selbstgespräche, stolpert, kann sich gerade noch fangen. Unten im Graben ein Funkeln, eine gewaltige Klinge schimmert … Ein Mann hält das glänzende Ding in den Armen. Krogold stürzt sich auf ihn, wirft ihn über den Haufen, fesselt ihn, es ist ein Soldat, er sticht ihn mit dem eigenen Kurzdolch ab wie ein Schwein … ‹Blubb! Blubb!›, gluckst der Dieb aus dem Loch in der Gurgel. Er lässt los. Es ist vorbei. Der König bückt sich, hebt die Mondsichel des Kalifen auf. Er klettert zum Rand des Grabens. Dort im Nebel schläft er ein … Den Dieb hat seine Strafe ereilt.»
Ungefähr zu jener Zeit gab es eine Krise, ich wäre fast aus der Ambulanz gefeuert worden. Wegen übler Nachrede natürlich wieder.
Davor gewarnt hat mich Lucie Keriben, die hatte ein Modewaren-Geschäft am Boulevard Moncontour und mit jeder Menge Leute zu tun. Bei der wurde viel geklatscht und getratscht. Sie verriet mir das verleumderische Gewäsch. Derart vergiftet, da konnte nur Mireille dahinterstecken … Und tatsächlich … Natürlich alles erstunken und erlogen. Von wegen ich hätte mit den Patientinnen aus dem Viertel mehrfach einen Rudelbums veranstaltet. Ungeheuerlich das … Insgeheim war Lucie Keriben ganz zufrieden, dass ich ein bisschen was abbekam … Eifersüchtig war sie.
Ich passe also Mireille ab, wo sie nach Hause kommt, warte in dem Durchgang, dem Impasse Viviane, sie musste hier vorbei. Ich verdiente noch nicht genug Knete, um einen auf Schriftsteller zu machen … Das Ganze konnte mich schwer in die Patsche bringen. Mir gings nicht gut. Ich seh sie kommen … sie geht an mir vorüber. Ich verpass ihr einen solchen Tritt in den Hintern, dass sie fast vom Trottoir fliegt. Ihr war gleich klar, was Sache war, aber geredet hat sie trotzdem nicht. Wollte erst ihre Tante sehen. Die Schuftigkeit nicht eingestehen. Nichts da.
Mit dieser Art, Gerüchte in die Welt zu setzen, wollte sie mich kirre machen … Also galt es, schnell am nächsten Tag was dagegen zu tun. Gewalt half hier nicht weiter. Vor allem nicht bei Mireille, dann wurde sie nur noch gemeiner. Sie wollte heiraten. Mich oder sonst wen. Sie hatte die Fabriken satt. Mit sechzehn hatte sie schon sieben Läden in der westlichen Vorstadt durch.
«Schluss damit!», gab sie bekannt. Bei «Happy Suce», der englischen Bonbon-Fabrik, hatte sie den Direktor überrascht, wie der sich grad gemütlich von einem Lehrmädchen einen lutschen ließ. Ah! schöne Fabrik das! Ein halbes Jahr lang hatte sie verreckte Ratten in den großen Pralinenkessel geworfen. In Saint-Ouen hatte sich bereits eine Vorarbeiterin ihrer angenommen und sie auf den Klos vertrimmt. Beide waren sie gemeinsam abgehauen.
Das Kapital und seine Gesetze, die hatte Mireille jedenfalls begriffen … Schon bevor sie ihre Periode bekam. Im Heim der Mündel in Marty-sur-Oise, da gab es Wichsereien, gute Luft und schöne Reden. Sie hatte sich gut entwickelt. Zum Jahrestag der Föderierten legte sie für das Heim Ehre ein, sie schwenkte Lenin hoch oben an der Stange, von Courtine bis zum Père-Lachaise. Die Bullen konnten sich kaum fassen, so gab sie an! Sie hatte so was von leckeren Waden, der ganze Boulevard hinter ihr mit der Internationalen hob die Köpfe, den auf dem Hals und den in der Hose!
Die kleinen Luden in dem Musette-Lokal, wo sie sich rumtrieb, denen war nicht klar, was sie da in der Hand hatten. Sie war noch minderjährig und hütete sich vor der Sitte, versteckte sich sofort hinter Robert, Gégène und Gaston. Aber diese jungen Kerlchen gruben sich selbst ein Grab. Sie würde sie zu Fall bringen.
Was die alte Vitruve und ihre Nichte anging, konnte ich mich auf einiges gefasst machen, vor allem die Alte wusste einfach zu viel, um nicht irgendwann Gebrauch davon zu machen.
Sie stimmte ich mit Kröten milde, aber die Kleine wollte mehr, die wollte alles. Wenn ich sie sanft anspräche, das käme ihr ausgesprochen verdächtig vor. Ich denk, ich nehm sie in den Bois de Boulogne mit, denk ich mir. Sie hegt Groll gegen mich. Helfen würde, wenn sie Interesse an mir fände. Was ich im Bois machen würde, das wusste ich schon, ich würde ihr eine schöne Geschichte auftischen, ihrer Eitelkeit schmeicheln.
«Frag mal deine Tante um Erlaubnis», sag ich zu ihr … «Du bist auch bis Mitternacht zu Hause … Warte im Café Byzance auf mich!»
Und da ziehen wir zusammen los.
Schon hinter der Porte Dauphine war sie nicht mehr zufrieden. Sie mochte die schönen Stadtviertel lieber. Im Hôtel Méridien fürchtete sie vor allem die Wanzen. Sie schämte sich wegen der Bisse, wenn sie einen netten Aufriss machte und ihr Hemd ausziehen musste. Allen war ja klar, dass das von Wanzen kommen musste … Sie kannten sämtliche ätzenden Flüssigkeiten und Desinfektionsmittel … Eine Bude ohne Läuse, das war Mireilles Traum. Wenn sie sich jetzt schon dünnegemacht hätte, ihre Tante hätte sie aufgreifen lassen. Sie zählte auf sie, weil sie Knete beischaffte, aber ich wusste, es gab da auch einen kleinen Luden, der seinen Anteil wollte, Bébert vom Val-de-Grâce. Den hat das Koks auf dem Gewissen. Er las die Reise seinerzeit …
Als wir nahe beim Wasserfall waren, fing ich an mit den Vertraulichkeiten …
«Ich weiß, du hast da einen Postbeamten, der spielt so gern mit der Klopfpeitsche wie keiner sonst …»
Überglücklich war sie, dass sie mir allen möglichen Klatsch erzählen und allerlei beichten konnte. Sie erzählte mir alles. Aber als wir beim Park Pré-Catelan ankamen, traute sie sich nicht weiter, die Dunkelheit machte ihr Angst. Sie dachte, ich wollte sie ins Unterholz zerren und dort abstrafen. Sie fummelte in meinen Hosentaschen herum, ob ich eine Knarre versteckt hatte. Nichts. Fasste mir an den Schwanz. Wegen der Autos, die hier langfuhren, schlug ich vor, wir könnten auf die Insel gehen, da redete es sich besser. Sie war ein Biest, wurde aber nicht leicht geil, und Gefahr machte sie an. Die Ruderer geraten am Ufer immer wieder ins Gezweig, verheddern sich, sie fluchen, kippeln, ruinieren sich ihre kleinen Lampions.
«Hör mal die Enten, wie die in der Pissbrühe würgen!»
«Mireille», sag ich zu ihr, als wir irgendwo sitzen. «Ich weiß, dass du gern lügst … die Wahrheit ist dir wurst …»
«Oh», meint sie, «wenn ich nur ein Viertel davon weitersag, was ich so hör! …»
«Gut, gut», bremse ich sie … «Ich nehm dir das ja nicht übel, hab sogar eine Schwäche für dich … Nicht wegen deinem Körper … oder wegen deinem Frätzchen mit der Nase … Aber deine Phantasie interessiert mich … Ich bin ein Voyeur! Du kannst mir Ferkeleien berichten … Und ich lasse dich eine schöne Legende hören … Wenn du willst, unterschreiben wir zusammen? … fifty-fifty? verdienst du schön was dabei! …»
Über Moneten reden, das gefiel ihr … Ich schilderte ihr das ganz Ding … Mit garantiert jeder Menge Prinzessinnen, echtsamtenen Schleppen … Stickereien, dick gefüttert … Pelzen und Schmuck … Ganz unvorstellbar viel … In allem, was die Szenerie betrifft und sogar die Kostüme, waren wir uns vollkommen einig. Und so fing unsere Geschichte dann an:
«Wir sind in der Vendée, in Bredonnes … Turnier-Saison …
Die Stadt macht sich für ihre Gäste bereit … Herausgeputzte Schönlinge … Nackte Ringer … Possenreißer … Ihr Wagen fährt vorbei … zerteilt die Menge … Da werden Krapfen gebacken … Ein Trio von Rittern, in reich damaszierte Rüstungen gezwängt … man kommt von weit her … von Süd … von Nord … wirft einander kühn den Handschuh hin …
Da ist Thibaud der Wüterich, Troubadour, im Morgengrauen gelangt er ans Stadttor, vom Treidelpfad her. Völlig erledigt … Will in Bredonnes Schutz und Zuflucht suchen … Joad wiederfinden, den schuftigen Sohn des Staatsanwalts. Ihn an die üble Geschichte erinnern, den Mord an einem Bogenschützen in Paris, nahe dem Pont au Change, als sie beide noch Studenten waren …
Thibaud kommt näher … In der Fähre bei Sainte-Geneviève will er nicht für die Überfahrt zahlen … Gerät mit dem Fährmann aneinander … Bogenschützen eilen herbei … werfen ihn zu Boden, schleppen ihn fort … Da wird er geifernd und in zerfetzter Kleidung vor den Staatsanwalt geführt, an Händen und Füßen gefesselt. Er windet sich, führt sich auf wie verrückt, schreit ihm die üble Geschichte ins Gesicht …»
Der Tonfall gefiel Mireille, sie wollte gerne mehr hören. Lange schon hatten wir uns nicht so gut verstanden. Irgendwann hieß es nach Hause gehen.
Auf den Wegen des Parc de Bagatelle schlenderten nur noch wenige Paare herum. Mireille war befriedet. Wir sollten den Paaren nachspionieren, fand sie … Wir ließen meine schöne Legende sein und besprachen stattdessen leidenschaftlich, ob die geheimste Sehnsucht der Frauen nicht war, einander zu spießen … Mireille zum Beispiel, würde die nicht gern ihre Freundinnen vögeln? … sie womöglich richtig ficken? … vor allem die Kleinen, Zarten, die reinsten Gazellen? … Mireille mit ihrer breit gebauten, athletischen Hüfte … dem Becken …
«Gibt doch Kunstschwänze!», meinte sie. «Darum schauen sie uns gern zu! Von ganz nahe, wenn sie sich vergnügen! Um mal zu schauen, ob ihnen nicht auch einer wächst! … Dass sie einander zerreißen! Sich alles zerfetzen, die Schlampen! Alles voll Blut! Dass ihre ganze Versautheit rauskommt! …»
Die süße Mireille, sie hatte den ganzen Zauber durchschaut! Sie genoss mein Theater, so lang es nur ging. Auf einmal warne ich sie: «Wenn du in Rancy noch weiter über mich klatschst … lass ich dich deine Schuhe fressen! …» Ich packe sie unter der Gaslaterne … Sie setzt eine überlegene Miene auf. Mir schwant, die erzählt jetzt überall herum, dass ich mich aufführe wie ein Vampir! … Im Bois de Boulogne! Da würgt mich die Wut … Bei dem Gedanken, dass ich schon wieder gearscht werd! Ich verpass ihr eine gepfefferte Backpfeife … Sie lacht nur höhnisch. Fordert mich heraus.
Aus dem Unterholz und zwischen den Bäumen, überallher tauchen Leute auf, um uns zu bewundern, zu zweit, zu viert, scharenweise. Die Typen alle ihre Nudel in der Hand, die Damen vorn und hinten aufgeschürzt. Draufgängerische Weiber, leichte Dinger, manche auch vorsichtiger …
«Na los, Ferdinand», feuern mich alle an. Ein Riesenlärm … Aus dem Wald. «Mach sie ordentlich fertig, die Kleine! Der verpasst ihr gleich ein paar!» Mich ließ das natürlich brutal werden, dass sie mich so anstachelten.
Mireille rannte kreischend los. Und ich ihr nach, keuchend. Ich verpass ihr mit meinen Tretern ordentlich was ins Hinterteil. Es klatscht und patscht nur so. Vom Jardin du Ranelagh her kamen noch Lüstlinge zu Hunderten, vorn gruppenweise mit ihren Schniedeln, noch ganz weit hinten herrschte ein Hin und Her …
Die Rasenflächen waren voll, zu Tausenden drängten sie sich auf der Avenue. Immer noch kamen hinten im Dunkeln welche dazu … Alle Röcke hingen in Fetzen … schlackernde Möpse, zerkratzt … kleine Jungs ohne Hosen … Sie rannten einander über den Haufen, trampelten aufeinander herum, halfen sich gegenseitig rasch wieder auf … In den Bäumen hingen… Trümmer von Stühlen … Eine Olle, eine Engländerin, steckte den Kopf aus einem kleinen Wagen, halsverrenkend, fast störte sie mich bei meiner Verrichtung … Noch nie hatte ich so glückliche Augen gesehen … «Hurray! Hurray! Fabelhafter Kerl!», schrie sie mir begeistert zu … «Hurray! Du reißt ihr den Arsch auf! da kriegen die Sterne Besuch! Die Ewigkeit kommt ihr raus! Es lebe die Christian Science!»
Ich beeilte mich noch mehr. Rannte schneller als ihr Auto. Gab alles für meine Aufgabe, troff vor Schweiß! Im Rennen dachte ich an meine Stelle … Dass ich die sicher verlieren würde. Das kühlte mich ab: «Mireille! Gnade! Ich verehre dich! Wirst du wohl auf mich warten, Miststück? Und mir glauben?»
Beim Triumphbogen angekommen, bildete die Menge einen Kreis. Die ganze Horde immer Mireille hinterher. Überall schon lauter Tote. Die anderen rissen einander die Eingeweide heraus. Die Engländerin schwang ihr Auto über dem Kopf, am ausgestreckten Arm! Hurray! Hurray! Sie wirft den Autobus damit über den Haufen. Der Verkehr wird von drei Reihen bewaffneter Mobilgarde abgesperrt. Wir haben freie Bahn. Mireilles Kleid fliegt auf und davon. Die alte Engländerin stürzt sich auf die Kleine, krallt ihr in die Brüste, es spritzt, es quillt, alles ist rot. Wir stürzen übereinander, wir wuseln durcheinander, wir ersticken. Eine einzige große Raserei.
Die Flamme unter dem Bogen steigt empor, steigt weiter, reißt sich los, fliegt zwischen den Sternen hindurch, verteilt sich über den Himmel … Überall riecht es nach geräuchertem Schinken … Da ist auf einmal Mireille an meinem Ohr, sie will endlich mit mir reden. «Ferdinand, Schatz, ich liebe dich! … Ja, es stimmt, du steckst voller Einfälle!» Ein Flammenregen ergießt sich auf uns, jeder kriegt große Brocken davon ab … Wir schieben sie uns knisternd, wirbelnd in den Hosenstall. Die Damen machen sich einen feurigen Schmuck daraus … Wir schliefen ineinander verschlungen ein.