12,99 €
Eines der bedeutendsten je geschriebenen Reisebücher ist die Geschichte von Dr. Sven Hedins Entdeckungen und Abenteuern in Tibet, die er in drei Bänden unter dem allgemeinen Titel "Transhimalaja" veröffentlicht hat. Dieses Werk ist nicht nur ein engmaschiger, sorgfältig ausgearbeiteter Bericht über die Leistungen eines wissenschaftlichen Entdeckers, Geographen und Ethnologen, sondern auch eine unterhaltsam erzählte Geschichte über verblüffende Erlebnisse, aufregende Abenteuer und wirklich bemerkenswerte Leistungen auf dem Gebiet der Erforschung. Die Expedition des schwedischen Entdeckers startete im August 1905 und betrat das Verbotene Land von Nordwesten her. Er erforschte die Region gründlich und drang mit Hilfe seiner siebenunddreißig asiatischen Gefolgsleute in Gebiete vor, die nicht nur noch nie ein westlicher Mensch betreten hatte, sondern in denen sogar die Existenz Europas unbekannt war. So zeigt Dr. Hedins Beschreibung seiner Begegnung mit dem Tashi Lama , dass dieses Oberhaupt der buddhistischen Kirche keine Gottheit in Menschengestalt ist, sondern ein Mensch, der in Herzensgüte, Unschuld und Reinheit der Vollkommenheit so nahe wie möglich kommt. Dies ist der zweite von drei Bänden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 679
Veröffentlichungsjahr: 2025
Transhimalaja
Band 2
SVEN HEDIN
Transhimalaja Band 2, S. Hedin
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783988681690
www.jazzybee-verlag.de
Drei Tage hatten wir uns beim Kloster Linga aufgehalten, als wir am 17. April in dem engen My-tschu-Tal, dessen Wassermenge sich jetzt wieder bedeutend verringert hatte, nach Nordwesten weiterzogen. Der Raum verbietet es, diesen wunderbaren Weg und seine Wildheit ausführlicher zu beschreiben. In der Talerweiterung bei Linga ziehen sich Wege westlich und östlich in das Gebirge hinein; ihre Abzweigungen führen nach zahlreichen Dörfern hin, deren Namen und ungefähre Lage ich stets aufzeichnete. Der Verkehr nimmt jetzt sehr ab, obwohl an den Seiten des Wildnispfades noch immer zahlreiche Manis und andere religiöse Wegzeichen stehen.
Wir reiten auf den abschüssigen Abhängen des rechten Ufers entlang; in der Tiefe unter uns bildet der Fluss Stromschnellen; der Weg ist gefährlich, besonders mit einem Pferd, das nicht sicher auf den Beinen ist. Roberts kleines rotbraunes Füllen vom Ngangtse-tso stolperte und fiel, so dass der Reiter kopfüber auf die Erde stürzte. Wäre er bergab gerollt, so wäre er verloren gewesen, zum Glück aber fiel er gegen den Berg.
Am Eingang des kleinen Nebentales Langmar-pu lagerten wir im Dorfe Langmar, das aus einigen zerstreut liegenden Häusern bestand.
Wir haben noch immer gemietete Tiere, jetzt auch Yaks; die Karawaneneinteilung ist trotzdem wie früher. Sonam Tsering und Guffaru kommandieren ihre Unterabteilungen, Tserings Gesellschaft bricht als erste auf und geht als letzte zur Ruhe, Muhamed Isa leitet das Ganze. Er wird abends von zwei eigens dazu ausersehenen Männern, deren einer Rehim Ali ist, massiert. Noch gibt es Tschang, das unschuldige, aber doch anregende Bier; unter den Sängern an den Lagerfeuern verdient Tsering, wie gewöhnlich, den ersten Preis. Er macht mir unbeschreiblich viel Spaß, er „singt“ wie eine alte Kuh oder höchstens wie eine geborstene Tempeltrommel; unaufhörlich schnappt die Stimme über, und er kommt aus dem Takt und aus der Melodie, ohne dass ihn dies im geringsten geniert. Aber er selbst hält sein Singen für schön, und die anderen haben ihre Freude daran; man hört schon von weitem, wie ihm dabei die Tränen in die Augen treten. Manchmal macht er eine Pause, um den Inhalt des Liedes zu erklären und einen Schluck zu trinken, und dann geht es wieder los. Wenn alle anderen schon schlafen und es im Lager so still geworden ist, dass man nur noch das Rauschen des Flusses und dann und wann einen bellenden Hund hört, hallt Tserings raue Stimme noch spröde und tremolierend zwischen den Bergen wider.
Am nächsten Tage nähern wir uns dem Hauptkamm des Transhimalaja wieder, denn zu meiner großen Überraschung und Freude werden wir nach dieser Richtung hingelenkt. Noch immer herrscht Granit vor, in dem die Erosion die wilden Formen der Täler ausgeschnitten hat; der Weg ist leidlich, nur sehr steinig; an beiden Flussufern liegen schmale Eisstreifen, zwischen denen das frühlingsgrüne Wasser das Tal mit dem Widerhall seiner kalten Rastlosigkeit erfüllt; eine Art Wacholdersträucher, „Pama“ genannt, erfreuen durch ihr tiefes Grün den Blick, der sonst nur auf graue Schuttabhänge fällt.
Hier heißt der Fluss Langmar-tsangpo, es ist aber nur der Oberlauf des My-tschu. Er entsteht aus dem von Norden kommenden Ke-tsangpo und dem von Westen kommenden Govo-tsangpo. Jener heißt in seinem Oberlauf Ogorung-tsangpo, kommt von der Hauptwasserscheide des Transhimalaja und ist also als der Hauptfluss anzusehen. Man sagte mir, dass seine Quelle sich von der Vereinigung der Täler in anderthalb Tagereisen erreichen lasse. Auf dem linken Ufer des Govo gedeiht ein kleiner Wald von Pamasträuchern; den Fluss überspannt eine sichere Brücke mit drei Bogen. Über diese Brücke führt die wichtige Verkehrsstraße nach Tok-dschalung, die ich schon früher erwähnt habe. Yak- und Schafherden weiden auf den Halden, ringförmige Schafhürden erinnern an das Leben in Tschang-tang. Ein wenig weiter oben überschreiten wir den Govo, der halb zugefroren ist; Quellen und Bäche aus den Seitentälern bilden dekorative Eiskaskaden. Der Fluss soll hier im Sommer so mächtig sein, dass er sich nirgends passieren lässt. Im Norden und im Süden erblicken wir Schneeberge.
Im Dorfe Govo, das aus sieben Steinhäusern besteht, wird Gerste gebaut, die mittelmäßige Ernte gibt. Aber die Einwohner sind nicht auf deren Ertrag angewiesen, denn sie besitzen auch Schafe, Ziegen und Yaks, mit denen sie im Sommer nordwärts ziehen. Govo ist das letzte Dorf, das Ackerbau treibt; wir befanden uns hier also auf der Grenze zwischen Ackerbau und Viehzucht, auch auf der zwischen Steinhäusern und schwarzen Zelten.
Es ist also noch Zeit, in eine gewöhnliche tibetische Steinhütte hineinzusehen, die einer in gesicherten Verhältnissen lebenden Familie gehörte. Die Mauern bestanden aus unbehauenem, nicht geputztem Feldstein, Erdfüllung aber hinderte den Wind, durch die Lücken zu wehen. Über ein Labyrinth von Mauern und kleinen runden Blöcken, die so dicht lagen, dass der balancierende Fuß selten auf Erde trat, gelangte man in zwei Höfe, wo Ziegen und Kälber gehalten wurden. In einem dritten stand ein Webstuhl, an dem eine halbnackte, kupferbraune Frau arbeitete, in einem vierten saß ein alter Mann, der mit Abzweigen und Spalten von Pamasträuchern beschäftigt war.
Aus diesem Hof traten wir in ein halbdunkles Zimmer, das Lehmfußboden und zwei Öffnungen in der Decke hatte, aus denen der Rauch entwich und durch die das Tageslicht einfiel. Das Dach bestand aus Balken und quer darüber gelegten Reisigwellen, alles mit Erde und flachen Steinen bedeckt — hier musste es schön trocken sein, wenn es regnete! In diesem Zimmer saß eine ältere Frau und zählte ihre Om manis an einem Rosenkranz aus Porzellankügelchen ab.
Der nächste Raum war die Küche, der Versammlungsort und die Pièce de résistance des Hauses. An einer vorspringenden Mauer stand der steinerne Herd mit runden, schwarzumrandeten Löchern für Kochtöpfe und Teekannen von gebranntem Ton. Ein großer irdener Topf, der über dem Feuer stand, enthielt Gerste, die gedörrt gegessen wurde; ein Holzstück mit steifen ledernen Lappen an dem einen Ende ward zwischen den beiden Handflächen in der Gerste gedreht, um sie gleichmäßig zu rösten. Sie schmeckte vorzüglich.
Ich ging umher, durchstöberte sämtliches Hausgerät und nahm ein Inventarverzeichnis auf, und zwar nicht nur schwedisch, sondern auch tibetisch. Es gab da vielerlei Gefäße von Eisen, Ton und Holz zu den verschiedensten Zwecken, eine große Holzkelle, ein Teesieb von Eisenblech, einen eisernen Löffel, eine Aschenschaufel, eine eiserne Feuerzange und ein sogenanntes Thagma, eine eiserne Klinge, die in ein Holzstück eingefügt ist, einem zugeklappten Taschenmesser ähnelt und benutzt wird, um neugewebtes Zeug reinzukratzen. Ein großer Tonkrug war mit Tschang gefüllt; ein kleiner Würfel, der durch schmale Kreuzhölzer in vier Räume geteilt war, diente zum Messen des Getreides. In einer tiefen Holztasse ward Ziegeltee mit einem gurkenförmigen Steine pulverisiert. Eine Messerklinge, an beiden Enden gestielt, wurde zum Bereiten und Gerben der Häute benutzt. Unter dem einen Rauchfang stand auf dem Fußboden ein zweiter kleiner Herd für offenes Feuer mit einem eisernen Dreifuß. Ein großer Ledersack war mit Tsamba gefüllt, zwei Schafmagen enthielten Fett und Butter; auf einem Regal aus Stäbchen hatte man eine Menge Schafsfüße, jetzt staubig und schmutzig, aufgereiht; sie werden, erst wenn sie mehrere Monate alt sind, zu einer Suppe gebraucht, die im übrigen aus Tsamba besteht. In großen und kleinen Beuteln bewahrte man Tee, Salz und Tabak.
Sonst sah ich noch allerlei religiöse Gegenstände, Opferschalen, Weihrauchspäne und kleine Götterfutterale; ferner Ballen im Hause gewebter Zeugstoffe, bunte Bänder, die auf Pelze und Stiefel genäht wurden, Messer, Beile, Säbel und Spieße, die, wie man sagte, benutzt wurden, um Räuber und Diebe zu durchstechen. Ein Blasebalg, zwei Säcke trocknen Dungs zur Feuerung, Körbe, Handmühlen, um Gerste zu mahlen, aus zwei runden, flachen Steinen mit einem Griff auf dem oberen bestehend. Endlich eine Öllampe und eine Ölkanne, ein zylinderförmiger Zuber mit eisernen Reifen, mit Wasser gefüllt. In einer Ecke lagen Haufen von Pelzen und Kleidungsstücken, an der Wand zwei nicht in Ordnung gebrachte Schlafstellen.
In einem inneren Vorratsraum wurde in Säcken Proviant, Gerste, Grünfutter, Erbsen und große Fleischstücke aufbewahrt. Hierhin hatten sich drei junge Frauen und eine Kinderschar ängstlich geflüchtet; wir bewilligten ihnen freien Abzug, und sie schlichen laut heulend fort, als ob ihnen alle Messer des Hauses an der Kehle säßen! In dem Zimmer war auch eine Wage, bestehend aus einem rundgeschnittenen Stab mit einem Steingewicht an dem einen und einer getrockneten Yakhaut an dem anderen Ende. In einem Verschlag dahinter wurde Stroh aufbewahrt. Zwischen den verschiedenen Zimmern waren hohe, unbequeme Holzschwellen, auf dem Dach die gewöhnlichen Sträuße von Gertenbündeln, die das Haus gegen böse Geister schützen.
Nach dieser Expedition besah ich das Zelt unserer Eskorte, wo in einem zerbrochenen Tontopf ein Feuer unter dem auf einem Dreifuß stehenden Tiegel brannte. Der Rauch entwich durch die längliche Spalte zwischen den beiden Hälften, aus denen das Zelt bestand. Die Besitzer des Zeltes schrieben gerade ihre Berichte an die Behörden in Schigatse und teilten ihnen mit, dass wir auf dem richtigen Wege seien, Dabei verzehrten sie ihr Mittagessen aus Schaffleisch, das ein halbes Jahr alt, dürr und hart war; es darf überhaupt nicht mit Feuer in Berührung kommen. Einer von ihnen schnitt es in Streifen, die er unter seine Kameraden verteilte. Er war zwanzig Jahre Lama im Kloster Lung-gandän in Tong gewesen, aber vor einigen Jahren aus der Brüderschaft ausgestoßen worden, weil er ein Weib geliebt hatte. Er sprach auch selbst darüber, also wird es wohl wahr sein. —
Am Morgen des 20. April wurde Roberts rotbraunes Pferdchen als tot gemeldet. Der neuliche Purzelbaum erschien uns jetzt wie ein Omen; feist und fett, starb es plötzlich um Mitternacht. Auf unangenehmen Blockkegeln ritten wir wieder höheren Regionen entgegen, aber das Tal wurde offener, und die relativen Höhen nahmen ab. Obgleich das bisschen, was noch vom Fluss da war, wirbelte und schäumte, nahm das Eis doch an Dicke zu und bedeckte schließlich beinahe das ganze Flussbett; unter der Eisdecke hörte man das Wasser rieseln und klingen. Üppige Moosränder fassten die Ufer ein, die Aussicht erweiterte sich, und der ganze Habitus der Landschaft wurde hochalpin. In einer Schafhürde saßen zehn Männer mit Flinten, die an der einen Gabelzinke gelbe und rote Fähnchen trugen; es konnten Straßenräuber sein. Dunkle Wolken zogen über die Kämme; im Nu hatten wir eisigkaltes Schneetreiben, das aber nicht lange anhielt.
Die letzte Strecke war gräulich; lauter Blöcke und Schutt, dem man jedoch streckenweise aus dem Weg gehen konnte, indem man auf dem Eis des Flusses ritt. Der Lagerplatz hieß Tschomo-sumdo, eine Talgabelung in einer öden Gegend, aber die Eskorte hatte dafür gesorgt, dass einige Yaks Stroh und Gerste für unsere Tiere heraufgebracht hatten.
Von da an musste man auf dem Eis reiten, das nach 15 Grad Kälte in der Nacht schön glatt und fest war. Die Gegend ist jedoch nicht unbewohnt; an mehreren Stellen zeigten sich Yaks und grasende Schafe, nach Norden wandernden Nomaden oder aus Tok-dschalung kommenden Kaufleuten gehörend. Bei zwei schwarzen Zelten war man gerade im Begriff, alles zum Tagesmarsch einzupacken; die Leute hatten Ziegen, die mit roten Zeugstreifen an den Ohren festgebunden waren.
Ein wenig höher hinauf erhebt sich auf der rechten Talseite ein senkrechter Felsen, in dessen Wand zwei Grotten wie aufgerissene schwarze Mäuler gähnen. Die untere ist der Eingang eines Ganges, der nach der oberen hinaufführt, in der ein berühmter Eremit seinen einsamen Wohnsitz aufgeschlagen hat. Die obere Öffnung ist mit einem halb natürlichen Altan versehen, der mit Wimpeln, Stangen und Bändern behängt ist. Unterhalb der unteren findet man Manisteinhaufen, lange, girlandenartige Schnüre mit bunten Gebetsfetzen, einen Gebetsmast und einen Metallgott in einer Nische der Bergwand.
Wir banden unsere Pferde beim Eisrand fest und gingen zur unteren Grotte hinauf. Hier begegneten uns zwei junge Nonnen aus Kirong (an der Grenze von Nepal) und zwei Bettelmönche aus Nepal, von denen der eine Hindi sprach, so dass Robert sich mit ihm unterhalten konnte. Die Nonnen waren hübsch, gut gewachsen, von der Sonne gebräunt und Zigeunerinnen ähnlich; ihre Augen waren groß und schwarz und schillerten wie Samt, das schwarze Haar war auf der Stirn gescheitelt und fiel in üppigen Wellen über die Schultern; sie waren in rote Lumpen gekleidet und trugen tibetische, mit roten Bändern verzierte Stiefel. Heiter und freundlich sprachen sie mit auffallend weicher, außerordentlich sympathischer Stimme und waren nicht im geringsten furchtsam. Unter einem berußten Gewölbe in der großen Vorhalle der Grotte, umgeben von einer kleinen Mauer und einer Palisade von Pamazweigen und teilweise mit Zeug verhängt, war ihre einfache Wohnung, die wir uns ansahen. Aus Tuchstreifen geflochtene Matten bildeten das Nachtlager, über dem Feuer kochte der Teekessel. Der eine Mann hatte einen dicken Zopf und ein rotes Lamagewand, der andere trug einen Schafpelz und hatte sich während dieses 20. Jahrhunderts das Haar noch nicht einmal schneiden lassen. Die eigentliche Wohnung befand sich in einem höheren Absatz der Grotte.
Alle vier waren im Herbst gekommen und warteten nun auf die wärmere Jahreszeit, um nach Lhasa und von dort wieder nach Hause zu ziehen. Während dieser Zeit dienen sie freiwillig den beiden heiligen Eremiten, die sich in diesem Berge aufhalten, verdienen sich dadurch ihren Unterhalt und erwerben sich Verdienste im Sinne ihres Ordens. Wenn sie sich wieder auf die Wanderschaft begeben, finden sich stets andere dienende Brüder und Schwestern, die bereit sind, an ihre Stelle zu treten.
Eine teils natürliche, teils aus Steinfliesen hergestellte nach links gewundene Wendeltreppe führt in die höheren Regionen der Grotte hinauf. Anfangs ist sie dunkel, aber es wird heller, wenn wir uns einer Scharte in der Felswand nähern. Hier und da sind Wimpelstangen errichtet und die heiligen Silben eingemeißelt. Von der Scharte an wendet sich die Treppe steil nach rechts; gleitet man hier auf dem glatten Gestein aus, so purzelt man gerade in die Küche der Nonnen hinunter, die von hier wie der Boden eines Brunnens aussieht. Der Gang endet an einer Stelle, von der aus eine kleine, steinerne Treppe nach einer mit Schiefer zugedeckten Fußbodenluke hinaufgeht. Indem man die Schieferplatte beiseiteschiebt, gelangt man in den größeren Grottensaal, dessen Öffnung wir vom Tal aus sahen. Aber so hoch hinauf wollten uns die dienenden Brüder und Schwestern nicht bringen.
In dieser oberen Grotte, Tschomo-taka, haust seit sieben Jahren der hundertjährige Einsiedler Gunsang Ngurbu, der wegen seiner Heiligkeit in der ganzen Gegend in hohem Ansehen steht. Gunsang bedeutet Eremit, und Ngurbu ist ein sehr gewöhnlicher Name, Edelstein bedeutend. Jeden siebenten Tag sehen die Dienenden Tsamba, Wasser, Tee und Brennmaterial unter der Luke auf die Treppe; dies alles holt sich der Alte, der nicht mit Menschen, nur mit den Göttern sprechen darf, dann selber herein. Durch ein Loch unter der Luke konnte ich einen großen, aus Steinen und Lehm hergestellten Tschorten und einige auf die Wände der Grotte gemalte Götterbilder erblicken. Hinter dem Tschorten und leider unsichtbar saß der Greis in einer Wandnische niedergekauert und murmelte Gebete; dann und wann hörte man ihn in ein Muschelhorn stoßen.
Ich wollte die Schieferplatte beiseiteschieben und in die obere Grotte hineinsteigen, aber das wollte man um alles Gold der Welt nicht auf sein Gewissen nehmen. Es würde den Alten in seiner Meditation stören und seine Eremitenzeit unterbrechen; auch werde der Alte uns mit Steinwürfen empfangen. Im Vergleich zu dem eingemauerten Lingamönch muss der Eremit Ngurbu ein idyllisches Leben führen, denn er sieht das Tal, die Sonne, den wirbelnden Schnee und die am Himmel funkelnden Sterne; aber Langeweile muss auch er haben! In einer zweiten Grotte, die mit der Ngurbus Wand an Wand liegt, wohnt noch ein Eremit; die beiden aber sind sich nie begegnet und wissen nichts voneinander. Sie dürfen kein Fleisch essen, aber Tsamba und Tee, und beides erhalten sie von den benachbarten Nomaden und Reisenden, die diese Straße ziehen. —
Nach diesem Intermezzo überschreiten wir wieder das Eis des Flusses und ziehen in dem ewigen Schutt aufwärts. Vor uns zeichnet sich die flache Wölbung des Tschang-la-Pod-la ab. Ohne große Anstrengung überwinden wir die Steigung, obgleich uns der eisige Wind gerade ins Gesicht bläst. Beim Steinmal kann ich die Messungen erst beginnen, nachdem ich die Hände über Dungfeuer wieder erwärmt habe. Die Aussicht ist begrenzt, flach und wenig orientierend. Doch nach der Seite hin, von der wir gekommen sind, sieht man die tiefeingeschnittenen Täler, und es scheint, als seien wir höher als die Grate, die sie begrenzen. Die Höhe betrug 5573 Meter! Tschang bedeutet Norden, Nordland, Pod oder Pö Tibet, d. h. das eigentliche, hauptsächlich von ansässiger Bevölkerung bewohnte Land. Tschang-la-Pod-la ist also der Pass zwischen der nördlichen Hochebene der Nomaden und dem Lande im Süden, das Abfluss nach dem Meer hat. Gerade in dieser Eigenschaft einer Grenzbarriere zwischen beiden ist der Transhimalaja von so außerordentlich großer Bedeutung. Daher gibt es so viele Pässe, die Tschang-la-Pod-la heißen. Wie oft wurde mir nicht gesagt, dass ein Pass, wie er an sich auch heißen möge, immer ein Tschang-la-Pod-la sei, wenn er auf der Wasserscheide zwischen den abflusslosen Becken im Norden und dem Flussgebiet des Tsangpo im Süden liege. So hatte ich denn den Transhimalaja jetzt zum zweiten Mal auf einem Pass überschritten, der 71 Kilometer westlich vom Sela-la liegt, und hatte feststellen können, dass die gewaltige Bergkette des Nien-tschen-tang-la sich bis hierhin erstreckt! Immer lebhafter wurde nun mein Wunsch, ihr Schritt für Schritt nach Westen folgen zu dürfen.
Nachdem wir am Passe gelagert hatten, wo die Nachtkälte auf -23 Grad sank, ritten wir am 22. April langsam im Tal des Schak-tschu-Flusses abwärts, das allmählich breiter wird und von flachen, abgerundeten Bergen umgeben ist, in denen anstehendes Gestein selten vorkommt. Wieder sehen wir uns aus dem Berglabyrinth, das die von Regengüssen gesättigten Zuflüsse des My-tschu durchschneiden, auf die weiten Ebenen des Plateaus versetzt, und wieder merke ich, dass der Transhimalaja auch klimatisch eine außerordentlich wichtige Grenzscheide ist.
Der Lapsen-tari ist ein Würfel von Erdschollen, in dessen Mitte ein Bündel Wimpelgerten steckt, von dem sich Wimpelschnüre nach anderen Gerten hinziehen. Von diesem Punkt hat man eine herrliche Aussicht über das Plateau und seinen Kranz von Bergen. In N 55° W sehen wir wieder den Targo-gangri, aber majestätischer, isolierter und dominierender als vom Ngangtse-tso aus, wo er in Wolken eingebettet und von anderen, den Blick irreführenden Bergen umgeben war.
Gerade an diesem Mal haben wir eine letzte verdeckende Ecke passiert. Auf einmal, blendend, silberweiß und großartig, tritt der ganze Bergstock hervor. Er strahlt wie ein Leuchtturm über das Meer der Hochebene und hebt sich grell und scharf gegen einen Himmel ab, der im reinsten Azur prangt, mit einem Mantel von Firnfeldern und blauschillerndem Eise bekleidet. Das Mal ist also an der Stelle errichtet, wo der Wanderer, der von der Schigatseseite kommt, zum ersten Mal den heiligen Berg erblickt. Auch unsere Führer entblößten ihr Haupt und murmelten Gebete. Zwei Pilger, die wir schon bei der Grotte des Eremiten gesehen hatten, zündeten Feuer an und streuten ein wohlriechendes Pulver hinein, ein den Göttern des Targo-gangri dargebrachtes Rauchopfer. Im Süden und Südwesten zieht sich eine gleichmäßig hohe Kette braunvioletter Berge hin mit Schneestreifen, die in der Sonne glänzen; wieder ein Teil des Transhimalaja!
Während wir hier saßen, kam eine Handelskarawane auf dem Weg nach Penla-buk, das auf der Westseite des Dangra-jum-tso liegt und ein Rendezvous für Goldgräber und Wollhändler ist. Auf der Ebene Kjangdam, wo die Wildesel sehr häufig waren, bildeten unsere Zelte ein Dörflein, um das herum noch gegen 60 Nomaden der Gegend lagerten.
Abends erschien die Eskorte aus Ghe bei mir, um zu erklären, dass sie nun, da wir uns ja im Distrikt Largäp befänden, der unter der Herrschaft des Labrang steht, wieder nach Hause zurückkehren und uns einer neuen Bedeckung anvertrauen würde. Diese bestand aus fünf schon recht bejahrten Männern. Ihr Anführer war ein kleiner Greis, dessen Hände zitterten und der sehr undeutlich sprach. Als die Leute aus Ghe, die sich nach ihren wärmeren Dörfern zurücksehnten, am folgenden Morgen trotz heftigen Sturmes abgezogen waren, redete ich mit den neuen ein vernünftiges Wort. Es war ihre Absicht, mich über den Pass Scha-la (Transhimalaja!) im Südwesten zu führen, wo der Targo-tsangpo, an dessen Ufer wir den Tag verlebten, seine Quellen hat. Nach Nain Sings Karte umfließt dieser Fluss den Targo-gangri auf seiner Ostseite und ergießt sich dann in den Dangra-tso, wie der heilige See hier genannt wird. Aber Nain Sing ist nie dort gewesen, und ich wollte gern einen Überblick über die Geographie des Landes erhalten. Daher kamen wir überein, dass wir nach Nordwesten weiterziehen wollten und setzten den Männern auseinander, dass in unserem Reisepass als nächster Ort Ragatasam genannt sei; dass zwei Wege dorthin führten, einer über den Scha-la, der andere nördlich nach dem Targo-gangri ausbiegend, und dass ich mich für den letzteren entschieden hätte. Der Reisepass verbiete uns die Orte Lhasa, Gyangtse und Sekija-gumpa zu besuchen, aber von dem Weg nach dem Dangra-jum-tso enthalte er kein Wort. Sie hätten sich also nach unseren Wünschen zu richten. Der Alte stutzte, bedachte sich und versammelte seine Getreuen zum Kriegsrat. Sein Zelt war bald voll von schwarzen, barhäuptigen Männern in grauen Schafpelzen. Dann wurde die Beratung in Muhamed Isas Zelt fortgesetzt. Nach einigem Bedenken gingen sie auf meine Vorschläge ein, wenn ich ihnen täglich für jeden Yak einen ganzen Tenga statt einen halben zahlen wollte. Ich freute mich der Hoffnung, dem heiligen Berg immer näher zu kommen, seine feinen Einzelheiten immer deutlicher hervortreten zu sehen, ihn umwölkt und im Sonnenschein zu schauen, ihn hinter Hügeln verschwinden und dann wieder auftauchen zu sehen, wie ein Kriegsschiff in schäumender See und mit hohen weißen Wellen um den Bug, oder richtiger wie ein Schiff unter vollen Segeln auf dem Meere des Plateaus. Allerdings setzte ich mich Unannehmlichkeiten aus, wenn ich den Pass ignorierte. Aber hier handelte es sich um geographische Entdeckungen, und da mussten alle Rücksichten schwinden!
Am 24. April hatten wir heftigen Gegenwind; es war kalt, und der Targo-gangri verschwand halb hinter den Wolken. Eskortiert von dem alten Herrn und vier Reitern, die einander so ähnlich sahen, als seien sie aus demselben Guss, und die alle Gabelflinten auf dem Rücken trugen, ritt ich am Ufer des Targo-tsangpo in dem sich verengenden Tale abwärts, das außerordentlich langsam, dem Auge unbemerkbar, nach dem See abfällt. Schließlich wird das Tal so eng, dass sein ganzer Boden von Eis ausgefüllt wird. Der Weg lässt daher den Fluss links liegen und führt über flache Hügel, zwischen denen wir eine ganze Reihe kleiner Nebenflüsse überschreiten. Schwarze Zelte, weidende zahme Yaks, Steinhürden für Schafe, Wildesel und Millionen Erdmäuse erinnern an das Leben in Tschang-tang. Der wilde Yak dagegen kommt in dieser Gegend überhaupt nicht vor. Die gefiederte Welt wird durch Raben, Wildenten und gelegentlich einen kleineren Vogel vertreten. Als wir am Bumnak-tschu, einem rechten Nebenfluss des Targo-tsangpo, anlangten, kamen uns zahlreiche Leute entgegen, mit den Zungen grüßend und in ihrem langen, schwarzen, ungepflegten Haar, den kleinen grauen Pelzen und den zerrissenen Stiefeln ebenso lustig wie gutmütig anzuschauen.
Am 25. April ritten wir über den kleinen Pass Ting-la; an seinem Fuß steht ein guterhaltenes Mani mit einem Yakschädel als Verzierung, in dessen Stirnknochen zwischen den Hörnern eine Gebetformel eingeschnitten ist. Von der Passhöhe aus zeichnet sich der Targo-gangri in Vergrößerung ab, wie eine Reihe Gipfel, die ewiger Schnee bedeckt. Das ganze Land sieht aus wie ein Meer in starker Dünung; der Targo-gangri gleicht einer weißschäumenden Brandung an der Küste. Etwas später standen die Gipfel des Gebirgsstockes scharf weiß auf einem Hintergrund von blauschwarzen Wolkenwänden; die beiden höchsten, ein Zwillingsgipfel, hatten die Form eines tibetischen Zeltes auf zwei Stangen.
Unser Lager im Tal Kokbo zählte nicht weniger als elf Zelte, denn jetzt hatten wir etwa 40 Begleiter jeglichen Alters bekommen und wenigstens 100 Yaks, Die Lasten werden mitten auf dem Marsch anderen Yaks aufgeladen, um die Tiere zu schonen. Wenn die Karawane sich über die abgerundeten Hügel hinbewegt, gleicht sie einem Nomadenstamm auf der Wanderung. Die meisten unserer Tibeter reiten Yaks oder Pferde.
Wir hatten einen kurzen Tagemarsch gemacht, und es blieb mir reichlich Zeit, umherzugehen, in jedem Zelt einen Besuch zu machen und mir anzusehen, wie es den Leuten dort ging. Überall tranken sie Tee und aßen Tsamba, was ihnen der höchste Genuss ihres Lebens ist. In der Mitte brennt das Dungfeuer zwischen drei Steinen, und sicher ist es die Form des Zeltes, der man die starke Zugluft zuschreiben muss; Rauch sammelt sich innen nicht an. Ringsumher stehen Kessel, Teekannen und hölzerne Tassen. An den Wänden liegt eine unglaubliche Menge Proviant. Sättel und Geschirre sind vor dem Zelt in einer Reihe hingelegt. Wenn ich eintrete, erheben sich alle, aber ich bitte sie, sich wieder zu setzen und ruhig weiterzuspeisen, während ich auf einem Gerstensack am Eingang des Zeltes Platz nehme. Bei allen ist der rechte Arm nackt, bei vielen sogar beide; wenn sie den Pelz auf den Rücken hinuntergleiten lassen, ist der ganze Oberkörper bis zur Taille entblößt. Sie sind kupferbraun und mit einer Schmutzschicht bedeckt, aber gut gewachsen, kraftvoll, männlich und ebenmäßig gebaut. Der Koch der Zeltgemeinschaft schenkt allen Tee ein, dann zieht jeder seinen eigenen Lederbeutel hervor und entnimmt ihm eine Prise Tsamba, die er in den Tee streut. Dazwischen essen sie Fleisch, roh oder im Topf gekocht. Alles geht ruhig und besonnen zu, man hört keine bösen Worte, kein Zanken und Lärmen, alle sind die besten Freunde und haben es sich nach dem Marsch gemütlich gemacht, sie plaudern und lachen miteinander. Mit den Staubfängen von Perücken gleichen sie Indianern. Die meisten tragen auch einen Zopf, der jedoch zum größten Teil aus ineinandergeflochtenen Schnüren mit weißen beinernen Ringen und kleinen silbernen Götterdosen, auf deren Deckel ein paar Türkisen angebracht sind, besteht. Einige haben den Zopf um den Scheitel gewunden, wo er eine seltsame Krone, das Diadem der Wildnis, bildet.
In einem anderen Zelt war man schon mit dem Diner fertig, die meisten „Kuverts“ standen leer. Dort saß ein Mann mit einem Pfriemen und flickte seine zerrissenen Stiefel, ein zweiter nähte die Riemen seines Sattels fest, und ein dritter lag mit gekreuzten Beinen und unter den Kopf geschobenen Armen auf dem Rücken und schnarchte sein Mittagsschläfchen. Aus der Vogelperspektive sah er urkomisch aus mit so großen Nasenlöchern, dass die Erdmäuse, wenn sie sie gesehen hätten, leicht aus Versehen hineinspaziert wären. Ein schmunzelnder Jüngling rauchte seine chinesische Mittagspfeife, während sein Nachbar eifrig, aber vorsichtig in seinem Pelz nach verdächtigen Einwohnern suchte.
Ich zeichnete mehrere von ihnen, ohne die geringste Unruhe zu erregen, im Gegenteil, die Sitzung schien ihnen Spaß zu machen und sie lachten aus vollem Halse, wenn sie ihr Konterfei erblickten, dessen Ränder sie durch dekorative Abdrücke ihrer mit Butter beschmierten Daumen verschönten. Sie baten mich nur, ihnen zu sagen, weshalb ich sie abzeichne und wozu ich ihren Namen und ihr Alter wissen müsse. Sympathisch, höflich und freundlich waren sie alle, und ich befand mich in ihrer Gesellschaft sehr wohl.
Auch ein Bettellama guckte herein; er war auf dem Weg nach dem Kailas und wurde schnell noch gezeichnet, zum unbeschreiblichen Vergnügen der anderen. Er trug eine Lanze mit schwarzer Quaste und roten Zeuglappen, eine Handtrommel, ein Antilopenhorn, das er zur Verteidigung gegen bissige Hunde gebrauchte, und eine Trompete aus Menschenknochen, die er beim Blasen in die eine Mundecke setzte. Es machte ihm viel Spaß, Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein, die er als Einführung bei den Nomaden, als Einleitung zum Appell an ihre Freigebigkeit benutzte.
Bisher hatten wir keine Schwierigkeiten gehabt, aber bei Kokbo sah es beunruhigend aus. Unser Alter teilte mir mit, dass er vor zwei Tagen durch einen Boten die Nomaden am Targo-gangri ersucht habe, Yaks bereit zu halten. Eben hätten sie geantwortet, dass sie ohne ausdrücklichen Befehl einem Europäer nicht zu dienen gedächten und dass sie Gewalt brauchen würden, wenn unsere jetzigen Wächter uns zum Dangra-jum-tso führten. Der Alte regte sich jedoch darüber nicht auf, sondern glaubte, er werde sie schon dazu bringen, Vernunft anzunehmen.
Wir zogen also am 26. April in scharfem Wind nach Nordwesten über den Pass Tarbung-la weiter. Der heilige Berg zeichnet sich wieder in all seinem Glanze mit 16 Gipfeln ab, in N 33° W sieht man die Lücke, in der man den Dangra-jum-tso ahnt. Die Aussicht ist unendlich weit. Das Tal erweitert sich, um in das des Targo-tsangpo überzugehen. Vier Antilopen eilen federleicht über die Abhänge hin; schwarze Zelte sind nicht zu sehen.
Als wir wieder auf freieres Terrain gelangt sind, öffnet sich in Westsüdwest eine der großartigsten Landschaften, die ich in diesem Teil Tibets gesehen habe, eine gigantische Kette gleichmäßig hoher, mit Schnee bedeckter Hörner, zwischen denen kurze Gletscher liegen und die dem näheren Targo-gangri an imponierender Schönheit und Kraft kaum nachstehen. Die Kette ist unter den weißen Schneezinnen blauschwarz; an ihrem Fuß soll ein unbekannter See liegen, der Schuru-tso heißt. Bis an den Ngangtse-tso rechnet man nur drei Tagereisen nach Nordnordost, wenn man über den Pass Schangbuk-la geht! An der Ostseite des Targo-gangri zeigen sich jetzt fünf tiefeingeschnittene Gletscher, während östlich vom Berge das offene flache Tal des Targo-tsangpo hervortritt, dem wir uns allmählich nähern, während wir fünf deutliche Terrassen überschreiten, Überbleibsel aus einer Zeit, in der der Dangra-jum-tso viel größer war als jetzt. Vor uns her schleichen zwei Wölfe; der Alte reitet ihnen im Galopp nach; als sie aber stehen bleiben, wie um ihn zu erwarten, kehrt er hübsch wieder um. „Hätte ich nur ein Messer oder eine Flinte gehabt,“ sagt er, „so würde ich sie alle beide getötet haben!“
Von einer sich scharf abhebenden Doppelterrasse steigen wir schließlich in das Tal des Targo-tsangpo hinunter, wo der Fluss sich in mehrere Arme geteilt hat, an denen es von Wildgänsen und -enten wimmelt. An den Ufern wächst Gebüsch. Auf dem rechten Ufer liegt unser Lager Nr. 150, nicht weit vom Fuß des majestätischen Targo-gangri.
So weit sollte ich kommen, aber nicht weiter! Hier erwartete uns eine Schar von 20 bis an die Zähne bewaffneten Reitern, die der Gouverneur von Naktsang aus Schansa-dsong mit dem Befehl geschickt hatte, uns anzuhalten, „falls wir es versuchen sollten, nach dem heiligen See vorzudringen“. Diesmal hatten sie besser aufgepasst und vorausgesehen, dass ich mir allerlei Freiheiten herausnehmen würde! Vor 15 Tagen hatten sie Schansa-dsong verlassen, seit 3 Tagen lagerten sie hier und erwarteten unser Kommen. Wenn wir uns gesputet hätten, wäre ich ihnen wieder zuvorgekommen! Der eine der beiden Führer war derselbe Lundup Tsering, der, wie er mir selber sagte, Dutreuil de Rhins und Grenard Halt geboten hatte und auch im Januar mit Hladsche Tsering am Ngangtse-tso gewesen war. Er erzählte, dass Hladsche Tsering noch im Amt sei, aber meinetwegen große Unannehmlichkeiten gehabt und dem Devaschung 60 Jambaus, ungefähr 13500 Mark, Strafe habe zahlen müssen! Als ich einwandte, dass Hladsche Tsering mir selber gesagt habe, er sei so arm, dass er nichts mehr zu verlieren habe, antwortete Lundup, dass er den Betrag von seinen Untergebenen erpresst habe. Auch alle, die uns Yaks verkauft und uns als Führer gedient hatten, seien streng bestraft worden. — Der nächste Europäer, der sich ohne Erlaubnis hier durchzuschleichen sucht, wird mit schönen Schwierigkeiten zu kämpfen haben!
Lundup zeigte auf einen roten Granitvorsprung, 200 Meter im Norden unseres Lagers, und sagte: „Dort ist die Grenze zwischen dem Labrang (Taschi-lunpo) und Naktsang (Lhasa). So weit dürfen wir Sie gehen lassen, aber keinen Schritt weiter; anderenfalls haben wir Befehl zu schießen.“
Sie lasen den Pass aus Schigatse und erklärten, dass, wenn darin stehe „auf dem geraden Weg nach Ladakh“, damit doch durchaus nicht gesagt sei, dass ich die Erlaubnis hätte, alle möglichen Umwege zu machen, am allerwenigsten aber, dass wir nach dem Dangra-jum-tso ziehen dürften, der heilig sei und unter der Herrschaft von Lhasa stehe. Gaw Daloi habe Befehl gegeben, ihm über den Weg, den wir zögen, täglich zu berichten. Wenn sie diesem Befehl nicht gehorchten, koste es ihnen allen den Kopf. So war es denn klar, dass ich den Dangra-jum-tso nun zum dritten Mal aufgeben musste, jetzt, da ich nur noch zwei kurze Tagereisen von ihm entfernt war!
Scharf und weiß zeichneten sich die Umrisse des Berges im Mondschein gegen den blauschwarzen, mit Sternen übersäten Himmel ab. Am Tag darauf aber stürmte es, und man sah nicht einmal den Fuß des Targo-gangri, geschweige denn die eisigkalten Höhen, wo die Winde ihre himmlischen Chöre zwischen den Firnfeldern singen. Am Abend dagegen, als das Wetter sich aufgeklärt hatte, trat der ganze mit frischgefallenem Schnee bedeckte Bergstock wieder deutlich hervor.
Auch jetzt hatten wir wieder ein langes Palaver mit den Reitern aus Naktsang. Ich sagte ihnen, dass ich dieses Lager nicht eher verlassen würde, bis ich den See wenigstens aus der Ferne gesehen hätte. Sie erwiderten zu meiner Freude, dass sie, weil sie mir nun einmal gezwungen und wider ihren Willen die Enttäuschung verursachen mussten, dass ich nicht an das Seeufer dürfe, mich nicht auch noch hindern wollten, den heiligen See wenigstens von weitem zu sehen; sie würden aber scharf aufpassen, dass ich hinter jenem roten Berg nicht weiter nach Norden ritte!
Kaum waren sie gegangen, so erschienen unsere alten Führer aus Kjangdam, um sich zu beklagen, dass die Reiter aus Naktsang ihr Leben bedroht hätten, weil sie mich hierhergebracht hätten. Ich ließ mir nun die Naktsangleute wieder holen und erklärte ihnen energisch, dass sie nicht länger zu quengeln hätten, da es ausschließlich meine Schuld sei, dass wir uns hier befänden. Sie versprachen auch, da sie ja das große Glück gehabt hätten, mich noch gerade im richtigen Augenblick abzufangen, nicht länger unfreundlich gegen die Kjangdamleute zu sein. Diese konnten den Frieden schließenden Parteien gar nicht genug danken, und ihre Freude wurde noch größer, als ich der ganzen Gesellschaft Geld schenkte, um ihre knapp bemessenen Lebensmittelvorräte zu verstärken. Sie machten ihrem Entzücken dadurch Luft, dass sie vor meinem Zelt Spiele, Tänze und Ringkämpfe ausführten, und ihr fröhliches Lachen und Lärmen hallte noch in später Nacht von den Bergen wider.
Da kamen aber zwölf neue Soldaten von Naktsang mit frischeren Befehlen: unter keiner Bedingung werde mir gestattet, weiter nordwärts zu gehen! Aber alle waren freundlich und höflich; wir scherzten und lachten miteinander und wurden die besten Freunde. Merkwürdig, dass ihnen nie die Geduld riss, obwohl ich ihnen immer wieder Scherereien, Wirrwarr und lästige Reisen verursachte!
Am 28. April stand ich um 8 Uhr auf, nahm eine Sonnenhöhe, fotografierte den Berg und maß die Winkel der höchsten Spitze, wozu einige Ladakhis mit den nötigen Instrumenten, sowie mit Brennmaterial voraus geschickt wurden. Just als ich mich zu Pferd setzen wollte, kam der Häuptling von Largäp mit einer Reiterschar und wurde von seinen auf dem Lagerplatz befindlichen Untergebenen mit wildem Hurraruf begrüßt. In gebieterischem Ton ließ er meine Leute sofort zurückrufen, und 60 Tibeter aus Largäp und Naktsang drängten sich um mein Zelt und meldeten sich zu neuen Beratungen.
Der Häuptling von Largäp aber war unnachgiebiger als die Naktsangherren, unsere alten Freunde. Er ließ mich den roten Berg nicht besteigen, sondern verlangte, dass wir am nächsten Tag die Gegend verlassen und geradeswegs nach Raga-tasam ziehen sollten. Ich fuhr ihn aber an, wie er, ein kleiner Häuptling im Gebirge, sich unterstehen könne, so gebieterische Reden zu führen? Sogar die Chinesen in Lhasa seien liebenswürdig gewesen und hätten mir große Freiheit gelassen. Ich würde nicht eher von der Stelle gehen, als bis ich den See gesehen hätte! Ich drohte den Schigatsepass in kleine Stücke zu zerreißen, aber sofort einen Kurier an Tang Darin und Lien Darin zu schicken und ihre Antwort am Fuß des Targo-gangri abzuwarten. Da wurde der Häuptling verlegen, erhob sich schweigend und ging, von den anderen begleitet, weg. Vor Abend noch sah ich sie jedoch wieder bei mir. Mit demütigem Lächeln sagten sie, dass ich gern auf den roten Berg hinaufreiten dürfe, wenn ich ihnen nur versprechen wolle; nicht bis an das Ufer des Sees zu gehen!
Den ganzen Tag lag dünner Nebelschleier über dem Lande. Aber als die Sonne unterging, glühte der Westhimmel in Purpurflammen und eiskalte Gletscher und Schneefelder zeichneten sich auf einem Hintergrund von loderndem Feuer ab.
Am 29. April machten wir uns endlich auf den Weg und ritten über den von rechts kommenden Nebenfluss Tschuma, der in seinem Oberlauf Nagma-tsangpo heißt. Über regelmäßig geschweifte Seeterrassen stiegen wir immer höher; die Aussicht erweiterte sich immer mehr, je mehr wir uns dem Gipfel näherten, wo die Ladakhis mich mit einem Feuer erwarteten. Das südliche Becken des Dangra-jum-tso war wie eine bläuliche Säbelklinge vollkommen deutlich sichtbar, in die weite Uferebene mündet das Tal des Targo-tsangpo trompetenförmig ein. Es war umso leichter, den Lauf des Flusses bis in die Nähe des Sees zu verfolgen, als sein ganzer Weg durch weißglänzende Eisschollen und dunkle Flecken, an denen Gebüsch wuchs, markiert wurde. Ende Juli soll der Fluss so hoch anschwellen, dass er nicht überschritten werden kann. Wenn dann den Nomaden am östlichen Fuß des Berges Briefe zu bringen sind, werden sie mit einem Stein beschwert an einer schmalen Stelle über den Fluss geworfen.
Das Seewasser soll ebenso salzig wie das des Ngangtse-tso und untrinkbar sein, aber die Pilger trinken es trotzdem, weil es heilig ist. Gerade jetzt war das Wintereis im Aufbrechen, nur an den Ufern lagen noch Eisstreifen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Seen Tibets zieht sich der Dangra-jum-tso in nordsüdlicher Richtung hin; er ist sehr schmal und in der Mitte eingeschnürt, genau so, wie ihn Nain Sing auf seiner Karte zeichnet, obgleich er den See im Ganzen ein wenig zu groß gemacht und besonders die Dimensionen des südlichen Beckens übertrieben hat. Ein Reiter braucht zur Reise um den See fünf gewöhnliche oder sieben kurze Tagereisen; die Pilgerstraße zieht sich überall nahe am Ufer hin. Die Pilger unternehmen ihre Seeumwanderung stets in der Richtung des Uhrzeigers — wenn sie nämlich orthodox sind; gehören sie aber, wie die Mönche des Klosters Särschik-gumpa, zur Pembosekte, so führen sie den Marsch in entgegengesetzter Richtung aus. Die meisten kommen im Spätsommer und im Herbst. Man sagte mir, dass die Seeumwanderung, die natürlich zu Fuß gemacht werden muss, zu Ehren des Padmasambhava geschehe, jenes Heiligen, der im Jahre 747 nach Tibet kam, der Gründer des Lamaismus wurde und sich beinahe ebenso großen Ansehens erfreut als Buddha selbst. In Tibet heißt er Lopön Rinpotsche, und sein Bild ist fast in allen Tempeln zu finden.
Särschik-Gumpa, von dem wir schon so oft gehört hatten und das Nain Sing auf seiner Karte Sasik Gombas nennt, liegt auf einer flachen Halde am östlichen Fuß der Berge. Das Kloster steht unter dem Devaschung und hat zwanzig Pembobrüder und einen Abt, namens Tibha. Einige Mönche sollen wohlhabend sein, sonst aber ist das Kloster nicht reich; es bezieht seinen Unterhalt von Nomaden in Naltsang, Largäp und Särschik. Das Kloster besteht zum größten Teil aus Stein, hat aber auch Gebälk, das aus dem Schangtal hierher transportiert worden ist. Ein Dukang ist vorhanden, sowie eine Anzahl kleinerer Götterstatuen. Auch der Bergstock Targo-gangri kann umwandert werden, man hat dabei nur einen einzigen Pass zu überschreiten, nämlich den Barong-la oder Parung, der zwischen dem Targo-gangri und der mächtigen Kette im Westen des Schuru-tso liegt.
Die kurze, hohe, meridionale Kette, die Targo-gangri heißt und eher als ein freistehender Gebirgsstock anzusehen ist, endet im Norden unweit des Ufers, nach dessen flacher Ebene das Gehänge des letzten Gipfels langsam abfällt. Nain Sing nennt den Bergstock Targot-la oder Snowy Peaks und das Land im Süden des Berges Tárgot Lhágeb (Largäp). Auf seiner Karte findet man den Fluss als Targot Sangpo. Sein Siru Cho im Osten des Sees kannte hier niemand, und seine Mun Cho Lakes, die südlich davon liegen sollen, liegen stattdessen im Westen des Sees. Seine Darstellung des im Süden des Sees liegenden Gebirges ist unklar und phantastisch. Einige Nomaden nannten den heiligen Berg Tschang-targo-ri.
Auf dem Rückweg führte ich mit Robert ein Nivellement aus und fand, dass die höchste erkennbare Seeterrasse 89 Meter über der Oberfläche des Flusses lag. Der Targo-tsangpo ist hier gewiss nur 2 Meter höher als der Seespiegel. Da der Dangra-jum-tso auf mehreren Seiten, besonders im Süden, von ziemlich niedrigem, flachem Gelände umgeben ist, muss der See früher einen sehr großen Umfang gehabt haben. Damals zog sich der Targo-gangri wie eine Halbinsel des westlichen Ufers in den See hinein.
In der Nacht ertönte ein Gepolter, das an eine Lawine erinnerte; es wurde schwächer und verhallte. Die Pferde und Yaks der Tibeter waren, durch irgendetwas erschreckt, den Schuttabhang der Terrasse hinaufgestürmt. Eine halbe Stunde später hörte ich Pfiffe und Rufe — die Leute kamen mit den Ausreißern wieder.
Bevor ich unseren lästigen Freunden Lebewohl sagte, mussten sie alle zu Pferde steigen und sich fotografieren lassen. Sie trugen weite, dunkelkirschrote Mäntel und hatten im Gegensatz zu den barhäuptigen Largäpern eine rote, oft durch armbandähnliche Silberringe gezogene Binde um den Scheitel gewunden. Einer hatte einen hohen, weißen Hut wie einen abgestumpften Kegel, mit gerader Krempe, eine Kopfbedeckung, deren ich mich noch von Naktshu her erinnerte. Ihr Gewehr mit den kriegerischen Gabelfähnlein hatten sie über die Schulter gehängt, und im Gürtel steckte horizontal der Säbel, dessen silberbeschlagene Scheide drei unechte Korallen verzierten. Über der linken Schulter trugen einige ein ganzes Bandelier von Gaofutteralen mit Glasscheiben, durch die man die kleinen unschuldigen Götter sehen konnte, die ihren Trägern auf der Reise Glück bringen sollen. Ihre fetten Pferdchen stampften, schnoben und sehnten sich nach ihren alten bekannten Weideplätzen an den Ufern des Kja-ring-tso zurück. Auch sie waren mit unnötig schweren, aber hübschen Zierraten geschmückt. Einen besonders anzusprechenden Eindruck machten die Schimmel mit roten Reitern auf dem Rücken. Es war ein buntes Bild im strahlenden Sonnenschein mit den Schneekuppen des Targo-gangri als Hintergrund und Nain Sings See im Norden. Ich bat sie, Hladsche Tsering herzlichst zu grüßen und ihm zu sagen, dass ich hoffte, ihn noch einmal wiederzusehen.
Und dann trieben sie ihre Pferde mit den Fersen an, zogen sich zu einer Schar zusammen und trabten trippelnd nach den ebenen Flächen der Flussterrassen hinauf. Vom Anblick der davoneilenden Schar gefesselt, lief ich ihnen nach und sah noch, wie sich die dunkle Kolonne an dem roten Bergvorsprung, wo die alten Uferlinien wie in einem Bündel zusammenlaufen, verkleinerte. Seltsames Volk! Sie steigen wie Kobolde aus der Tiefe ihrer Täler auf, sie kommen, ohne dass man weiß woher, sie sind einige flüchtige Tage am Fuß des Schneeberges zu Gast und verschwinden wieder wie ein Wirbelwind im Staub ihrer Pferde und am geheimnisvollen Horizont.
Auch wir brachen auf und ich überließ den Dangra-jum-tso seinem Schicksal, überließ die dunkelblauen Fluten dem Toben der Stürme und dem Liede der anschwellenden Wogen und die ewigen Schneefelder dem Sausen flüsternder Winde. Mögen wie schon seit ungezählten Jahrtausenden die wechselnden Färbungen der Jahreszeiten, die Pracht der Atmosphäre in Hell und Dunkel, Gold und Purpur und Grau, zwischen Regen und Sonnenschein über Padmasambhavas See hinziehen, mögen um seine Ufer die Schritte gläubiger, sehnsuchtsvoller Pilger eine Kette spannen!
Von Robert und unserem bejahrten Führer begleitet, ritt ich über den Fluss, der ungefähr 4 Kubikmeter Wasser führte, und nach einem Vorsprung des Targo-gangri hinauf, um mir eine Gesteinsprobe mitzunehmen. Eine Gletscherzunge nach der anderen an der langen Reihe auf der Ostseite des Berges erschien und verschwand, und nun verschwand auch die Lücke, durch die man einen Zipfel des Sees und, fern im Norden, an seiner anderen Seite die Konturen hellblauer Berge erblickt hatte.
Auf einem Abhang weideten 600 Schafe ohne Hirten. Dann und wann fuhr in den dichten Steppengrasbüscheln ein Hase in die Höhe. Von den Schuttkegeln zur Rechten ertönte das gemütliche Gackern der Rebhühner. Als wir weit entfernt waren, tauchten aus einer Schlucht zwei Hirten auf, die die Schafe nach dem Fluss hinuntertrieben. Am unteren Ende der Moräne einer Gletscherzunge stand ein einsames Zelt. Ich fragte unsern Alten, wie die Stelle heiße, aber er schwor bei drei verschiedenen Göttern, dass er davon keine Ahnung habe. Die südlichste Anschwellung des Targo-gangri verdeckte jetzt die übrigen Teile der Kette, aber noch bevor wir das Lager 151 erreicht hatten, sahen wir sie wieder in Verkürzung hinter uns. Dieses Lager stand auf dem linken Ufer des Flusses.
1. Mai. Der Frühling ist gekommen; wohl haben wir während der letzten Nächte noch bis zu 16 Grad Kälte gehabt, aber die Tage sind herrlich und klar, und selbst wenn man direkt gegen den Wind reitet, empfindet man ihn nicht so lästig wie in Tschang-tang. Im Lager Nr. 150 hatten wir uns auf 4708 Meter Höhe befunden; jetzt steigen wir wieder langsam, folgen erst dem Fluss, lassen ihn aber bald zur Linken liegen, als wir ihn wie durch ein Tor aus dem Gebirge heraustreten sehen. Auf einer unglaublich gleichmäßigen, festen Ebene ohne Risse oder Bodenanschwellungen nähern wir uns nun in südwestlicher Richtung der Schwelle, die den Schuru-tso vom Dangra-jum-tso trennt. Auf der südwestlichen Seite des Targo-gangri zeigen sich sechs Gletscher, viel kleiner als die nördlichen und östlichen, sie können eher als Ausläufer und Zipfel des Eismantels angesehen werden, der die höheren Regionen des Gebirgsstockes bedeckt. Wie eine feine blaue Linie zeichnet sich der Schuru-tso ab. Wir nähern uns seinem Ufer und sehen, dass der See überall zugefroren ist. Ich mache halt, um zu fotografieren und ein Panorama zu malen. Unser Alter raucht eine Pfeife, Robert und Taschi schnarchen um die Wette. Als ich fertig bin, schleichen wir anderen uns leise von den beiden Siebenschläfern fort. Als nun Taschi als erster aufwacht, versteht er die Situation und kommt uns ebenfalls leise nach. Endlich erwacht auch Robert und findet sich zu seiner Überraschung allein und verlassen — holt uns aber dann bald auf seinem Maulesel ein.
Jetzt haben wir den See unmittelbar zur Rechten. Im Süden zeichnet sich ein großartiges Gebirge ab, eine der höchsten Ketten des Transhimalaja, rabenschwarz unter der Sonne, aber die Firnfelder glitzern in metallischem Glanz. Um die Ufer stehen bedeutende Terrassen, die Täler, die sich von Osten nach dem See herabziehen, durchschneiden sie und bilden tiefe Hohlwege, in denen hier und da ein einsames, von wütenden Hunden bewachtes Zelt steht. Auf der Terrassenfläche oberhalb des Parvatals lagerten wir in 4753 Meter Höhe; die acht schwarzen Zelte stachen grell gegen den gelben Erdboden ab. Unsere alten Tibeter aus Kschangdam sagten nun Lebewohl und erhielten doppelte Bezahlung und Geschenke. Vor uns sehnten sich die erstarrten Wellen des Shuru-tso nach der befreienden Wärme der Frühlingswinde, im Süden erhob sich der Do-tsängkan, ein gewaltiger, mit ewigem Schnee bedeckter Bergstock, im Südwesten sinkt die Sonne hinter den mächtigen Kamm des Gebirges, und lautlos jagen die Schatten über das Eis. Bald zögert das Abendrot nur noch auf den Spitzen des Targo-gangri und des Do-tsängkan, und dann gleitet die neue Nacht über die Erde. Schade, dass die Tibeter das Verhältnis zwischen der Sonne und den Planeten nicht verstehen; sie könnten das ganze Sonnensystem als eine einzige, unermessliche Gebetmühle ansehen, die sich zur höheren Ehre der Götter im Weltenraume dreht! In der Dunkelheit erschienen die hohen Berge im Südwesten nur wie undeutlicher Nebel, aber als der Mond aufging, wurden sie und das Eis des Sees gleichmäßig beleuchtet und schienen in Zusammenhang zu stehen. Von unserer Terrasse sah es aus, als hätten wir einen bodenlosen Abgrund unter uns.
Am 2. Mai ritten wir südwärts am Ufer entlang. Ebenso wie der Dangra-jum-tso zieht sich der Schuru-tso in beinahe nordsüdlicher Richtung hin, er liegt in einem Längstal, das diese in Tibet ungewöhnliche Streckung hat. Längs des Ufers ist schon offenes Wasser, und die Wellen plätschern gegen den porösen Eisrand, auf dem noch oft lange Reihen Wildenten sitzen. Durch die Wellen wird das Wasser am Ufer schwarz von verfaulten Algen und vermodertem Seegras, in dem die Wildgänse schnattern und schreien. Als wir das regelmäßig gebogene Südufer des Sees mit seinem Sandwall erreichen, sehen wir vor uns auf der Ebene wohlbekannte Sturmwarnungen: weiße Staubtromben, die der Wind spiralförmig vom Erdboden aufwirbelt, dem Rauch nach einem Schuss gleichend. Nach einer Weile befinden auch wir uns in der Bahn des fliegenden Sturmes — solcher Stürme wird es nicht viele bedürfen, um den ganzen See aufzureißen und seine losgelösten Eisfelder nach dem Ostufer hinüberzutreiben. Wir reiten über den vom Transhimalaja kommenden Fluss Kjangdom-tsangpo und lagern auf seiner westlichen Terrasse (4739 Meter). Dort hatten wir nach Norden den ganzen See vor uns und hinter ihm den Targo-gangri, diesen jetzt wieder kleiner.
Auch hier wurde unsere Begleitmannschaft gewechselt. Der Largäper Häuptling, der erst so übermütig aufgetreten war, war im Augenblick des Abschieds so weich wie Wachs und schenkte mir ein Kadach, ein Schaf und vier Magen Butter. Jeden Morgen, wenn die Karawane aufbricht, kommt Ische in mein Zelt, um sich meine beiden Hündchen zu holen; Muhamed Isa hat den dritten übernommen, den er zu einem Wundertier zu erziehen beabsichtigt, und den vierten hat Sonam Tsering erhalten. Sie sind schon sehr gewachsen und jaulen und beißen sich während des Marsches, den sie in einem Korb auf dem Rücken eines Maulesels mitmachen. Sie sind niedlich und spielerisch und machen mir mit ihren Einfällen viel Spaß.
Von dem kleinen Passe Dunka-la aus hatten wir eine großartige, orientierende Aussicht über den großen Schuru-tso, der länglich und im Westen konvex ist. Am nächsten Tag überschritten wir den Pass Bän-la bei Südweststurm. Es wehte und stürmte Tag und Nacht, aber die Luft blieb vollkommen klar. Am 6. ritten wir auf steilem Weg nach dem Angden-la hinauf. In dem ziemlich tiefen Schnee und dem anstrengenden Schutt kommen die Pferde nur Schritt für Schritt vorwärts, müssen oft haltmachen und sich ausruhen. Tsering reitet mit seiner Yakkompanie an uns vorbei, unten im Tal sind vier Ladakhis zurückgeblieben — wegen wütender Kopfschmerzen. Droben auf der Passhöhe (5643 Meter) steht ein gewaltiges Steinmal mit Schnüren und Wimpeln, deren Gebete der ewige Wind nach den Wohnungen der Götter hinaufweht.
Worte können das Panorama, das mich umgibt, nicht beschreiben! Wir schweben über einem Meer von Bergen, aus dem sich hier und dort dominierende Schneegipfel erheben. Im Süden sehen wir den Himalaja klarer und schärfer als früher, und diesseits seiner schneeweißen Grate ahnen wir das Tal des Brahmaputra. Im Norden zeigt sich der Schuru-tso in starker Verkürzung, den Dangra-jum-tso aber verdeckt der Targo-gangri, der scharf gezeichnet ist, obgleich wir sechs Tagereisen von ihm entfernt sind. Ja, sogar die mächtigen Berge am Nordostufer des Sees, die wir im Winter von Norden sahen, bilden eine deutliche Kontur und liegen doch volle zehn Tagereisen von hier. Ich sitze am Feuer, zeichne und messe, wie auf allen Pässen. Ich bin wieder auf dem Transhimalaja, 86 Kilometer vom Tschang-la-Pod-la, und überschreite ihn jetzt zum dritten Mal! Nördlich geht das Wasser nach dem Schuru-tso, südlich nach dem Raga-tsangpo; ich trete mit den Füßen die ozeanische Wasserscheide, umfasse dieses gewaltige System mit den Blicken, ich liebe es wie mein Eigentum! Denn der Teil, auf dem ich mich jetzt befinde, war unbekannt und hat seit Millionen Jahren auf mich gewartet, während ihn zahllose Stürme gepeitscht, die Herbstregen bespült und die winterlichen Schneedecken eingehüllt haben! Mit jedem neuen Pass, den in der Wasserscheide der indischen Riesenflüsse zu erobern ich das Glück habe, wird meine Sehnsucht und Hoffnung immer größer, ihrer gewundenen Linie westwärts nach den Gegenden, die schon bekannt sind, noch folgen zu dürfen und den großen weißen Fleck der Karte im Norden des Tsangpo ausfüllen zu können! Wohl weiß ich, dass Generationen von Forschern dazu gehören, dieses gewaltige, komplizierte Bergland zu erforschen, aber mein Ehrgeiz wird befriedigt sein, wenn ich mir die erste Rekognoszierung des Landes erkämpfe.
Wir verlassen das Steinmal und das Feuer, dessen Rauch wie ein zerrissener Schleier über dem Scheitel des Passes liegt, und folgen dem Passbecken, dessen rieselnde Fluten eins nach tausend Schicksalen das warme Meer erreichen werden. — Ich wende ein Blatt um und beginne ein neues Kapitel meines Forscherlebens; hinter mir bleibt wieder das öde Tschang-tang, und der Targo-gangri verschwindet unter dem Horizont — werde ich seine majestätischen Spitzen je wiedersehen?
Jäh geht es abwärts, dem Wind entgegen. Große Eisstücke füllen zwischen Wänden von schwarzem Schiefer und Porphyr den Talboden. Mehrere bedeutende Nebentäler münden in das Passtal ein, verlassene Lagerplätze zeugen von Sommerbesuchen der Nomaden. Unser Tal vereinigt sich mit dem großen Kjam-tschu-Tal, das 10 Kilometer breit ist und vom Scha-la herabkommt, dem Pass des Transhimalaja, über den die Tibeter uns hatten führen wollen. Um die Nomadenzelte von Kjam herum war das Land flach und offen.
Am 7. Mai zogen wir bei schrecklichem Sturm weiter, im Süden den blauen Spiegel des Amtschok-tso. Der Boden ist eben und hart. Ein Lampe läuft, als gelte es sein Leben zu retten, wie der Wind über dieses Terrain, das ihm nicht die geringste Deckung bietet. Acht muntere Antilopen zeichnen ihre herrlichen Silhouetten in federleichten Sprüngen vor mir, wobei ihnen der Himmel als Hintergrund und der Horizont als Basis dient. Robert hat den Pelz über den Kopf gezogen und sitzt wie eine Dame im Sattel, mit beiden Beinen an der vor dem Wind geschützten Seite baumelnd, während Taschi sein Maultier führt. Als er aber trotzdem durchpustet wird, legt er sich auf den Bauch über den Sattel. Mein Pferd schwankt, da der Wind sich an der breiten Brust des Reiters fängt. Es heult und stöhnt in den Ohren, es winselt und pfeift wie ehemals in Tschang-tang, ein ganzes Heer empörter Luftgeister scheint über all das Elend zu klagen, das sie auf Erden geschaut haben!
Die Ebene heißt Amtschhok-tang, über ihren Boden ziehen wir am Hauptfluss entlang. Amtschok-jung ist ein Dorf von fünf Zelten, wo einige hübsche Manis stehen, die mit Yakschädeln, Antilopengehörnen und Sandsteinplatten bedeckt, einen Meter lang und von regelmäßiger, rechtwinkeliger Form sind. Die Bewohner des Dorfes verschwanden furchtsam wie mit einem Zauberschlag; nur ein alter Mann leistete uns Gesellschaft, als wir uns zwei der Zelte besahen. Als wir aber weiterritten, krochen die Leute wieder hinter Dunghaufen, Erdhügeln und Grasbüscheln hervor, hinter die sie sich versteckt hatten.
Der Wind bohrt eine Trombe von dichtem, gelbem Staub aus dem Erdboden auf; sie ist so dicht, dass sie auf der Schattenseite schwarz erscheint. Sie schraubt sich in zyklonischer Spirale in die Höhe wie der Rauch einer ungeheuren Explosion. Als ein seltsames Gespenst tanzt sie diagonal über die Ebene hin und löst sich erst am Fuß der östlichen Berge auf.
Im Lager dieses Tages, das am nordwestlichen Ufer des Am-tshok-tso lag, hörten wir von chinesischen und tibetischen Beamten reden, die in der nächsten Zeit das Land nach allen Richtungen hin durchreisen würden, um Zelte, Volk und Herden zu zählen. Man glaubt, dass dies in Verbindung steht mit neuen Steuergesetzen, die die Chinesen einzuführen beabsichtigen.
Am Ufer lag mein Boot bereit, denn der 8. Mai war zu einem Ausfluge auf dem Amtschok-tso ausersehen worden.
Der See war eisfrei, nur am Nordufer schaukelten einige Schollen in der Brandung. Der Südwestwind fegte unermüdlich über die Gegend; auf gutes Wetter zu warten war aussichtslos. Ein Dutzend Tibeter folgte mir in gemessener Entfernung, ich bat sie näher zu kommen und sich die Abfahrt anzusehen. Das Boot war zu Wasser gebracht, Rehim Ali und Schukkur hatten Platz genommen und Lama trug mich durch das langsam tiefer werdende Wasser nach dem Boot hin. Ein Vorsprung in S 34° O wird als Ziel angepeilt, und die Ruderer beginnen ihren Kampf mit den Wellen. Während der ersten Stunde war der See so seicht, dass die Ruder auf den Grund stießen und tintenschwarze Flocken aufwirbelten. Im Takt der Ruderschläge ruft Schukkur Ali: „Schubasa, ja aferin, bismillah, ja barkadiallah“ — um nur einige Worte aus seinem unerschöpflichen Repertoire anzuführen. Rehim Alis Ruder gibt mir bei jedem Eintauchen eine Dusche, aber ich werde im Wind schnell wieder trocken. Der Seegang rührt den Bodenschlamm auf; das Wasser ist so seicht, dass die Wellen die Tendenz zeigen, mitten auf dem See zu branden.
Nun beginnen die Tromben ihren drohenden Tanz auf dem Westufer, in derselben Richtung glänzt das Wasser weiß. Der Sturm fährt über den Amtschok-tso, die beiden Mohammedaner müssen ihre ganze Kraft aufbieten, um das Boot gegen Wind und Wellen vorwärts zu bringen. Der Seegang wird immer stärker, die Tiefe beträgt 2,41 Meter, und das Wasser nimmt einen grüneren Ton an. Schukkur Ali, unser alter Fischer, hat seine Angel ausgelegt, aber nichts anderes als umherschwimmende Algen will anbeißen. An mehreren Stellen zeigen sich Wildenten, Möwen und Wildgänse. In einer Talschlucht am Ostufer schlagen eben angekommene Nomaden drei Zelte auf. Endlich sind wir an dem Vorsprung angelangt, nachdem wir eine Maximaltiefe von jämmerlichen 3,66 Meter gelotet haben.
Nachdem die Messungen beendet sind, ein Panorama gezeichnet und das Mittagessen verzehrt worden ist, stoßen wir wieder in nördlicher Richtung ab, und leicht wie eine Wildente schaukelt das Boot mit reißendem Wind über die Wellenkämme hin. Wir fahren wieder an den drei Zelten vorüber, loten 3,10 Meter und nähern uns dem Nordufer, wo das Wasser nur einen halben Meter tief und eine trübe Lehmsuppe ist. Der Seegang geht dorthin, und graue Brandungswellen rollen gegen das Ufer. Da sitzen wir auf Grund und sind noch 100 Meter vom Land entfernt! Aber Rabsang kommt mit meinem Pferd am Zügel gelaufen und ihm folgen mehrere andere Ladakhis. Sie sind uns beim Landen behilflich und zünden am Fuß der Sandterrasse, die sich hier am Ufer erhebt, ein recht notwendiges Feuer an.
Der Fluss Kjam-tschu ergießt sich in den Amtschok-tso an der Nordseite, und nur 2 Kilometer westlich von seinem schlammigen Delta tritt der Dongmo-tshu aus dem See heraus, um sich östlich mit dem Raga-tsangpo zu vereinen. Genau genommen ist der Dongmo nur die Fortsetzung des Kjam-tschu, an dessen rechtem Ufer der See wie ein Beutel hängt.
Nachdem das Boot zusammengelegt ist, muss uns Muhamed Isa zu Pferd den Weg über die sandigen, mit Gras bewachsenen Hügel zeigen. Er geleitet mich über die zwanzig seichten und tückisch sumpfigen Deltaarme des Kjam-tschu hinüber. Es ist dunkel, aber im Lager haben sie ein Signalfeuer angezündet, dessen Dungfladen sich in dem heftigen Winde weißglühend erhitzen und wie elektrisches Licht leuchten.
Am folgenden Tag war ich schon vor der Sonne auf den Beinen, um Messungen auszuführen. Es war 17,6 Grad kalt gewesen, und der Wind wehte eigensinnig wie ein Passatwind. Es ist ein schöner Anblick, wie im Osten der Tag erwacht und wie das Leben zwischen den Zelten wieder beginnt. Die gemieteten Yaks haben während der Nacht gekoppelt gelegen, jetzt dürfen sie frei auf die Weide gehen. Aus dem Innern der Zelte ertönt schlaftrunkenes Gähnen, Männer kommen heraus und fachen neue Feuer an; der Krug, worin der Morgentee mit Butter verrührt wird, gluckst, die Kessel werden auf ihre drei Steine über das Feuer gesetzt. Die Hunde spielen im Freien und sind froh, dass sie einmal einen Tag nicht im Korbe umherzurollen brauchen.
Unsere Tage, unsere Monate verschwinden in dem Chor aller Stürme, der Frühling lässt immer noch auf sich warten, in den Abendliedern der Ladakhis glaube ich einen weichen Unterton von Heimweh zu hören; auch sie freuen sich über jede Tagereise, die sie einen Schritt weiter nach Westen führt. Als wir am nächsten Morgen aufbrachen, wehte es wieder so frisch wie immer, Robert aber hatte sich eine Gesichtsmaske von Filz mit einer festgenähten tibetischen Brille als Gucklöcher angefertigt; er sah in dem Kleidungstück, das gut in das Land der religiösen Maskeraden passte, urkomisch aus.
Der Weg, der in dem breiten Tal des Pu-tschu aufwärts steigt, führte bis Serme-lartsa durch offenes, schwach gewelltes Gelände. Hier wurde der alte Guffaru krankgemeldet, er litt an Kolik und wurde aufs Beste verpflegt. Aber spät am Abend kam Robert atemlos in mein Zelt, um mitzuteilen, der Alte liege im Sterben. Als ich in das Zelt kam, saß der Sohn, der schon beauftragt worden war, das Leichentuch bereit zu halten, weinend neben seinem Vater, die anderen wärmten der Reihe nach ihre Mützen über dem Feuer und legten sie dem Kranken auf den Leib. Ich verordnete einen kalten Umschlag, aber da bat er mich, zur unbeschreiblichen Erheiterung der anderen, nur ja wieder in mein Zelt zu gehen! Muhamed Isa lachte, dass er umfiel; Guffaru saß aufrecht auf dem Lager, ächzte und stöhnte und bat mich, zu gehen. Vorher gab ich ihm aber noch eine ordentliche Dosis Opium, und am anderen Morgen war er wieder so munter, dass er, wie gewöhnlich, den ganzen Weg zu Fuß ging, obwohl ihm ein Pferd zur Verfügung stand. Die Überreste der Apotheke von Burroughs Wellcome hatten ihm das Leben gerettet; er war dankbar und zufrieden, dass er diesmal sein Leichentuch noch nicht gebraucht hatte.
Am 11. Mai gingen wir in eisigem Schneetreiben über den Pass Lungring (5394 Meter) und durch das Tal gleichen Namens nach dem Ufer des oberen Raga-tsangpo hinunter. Am 12. zogen wir am Fluss stromaufwärts; sein Tal ist breit und wird im Norden von mächtigen Bergen begrenzt. Die Kälte war auf 18,2 Grad hinuntergegangen, der Sturm kam uns gerade entgegen. Gelegentlich mäßigte er sich so weit, dass man doch die Hufschläge der Pferde auf dem Schutt hören konnte, aber man war erstarrt, ehe man das Lager erreichte.
Während des nächsten Tagemarsches passierten wir die Stelle Kamba-sumdo, wo sich die beiden Quellflüsse des Raga-tsangpo vereinigen; der eine kommt von Westen und heißt Tschang-schung, der andere, der von Südwesten kommt, Lo-schung, d. h. „nördliches“ und „südliches Tal“. Der Tschang-schung ist der größere; den Lo-schung mussten wir zweimal überschreiten, sein Grund ist voller Steinblöcke, die schlüpfriges Eis miteinander verband. Im Westen tritt ein großes, mit Schnee bedecktes Joch hervor, Tschomo-utschong, „die hohe Nonne“, die von Nain Sing entdeckt worden ist. Ryder hat es gemessen und eine genaue Karte von ihm gezeichnet. Von den weißen Gipfeln ziehen sich Schneestreifen an den schwarzen Bergseiten hinunter. Andere Tibeter nannten es Tschoor-dschong.
In spitzem Winkel und noch immer gegen Südwesten nähern wir uns der großen Heerstraße zwischen Lhasa und Ladakh, der sogenannten „Tasam“. Wie um ihre Bedeutung zu markieren, zog gerade eine Karawane in drei Kolonnen westwärts. Sie kam so langsam in dem Gelände vorwärts, das man sie mit den hinter ihr liegenden Bergvorsprüngen vergleichen musste, um sich zu überzeugen, dass die kleinen schwarzen Linien sich vorwärts bewegten. Bald darauf schlugen wir unsere Zelte in Raga-tasam auf (4948 Meter), einer Station der großen Heerstraße, wo ich zum ersten Mal seit Schigatse die Route der englischen Expedition unter Ryder und Rawling berührte. Was nun auch die nächste Zukunft bringen mochte, mir kam es vor allem darauf an, diese Route so viel als möglich zu vermeiden. Denn die Karte, die Ryder und Wood über ihre Expedition ausgearbeitet haben, ist die vorzüglichste, die je von einem Teile Tibets aufgenommen worden ist; ihr konnte sich, bei meiner bescheidenen Ausrüstung, nichts Neues hinzufügen. Wenn ich aber nördlich oder südlich von ihrer Straße zog, konnte ich ihre Karte immerhin durch meine Rekognoszierungen ergänzen. Tatsächlich ist mir dies auch so gut gelungen, das ich von den 83 Tagereisen nach Toktschen am Manasarovar nur zweieinhalb Tagemärsche auf demselben Wege wie sie zurücklegte.
Mittlerweile kamen beide Häuptlinge von Raga-tasam zu Besuch. sie waren artig und freundlich, erklärten mir aber entschieden, sie würden mich keinesfalls auf einem anderen Weg als der Tasam weiterziehen lassen; in meinem Pass stehe ausdrücklich, dass Saka-dsong unsere nächste Station sei. Ohne Erlaubnis des Gouverneurs von Saka könnten sie uns auf keinem anderen Weg durchlassen.
Als ich nun einsah, dass wir von jetzt an jene Straße würden ziehen müssen, die Nain Sing im Jahre 1865 und Ryder und Rawling mit ihren Kameraden im Jahre 1904 zurückgelegt hatten, schrieb ich, nach Beratung mit Robert und Muhamed Isa, an Tang Darin und Lien Darin in Lhasa. Jenem, dem Oberkommissar, setzte ich in flehentlichen Ausdrücken auseinander, das es mit keinen Verträgen kollidiere, wenn ich, der bereits in Innertibet sei, auf dem einen oder dem anderen Weg nach Ladakh zöge, falls ich nur wirklich dorthin ginge, und das ich ihn daher um folgende Erlaubnis bäte: Ich wolle die Rückreise über den See Tedenam-tso nehmen, von dem Nain Sing nur gehört hat, dann den Dangra-jum-tso besuchen, von dort nach Tradum und darauf nach dem Ghalaring-tso gehen, den heiligen Berg Kailas, den Manasarovarsee, die Indus- und die Brahmaputraquellen und schließlich Gartok berühren! An den anderen, den Amban von Lhasa, schrieb ich ebenfalls über den gewünschten Weg und versprach, ihm von Gartok einen Bericht darüber zu senden. Und beiden sagte ich, dass ich schnelle Antwort wünschte, die ich in Raga-tasam erwarten würde.