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'Im Jahr fünfundvierzig bekam meine Mutter die Nachricht, dass es besser wäre, mit mir wegzugehen, da mir Deportation und Gaskammer drohten.' So beginnen Karol Sidons literarische Erinnerungen an seine Kindheit im Prag der Vierziger- und Fünfzigerjahre, an die Bewohner der Stadt und diejenigen, die nicht mehr zurückgekehrt sind – allen voran der Vater, der im KZ Theresienstadt umgebracht wurde. Der kleine Karol, zu diesem Zeitpunkt erst zwei Jahre alt, vermisst ihn trotzdem und deshalb ein Leben lang.
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Seitenzahl: 235
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Karol Sidon
Traum von meinem Vater
Aus dem Tschechischen von Elmar TannertMit einem Nachwort von Petr A. Bílek
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Deutschen Originalausgabe (Erste Auflage Februar 2019)
© 2019 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Covergestaltung: Benedikt Haid unter Verwendung eines Privatfotos von Karol Sidon
Die Herausgabe dieser Publikation wurde durch das Kulturministerium der Tschechischen Republik gefördert.
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-7472-0046-9
Der vorliegende Text erschien erstmals 1968 unter dem Titel
Sen o mém otci.
Inhalt
Nekrologe
Das Schülerbuch
Traum von meinem Vater
Nachtrag
Ein Nachwort von Petr A. Bílek
Der Autor und der Übersetzer
Der Satte tritt Honig mit Füßen;
aber dem Hungrigen ist alles Bittere süß.
Sprüche 27, 7
Nekrologe
Cyril
Im Jahr fünfundvierzig bekam meine Mutter die Nachricht, dass es besser wäre, mit mir wegzugehen, da mir Deportation und Gaskammer drohten. Zwar neigte sich der Krieg seinem Ende zu – ich war noch nicht einmal drei Jahre alt und stammte aus einer Mischehe –, doch Mama hielt eine Warnung in Händen. Meinen Vater hatten die Deutschen bereits umgebracht.
Onkel Vlastík, der in Prag ein Fuhrgeschäft hatte, lud mein Kinderbett samt Bettzeug auf seinen Wagen, dazu Mamas und meine Kleider und das Dreirad, und wir fuhren nach Rymán zu Mamas Halbschwester.
Dort versteckten sie mich bis zum Ende des Krieges. Während dieser ganzen Zeit durfte ich keinen Fuß aus dem Haus setzen, außer abends, wenn Onkel Cyril, ein lustiger Geselle mit einer Talgbeule auf der Stirn, schwarz wie ein Teufel mit einem abgeschlagenen Horn, mich in den nächtlichen Garten führte.
Als alles vorüber war, brachte der Onkel mir bei, unter den Fenstern der Nähstube stehen zu bleiben, wenn er darin saß, und ihn zu fragen: »Wo bist du, Onkelchen?«, worauf er zu antworten pflegte: »Im Arsch, mein Liebling!« Mama war nach Kriegsende1 nach Prag gefahren, und Cyril gab sich große Mühe, mir bis zu ihrer Rückkehr dieses Spiel umgekehrt beizubringen. »Wo bist du, Karolku?«, rief er mir aus der Nähstube zu, und ich blieb unter den Fenstern stehen und krähte fröhlich: »Im Arsch, Onkelchen!«
Als dann aber Mama aus Prag zurückkehrte und wir ihr unser Spielchen vorführten, schimpfte sie ganz furchtbar. Sie nahm mich mit zu sich, und ich spielte es niemals wieder.
Der Onkel hatte mir eine russische Uniform genäht, mit der ich in Prag umherlief. Ich schlug Topfdeckel gegeneinander und sang dazu. Wenn mich die Leute fragten, was ich da singe, sagte ich: »Jüdische Passionslieder.«
Zehn Jahre später bekam Cyril Raucherbeine, und als er sah, dass er dem Tod entgegenfaulte, betrank er sich mit einer Flasche Rum und erhängte sich auf dem Dachboden. Er soll auch kurz vor seinem Tod nicht traurig gewesen sein. Ein lustiger Geselle bis zum letzten Augenblick.
Ich sah ihn noch einmal etwa einen Monat, bevor er sich aufhängte. Er lag im Bett, zeigte Mama seine schwarz angelaufenen Zehen und lachte sich tot über den Gestank. Die Tante schimpfte darüber, wie viel Tee er trank. Auf dem Tisch standen einige Gläser mit Resten des süßen Tees, in denen unter furchtbarem Getöse Wespen ertranken.
Ich aß damals gern Butterbrot mit grüner Paprika und Tomaten. Der Onkel sah zum ersten Mal jemanden rohe Paprika essen und zog mich ständig damit auf. Schließlich aber probierte er doch davon, und es schmeckte ihm ganz vortrefflich. Danach wollte er angeblich bis zu seinem Tod nichts anderes als grüne Paprika essen.
Und so kann ich heute ins Nichts fragen: »Wo bist du, Onkelchen?« Und er antwortet mir mit grässlich gleichgültigem Schweigen. »Im Arsch, Karolku!«
Und so kann ich heute ins Nichts fragen: »Ach, wo seid ihr, ihr merkwürdigen Toten, wo seid ihr hingeraten, wo ich euch doch so gut gekannt habe, euch berührt habe, und ihr so lebendig wart, wo seid ihr?« Im Arsch, ich weiß.
1 Anmerkung des Übersetzers: Im Original eigentlich »Revolution«
Honza
Ich glaube mich zu erinnern, dass Mama auf einem Lederdiwan mit Rückenlehne entband. Ich weiß nicht, ob es noch vor ihrer Entbindung war oder erst am Vormittag danach, aber ich sah ringsumher verstreute, glänzende Arztinstrumente und weiße Windeln.
Mama erinnerte sich gern daran, dass an jenem Abend, an dem sie gebar, ausgerechnet Tante Helena aus Norwegen anrief. Sie ließ sich das Telefon geben und sagte: »Helenka, sei so gut, ruf in einer Stunde noch mal an, ich krieg nämlich gerade ein Kind.«
Ich verbrachte den ganzen Tag im übernächsten Haus bei Onkel Honza und seiner Frau. Damals waren dies unsere nächsten Vertrauten. Heute freilich ist das alles dahin, sie zählen nicht mehr zu unseren Bekannten, und um den Onkel kümmert sich niemand mehr, nicht einmal die Tante, die nicht mehr seine Frau ist. Er steht jetzt allein im Leben wie ein Zaunpfosten und verliert langsam, aber sicher Kilo um Kilo seiner beachtlichen Leibesfülle, die ihm einst zu Respekt und Freunden verhalf. Und sein Humor schwindet ebenso.
Soviel ich weiß, hat Onkel Honza niemals irgendwo länger als ein halbes Jahr gearbeitet. Entweder strengte es ihn zu sehr an (er hatte Angina pectoris), oder er geriet dermaßen mit seinem Chef in Streit, dass er sich nicht mehr in der Arbeit blicken lassen durfte. Das war übrigens ganz typisch für ihn: uns vorzuführen, wie er es seinem Chef gegeben hatte. Er brüllte dann wie ein Stier, schlug mit den Fäusten auf den Tisch und glotzte mit großen Augen, bis sie rot wurden. Seine Halsadern sprangen heraus, und sein Stiernacken bebte. »Honza, Honza, Honza«, musste die Tante ihn immer beruhigen, »schon gut, ist ja gut!«, damit ihn nicht der Schlag traf.
Diese beiden – er fett, sie dünn – hatten sich bereits zweimal voneinander scheiden lassen und daher schon drei Hochzeiten hinter sich. Alle, die sie kannten, waren sich darüber einig, dass der Onkel ein Faulenzer sei und sich von seiner Frau aushalten lasse. Schrecklich! Sich von einer Frau aushalten lassen! Die Tante verteidigte ihn damit, dass er herzkrank sei, doch die anderen lachten nur: »Der wird uns alle überleben!« Er überlebte einige von ihnen, das ist wahr. In unserer Familie sagte man dann: »Wenn er so krank ist, dann soll er gefälligst nicht Motorrad fahren und auch nicht angeln gehen, sondern brav im Bett liegen bleiben, damit er sich auskuriert!« Mein Gott, wie sie das gefuchst hat, dass sich jemand das Leben so einzurichten verstand!
Alle schimpften über ihn, aber alle beneideten ihn, und wenn er vom Angeln kam – breitbeinig auf seiner kleinen Hundertfünfziger sitzend, wobei ihm das Wasser aus dem Rucksack tropfte, und triumphierend lächelnd, als hätte er darin einen drei Kilo schweren Hecht, nicht bloß ein paar kleine Schleie –, dann drängten sich alle an den Fenstern, grüßten ihn und lachten über seine Scherze, und er blickte rundherum zu den Fenstern, den Gesichtern, seinem Publikum, und blieb Sieger.
So lebte er sein schönes, ungebundenes Leben in seiner Garçonnière – aus der man, wenn nicht zufällig die Jalousien heruntergelassen waren, auf die roten Blumen und die Mülltonnen im Hof sah. Und jedes Mal war es höchst eigenartig, wenn man auf einen Plausch zu ihm ging. Mochte es draußen auch noch nicht dunkel sein, auf dem Gang sah man kaum einen Schritt weit. Man stolperte und tappte durch diese geheimnisvolle und tückische häusliche Dunkelheit, und bis man sich endlich zu seiner Tür getastet hatte, hatte man sich fast verirrt. Jeder wusste, dass der Onkel tagsüber schlief, daher wäre es gar nicht nötig gewesen, unter die Klingel einen Zettel mit der Aufschrift »lange klingeln« zu hängen.
Kaum dass er sich in der Tür zeigte und sich den Schlaf aus den Augen rieb, hatte man schon seinen Spaß mit ihm. Und kaum hatte er einen in seine Wohnhöhle hineingezogen, hüpfte er wieder in seine noch warmen Federdecken. Dann verschränkte er die Arme hinter seinem Kopf und verbreitete sich über Politik oder über die Mädchen aus meiner Klasse. Die gefielen ihm außerordentlich, und er ließ es sich nicht ausreden, dass ich mit jeder von ihnen gehe und all diese Schönheiten mich lieben.
Ein Tisch und vier Küchenstühle unter einem Leuchter. Manchmal setzte er sich zu mir an den Tisch und stopfte Tabak in Zigarettenhülsen.
Kein Schrank, nur ein großes Regal mit tausenderlei Kram, Angelzubehör, Klebeband und einer Schere am Nagel. Wo er seine Kleider aufbewahrte, weiß ich nicht.
Die Couch, auf der einst die Tante schlief. (Nach der zweiten Heirat blieb sie über Nacht bei ihren Eltern. Abend für Abend erhob sie sich um zehn Uhr, sagte »gute Nacht«, der Onkel öffnete ihr die Haustür, ein Küsschen – und weg war sie. Dem Onkel machte das nichts.)
Na, und dann war da noch das aufgeschüttelte Bett des Onkels, zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit, ihn aufzunehmen und zu umfangen. Das war ihm der ideale Mutterschoß! Ansonsten sorgten unanständige Bilder an der Wand für sein Vergnügen.
Jedes Mal, wenn ich zu ihm ging, freute ich mich insgeheim, dass ich mir bei ihm in unbeobachteten Momenten ausführlich anschauen konnte, wie weibliche Brüste aussehen … und auch das weiter unten. Hinterher machte ich mir freilich stets ungeheure Selbstvorwürfe für jeden dieser verwerflichen Anblicke. Der Onkel aber war ein Ferkel, er nahm keine Rücksicht auf meine Verlegenheit und sprach über meine Schulkameradinnen, von denen er wohl dachte, dass ich mit ihnen – ich mit meinen zwölf, dreizehn Jahren – schlief oder was!, und die eine hatte, fand er, schöne Titten, die andere schöne Beine, die dritte dagegen hatte vielleicht – was ihm nicht gefiel – zu kurze Beine2. An der Wand stellte sich auch eine lüsterne Bäuerin im Tanz zur Schau, die in hohen Stiefeln auf den gemalten Fußboden stampfte, den Rock bis über die Hüften hochgeschoben … der Onkel deutete auf sie und sagte: »Das ist ein Arsch, was? Karol …?« Eine Weile weidete er sich wie betäubt an diesem Anblick und meinte schließlich zungenschnalzend: »Ach, was weißt denn du, was für ein prachtvoller Arsch das ist!«
Jetzt ist es ungefähr sieben Jahre her, dass ich zuletzt bei ihm war, aber gewiss ist es dort noch genauso, nur vielleicht noch heruntergekommener … Beim Bett ein Nachttisch, in den er Halbschuhe und zusammengerollte Socken stopfte. Die Tante erzählte, dass er sie mit Kölnischwasser einparfümierte, damit sie nicht stanken. Auf dem Nachttisch ein Radio, aus dem der Onkel den Sender Freies Europa empfing, um am nächsten Tag etwas erzählen zu können. Auf dem Radio eine verchromte Lampe und ein Stoß zerlesener Bücher.
Rechts neben der Tür zum Badezimmer war ein Ofen, wo er jeden Herbst Slivovitz brannte.
Ja, bleibt noch das Badezimmer.
Es war so sauber, als ob er sich dort nicht einmal waschen würde. Während der Angelsaison badete er auch tatsächlich nicht. Er mochte nämlich keine Fische, er aß sie nicht gern, und so schwamm immer ein Karpfen in der Wanne, und das so lange, bis jemand ihn haben wollte. Freilich war der Onkel überaus reinlich, und wenn er nicht in der Wanne baden konnte, wo der Karpfen planschte, wärmte er Wasser im Ofen und wusch sich über der Waschschüssel.
(Die Tante ging zu ihren Eltern, und er wusch sich über der Waschschüssel.)
Na ja, und dann nahm es mit Tantchen und Onkelchen das erwähnte schlimme Ende, und die Tante verkündet jetzt, dass Honza sklerotisch sei – er wiederum verleumdet sie und mit ihr alle, die ihre Freunde wurden, nur ihre, nicht seine.
Vor langer Zeit hatte er einmal fünf Minuten mit dem berühmten Schauspieler Jan Werich3 geplaudert. Danach trug er sich mit der Idee, dass er sich zu dessen Doppelgänger machen könnte. Dann würde er es endlich all diesen Dummköpfen zeigen, die ihn ständig zur Arbeit antrieben und ihn dem Geld hinterherhetzten. Später verging ihm die Lust daran wieder … aber jetzt packt ihn das zu manchen Zeiten erneut, und er klammert sich wie ein Ertrinkender an einen Halm an die Vorstellung, dass er Werichs Doppelgänger sein wird. Er hat sich den Bart wachsen lassen und wartet darauf, dass Jan Werich vorbeifährt, ihn in dieser Gestalt bemerkt und den Jubelschrei »ein Doppelgänger!« ausstößt. Aber Jan Werich fährt einfach nicht vorbei, und der Onkel kommt immer mehr herunter, die Zähne fallen ihm aus, er verkümmert, magert ab; sein Gesicht ist gezeichnet von eigenartigen Längsfalten, und in seinen blauen Augen steht blankes Wasser. Von seinem früheren triumphierenden Lächeln ist nur eine Maske geblieben.
…
Nun ja, aber was war damals? Damals, als Mama ein Kind zur Welt brachte? Damals war es Abend, und Onkel Honza wälzte sich im Bett herum. Und wie er sich so herumwälzte, entblößte sich dabei ein Stück ganz wunderschön hervorgewölbter weißer Bauch oder eine Portion vom Oberschenkel. Seine runde Wampe war ganz wie der Arsch, es gab einfach kein Ende. Die Lampe über dem Bett leuchtete matt, und ich saß auf einem Küchenstuhl am Tisch, zeichnete vor mich hin und lauschte dem Ticken des Weckers.
Das Radio spielte leise, und das magische Auge schloss sich von Zeit zu Zeit. Dann tat es sich wieder auf und glotzte mich an.
»Leg dich hin«, sagte der Onkel, »und bleib hier über Nacht, wenn Papa nicht kommt.«
Ich wusste, dass Mama ein Kind zur Welt brachte, und hatte eine vage Vorstellung davon, was eine Geburt ist, aber mir war nicht klar, warum ausgerechnet ich nicht dabei sein sollte. Das war wieder so eine Hinterlist!
Es war mir ganz und gar nicht angenehm, bei Onkel Honza zu schlafen!
Er legte eine Decke über mich, mit der ich noch niemals zugedeckt gewesen war, und unter dem Kopf hatte ich ein starres Polster, hart wie ein Ziegelstein.
Das Lämpchen über seinem Bett erlosch, nur das magische Auge blinzelte noch, wurde schmaler und verbreiterte sich wieder. Aus dem Radio erklangen ein Röcheln und ein Heulen und unverständliche Worte.
Der Onkel hatte sich drei Polster unter den Kopf gelegt, und so saß er beinahe. Dank des grünen Widerscheins aus dem Radio sah ich sein Gesicht und den Mund, wenn er einschlief und zu schnarchen begann.
Da lag ich und sah mich um, inmitten von Dingen, die aus der Dunkelheit hervortraten und mich mit ihren Schatten ebenso anregten wie bedrückten. Ich ruhte auf dem Rücken und betrachtete die Decke. Auf einmal bekam ich furchtbare Angst vor der lasterhaften Bäuerin in ihren Stiefeln und mit dem Rock bis über die Hüften.
Aber zu Hause! Zu Hause!! Dort geschah etwas! Dort war es hell! Ich warf mich hin und her und lief, wenigstens in der Phantasie, durch die Dunkelheit zu unserem Haus, lief zu den Räumen, wo man nicht schlief, sondern lebte und wo es mit ganzer Kraft leuchtete!
Ich konnte nicht einschlafen und taumelte zwischen Wachen und Traum.
…
Und jetzt denke ich an Onkel Honza.
Er pflegt in der Glut der Herbstsonne auf dem Mäuerchen zu sitzen. Geht auf dem Bürgersteig hin und her, bleibt stehen und guckt den Leuten zum Fenster hinein. Aus den Fenstern aber beugt sich niemand mehr hinaus, so wie früher, und er kann nicht mehr scherzen, nicht mehr.
Was ist bloß mit ihm geschehen? Woher dieser jähe Wandel? Er ist doch wohl nicht an der Scheidung von der Tante zerbrochen? Unsinn! Hatten sie denn vorher überhaupt zusammengelebt? Aber was ist es dann?
Er schläft nicht mehr viel. Als hätte er in den Jahren des Faulenzens allen künftigen Schlaf vorweggenommen. Er sitzt auf dem Mäuerchen und geht auf dem Bürgersteig hin und her. Guckt und späht. Schnüffelt von morgens bis abends den Leuten hinterher! Der arme Teufel!
Es kann geschehen, dass er eine Frau anhält und sagt: »Gnädigste! Es bleibt ganz unter uns! Aber was war denn da gestern los?«
Die Frau errötet: »Herr, Herr …«, sie weiß seinen Namen nicht mehr, »Herr … Herr … wie meinen Sie das?«
Und dann erzählt er ihr, dass er gestern beobachtet hat, wie sie und ihr Liebhaber aus dem Haus gingen und beinahe mit dem Herrn Gemahl zusammengestoßen wären. Er ruft ihr in aller Umständlichkeit ins Gedächtnis zurück, wie sie den Burschen am Ärmel gepackt und ihn zur Tür des Nachbarhauses gezogen hat. Honza kommt in Fahrt und wirft sich stolz in die Brust:
»Hahaha! Was sagen Sie dazu? Dem guten alten Honza entgeht keine Bumserei!«
»Herr … Herr … Herr …« – die Frau kommt nicht auf seinen Namen, Tränen treten ihr in die Augen, und sie beginnt am ganzen Leib zu zittern. Jesusmaria, was führt dieser Alte nur im Schilde?
»Wozu hab ich denn Augen, gnädige Frau? Zum Furzen vielleicht?«
Und die arme unglückliche Liebhaberin flieht und geht von da an nie mehr am Onkel vorbei, damit er sie nicht mehr zu sich rufen kann und sie ihm keinen Kuss auf das ausgezehrte Gesicht geben muss.
Er schaut zufrieden drein und lässt seinen arglistigen Blick über die Häuser schweifen.
Manchmal macht er noch einen Ausflug auf seiner Hundertfünfziger. Aber weder er noch die Maschine sind der Sache noch so richtig gewachsen; mühsam eiern sie durch die Gegend.
Ringsumher wachsen neue Stadtviertel.
Ich denke an Onkel Honza. Ich denke, es wäre gut, einmal bei ihm vorbeizuschauen. Andererseits … was bringt mir so ein Besuch? Ich würde nur übles Gerede zu hören kriegen, noch dazu über Leute, die ich nicht einmal kenne. Aber eigentlich sollte ich wirklich mal auf einen Sprung bei ihm vorbeikommen. Ich hab zwar keine Lust, aber ich sollte auf einen Sprung bei ihm vorbeikommen. Wenigstens das sollte ich tun. Ich weiß doch, warum ich auf einen Sprung bei ihm vorbeikommen sollte, ich weiß es doch:
Der Sensenmann begleitet ihn auf seinen Spaziergängen.
2 Anmerkung des Übersetzers: Im unübersetzbaren tschechischen Ausdruck: »niedriges Pinkeln«
3 Anmerkung des Übersetzers: Jan Werich (1905–1980), tschechischer Schauspieler, Dramatiker und Schriftsteller
Herrn Mádles Geist
Wenn ich in der abendlichen Dunkelheit den biergefüllten Glaskrug vom Wirtshaus nach Hause trug, nahm ich immer zwei Treppenstufen auf einmal – mehr schaffte ich damals noch nicht, und selbst das war schon Anstrengung genug –, angstvoll zitternd vor den bläulichen Schatten, die sich hinter den Milchglasscheiben der Balkone in den Zwischengeschossen hin- und herbewegten. Ich hatte schreckliche Angst vor Frau K., über die man sich erzählte, dass sie verrückt sei und ihre Tochter verprügle und dass sie Herrn Slonka gedroht habe, ihn mit dem Beil zu erschlagen … und ich war mir sicher, dass sie das Beil in die Hand nähme, wenn sie mich erblickte, und mir nachschleichen würde … durch die Dunkelheit … und ich würde die Treppe hochstürmen, sie hinter mir wie ein bösartiger Schatten … und dann würde sie … im Haus wäre nicht einmal ein Seufzen zu hören … in aller Stille … dann würde sie mir die Klinge in den Hinterkopf rammen, und ich wäre tot, läge tot in einer Blutlache, in meinem eigenen Blut, in rotem Blut, wäre für immer tot und reglos und würde niemals, niemals, niemals mehr …
Später fürchtete ich mich auch vor Herrn Mádles Geist.
Herr Mádle war vor Kurzem gestorben.
Um Mitternacht hatte Frau Mádlová bei uns geklingelt und Vater gebeten, er möge ihr helfen, ihren Mann auf das Bett zu heben. Vater soll ihm die Augen zugedrückt haben.
Wahrscheinlich würde auch ich irgendwann einmal jemandem die Augen zudrücken.
Ich hatte Angst, weil der Geist eines Toten, das ist gewiss, nicht einfach so davonweht, sondern sich noch eine Zeit lang in der Nähe seiner Wohnung und seiner Frau und seiner Schränke aufhält.
Ich sah nicht nach links und nicht nach rechts und lief die Treppen hinauf, schloss die Augen und lief und klingelte an unserer Tür.
Nur einmal klingelte ich versehentlich ein Stockwerk tiefer, und als die Tür sich öffnete, erblickte ich vor mir einen Menschen, der nicht in unsere Diele gehörte, und auch die Diele war irgendwie anders; und ehe ich kapierte, dass ich mich im Stockwerk geirrt hatte und vor mir Frau Stamicová stand, überfiel mich das beklemmende Gefühl, dass es bei uns zu Hause und überhaupt auf dieser Welt zu befremdlichen, unheilschwangeren Verwandlungen kommt. Frau Stamicová stand im gelb beleuchteten Spalt, den die Tür freigab, mit traurigen Augen und schwarzen, unbegreiflichen Augenringen, und auch sie sah mich an, als wäre ich eine Erscheinung, ein Bote bevorstehender Schrecken.
Ein andermal wieder ging ich in Gedanken – wohl konzentriert darauf, den gläsernen Krug nicht zu zerbrechen, damit das Bier nicht über die Treppen läuft, das gelbe, schäumende Bier über die Granitstufen –, ganz in Gedanken und von Angst erfüllt, ein Stockwerk zu hoch hinauf … und dort stand ich plötzlich in einer ganz fremden Umgebung, inmitten von unbekannten, geheimnisvollen Wänden und Türen. Es war kühl und dämmrig, hier endete das Haus, und über mir war nur das Dach und der unendliche Himmel.
(Auf dem Dach erhitzte einmal mein Vater Asphalt, zusammen mit Herrn Slonka, und jemand, der aus der Ferne das Feuer sah, rief die Feuerwehr. Es wurde darum ein großes Aufhebens gemacht, und ich musste zu den Slonkas gehen. Ich weiß nun nicht mehr, ob ich mir das nicht bloß ausdenke, aber … in meiner Erinnerung stehe ich bei den Slonkas am Fenster, presse mein Gesicht gegen die Scheibe und blicke nach unten, wo die Feuerwehrleute die Schläuche entrollen; im nächsten Augenblick schon richten sie sie nach oben, und die Nacht wird von weißen Wasserströmen durchschnitten; ich springe vom Fenster weg, und an der Scheibe, hinter der die schwarze Nacht ist, fließen Wasserströme hinab, das ganze Haus erzittert, von Wasser umflossen, und oben auf dem Dach trotzen all dem, wie zwei große Helden, zwei große Beherrscher des Feuers, zwei himmelschreiende Brandstifter, mein Vater und Herr Slonka.)
Hastig drehe ich mich wieder um und tappe zur Treppe zurück. Im nächsten Moment stehe ich einer Balkontür gegenüber, die Tür leuchtet leichenblass, mein Gesicht wird in diesem Leuchten kalkweiß … und hinter der Tür taumeln Schatten, Schatten, Schatten … so wie unten in Regen und Wind die Straßenlampen und Bäume schwanken.
Außer mir war hier niemand … und doch spürte ich jemandes Anwesenheit! Die Geister von Herrn Mádle und seiner Frau quälten einander, und außer ihnen noch weitere tausend Geister und Gespenster! Und all diesem Grauen musste ich ganz allein die Stirn bieten! All diesen Legionen von Ungeheuern, verborgen in der Dunkelheit. Festhalten am Geländer, nicht losheulen, nicht schreien vor Angst, die Treppe hinuntergehen, Stufe für Stufe, und endlich, endlich vor unserer Tür stehen bleiben.
…
Einmal stieg ich so zu unserer Wohnung hinauf, in Eile, damit sich gleich die Wohnungstür vor mir öffnet und ich in Sicherheit bin, als ich dich da sah, dich, ja, dich, Mama, wie du dich in unserem Stockwerk auf das Geländer stützt, dich hinunterbeugst und wartest, bis ich bei dir bin. Aber wie du ausgesehen hast! Was für ein Anblick das war!
Ich glaube, es ist ausgeschlossen, dass ich das nur geträumt habe, dass es nur ein Traum war. Es ist wirklich passiert, ich habe dich wirklich dort gesehen! Mit diesem Blick, diesem grausamen Blick, dieser grausamen Miene!
Dieser allergrausamsten!
Die Mutter, die Mama, der Mensch, zu dem wir uns in Angst und Einsamkeit flüchten, du …
Du hattest ein gelbes, dunkelgelbes Kleid an, und dein Gesicht war zu einer furchterregenden Grimasse teuflischen Zorns verzogen.
Ich weiß, dass du das nicht weißt und nicht wissen kannst, und vielleicht trifft es dich, wenn ich dir das jetzt sage, aber es war so, es ist so, ich weiß es und kann nichts dafür, dass es so geschehen ist.
Wanzen
In der zweiten Nacht nach Mamas Niederkunft zeigte sich, dass wir Wanzen hatten. Mama erwachte irgendwann um Mitternacht herum und blickte zur Decke, die von außen vom Schein der Gaslampen beim Haus gegenüber beleuchtet wurde, blickte nach oben und sah, wie kleine schwarze Punkte über die Decke wanderten.
»Pepa!«, schrie sie. Er hatte einen leichten Schlaf, sofort war er auf den Beinen. »Was ist das?« Sie zeigte nach oben. »Eine Mücke«, sagte mein Vater.
Klar konnte das eine Mücke sein, aber ebenso gut auch eine Wanze – was schließlich auch der Fall war –, aber den Mann möchte ich sehen, der sich das Leben mit Wanzen verkomplizieren will. Lieber hat er keinen Gedanken daran, dass Wanzen überhaupt existieren. Und falls doch – dann erst am Morgen.
»Eine Mücke!«, sagte Mama mit drohendem Unterton, aber Papa konnte sich nie zu etwas aufraffen, und nun musste sie ihm androhen, dass sie aufstehen würde, nur einen Tag nach der Entbindung!
»Was soll ich denn tun?«
»Hol den Besen vom Klo und zerdrück sie!«
Hm.
Er ging zur Toilette, brachte den Besen, hob ihn in die Höhe, fuhrwerkte damit eine Weile herum, balancierte ihn auf der Hand, und Mama fauchte ihn an, er solle gefälligst aufpassen, dass nichts auf die kleine Jana fällt: »Pepa, sie kriegt welche ins Ohr!« Vorsichtig näherte er den Besen dem Punkt, der Punkt reagierte nicht, kroch nur träge, nichts ahnend von seinem baldigen Ableben. Nun war es eigentlich sicher, dass es eine Wanze sein musste, Mücken sind gewieft, haben wachsame Augen, sind stets fluchtbereit, Papa drückte den abgewetzten Besen an, und als er ihn wieder abzog – »Pass doch auf, um Himmels willen!« –, hinterließ er an der Decke einen schmutzigroten Streifen.
Eine Wanze!
Wir haben Wanzen!
»Ich hab’s doch gewusst! Wanzen! Wanzen!«, jammerte Mama im Bett, und Vater konnte sie nicht beruhigen. Schließlich musste er die ganze Wohnung durchsuchen, durchstöberte trotz seiner Müdigkeit alle Ritzen und Fugen, doch vergebens, nirgends auch nur eine Spur von Wanzen. So war es wohl nur ein einziges verirrtes Biest gewesen, und Vater legte sich wieder zur Ruhe.
Er schlief augenblicklich ein, aber Mama jammerte. Dann, nach etwa einer Stunde, machte sie das Licht an und blickte sich um. Plötzlich begann sie zu kreischen.
»Pepa, Pepa, Pepa, Pepa! Steh auf, um Gottes willen! Pepa!«
Eine Wanze spazierte über ihr eigenes Kind!
Vater lief wieder aufgescheucht durch die Wohnung und musste alles Mögliche auseinandernehmen, Möbel, Bilder, bis es bei uns aussah wie in einem Trödelladen, und ich half ihm, aber alles vergebens. Schließlich trug Papa Mama in den Sessel hinüber und zerlegte das Bett, in dem sie beide schliefen … und dort war es! Dort war das Wanzennest! Dort hausten die Wanzen, dicht an dicht!
Das Licht betäubte sie! Orientierungslos begannen sie umherzukriechen!
Vater kratzte sie zusammen, schüttelte sie auf eine ausgebreitete Zeitung und warf, in höchstem Maße angewidert, alles in den Ofen, angewidert nicht nur von den Wanzen, sondern auch davon, dass er schon die zweite Nacht nicht schlafen konnte. Das Feuer knisterte und verschlang das ekelhafte Bündel.
Am nächsten Tag kam ich von der Schule nach Hause, und was sah ich? Mama kletterte die Wände hoch, eine Bürste in Händen, die Wohnung stank nach Desinfektionsmittel, die Möbel waren von den Wänden gerückt, überall Zugluft … Ich half ihr, die Wohnung wieder in Ordnung zu bringen.
Am Abend, als Vater von der Arbeit kam, war bereits alles wieder an seinem Platz, und nicht einmal der Umstand, dass Mama auf den Beinen war und durch die Küche fegte, brachte Papa auf den Gedanken, dass sie den ganzen Tag von Grund auf geputzt und gescheuert haben könnte.
Mama unternahm einen Rundgang zu den anderen Hausparteien.
»Stellen Sie sich vor«, sagte sie und warf ein Auge auf die Nachbarswände, »bei uns gibt es Wanzen! Haben Sie vielleicht auch welche?«
Selbstverständlich nicht! Niemals hatten sie welche gehabt!
»Dann habe also nur ich welche?«
Die Leute schwiegen.
»Aha!«, sagte Mama, »dann bin also ich der größte Dreckspatz hier im Haus?«
Sie gaben ihr bewährte Rezepte, wie man sich eine solche Sauerei vom Hals schaffen konnte.
Woher denn, Wanzen, niemand hatte welche!
Ungefähr drei Tage später kam allerdings die Wahrheit raus. Mama beugte sich vom Balkon herunter und erblickte unter sich Herrn Stamic beim Reinigen seiner Duellpistole. Rings um ihn, ans Balkongeländer gelehnt, rahmenlose Bilder … und auch sein Adelsbrief.
Mama eilte nach unten, und als Frau Stamicová öffnete, gab es nichts mehr zu leugnen, es roch nach Desinfektionsmittel.
Nach den Stamicens waren die Hromádkas dran, die unten im Hof eine alte Ottomane zerlegten.
Dann auch die Klírs.
Frau Hromádková, die über uns wohnte, war überzeugt, dass die Wanzen von ihnen kämen.
Diese Möglichkeit erfüllte unsere Familie mit Freude, hatte Vater doch bereits mehr als vierzig Anzeigen von den Klírs bekommen! Hatte mich doch Frau Klírová zur Zeit der Slánský-Affäre4 aus dem Park gejagt, weil ich Jude war!
Aber die Klírs waren es dann doch nicht. Schade.
(Vor dem Krieg waren sie angeblich parteilos gewesen, während des Krieges in der faschistischen Vlajka5
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