Fred Zack
Tödlicher Norden
Authentische Fälle aus dem Alltag der Rechtsmedizin
über den Autor
Fred Zack wurde 1959 in Güstrow geboren.
Nach dem Abitur und dem Wehrdienst als Sanitäter studierte er Humanmedizin an der Universität Rostock. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Rostock.
Er promovierte 1991, erreichte die Anerkennung zum Facharzt für Rechtsmedizin 1992, wurde 2006 zum Oberarzt ernannt, habilitierte 2012 und erhielt 2019 eine außerplanmäßige Professur für das Fach Rechtsmedizin in Rostock.
Seit 2022 arbeitet er als freier Mitarbeiter im aktiven Ruhestand. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Blitzunfälle, der plötzliche Herztod, die ärztliche Leichenschau und Tötungsverbrechen.
IMPRESSUM
1. Auflage 2023
© 2023 by hansanord Verlag
Alle Rechte vorbehalten
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ISBN Print 978-3-947145-71-3
ISBN E-Book 978-3-947145-72-0
Cover | Umschlag: Tobias Prießner
Lektorat: Ursula Schötzig
Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de
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Inhalt
Vorwort
Fall 1 - Rätselhafter Schusskanal
Fall 2 - Ein Paar Schuhe zu viel
Fall 3 - Von Wildtieren, Sammlern und Mitschülern
Fall 4 - Zur falschen Zeit …
Fall 5 - Blutige Tabletten
Fall 6 - Biss
Fall 7 - Limit
Fall 8 - Wenn man das Morden übt
Fall 9 - Kommissar »Zufall«
Fall 10 - Rekonstruktion
Fall 11 - Notruf
Fall 12 - Hausbesuche
Nachbetrachtungen
Abkürzungen
Literatur
Danksagung des Autors
Und der Wald, er steht so schwarz und leer.
Weh mir, oh weh! Und die Vögel singen nicht mehr.
Till Lindemann (Rammstein) »Ohne dich«
Vorwort
Die Bearbeitung von vorsätzlichen Tötungsdelikten gehört zu den
spannendsten, aber auch verantwortungsvollsten Aufgaben eines
Rechtsmediziners. Als ich 1987 nach meinem Medizinstudium in
Rostock in das Fach kam, hieß es noch »Gerichtsmedizin« und die
Mauer trennte noch zwei deutsche Staaten. Seitdem bin ich 36 Jahre
in diesem Fach geblieben und habe neben Unfällen, Suiziden, natürlichen
Todesfällen und Gutachten über lebende Personen auch zahlreiche
vorsätzliche Tötungsdelikte bearbeitet. Nach erfolgreichem Bestehen
der Facharztprüfung im Jahr 1992 war ich wiederholt als
rechtsmedizinischer Gutachter in Mordprozessen vor den Landgerichten
in Rostock und Schwerin tätig. Ein vorsätzliches Tötungsdelikt,
bei dem das Opfer in Mecklenburg-Vorpommern abgelegt worden
war, der Tatort sich aber außerhalb des Bundeslandes befand, brachte
mich als Sachverständigen auch jeweils einmal vor das Landgericht
Nürnberg und Augsburg.
Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Schritte vor den
Schwurgerichtskammern in Deutschland. Mit wenig Berufserfahrung
und um das Wissen der erheblichen Relevanz der eigenen Aufgabe in
den Prozessen war mein Respekt vor der forensischen Gutachtertätigkeit
riesengroß. Es gab in dieser Zeit auch Tage, da hätte ich mir gewünscht,
ich wäre an einem anderen Ort, an dem ich nicht so im
Rampenlicht der Justiz und teilweise auch der Öffentlichkeit gestanden
hätte.
Jedoch mit den Jahren wuchsen die Berufserfahrung, das Fachwissen
und das Selbstvertrauen. Schon bald bereiteten mir die Ladungen
zu Gerichtsterminen keine schlaflosen Nächte mehr, ganz im Gegenteil: Die Schnittstelle zwischen der Justiz und der Medizin fand ich
immer spannender und ließ zunehmend gelassener die anstehenden
Gerichtstermine auf mich zukommen.
Dieses gewachsene Selbstvertrauen, gepaart mit einer gewissen wissenschaftlichen
Neugierde und der Freude am Schreiben, führte mich
dazu, dass ich nach meiner medizinischen Dissertation 1991 im Fach
Rechtsmedizin 2012 habilitierte und 2019 den Titel eines außerplanmäßigen
Professors für Rechtsmedizin an der Universität Rostock
erhielt. Als meine wissenschaftlichen Schwerpunkte kristallisierten
sich insbesondere die histologischen Untersuchungen des Herzens
und Blitzunfälle von Menschen heraus.
Vorsätzliche Fremdtötungen ließ ich aber auch wissenschaftlich nie
aus den Augen. So vergab und betreute ich eine medizinische Dissertation
über Mord und Totschlag in Mecklenburg, eine weitere über
forensische Untersuchungen von Tatverdächtigen und publizierte Fallberichte
über Tötungsdelikte in der Fachzeitschrift »Rechtsmedizin«.
Das Schreiben über einen bestimmten Teil meiner Arbeit erleichterte
mir jahrelang das Verarbeiten von grausamen Realitäten, die häufig
nur schwer zu ertragen waren und sind. Insbesondere Mitarbeiter der
Mordkommissionen, Kriminaltechniker, Staatsanwälte, die Kapitaldelikte
bearbeiten, Strafverteidiger, Richter der Schwurgerichtskammern,
forensische Psychiater und Kollegen aus der Rechtsmedizin
kennen diese Problematik aus eigener Erfahrung.
Als mein geschätzter Kollege, Herr Prof. Markus A. Rothschild,
2006 anfragte und bat, meinen spannendsten Kriminalfall belletristisch
zu Papier zu bringen, um Teil eines Buches zu werden, sagte ich
umgehend zu. Beim Schreiben des Falles »Vom Opfer zum Täter«,
erschienen im Band »Auf Messers Schneide« im Militzke-Verlag, kam
mir die Idee, kurz vor dem Ende meiner rechtsmedizinischen Tätigkeit
die spannendsten Kriminalfälle aus meinem Berufsleben über Mord
und Totschlag aus Mecklenburg niederzuschreiben. So ist das vorliegende
Buch 2022 entstanden.
Alle authentischen Vor- und Familiennamen der Angeklagten und
Opfer, die in diesem Buch vorkommen, wurden geändert. Alle Strafprozesse,
die vollständig unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden,
wie zum Beispiel der Doppelmord aus Tessin bei Boizenburg
durch zwei Abiturienten 2007, blieben unberücksichtigt. Um jedoch
die Authentizität der Fälle zu wahren, veränderte ich weder die Ortsnamen
noch die realen Tatzeiten. Für die Straßennamen trifft dies jedoch
nicht zu. Eine nicht ausschließbare Möglichkeit einer zufälligen
Übereinstimmung eines verwendeten imaginären Namens in diesem
Buch mit Namen von real existierenden Personen wäre ein nicht beabsichtigter
Zufall. Für derartige Fälle, wenn es sie denn geben sollte,
werden die Betroffenen um Verständnis und Nachsicht gebeten.
Während des Schreibens der Kriminalgeschichten habe ich in nahezu
allen Fällen die Orte des Geschehens, seien es Tatorte, Ereignisorte,
Untersuchungsorte oder Verhandlungsorte, noch einmal aufgesucht
und fotografiert. Diese nachträglich gefertigten Bilder wurden immer
dann eingefügt, wenn die Originalbilder zum Beispiel von schlechterer
Qualität oder urheberrechtlich geschützt sind. Somit ist es möglich,
dass die Fotos nicht in der gleichen Jahreszeit entstanden sind, in der
sich die Kapitalverbrechen ereignet haben.
Die Anordnung der Kriminalfälle erfolgt chronologisch.
Eine spannende Lektüre wünscht Ihnen
Fred Zack
FALL 1
Rätselhafter Schusskanal
Plate 1996
Ein Dienstag im März 1996. Ich arbeitete mittlerweile neun Jahre im
Fach Rechtsmedizin und hatte einen Tag zuvor meinen Dienst in unserer
Landeshauptstadt angetreten. Das hieß für mich, dass ich von
Montag 7:00 Uhr für die nächsten sieben Tage und Nächte der Ansprechpartner
für die Staatsanwaltschaft und die Polizei im Landgerichtsbezirk
Schwerin für alle rechtsmedizinischen Fragestellungen
war. Eine günstige Autobahnverbindung von Rostock nach Schwerin
gab es 1996 leider noch nicht, und so hatte unser Institut in Schwerin
für den diensthabenden Arzt eine Wohnung gemietet, in der ich überwiegend
den Feierabend nach der Arbeit in unserer Außenstelle verbrachte.
Für den Landgerichtsbezirk Rostock gab es zu dieser Zeit einen
weiteren diensthabenden Arzt des Rostocker Instituts.
Am Vormittag des 5. März bekam ich von der Mordkommission
Schwerin den Auftrag, in die größte Klinik der Stadt zu fahren und die
33-jährige Frau Barbara Neubert rechtsmedizinisch zu untersuchen.
Frau Neubert hatte der Polizei und den behandelnden Klinikärzten
zuvor erzählt, dass ihr am Abend des 3. März zu Hause in Plate, einer
größeren Gemeinde in der Nähe von Schwerin, von zwei maskierten
Tätern aus kürzester Distanz in den Kopf geschossen worden war.
Ich fuhr mit der Erwartung, dass Frau Neubert in Lebensgefahr
schweben würde, in das Krankenhaus. Dort wurde ich vor dem Eingang
von einem Mitarbeiter der Mordkommission erwartet, der mich
begleiten sollte. Als wir auf der Station eintrafen, erlebten wir eine
große Überraschung: Frau Neubert kam uns auf dem Flur beschwingten
Schrittes selbst entgegen. Das sah zunächst nicht nach einer unmittelbaren
Lebensgefahr für das Opfer aus! Die Frau trug an der Stirn
ein Pflaster und schien nicht operiert worden zu sein. Sie begleitete
uns in einen Untersuchungsraum und ließ sich ruhig auf einen der
Stühle nieder, doch sprach sie nicht viel. Ich mochte kaum glauben,
dass diese Frau aus kurzer Distanz einen Kopfschuss erlitten haben
sollte.
Nach einer Rücksprache mit dem Stationsarzt entfernte ich vorsichtig
das Pflaster und stellte darunter tatsächlich eine Verletzung fest, die
für einen Einschuss typische Merkmale aufwies: Etwa 0,5 Zentimeter
rechts der vorderen Körpermittellinie und nahe der Augenbraue fand
sich ein zentraler, rundlicher, nahezu schwärzlicher Haut-Weichteil-Defekt. Am Oberrand zeigte sich eine sichelförmige rötliche Hauteintrocknung.
Es sah so aus, als ob das Projektil nicht im rechten Winkel,
sondern etwas schräg von oben nach unten in den Kopf eingedrungen
war. Die Umgebung des Einschusses war geschwollen. In diesem Moment
betrat einer der behandelnden Ärzte das Zimmer und berichtete
mir, was den Medizinern der Klinik durch ihre Diagnostik bisher bekannt
geworden war. Unmittelbar nach der stationären Aufnahme am
Abend des 3. März erfolgte eine CT-Untersuchung des Kopfes. Dabei
wurde festgestellt, dass es zu der Stirnverletzung der Haut korrespondierende
Knochenverletzungen des Stirnbeines gab. Die Ärzte fanden
aber weder ein Projektil im Kopf noch einen Ausschuss. Die Schweriner
Mediziner glaubten am Sonntagabend, dass es sich wahrscheinlich
um einen Schuss aus einer Schreckschusspistole handeln würde.
Am Morgen des nächsten Tages hatte sich Frau Neubert wieder bei
den Ärzten gemeldet und über einen Druckschmerz in der rechten
Schulter geklagt. Bei der nun durchgeführten Röntgenuntersuchung
des Brustkorbes fand sich ein Projektil in der Nähe der ersten Rippe
rechts. Weil sowohl die behandelnden Ärzte als auch die Mitarbeiter
der Mordkommission sich die Lage des Projektils bei einem Schuss in
die Stirn nicht erklären konnten, baten sie mich, mittlerweile zwei
Tage nach dem Ereignis, um sachverständige Unterstützung. Bevor ich
jedoch etwas sagen konnte, fiel mir der Kriminalbeamte mit seiner
Hypothese ins Wort.
Er äußerte den Verdacht, dass das Projektil dort wohl schon länger
liege und dass auf Frau Neubert wahrscheinlich schon einmal geschossen
worden sei. Ich musste innerlich schmunzeln, bevor ich widersprach.
Wenn es so gewesen wäre, wie der junge Polizist annahm, müsste Frau
Neubert erstens eine Narbe von diesem Einschuss davongetragen und
zweitens über diesen schrecklichen Vorfall die ganze Zeit geschwiegen
haben. Der Polizist stellte mir umgehend die Frage, wie denn nach meiner
Meinung das Projektil dort hingekommen sei. Ich erwiderte, dass es
in der Fachliteratur bereits mehrere Fälle von Schussverletzungen gab,
bei denen die Projektile nicht im Bereich der erwarteten Schusskanäle
aufgefunden worden waren. Dieses lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht
zum Beispiel durch Ablenkungen nach Auftreffen auf Knochen oder
durch den Eintritt in ein größeres Blutgefäß und nachfolgende Verschleppung
mit dem Blutstrom, eine sogenannte Geschossembolie, erklären.
So etwas kommt allerdings selten vor. Weiterhin äußerte ich dem
Kriminalisten gegenüber die Vermutung, dass ich nach einem Gespräch
mit dem zuständigen Radiologen wahrscheinlich mehr über den Weg
des Projektils im Körper von Frau Neubert bis zu seiner ungewöhnlichen
Endlage in der rechten Schulter berichten könnte. Und ich hatte
recht, das Zusammentreffen mit dem erfahrenen Facharzt brachte dann
die Klärung: Nach der Durchtrennung der Stirnhaut verlief der Schusskanal etwa parallel und unmittelbar unterhalb der Schädelbasis von vorn
oben nach hinten unten, ohne dass das Projektil in den Hirnschädel
eintrat. Das Geschoss hatte nacheinander die vordere und hintere Wand
der Stirnhöhle, die Siebbeinzellen und die Keilbeinhöhle verletzt. Dann
war das Projektil durch die Halswirbelsäule abgelenkt worden und hatte
sich entlang einer Muskelloge der rechten Halsmuskulatur bis zu seiner
Endlage oberhalb der ersten Rippe rechts bewegt, ohne dabei ein größeres
Blutgefäß zu verletzen. In den rechtsseitigen Halsweichteilen zeigten
sich zahlreiche kleinere Lufteinschlüsse, die sich bandförmig bis zur
Endlage des Projektils nachweisen ließen. Das Geschoss selbst, ein sogenanntes
Kleinkaliber von 6,35 Millimetern, wurde schließlich am
4. März operativ entfernt.
Ein paar Tage nach der rechtsmedizinischen Untersuchung wurde
Frau Neubert aus der Klinik entlassen. In den Tagen und Wochen
danach bekam sie allerdings heftige Kopfschmerzen, die zunehmend
stärker wurden. Bei einer radiologischen Nachuntersuchung in der
Klinik wurden Luftansammlungen im rechten Stirnhirnlappen vorn
festgestellt. Frau Neubert musste nun aufgrund des Kopfschusses ein
zweites Mal operiert werden. Weitere körperliche Folgen der Tat waren
der vollständige Verlust des Geruchs- und eine erhebliche Beeinträchtigung
des Geschmackssinnes.
In den Tagen, Wochen und Monaten nach meiner rechtsmedizinischen
Untersuchung lag sehr viel Arbeit vor den Mitarbeitern der
Schweriner Mordkommission. Sie hatten zunächst nicht viele Spuren
oder brauchbare Zeugenaussagen. In den meisten Fällen von versuchten
oder vollendeten Tötungsdelikten waren Opfer und Täter einander
vor der Tat bekannt gewesen. Dieses bereits lange bekannte kriminalistische
Grundwissen wurde auch durch zwei medizinische
Dissertationen aus dem Rostocker Institut für Rechtsmedizin bestätigt: So kannten sich Opfer und Täter in etwa 70 Prozent der vollendeten
vorsätzlichen Tötungsdelikte der Jahre 1992 bis 2001 aus Mecklenburg
bereits vor der Tat. Konnte dieses Grundwissen der
Kriminalisten möglicherweise auch im beschriebenen Fall bei der Aufklärung
des Kapitaldelikts weiterhelfen?
In ihrer ersten Zeugenvernehmung sagte Frau Neubert aus, dass die
Täter maskiert gewesen seien und bei der Tatausführung nicht gesprochen
hätten. Die Tatzeit war nach Sonnenuntergang und somit bei
Dunkelheit gewesen. Noch in dieser Vernehmung lieferte sie den Ermittlern
trotzdem einen ersten Tatverdächtigen: Er hieß Friedrich
Steiner und war ihr geschiedener Ehemann.
Frau Neubert und Herr Steiner hatten im Mai 1988 geheiratet. Für
Herrn Steiner war es bereits die zweite Ehe gewesen und auch Frau
Neubert hatte schon zuvor eine Partnerschaft gehabt, aus der eine
Tochter hervorgegangen war. Etwas mehr als sieben Monate später
wurde auch ein gemeinsamer Sohn geboren. Herr Steiner war Fahrschullehrer
und gerade in den ersten Jahren nach der politischen Wende
lief das Geschäft in den neuen Bundesländern ausgezeichnet. Während
der Ehe machte sich Herr Steiner mit einer Fahrschule
selbstständig und seine Ehefrau arbeitete im Unternehmen mit. Das
von der Familie bewohnte Haus am Schweriner See, das Herr Steiner
mit in die Ehe gebracht hatte, wurde in der gemeinsamen Zeit baulich
erheblich vergrößert. Aber das Glück der jungen Familie hielt nicht
lange an: Im Sommer 1992 war die Ehe so sehr zerrüttet, dass Frau
Neubert ihrem Mann erklärte, sich von ihm trennen zu wollen. Es
folgte Streit. Im Juli führte dieser sogar einmal so weit, dass Herr Steiner
Frau Neubert würgte.
»Meine Mutter hat mich beschissen, meine erste Frau hat mich beschissen
und jetzt willst du mich bescheißen?!«, rief er dabei.
Am darauffolgenden Tag unterschrieb Frau Neubert aus Angst,
ihrem Sohn, ihrer Tochter oder ihr könnte im Fall einer Weigerung
etwas zustoßen, eine Scheidungsvereinbarung. Darin verzichtete sie
auf materielle Ansprüche aus dem Zugewinn während der Zeit der
Ehe. Durch die Werterhöhung des Hauses am See und durch getätigte
Grundstückskäufe hatte es aber einen erheblichen Zugewinn in
der gemeinsamen Zeit gegeben. In den nächsten Monaten drohte
Herr Steiner seiner Noch-Ehefrau mehrfach damit, wenn sie nach
der Scheidung doch Ansprüche an ihn stellen werde, sie umzubringen.
Kurz nachdem die Ehe im März 1993 geschieden worden war,
machte Frau Neubert trotzdem Ansprüche geltend. Der Streit der geschiedenen
Eheleute war heftig und ging vom Amtsgericht Schwerin
bis zum Oberlandesgericht (OLG) in Rostock. In dem Streit ging es
neben den materiellen Ansprüchen von Frau Neubert auch um das
Umgangsrecht für den gemeinsamen Sohn. Mit seinem Urteil vom
28. März 1995 entschied das OLG Rostock schließlich, dass Frau
Neubert Ausgleichs- und Erstattungsansprüche zustanden. Danach
erfolgte vom Amtsgericht Schwerin ein Auftrag zur gutachterlichen
Wertermittlung des Einfamilienhauses und der während der Ehejahre
erworbenen Grundstücke. Die Mordkommission und auch die Staatsanwaltschaft
gingen davon aus, dass auf Herrn Steiner Ausgleichszahlungen
in sechsstelliger Höhe an seine geschiedene Frau zukommen
würden. In einem Zeitungsartikel, der sehr viel später erschien, war
von nahezu 400.000 Deutschen Mark die Rede. Insbesondere nach
den bisherigen Äußerungen von Herrn Steiner seiner Ex-Frau gegenüber
stellte das ein Motiv dar, das nicht so ohne Weiteres von der
Hand zu weisen war – aber der Ex-Mann hatte die Tat nicht begangen.
Die Ermittlungen ergaben, dass er zum Zeitpunkt des Tötungsversuchs mit mehreren Bekannten in einem Schweriner Kino gesessen
und den Film »Dangerous Minds« gesehen hatte.
An dieser Stelle befanden sich die Ermittlungen der Schweriner Mordkommission
in einer Sackgasse. Wenn er es nicht selbst gewesen war,
hatte dann Steiner die Tötung seiner Ex-Frau in Auftrag gegeben? Und
wenn ja, wie sollten die Ermittler die Identität der zwei maskierten
Täter klären, wenn diese offensichtlich keine auffälligen Spuren hinterlassen
hatten?
Diese Situation führte zu einer Telefonüberwachung des Ex-Mannes.
Aber auch diese Maßnahme führte nicht zum Erfolg. Der entscheidende
Durchbruch für die Kriminalbeamten kam wieder einmal
durch den berühmten »Kommissar Zufall«: Nach einem Einbruch in
ein Büro eines Baunebengewerbeunternehmens in Schwerin sagte der
bestohlene Firmenchef bei der polizeilichen Anzeigenaufnahme beiläufig,
dass er etwas über den versuchten Mord aus Plate wisse. Im
Rahmen einer richterlichen Vernehmung im August 1996 sagte der
Unternehmer dann aus, dass ihm seine Sekretärin mehrere Informationen
gegeben hatte, die darauf hindeuteten, dass zwei ihrer Bekannten
den versuchten Mord begangen hätten. Der eine sollte ein gewisser
Wolfgang Redus, der andere ein Johann Ganner sein. Nach dieser
Zeugenaussage erfolgte nun auch eine Telefonüberwachung dieser beiden
Tatverdächtigen. Aber bis auf einige für Außenstehende eigenartig
verschlüsselte und kaum sinnvolle Gespräche führte auch diese Überwachung
nicht zu eindeutigen Beweisen. Trotzdem wurden aufgrund
der vorliegenden Zeugenaussagen und weiterer Indizien die Herren
Steiner, Redus und Ganner am 13. Dezember 1996 in Untersuchungshaft
genommen. Am 4. Juni 1997 verfasste die zuständige Staatsanwältin
in Schwerin die Anklageschrift und im November 1997 begann
der Prozess gegen den Fahrschullehrer wegen Anstiftung zum Mord
und gegen die zwei Bekannten der Sekretärin des Baunebengewerbeunternehmers
wegen versuchten Mordes. Das, was im Jahr 1997 noch
üblich war, ist heute kaum noch möglich: Bereits seit vielen Jahren,
aber eben noch nicht 1997, ist nach der deutschen Strafprozessordnung
vorgeschrieben, dass zwischen der Inhaftierung eines Tatverdächtigen
und dem Beginn der Gerichtsverhandlung mit wenigen
Ausnahmen, die genau definiert sind, nicht mehr als sechs Monate
liegen dürfen. Im Fall des versuchten Mordes an Frau Neubert, der in
den Printmedien nun aufgrund des Tatortes als »Plater Auftragsmord«
bezeichnet wurde, waren es immerhin elf Monate zwischen Beginn der
Untersuchungshaft für die Tatverdächtigen und der Hauptverhandlung
vor dem Landgericht Schwerin gewesen. In dieser Verhandlung
schwiegen Herr Steiner und Herr Redus zu den schwerwiegenden Vorwürfen
der Staatsanwaltschaft. Herr Ganner, ein 20-jähriger Mann,
gestand jedoch seinen Tatbeitrag und belastete dabei Herrn Redus
schwer. Über ein mögliches Motiv für das relativ späte Geständnis des
Herrn Ganner werde ich Ihnen meine Überlegungen zu einem späteren
Zeitpunkt mitteilen. Zuvor soll hier die Tat näher betrachtet werden.
Weder Johann Ganner noch der acht Jahre ältere Wolfgang Redus
kannten Frau Neubert. Die Übermittlung des Auftrages zur Tötung
der Ex-Frau von Herrn Steiner kam dazu nicht durch Herrn Steiner
selbst, sondern durch einen Mittelsmann, Herrn Sven Groß, zustande.
Für die Erledigung des Mordes hatte der Vermittler den beiden Männern
insgesamt 20.000 Deutsche Mark in Aussicht gestellt, die natürlich
von Herrn Steiner kommen sollten. Sowohl für Redus als auch für
Ganner war die Höhe der Geldsumme eine ausreichende Motivation.
Da die beiden Männer Frau Neubert noch nie gesehen hatten, erhielten sie nun zahlreiche Informationen über ihr Aussehen, ihren Wohnort
und alles Weitere, die Herr Steiner genauso wie das Geld dem
Mittelsmann Groß gegeben hatte. Mit dem Pkw Golf II des Herrn
Redus, der den Mittelsmann von zahlreichen vorherigen Diebestouren
kannte und ständig Geld für seinen Kokainkonsum benötigte, fuhren
er selbst und Ganner mehrfach in der Dunkelheit am Haus von Frau
Neubert vorbei und kundschafteten den geplanten Tatort in Plate aus.
Als Waffe für die Tötung hatten sie, man höre und staune, eine Kleinkaliberpistole
besorgt. Da sie aber nur eine Waffe hatten, musste geklärt
werden, wer diese am Tatort abfeuern sollte. Die Männer einigten
sich darauf, dass das Los entscheiden sollte. Der Jüngere, Herr
Ganner, verlor und wurde nun als Todesschütze festgelegt. Am Sonntagabend,
es war der 3. März 1996, kurze Zeit nach Sonnenuntergang,
fuhren die beiden Männer nach Plate, um ihren Teil des Auftrags zu
erfüllen, während zeitgleich in einem Schweriner Kino der Film »Dangerous
Minds« lief. Sie gingen zur Haustür der angegebenen Adresse
und klopften. Frau Neubert erinnerte sich genau an diesen Moment.
»Als es klopfte, scherzten meine Tochter und ich, wir würden keinen
Staubsauger an der Tür kaufen.«
Sie öffnete. Sofort drückten die mit Wollmasken vermummten Täter
die Tür auf, gingen einige Schritte in den Flur und Herr Ganner
gab kurz nacheinander zwei Schüsse auf Frau Neubert ab. Der erste
Schuss traf sie vorn in den Kopf, sodass sie zu Boden ging. Der zweite
Schuss verfehlte sein Ziel und blieb in der Wand stecken. Hastig rannten
die beiden Täter zum Golf II und fuhren in dem Glauben, dass sie
Frau Neubert getötet hätten, so schnell sie konnten davon. Frau Neuberts
Tochter, die den Krach gehört hatte, eilte in den Flur und rief, als
sie sah, was geschehen war, umgehend die Polizei. Die Beamten wollten
ihr den Sachverhalt anfangs nicht glauben. Als schließlich der Notarzt eintraf, blutete Frau Neubert erheblich und kam bei vollem Bewusstsein
mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus. Die Kurzfassung
des weiteren medizinischen Werdegangs kennen Sie bereits.
Nach der Ausführung der Tat erhielten die beiden Männer die in
Aussicht gestellten 20.000 Deutschen Mark, die Herr Redus von
Herrn Groß in Empfang nahm und davon 10.000 an Herrn Ganner
weitergab. Als augenscheinlich wurde, dass Frau Neubert nicht verstorben
war, mussten die beiden Männer das Geld nicht zurückgeben.
Und wie es sich so oft schon nach schweren Gewaltverbrechen mit
mehreren Tätern ereignete, so sollte es auch beim »Plater Auftragsmord
« sein: Beide Männer konnten ihr Täterwissen nicht für sich behalten.
Sie erzählten es, unabhängig voneinander, gleich mehreren
Zeugen. Dabei war es wiederum erstaunlich, dass es noch bis zum
August 1996 dauerte, bis der erste Zeuge bei der Polizei und einer
richterlichen Vernehmung »auspackte«.
Im ersten Prozess vor dem Landgericht Schwerin, dem einzigen
Prozess in dieser Sache, zu dem ich als Sachverständiger geladen wurde,
erhielt ich vom vorsitzenden Richter folgende vier Fragen:
1. Welche Verletzungen wies Frau Neubert nach der Tat auf?
2. Wie war der Verlauf des Schusskanals?
3. Wird Frau Neubert bleibende Schäden behalten?
4. War der Schuss geeignet, den Tod von Frau Neubert
herbeizuführen?
Die Antworten der ersten beiden Fragen kennen Sie, verehrte Leser,
bereits. Auf die dritte Frage erwiderte ich, dass der Verlust des Geruchs-
und eine diagnostizierte erhebliche Beeinträchtigung des Geschmackssinnes
durch den Verlauf des Schusskanals zu erklären seien
und, soweit ich als Rechtsmediziner das einschätzen könnte, mit einer
sehr hohen Wahrscheinlichkeit irreversibel sein würden. Weiterhin
werde Frau Neubert ein Leben lang Narben an der Stirn, der rechten
Schulter und im Operationsbereich des Kopfes behalten. Über das
Auftreten und Persistieren von psychischen Beeinträchtigungen konnte
ich 1996 nichts Konkretes sagen, erwähnte aber, dass die Möglichkeit
nicht nur theoretisch bestünde. Die vierte Frage beantwortete ich
unmissverständlich mit »Ja«. Dass Frau Neubert den Kopfschuss überlebte,
hatte aus rechtsmedizinischer Sicht zwei wesentliche Gründe:
Erstens benutzten die Täter eine Kleinkaliberwaffe, deren Geschoss
erheblich weniger Energie abgibt als zum Beispiel eine Pistole oder ein
Revolver mit einem Kaliber von 9 Millimetern, und zweitens war der
überraschende Verlauf des Schusskanals, bei dem das Projektil nie in
den Hirnschädel eingetreten war, für das Überleben von Frau Neubert
entscheidend. Sie hatte im wahrsten Sinne des Wortes Glück im Unglück
gehabt.
Die erste Hauptverhandlung vor dem Landgericht Schwerin endete
erwartungsgemäß mit einem Schuldspruch für die Angeklagten Redus
und Ganner. Dagegen kam der Freispruch für den 1997 noch mutmaßlichen
Auftraggeber, den Ex-Mann Steiner, nicht nur für mich
überraschend. Die Richter argumentierten, dass sie zwar glaubten,
dass Herr Steiner der Auftraggeber für den Mordversuch war, aber dass
die vorliegenden Indizien nicht für eine Verurteilung des Fahrlehrers
ausreichen würden.
Der 28-jährige Redus erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen
versuchten Mordes, wobei die Mordmerkmale Habgier und Heimtücke
vom Gericht als erfüllt angesehen wurden. An dieser Stelle möchte
ich, wie angekündigt, auf den von mir favorisierten Grund für das
späte Geständnis von Herrn Ganner zurückkommen. Für einen Mord,
ob vollendet oder versucht ist dabei unerheblich, erwartet ein Täter bei
voller Schuldfähigkeit eine lebenslange Freiheitsstrafe. Dieses Strafmaß
gilt aber nur für das Erwachsenenstrafrecht. Herr Ganner war
zum Zeitpunkt der Tat 20 Jahre und 10 Monate alt. Damit war er
nach dem deutschen Strafrecht ein Heranwachsender. Was hat das mit
dem Strafmaß zu tun? Mitunter, wie im vorgestellten Fall, sehr viel. In
Deutschland wird ein Straftäter immer nach dem deutlich günstigeren
Jugendstrafrecht verurteilt, wenn er zur Tatzeit unter 18 Jahren, aber
älter als 14 Jahre ist. Als Übergangszeit vom Jugendstrafrecht zum Erwachsenenstrafrecht
gilt das Lebensalter von 18 bis 21 Jahren. In diesen
Lebensjahren gilt ein Täter als Heranwachsender, wobei durch das
Gericht mit Hilfe der Jugendgerichtshilfe, und bei schweren Straftaten
auch der forensischen Psychiatrie, der Reifegrad des Angeklagten geprüft
wird. Je stärker das Reifedefizit, also die »Unreife« eines Heranwachsenden
ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er nach
dem Jugendstrafrecht verurteilt wird. Der Unterschied im Strafmaß ist
bei einem versuchten Mord erheblich: Wenn man Herrn Ganner noch
nach dem Jugendstrafrecht verurteilt hätte, wäre die Höchststrafe
nicht eine lebenslange, sondern eine Haftstrafe von zehn Jahren gewesen.
Und bei einem glaubhaften Geständnis kann das Gericht die
Strafe weiter mildern. Ich kann mir auch heute noch gut vorstellen,
dass es im Fall des »Plater Auftragsmordes« eine Art Deal zwischen der
Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht und Herrn Ganner gegeben
habe. Für den Fall, dass er gestehen und somit auch Beweismaterial
gegen Herrn Rebus liefern würde, könnte ihm in Aussicht gestellt worden
sein, dass er dann nach dem Jugendstrafrecht verurteilt würde und
weniger als zehn Jahre Haft als Strafe bekäme.
Am Ende des Prozesses wurde Herr Ganner nach seinem Geständnis
nach dem Jugendstrafrecht verurteilt und bekam eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Bei einer guten Führung in der Justizvollzugsanstalt
bestand so für Ganner die Möglichkeit, dass nach der
sogenannten Zwei-Drittel-Regel die restliche Haftstrafe nach einem
Verbüßen von vier Jahren und acht Monaten zur Bewährung ausgesetzt
werden könnte. Das war für den jungen Mann ein wirklich
schwerwiegendes Argument beim Abwägen seines Aussageverhaltens
gewesen. Schweigen und somit möglicherweise das Erwachsenenstrafrecht
und mindestens 15 Jahre Haftstrafe in Kauf nehmen oder aber
gegen den eigenen Mittäter aussagen und dafür, wenn alles gut läuft,
vor Ablauf von fünf Jahren wieder auf freiem Fuß sein. Ganner hatte
seine Wahl getroffen und damit gegen eine ungeschriebene »Ganovenregel
« verstoßen. Die Urteile gegen die beiden Auftragstäter wurden
nach der ersten Instanz rechtskräftig.