Überdies ist der Mensch schwach. Eine Psychologie des Alltags - Walther Jantzen - E-Book

Überdies ist der Mensch schwach. Eine Psychologie des Alltags E-Book

Walther Jantzen

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Beschreibung

Bei den hier zusammengeführten Texten handelt es sich um kompakte Darstellungen psychologischer Sachverhalte des nahen Zusammenlebens aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ein bedeutender Themenkreis sollte dadurch verständlich und kurzweilig durchmessen werden. Die Texte gliedern sich in zwei Gruppen, von denen die zweite den Beginn einer erweiterten Überarbeitung darstellt. Anhand des ebenfalls erhaltenen Inhaltsverzeichnisses dieser zweiten Version ist ersichtlich, wie dieses Werk angelegt sein sollte, ein Briefwechsel gibt Aufschluß über die beabsichtigte Art der Aufbereitung. Die Texte der ersten Gruppe wurden 1947/48 geschrieben, die der zweiten Gruppe 1955. Sie ermöglichen wertvolle Einblicke in psychologische Grundfragen der Stunde Null, darüber hinaus zeichnen sie ein akzentuiertes psychologisches Selbstportrait des Verfassers, der hier sein Denken und Fühlen freimütig offenlegt.

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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis der ersten Fassung

Vorwort

Das Gefüge des nahen Zusammenlebens

Unordnung und frühes Leid

Kurzschluß

Hemmungen

Nervosität

Schuld

Geltungsdrang

Neid

Dummheit

Angst

Lüge

Strafe

Seelenerpressung und Klatschsucht

Aufklärung

Ordnung und Lebenskunst

Willenszucht

Verkehrston

Lachen

Briefe

Pause

Gäste

Alter und Jugend

Ehe

Einlenken

Alternde Ehe

Mutter und Tochter

Gemeinschaft

Positives im Negativen

Befreiung von Illusionen

Lebenskunst

Inhaltsverzeichnis der zweiten Fassung

Kleines medizinisches Vorspiel

Angst, Kummer, Ärger und Verdruß

Natürlich wieder Kurzschluß

Hemmungen und Komplexe

Wieder einmal nervös geworden

Du bist an allem schuld

Der liebe Geltungsdrang

Blaß vor Neid

Was ist Dummheit?

Angsthandlungen

Lügen ist üblich

Strafen, aber wie?

Klatschsüchtige und Seelenerpresser

Der stete Ärger

Die störenden kleinen Krankheiten

Albdruck Schularbeiten

Im Sog fremder Gewalten

Geschwindigkeit steckt an

Dämonie des Telephons

Ressentiments

Zum Pedanten geworden

Über die wichtige Vereinstätigkeit

Rund um den Nachtschlaf

Tapetenwechsel

Pünktlichkeit

Auch Schimpfen will gelernt sein

Opposition

Die störenden kleinen Krankheiten

Ihr dürft den Zaun nicht niederreißen!

Aufklärung

Der Ton macht die Musik (Verkehrston)

Ordnung und Lebenskunst

Willenstraining

Lache Dich gesund

Schöpferische Pause

Briefe, die man aufhebt

Abends Gäste

Man benimmt sich wieder

Darf man einlenken?

Freunde in der Not (Gemeinschaft)

Negativ und doch positiv

Befreiung von Illusionen

Zivilcourage

Ehe und Familie (oder: Er, Sie, Es . . .)

Die Alten und die Jungen

Nestwärme

Junge Ehe

Werden Ehen im Himmel geschlossen?

Alternde Ehe

Vater und Sohn

Mutter und Tochter

Du bist anders geworden . . .

Einander Freiheit lassen

Lebenskunst

Nachwort des Herausgebers

Die „Psychologie des Alltags“

Briefwechsel

Texte der ersten Fassung

(1947/48)

Vorwort

Über dem Leben eines jeden Einzelnen lagert der weltgeschichtliche Wetterring wie eine beklemmende, erregende, aufs höchste gespannte Atmosphäre. Sie beansprucht uns alle in einem zermürbenden und zersprengenden Maße. Als Zeitgenossen – als Mitspieler wie als Statisten und Zuschauer – sind wir übermüdet und überwach in einem, besorgt und reizbar im Bewußtsein unserer Existenzgefährdung, die wirklich eine totale ist: bedroht sie doch unsere Spannkraft, unsere gesamten inneren und äußeren Ordnungsbegriffe, unsern Lebensglauben, unsere Liebesfähigkeit, unsern guten Willen schlechthin. Sie erfüllt die literarische, politische und theologische Diskussion und erscheint allerorten auf den Bühnen, in Büchern und Zeitschriften. Aber das Ausmaß, mit dem sich diese geistige Welt in spekulativen Extremen bewegt, ist nicht minder fragwürdig. Unser reales Dasein zieht für seinen Zustand daraus keine Nahrung, sodaß es praktisch dringlich geworden ist, ihm für die handgreifliche Not seiner Natur Mittel der Hilfe und Heilung bereitzustellen. Unser Bändchen bemüht sich um dieses einfache Ziel. Es sucht Einsicht in das Wesen der Schwierigkeiten zu vermitteln, die unser heutiges Zusammenleben belasten, um dadurch die seelisch-nervliche Beanspruchung zu entspannen, die uns so viel zu schaffen macht.

Es gehört als Kennzeichen zum heutigen Existenzproblem dazu, daß eine bewußte Psychologie des Alltags – also eine Anleitung, uns im nahen Zusammenleben pfleglich zu behandeln – überhaupt nötig geworden ist. Früher gab es ja Spannungen und Störungen, Verstimmungen und Ausbrüche auch; aber früher hatte man noch eher den Raum, sich von einander abzugrenzen, wenn man „sich auf die Nerven ging“. Heute kann man sich nicht ausweichen, sondern jeder hat pausenlos standzuhalten. Wir sind als Volk zu einer Masse zusammengepreßt worden, die uns tiefgreifend auch innerlich zu proletarisieren droht. Es erfordert einen erheblichen Aufwand von innerer Zucht und nervlicher Kraft, in Form zu bleiben, das heißt: in dem klaren und sauberen Gesamtmaß menschlicher Haltung, das man sich charakterlich schuldig ist.

Der jahrelange Zermürbungs- und Erschöpfungsprozeß verzehrt die Substanz. Man hat sich nicht mehr so in der Hand, man wird gleichgültiger gegen innere Verluste und Minderung des Niveaus. Man hat keine Gelegenheit, zu sich selbst zu kommen. Es kommt zu keiner schöpferischen Pause mehr. Und so entwickelt sich die Seelenreizung als Dauerzustand. Sie gefährdet mit der Zeit das ganze Zusammenleben: Ehe, Familie, Freundschaft und Nachbarschaft. Wir meinen also nicht die problematischen Naturen und Verhältnisse, sondern die gesunden Gemeinschaften, wie sie heute zusehends labil zu werden drohen. Für sie ist dieses Bändchen geschrieben.

Es ist auf eine besondere Weise zustandegekommen. Inhalt und Darstellung sind aus der Gemeinschaftsarbeit eines Kameradenkreises erwachsen, der der alten freien Jugendbewegung entstammt. Viele von ihnen sind aus der alten Heimat vertrieben, armselig behaust und stehen im aufreibenden Kampf um eine neue Existenz. Umso klarer stand die Notwendigkeit fest, menschlich aufgeschlossen und charakterlich in Form zu bleiben. Sie trafen sich auf der Jugendburg Ludwigstein, die sie in jungen Jahren als Mahn- und Ehrenmal für ihre gefallenen Kameraden hatten bauen helfen, um nun in der unzerstörten Gemeinschaft Heimat und Halt zu finden. Den Einberufern war ihre Verantwortung klar. Die gemeinsame Erfahrung mußte in Kraft für den Alltag verwandelt werden. Die Probleme des nahen Zusammenlebens boten sich als die dringlichsten an. Aus Vortrag und Rundgespräch, aus Notbekenntnis und Freundeshilfe erwuchs eine Fülle des Stoffs. Das Gesamtergebnis dieser Erkenntnisse und Erfahrungen legt der Herausgeber hiermit vor, namens einer der namenlosen Gemeinschaften, wie sie heute allerorts als neue Lebenszellen erwachsen. Es scheint ihm nicht von ungefähr zu sein, daß dieser Beitrag zur Wahrung echter Menschlichkeit entscheidend aus dem Kreise von Männern und Frauen kommt, die äußerlich alles hinter sich haben lassen müssen. Hier ist etwas von einer neuen Kraft der Armut, einer Entschiedenheit des Herzens zu spüren, die dem Besitzenden seit je schwerer gefallen ist. Möge dieser Beitrag, der so persönlich erwachsen ist, auch dem Leser von persönlichem Nutzen sein!

Stuttgart, Oktober 1948

Der Herausgeber

Das Gefüge des nahen Zusammenlebens

Nach einem Kriege, dessen Schrecknisse die gesamte Bevölkerung angeschlagen haben, nach einem Zusammenbruch, der überkommene Auffassungen aller Art in seinen Strudel gerissen hat, und angesichts einer körperlichen und nervlichen Angegriffenheit weiter Bevölkerungsschichten infolge von Hunger, Verelendung und Entmoralisierung muß die Frage aufgeworfen werden, wo der einzelne Mensch noch seinen seelischen und physischen Halt finden kann und aus welchen Kräften ihm die Fähigkeit zum Überdauern der Zeitläufte mit ihren schweren Belastungen noch zuströmen kann.

So wie die Städte mit ihren Domen und Palästen in Schutt und Asche gesunken sind, haben auch weitgehend die Weltanschauungen und Religionen bei unserer Bevölkerung an Anziehungs- und Prägekraft verloren. Ideale sanken hin, bedingt durch die reale Primitivität des Lebens, die dem Materialismus Vorschub leistete und Eigensucht, Selbsterhaltung und Gemeinheit stärker in das Blickfeld eines jeden rückte als je zuvor. Selbst unsere Sprache ist durch die Ära des allgemeinen Mißtrauens und der Skepsis in Mitleidenschaft gezogen worden, so daß alles, was uns an Höhenflug oder an Superlative schlechthin erinnert, uns vergrämt hat und wir Gefahr laufen, uns durch den Stil des Gesprochenen oder Geschriebenen verleiten zu lassen, auch gegen die Inhalte Vorbehalte zu erheben.

Weithin ist der Glaube an Führertum, ja an führende Schichten überhaupt, so in Verdacht geraten, daß idealistische Zielweisungen und Glaubensbotschaften als Phantome erscheinen, die nicht mit der Zeit vereinbar sein sollen.

Man spricht oft davon, daß der Nihilismus das Kennzeichen und die große Gefahr der Gegenwart sei.

Es scheint, daß das öffentliche Leben flach und bar aller ethischen Ordnung geworden ist. Man vermißt weitgehend die alten Ordnungswerte der Treue und Zuverlässigkeit, der Liebe und Rücksichtnahme, des Gemeinempfindens, der gegenseitigen Hilfe, der Arbeitsgesinnung; von echter Freiheit und Brüderlichkeit ganz zu schweigen.

Für die bestehenden Parteien ist das Vertrauen ein prozentual nur geringes. Für die Kirchgänger in den großen zerstörten Städten reichen die wenigen noch bestehenden Gotteshäuser aus. Was Zeitung und Rundfunk berichten, wird mit Zurückhaltung und Skepsis aufgenommen.

Ein jeder scheint nur seinem Nutzen nachzujagen. Gegen den Nächsten und sein Schicksal ist stärkste Verhärtung, selbst angesichts des Todes, allenthalben feststellbar.

Der Zeitgeist rüttelt an allem, was an Menschenwürde und Wert auf uns gekommen ist. Der Mensch sieht sich verlassen und armselig auf den Wogen des Zeitgeschehens dahintreiben. Wo soll er Anker werfen?

Seit alters haben Menschen, die in den Stürmen des Lebens standen, davon Kunde gegeben, daß Eines sie bewahrt habe, sich selbst aufzugeben und am Sinne des Lebens und seiner Aufgaben zu verzweifeln: die Kraft, die aus dem Geheimnis strömt, „ein getreues Herz zu wissen“.

„Das Herz ist wach!“ flüsterten wir einander in den schwersten Stunden unserer Niedergeworfenheit zu, und wir wußten, daß im Bereich derer, die wir unserem Herzen verbunden wußten, der Zerfall der Zeit niemals Eingang finden dürfe.

In Zeiten, da der äußere Ring unseres Lebens zerschlagen ist, tut es not, das Gesetz des inneren Ringes zu härten.

Im inneren Ringe stehen wir selbst mit der Gefährtin unseres Lebens, unseren Kindern und unseren Eltern, den Brüdern und den Freunden. Sie sind uns verbunden durch das Vertrauen, das wir einander schenken, durch die Liebe, die uns eint und durch die gemeinsame Aufgabe der Meisterung unseres Zusammenlebens.

In Zeiten friedlicher Ordnung ist das Zusammenleben in Ehe, Familie und Freundschaft kein besonderes Problem. Mit aller Selbstverständlichkeit gestaltet man je nach seinen Möglichkeiten das äußere Leben und schafft damit die natürlichen Voraussetzungen für das innere. Wo Mißklänge entstehen, besteht leicht die Möglichkeit, sie auszugleichen, weil Ruhe und Behaglichkeit im Hause dazu angetan sind, auch die innere Harmonie zu fördern. Schwierigkeiten im Zusammenleben zwischen Kindern und Eltern, Mann und Frau, Bruder und Schwester gehören zwar zu den nun einmal nicht auszumerzenden Gefahren des Alltags, aber sie übersteigen in Friedenszeiten nicht ein gewisses normales Maß.

Anders heute. Die letzten drei Jahrzehnte haben am Nervenbestand unserer Familien gezehrt. Die Reizbarkeit ist allenthalben eine größere. Empfindlichkeiten sind heute an der Tagesordnung, wo einst Gelassenheit herrschte. Die Kräfte der Selbstzucht sind geschwächt. Der ewige Kampf um die Erhaltung des nackten Lebens hat Seelenkräfte verschüttet, die sich einst frei entfalten und den Alltag steuern konnten. Die Enttäuschungen des öffentlichen Lebens, die äußeren und inneren Verluste wirken sich jetzt auch in den engsten Bereichen unseres Privatlebens zersetzend und lähmend aus.

Die Kraft zur Überwindung des grauen Alltags ist nicht mehr die alte. Ablenkungen, Zerstreuungen und Erholungsaufenthalte sind vielfach außer aller Reichweite. Der Mensch ist eingespannt in das ewige Auf und Ab der Alltagspflichten. Er droht immer mehr ein Spielball der dadurch bedingten Launen und Stimmungen zu werden.

Was früher selbstverständlich war im Zusammenleben mit Menschen, denen man sich in Liebe und Freundschaft verbunden weiß, bedarf heute der bewußten Lenkung und Ordnung. Die Gefahren, die dieses engste und erhabenste Verhältnis unter Menschen bedrohen, sind größer als jemals. Sie müssen erkannt werden, um sie fern zu halten.

Nicht der Hungernde oder der Besitzlose, der aus der Heimat Vertriebene und der Arbeitslose sind im Grunde die Armen dieses Lebens, sondern die, die von ihren Liebsten nicht mehr verstanden werden, die der Ehegefährte und der letzte Freund verließ.

Es gibt keine menschliche Bindung, die der Gefahr der Auflösung nicht ausgesetzt wäre. Die Anlässe zu jenen schweren Entscheidungen, die zu Entfremdung und Trennung führen, sind meist klein und an sich von geringer Bedeutung. Sie schwellen an zu Lawinen, wenn die Beteiligten es nicht verstehen, die Gesetze des nahen Zusammenlebens zu erahnen und sich nach ihnen einzurichten. In Zeiten seelischer Belastung großen Ausmaßes pflegt sich nicht alles immer wieder von selbst einzurenken. Es bedarf größerer Selbstüberwindung, gegenseitiger Hilfe, längerer Geduld und für alles zusammen besserer Kenntnis der Vorgänge und Zusammenhänge.

Es gilt daher heute mehr denn je, die Ursachen der Unordnung und des Leides im nahen Beieinander zu erkennen, um sich eintretenden Mißständen gegenüber richtig verhalten zu können. Denn in der Flachheit des Alltags droht immer die Gefahr, zu schnell und zu heftig zu reagieren, ohne bedachtsam die wirklichen Zusammenhänge zu überschauen.

Mancherlei Verwirrungen und Verkrampfungen können, wenn sie richtig durchschaut und bewußt heilend behandelt werden, in ihren Auswirkungen unschädlich gemacht und weltgehend beseitigt werden. Vieles, was die Harmonie des nahen Zusammenlebens bedrohen und zerstören könnte, kann verhütet werden. Der Weg dazu ist einmal die grundsätzlich psychologisch ausgerichtete Erziehung der Kinder. Hierbei gilt es, sich immer erneut darüber klar zu werden, was an Überkommenem gut und brauchbar ist und was andererseits als leere und gedankenlose Tradition auszumerzen ist. Zum anderen muß der Erwachsene sich fortlaufend Gedanken darüber machen, welche Möglichkeiten im Hinblick auf die seelische und geistige Bauart seiner selbst und seiner Partner bestehen, um den Weg zu rechter Ordnung und Lebenskunst freizulegen. Daneben gibt es eine große Zahl von recht einfachen Erfahrungen, deren Anwendung geeignet ist, die Erscheinungen der Nervosität, der Hemmung, des Kurzschlusses und vieler anderer abzumildern und damit sich selbst und seinen lieben Nächsten das Leben im Alltag zu erleichtern.

Unser seelisches Leben steht immer unter Spannungen zwischen Hell und Dunkel, Freude und Schmerz, Erwartung und Enttäuschung, Wachheit und Ermüdung. Durch dieses gerade in der privaten Sphäre besonders eigenartige Spannungsverhältnis empfängt es seine Reize, seinen bewegten Rhythmus. Ja, es wird hierdurch immer neu angeregt und davor bewahrt, reizlos und uninteressant zu werden. Wir haben uns zu diesem Spannungsfeld an sich positiv einzustellen. Wir müssen uns zu ihm bekennen. Entscheidend ist jedoch, daß wir die Steuerung in der Hand behalten und dafür sorgen können, daß Maß und Ausgewogenheit herrschen und die dunklen Kräfte nicht Gewalt über unsere Gemeinsamkeit erhalten. Der Weg zu diesem inneren Maß ist der Weg der Reife schlechthin. Er zieht sich durch das ganze Leben des Menschen hin, und wer kann sagen, daß er je ans Ziel gekommen sei?

Durch viele Generationen hindurch galt das Ideal der Selbstbeherrschung und Selbstzucht. Wie wertlos aber sind beide, wenn sie in der Verbindung von Ehe und Familie auf das eigene Ich bezogen bleiben und nicht zu einer „Wir“-Beherrschung und „Wir“-Zucht werden! Es ist wohl gut, wenn ein jeder bei sich selbst anfängt mit der Bändigung seines Willens und der starken Ausrichtung auf echte Ziele. Er darf aber dabei nicht stehen bleiben, sobald ihm der Gefährte und Freund, der heranwachsende Sohn und die Tochter zugesellt sind. Wir kennen sie nur zu gut, die willensstarken und geprägten Väter, die echte Charaktere sind und die Unbedingtheit einer Lebenshaltung verkörpern. Aber sind sie auch gleichzeitig die rechten Führer im seelischen Zusammenspiel mit ihren Frauen und Kindern? Sind sie nur darauf bedacht, ihren geraden Weg einzuhalten, oder vermögen sie das harmonische Zusammenklingen der Herzen im Bereich ihres Familienkreises zu bewirken? Haben sie immer die nötige Kraft zu ausgleichender Güte, das gute Verstehen für Sorgen und Beweggründe ihrer Lieben? Wir kennen auch jene Mütter, die energisch und arbeitsam ihr eigenes Leben gut in der Hand haben. Aber verstehen sie auch, ihrem Lebensgefährten immer ausgleichend und liebend zur Seite zu stehen, ihre Töchter unmerklich und sie über Disharmonien erhebend zu lenken und anzuspornen? Oder neigen auch sie nicht oft zu Unduldsamkeit und Bevormundung ihnen gegenüber, je stärker geprägt sie selber sind?

Ist wirklich der junge Mann schon unser Ideal, der energisch, zielbewußt und mit gutem Können zu imponieren vermag? Oder sollten wir ihn nicht gleichzeitig messen an dem Vermögen, mit seinen Mitmenschen in rechter Weise auszukommen, seinen Eltern und Geschwistern in harmonischem Zusammenspiel zu begegnen?

Selbstzucht ist wohl notwendig, aber sie ist nur ein Anfang, eine Voraussetzung zum Nächsthöheren, zur Bewährung in der Lebensgemeinschaft.

Unter den Lebensstarken gibt es nicht wenige, die sich selbst stark entfaltet haben und im größeren Leben draußen intensiv zu wirken vermögen. Sie finden ihre Befriedigung und Erfüllung in den größeren Gemeinschaften, die Beruf und Neigung ihnen eröffnen: Erziehernaturen verströmen sich in Schulen und Heimen, Jugendführer prägen Gruppen und Bünden ihren Stempel auf, Politiker bringen Volksmassen in Bewegung. Aber sind sie auch imstande, das Gesetz ihres nahen Zusammenlebens zu erfüllen?

Tut es in Katastrophenzeiten nicht besonders not, gesunde Zellen zu bilden und zu erhalten, aus denen weit mehr Menschen Beglückung und Kraft schöpfen können als aus Reden und Büchern?

Sind nicht unsere Ehen und Familien, unsere engsten Freundeskreise und Gemeinschaften solche Zellen, die im großen gesehen allein den Wiederaufbau alles Zerstörten gewährleisten können?

Was nützen im Augenblicke des vollständigen Zusammenbruches alle großen Ideen und Reformen, wenn die Bevölkerung als Ganzes zunehmend nur noch aus Nervösen, Überreizten, im Bezirke ihres engsten Lebenskreises Verhärmten und Zerrissenen besteht? Und wenn unsere Kinderstuben, aus denen die zukünftigen Gestalter des deutschen Schicksals hervorgehen sollen, Stätten ewigen Zankes, unüberlegter Bevormundung und trotziger Opposition sind!

Gehen wir vor allem anderen daran, unsere inneren Ringe wohlgepflegt und blank zu gestalten und uns dadurch selbst beweglich und geschmeidig zu erhalten, daß wir nicht nur dem Ich, sondern dem Wir leben!

Schaffen wir uns das Grundgesetz des nahen Zusammenlebens mit seinen Unbedingtheiten an inneren Werten! Es wird die Zeit kommen, da die gesunden Zellen sich wieder vereinigen können zu einem Größeren, das uns vorerst nur als vager Begriff der „Öffentlichkeit“ erscheint und zur Zeit nicht unter den Gesetzen echten Menschentums zu leben vermag. Bilden wir durch unsere Familien und Freundeskreise einstweilen die Modelle aus, die einst als Ausstrahlungsbereiche echter Menschlichkeit auch wieder die Massen der Bevölkerung erfassen werden.

Unordnung und frühes Leid
Kurzschluß

Wenn zwei Drähte, anstatt in der Glühbirne Licht hervorzurufen, sich vorzeitig an bloßgelegten Stellen berühren, dann ist das Ergebnis Finsternis und entsprechender Ärger bei den Beteiligten. Jeder fürchtet den Kurzschluß, niemand kann ihn verhüten, weil die Kontaktstellen durch Vorgänge entstehen, die dem Auge zunächst verborgen sind.

Die Bezeichnung „Kurzschluß“ läßt sich mühelos auch auf die entsprechenden seelischen Vorgänge übertragen, in denen zwei Stromkreise einen plötzlichen Kontakt miteinander bekommen, ein Flämmchen aufzüngelt und dann völlige Verfinsterung folgt.

Wer kennt sie nicht, alle jene im Alltag sich immer wieder bemerkbar machenden Kurzschlüsse, die ungewollt Anlaß werden zu Verstimmungen, Krisen, ja Entfremdungen!

Hermann ist ein tüchtiger Kaufmann, Elisabeth energische Hüterin des häuslichen Reichs. Hermann liest am Rande des abendlichen Familienkreises die Zeitung. Wie er nebenbei auffängt, hat Elisabeth einen Disput mit der Ältesten wegen einer Haushaltsfrage und rügt sie1. Er fühlt sich bewogen, seine Frau tatkräftig zu unterstützen und wirft der Tochter ein paar scharfe Worte hinüber. Aber Elisabeth bemerkt, ungewollt etwas schroff: „Ach, mische du dich nicht auch noch ein!“ – in seiner Seele ist der Kurzschluß passiert. Die väterliche Autorität abzukanzeln! Ostentativ schweigt er grimmig für den Rest des Abends. „Kann man sich wegen so etwas derart aus der Fassung bringen lassen!“ denkt Elisabeth. Auch bei ihr ist jetzt der Kurzschluß da. Und keiner von beiden weiß, was für ein Gesicht er aufsetzen soll. Also schweigen sich beide aus.

Herbert und Inge2 wollen ins Theater gehen. Die Karten sind besorgt. Herbert ist frisch rasiert und in abendlichem Dreß. Aber Inge wird mit dem Abendessen nicht rechtzeitig fertig. Schon fühlt sie sich vom Uhrzeiger gehetzt. Natürlich mißrät bei dem unglücklichen Tempo alles. Die Kinder sind nicht rechtzeitig im Bett, am Kleid ist ein Knopf los. Die Frisur will nicht so, wie sie soll. Herbert steht bereits unten vor der Haustür, den Blick grimmig auf den Sekundenzeiger gerichtet. Endlich ist es soweit. Jagd zur Straßenbahn, die dann natürlich gerade weggefahren ist. Kein Wort wird auf dem Wege gesprochen. Die Garderobefrauen im Theater lächeln verständnisinnig. Der Vorhang ist bereits offen. Eine ganze Sitzreihe muß sich erheben. Der Kurzschluß ist schon in düsteres Brüten und finsteren Groll übergegangen. Die Stimmung ist restlos hin. Herbert stellt auf dem Helmweg nur noch mit männlicher Verachtung fest: „Wie immer!“ Möglicherweise geht Herbert in Zukunft nur noch mit Freunden ins Theater oder mit einer kleinen Freundin, die sich lange vor der Zeit bereit hält.

Schon im Sandkasten auf dem Kinderspielplatz kann Kurzschluß passieren. Klein-Helga war stundenlang glücklich beim kindlichen Tun im Rudel der Kleinen. Sie hat in ihrem bunten Blecheimer Wasser herangeholt und dafür gesorgt, daß der kleine Teich neben der Sandburg nicht versiegt. Klein-Waltraut will das auch mal versuchen. Es wird ihr verwehrt. Plötzlich sieht Helga ihren Eimer in Waltrauts Händen. Empörung! Sie schreit weinend in die Kinderschar hinein: „Jetzt spiele ich überhaupt nicht mehr mit euch!“, reißt ihren Eimer an sich und rennt fort.

Kurzschluß, rettungsloser Kurzschluß!

Die Mutter soll trösten, ihr Recht geben. Sie schilt, verlangt Beherrschung, Verträglichkeit, will erzwingen, daß Helga wieder zum Sandkasten geht und weiterspielt.

Die Mutter ist Frau Inge, die am Abend zuvor mit Herbert im Theater war. Sie hat am Morgen ihrem Herbert wortlos das Frühstück hingestellt, denn – , hätte nicht er einlenken können? . . .

Auch unter Dreizehnjährigen ist so etwas nicht selten. Marianne hat Geburtstag und bringt gebackene Plätzchen mit in die Schule. Sie wird umringt, teilt aus, ist Mittelpunkt. Im

Hintergrunde steht ihre Freundin Bärbel, die das alles mit sonderbaren Augen verfolgt. Als sie an den Kreis herantritt, ist kein Plätzchen mehr da. Marianne merkt noch immer nichts. Auf einmal knallt ein böses Wort vor sie hin: „Es ist wohl besser, wenn ich heute Nachmittag gar nicht erst zu euch zum Kaffee komme!“ Bärbel hat es gesagt. Sie will es nicht verwinden, daß sie als die nächste und innigste Freundin in diesem Augenblick hinter den Kreis der Huldigenden zurücktreten mußte.

Kurzschluß!

Wie aber wieder ins Reine kommen miteinander?

Junge Mädchen neigen dazu, das brieflich zu tun. Entweder kommt es auf schriftlichem Wege zum offenen Bruch, zur Feindschaft; oder die Hand wird zur Versöhnung geboten und angenommen.

Bei Dreizehnjährigen sind solche Umwege verzeihlich.

Bei Erwachsenen sollten bessere Möglichkeiten genutzt werden. Vielleicht ist es den „Alten“ schon eine Hilfe, wenn sie sich darüber klar werden, daß echte Kurzschlüsse stets ein unbeabsichtigtes „Aushaken“ im Affekt sind. Sie sind Reaktionen, die fast automatisch erfolgen und im Augenblick des Geschehens nicht verhindert werden können. Sie sind schlecht oder gar nicht zu steuern oder zu unterdrücken, wenn eine empfindliche Stelle im seelischen Gefüge des Patienten getroffen wurde.

Es gibt viele Nerven-Reaktionen, bei denen kein Mensch etwas besonderes findet.

Wenn einem jemand mit der Hand oder einem Stocke unerwartet und schnell in Nasennähe gerät, dann zuckt man, macht abwehrende oder schützende Bewegungen.

Wenn unerwarteter Schmerz uns berührt, können wir unter Umständen Tränen nicht zurückhalten.

Wenn starker körperlicher Schmerz, verbunden mit Erschrecken, einen Menschen übermannt, kann es sein, daß er laut schreit.

Alles das verstehen wir ohne jede Erläuterung im Augenblicke des Geschehens.

Aber wenn bei unserem Mitmenschen ein seelischer Kurzschluß erfolgt, dann werden wir kritisch oder böse oder gar feindlich. Wir haben in unserer Sprache die blütenreichsten Ausdrücke dafür: „Er ist eingeschnappt“, er „schmollt“, „er markiert den dicken Wilhelm“, „er muß sich austoben“ und viele andere.

Daß es eigentlich richtig wäre, Hilfestellung zu leisten, damit der falsche Stromkreis unterbunden und der richtige wiederhergestellt wird, darauf kommen die wenigsten.

Wir lassen uns vom Kurzschluß des Mitmenschen beleidigen, so wie ein Kind sich von seinem Blechauto beleidigen läßt, weil dessen Feder gesprungen ist. Es wirft sein Spielzeug wütend auf die Erde, so daß es zerschellt. Es ist ihm böse.

Es gibt Menschen, die aus solchen Kinderallüren nicht herauswachsen. Sie kommen gar nicht darauf zu fragen, ob in ihrem Mitmenschen nicht vielleicht auch eine Feder gesprungen sein kann. Sie sind ihm böse, weil in ihm etwas gesprungen ist.

Innerlich reife Menschen, die vom Leben selbst etwas gelernt haben, wissen, daß gegenüber dem Kurzschluß beim lieben Nächsten zuerst einmal eines am Platze ist: Güte.

Güte bedeutet zunächst einmal Überlegenheit über das Zufällige, sodann Bereitschaft zur Hilfe und zum dritten und besonderen: die Fähigkeit zum Einlenken.

Wer einen Kurzschluß erlitten hat, gleicht einem Unfallverletzten. Er ist gleichsam überfahren worden. Einen solchen schleppt man erst einmal vom Fahrdamm, dann sorgt man für das Verbinden, oder man stellt ihn wenigstens, wenn es noch möglich ist, wieder auf seine Beine. Beim Kurzschlußverletzten sollte man das Entsprechende versuchen. Wenn der eine aufgeregt ist, einen roten Kopf hat oder ihm das Herz bis zum Hals schlägt, dann ist es für den anderen, der normalen Puls hat, gewiß keine Schande, daß er den Patienten freundlich an der Hand nimmt und ihn so oder so wieder zur Besinnung und Ruhe bringt. In den vier berichteten Fällen wäre es ein Leichtes gewesen, wenn die entsprechenden Partner das getan hätten. Sie taten es alle miteinander nicht, weil sie nicht über der Sache standen, sondern mitten darin; weil sie nicht überlegen blieben, sondern mit in den falschen Stromkreis gerieten.

Ist es wirklich so schwer, einem Menschen, der einem nahe steht, zur rechten Zeit zu sagen: „Nimm es mir nicht übel!“ oder ihm seine aufgeregte Anklage damit zu beantworten, daß man ihm ein kleines Zeichen seiner Liebe gibt?

Es ist schwer, weit wir alle nur Menschen sind.

Aber es sollte überlegt werden.

Der Kurzschluß muß bei Kindern planmäßig bekämpft werden, weil er sonst leicht zur Gewohnheit wird. Häufig entsteht er, weil die Kinder in einem zu großen und lebhaften Kreis aufgeregt und nervös werden, manchmal auch aus einem zu hitzigen Temperament. Dagegen gibt es Mittel genug: ruhigeres Milieu, stärkere Vereinzelung, gleichmäßig ruhige Lenkung und planvolle, an Ordnung gebundene Lebensweise. Vor allem aber gütige und zielsichere Behandlung.

Unter Erwachsenen muß auf jeden Fall der, der den Kurzschluß ausgelöst hat, versuchen, den Schaden auf vernünftige Weise wieder gutzumachen. Man lasse solche Fälle im übrigen nie zu lange anstehen, sondern tue sein Bestes, um durch Haltung, Handlung oder im Gespräch zur rechten Zeit für Entspannung zu sorgen. Es ist weder nervlich, noch seelisch zu verantworten, Spannungen in die Länge zu ziehen.

Aber auch der, dem der Kurzschluß passiert, muß sich bemühen, die Angelegenheit nicht wichtiger zu nehmen, als sie wirklich ist. Er muß sehen, daß er bald wieder auf seine Beine zu stehen kommt.

Es gibt natürlich auch Ereignisse, die sich so in die Seele hineinfressen, daß es seine Zeit braucht, wieder zu normalem Verstande zu kommen. Dann ist es gut, wenn man darauf bedacht ist, das unheimliche innere Brodeln etwas zu temperieren, indem man sich selbst ablenkt oder abreagiert, bis nach einigen Tagen oder Nächten der Normalzustand wieder da ist. Man hüte sich aber, in Zeiten solcher seelischer Angeschlagenheit aufgeregte Briefe zu schreiben, die dann nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind.

In der Ehe können Kurzschlußkrisen auch serienweise entstehen, ohne daß mit den genannten Mitteln wieder ins Reine zu kommen ist. Dann bleibt wohl nur übrig, sie bis in die tiefste Tiefe durchzukämpfen. Vielleicht, daß dann doch wieder ein Auftauchen zum Sonnenlicht erfolgen kann. Wenn es beiden Partnern nicht gegeben ist, auf dem Wege der Güte zum Ziel zu kommen, dann ist kein anderer Weg offen als der des harten Ringens um Klärung. Auch er ist gangbar und hat schon manche Krise endgültig behoben.

Sonst aber kann versucht werden, es mit der Lebensweisheit eines erprobten Eheveteranen zu halten: „Nimm keine Dissonanz mit deinen nächsten Angehörigen in den folgenden Tag hinüber! Bereinige das Geschehen des Tages, bevor du einschläfst!“

Hemmungen

Unser seelisches Leben vollzieht sich nur zu einem kleineren Teil im Bereiche des Bewußten. Der Bezirk des Unbewußten, des gleichsam Unterirdischen in uns, ist von weit größerem Einfluß auf unser Empfinden, Denken und Handeln, als wir ahnen. Wir geben uns allzuleicht dem Wahn hin, daß unser Verstand, unser Wille und unsere Urteilskraft unser Verhalten lenkten. Nur ab und zu steigt in uns die Ahnung auf, daß unsere untergründige Welt uns in Wahrheit leitet oder verleitet, wenn die Welt unseres Verstandes wieder einmal vor dem Unwägbaren kapitulieren mußte.

Unsere Sinne werden oft unmittelbar von Reizen angesprochen und reagieren, ohne daß die Kontrolle des Verstandes, der Überlegung sich einzuschalten vermag. Es kann geschehen, daß durch bestimmte Geruchs- oder Gesichtsempfindungen uns die Tränen in die Augen getrieben werden. Gewisse Düfte oder Farben können das Gefühl körperlicher Übelkeit verursachen, ja zum unmittelbaren Brechreiz führen. Witterungserscheinungen können uns anregen oder lähmen. Gewisse Zwischentöne im Gespräch sind geeignet, uns zu weichem Mitgefühl oder zu Haß und Groll hinzureißen, obwohl nur ihr Klang, nicht aber der Wortgehalt uns anrühren.

Der Bezirk des Unbewußten wird durch solche Reize angesprochen, und er reagiert unmittelbar bis in unser Handeln und Verhalten hinein. Erst nachträglich pflegt sich die Verstandeskontrolle zu melden und eine Korrektur zu versuchen, wo es noch möglich erscheint.

Es ist gut, sich einmal grundsätzlich über solche Vorgänge Gedanken zu machen; denn das Leben bringt uns auf diesem Gebiete immer erneut Überraschungen, denen gewachsen zu sein, es sich sehr wohl lohnt.

Unser Zusammenleben würde paradiesisch verlaufen, wenn alles sozusagen nach Vorschrift und Rezept ginge. In Wirklichkeit aber ist niemand frei von der Gefahr der „Fehlzündungen“, die zu Unordnung im Gemeinschaftsleben führen. Die Fehlzündung liegt immer dann vor, wenn jemand im Augenblicke anders handelt, als vernünftigerweise von ihm gerade erwartet wird oder er es selbst für richtig hielte. Ein seelisches „Nichtkönnen“ schaltet sich zwischen Absicht und Ausführung und erzeugt ein merkwürdiges Fluidum, in dem man zwischen positivem und negativem Pol hin- und herschwankt, um schließlich gerade das zu tun oder zu lassen, was der Vernunft ins Gesicht schlägt.

In solchen Situationen sprechen wir von Hemmungen.

Hemmungen kommen aus dem Unbewußten.

Sie bedeuten Störungen der Aktivität, Trübungen der Entschlußkraft, Anhäufungen von Unlustgefühlen.

Hemmungen des einen rufen leicht Reizbarkeiten des anderen hervor. Sie werden nicht gern verziehen und bilden daher Anlässe zu Dissonanzen aller Art. Sie werden leicht zu Quellen der Ungerechtigkeit und unkontrollierten Erregtheit.

Wer dieses Motiv in seiner ganzen Reichhaltigkeit studieren will, der beobachte einmal Mütter und Kleinkinder beim Essen oder in der Eisenbahn. Da sitzen sie am Tisch, unsere Zwei- und Dreijährigen, fuchteln schon voller Erwartung mit dem Löffel in der Luft herum und zappeln mit den Beinen vor Freude. Plötzlich steht der dampfende Teller vor ihnen: der aufsteigende Dampf läßt vermuten, daß die Sache heiß ist und man sich verbrennen kann – also ist die erste Lust bereits etwas gedämpft und nur noch mittelmäßig vorhanden. Dann aber schaut man sich den Brei erst einmal richtig an: gelbrote Farbe, das kann nichts Süßes sein, nichts Zartes, Leckeres. Sehr heiß und sehr rot – eine Klappe im Inneren schlägt zu. Der Löffel patscht mit Wucht mitten in den Mohrrübenbrei und aufbäumend ertönt die schrille Absage: „Das kann ich nicht essen!“

Der Vorgang an sich ist sonnenklar. Die fröhliche Erwartung wurde enttäuscht durch ein Alarmsignal aus dem Unbewußten, das wiederum durch unmittelbare Sinneseindrücke ausgelöst wurde. Die Hemmung schaltete sich zwischen die zunächst vorhandene fröhliche Bereitschaft und die Ausführung des Vorhabens. Sie war in ihrer Art so schwerwiegend, daß der kleine Mensch vor ihr kapitulieren mußte. Eine schroffe Affekthandlung war die Folge. Durch diese aber wird der Machtkomplex der Mutter auf den Plan gerufen. „Ist denn so etwas möglich! Man besorgt unter unsäglichen Schwierigkeiten das seltene Gemüse, bemüht sich, es nett zuzubereiten, hat Fett dafür geopfert, und nun erdreistet sich der kleine Fratz, es solchermaßen abzulehnen!“ Was nun kommt, ist Temperamentssache der betreffenden Mutter, die meist nur den einen Gedanken hat, sich und ihre Macht gegenüber dem kleinen Übeltäter durchzusetzen: mindestens Scheltworte, meist aber Schläge oder Schroffheiten, selten Verstehen und zweckentsprechendes Lenken.

Wo Hemmungen vorliegen, ist es die Aufgabe der Erziehenden, diese so schnell wie möglich zu erkennen und zu beseitigen. Das tut man nicht durch Keulenschläge, sondern durch ruhige Überzeugung. Wenn es in dem vorliegenden Falle gelingt, dem Kind den ersten Bissen beizubringen, an dem es erkennt, daß er nicht zu heiß ist und daß der Geschmack auch annehmbar ist, dann ist schon vieles gewonnen. Auf jeden Fall muß der Bann gebrochen werden, der dem Kinde tatsächlich den Magen verschlossen haben kann. Erwachsene sollten sich in derartigen Situationen ruhig daran erinnern, daß es auch für sie derartige Fälle gibt, in denen sie vor Erregung, Ekel, Ärger oder ähnlichem „nicht einen Bissen herunterbekommen“. Auch sie müßten sich dann erst abreagieren, ablenken, beruhigen oder sonstwie umstellen. Das ist dann auch gegenüber dem Kleinkinde das Natürliche. Sehr viel leichter ist es, wenn mehrere Kinder mit am Tische sind und durch ihr herzhaftes Zugreifen dem einen kleinen Außenseiter den natürlichen Anreiz geben, es nun auch zu probieren. Wichtig bleibt auf diesem wie auf manchem ähnlichen Gebiet, daß grundsätzlich nicht in falscher Weichheit nachgegeben werden darf. Das Kind muß alles essen lernen, um im späteren Leben nicht Nachteile zu haben. Es wäre also falsch, ihm seinen einmal dargebotenen Teller fortzunehmen und ihm etwas vorzusetzen, was ihm besser schmeckt. Das wäre unentschuldbare Verwöhnung und Verweichlichung, zudem eine untragbare Mehrbelastung der Mutter. Bei gesunden Kindern ist es sehr wohl möglich, ihnen ein zurückgewiesenes Essen zur nächsten Mahlzeit wieder hinzustellen. Bis dahin wird sich im allgemeinen der nötige Hunger eingestellt haben, und was erst nicht schmecken wollte, mundet jetzt gut. Der Eindruck bleibt, und beim nächsten Male sind beim selben Gericht die Schwierigkeiten schon geringer.

Ähnliche Fälle sind auch bei Schulkindern zwischen sechs und acht Jahren keine Seltenheit. Bei ihnen stellen sich leicht die Hemmungen beim Frühstück ein. Eine unbestimmte Angst vor der Schule bedrückt sie. Der Uhrzeiger rückt beängstigend schnell vor. Es könnte dies und das auf dem Schulwege nicht klappen. Die innere Unruhe legt sich wie ein einengender Ring um die Kehle. Die Morgensuppe will auf keine Weise hinunter. In solchen Fällen ist es sehr wichtig, mit Energie und Nachdruck die Hemmungskomplexe auszumerzen. Nachgeben wäre Verbrechen, denn das Kind muß essen, um seine Kraft und Gesundheit zu behalten. Ferner muß die Gesamtheit der bedrückenden Angstgefühle bekämpft werden. Also: zeitiger aufstehen, in Ruhe und Gemeinsamkeit frühstücken, vielleicht gemeinsam ein Stück des Schulweges mitgehen! Vor allem aber darauf bestehen, daß das zugemessene Quantum von Nahrung gegessen wird!

Bei den Heranwachsenden entstehen Hemmungen besonders dann, wenn eine verschlossene, schwerere Natur sich in der Atmosphäre eines beweglichen wortgewandten Temperaments zurechtfinden soll. Sie weiß nicht so rasch zu antworten, sie fühlt das Ungeschick in ihren unbeholfenen Äußerungen, sie wird rot und verstummt, unglücklich und bedrückt über sich selbst. Diese gehemmten Jungen und Mädchen sind befangen in ihrer eigenen schwereren Art, und sie neigen dazu, sich passiv zurückstellen zu lassen – eine Gefahr für die spätere Behauptung im Leben. Diesen Naturen muß man das Gefühl voller Geltung zum mindesten im Kreise der Eltern und Geschwister geben, das Bewußtsein, daß ihre langsame Art keinesfalls ein Charakterfehler ist. Sie werden dadurch nicht beweglicher, aber sie gewinnen wenigstens die selbstsichere Gelassenheit, sich auf ihre schwerere Weise unbefangen und natürlich zu bewegen. Für die Mädchen kann das bei der Wahl ihrer Lebenspartner entscheidend werden.

Daß auch Erwachsene auf seltsame Weise von Hemmungen befallen werden können, wo es sich gar nicht lohnt, ist allgemein bekannt. So gibt es Leute, die beispielsweise eine Art Platzangst vor dem Telephonieren haben, weil sie meinen, es müsse dann alles so schnell gehen, daß man nicht klar überlegen könne, sich vielleicht versprechen würde usw. Eines der sonderbarsten Erlebnisse, das in dieses Gebiet gehört, erzählte ein Handwerker, der im Eisenbahnabteil zufällig einem Gespräch beiwohnte, in dem sich zwei einander Fremde über die Möglichkeit unterhielten, einen Kleinmotor zu beschaffen. Der Handwerker saß zwei Stunden neben den beiden, hörte zu, wie sie einig wurden, ihm brannte sein eigenes Bedürfnis nach einem Kleinmotor, den er dringend brauchte und bisher nicht bekommen konnte, auch in der Seele – aber er fand nicht den Mut, sich in das Gespräch einzuschalten und damit leicht zum Ziele zu gelangen. „So etwas gibt es!“ wird der ähnlich gebaute Leser sagen, während der andere, lebenssichere Typ unserer Mitmenschen mitleidig den Kopf schütteln wird.

Seltsam bleibt dabei, daß die meisten Menschen eine Mischung beider Typen darstellen. Sie sind sicher im Bereich ihres Berufes, ihrer besonderen sozialen Stellung, aber es kann ihnen passieren, daß sie bei Veränderung ihrer Lebenssituation plötzlich sehr unsicher sind und von tausend Hemmungen geplagt werden. Man denke an den Kaufmann oder Beamten, der als einfacher Soldat in die Maschinerie des Kasernenhofes geriet und seltsamerweise selbst nicht mehr genau wußte, wo links und rechts war und was für Griffe am Gewehr zuerst und zuletzt zu erfolgen hatten. Leichte Aufgeregtheit hat auch sie um ihre Sicherheit bringen können und sie mehr oder weniger schweren Hemmungen ausgesetzt.

Ruhig und überlegen bleiben, langsam und tief atmen, nicht unüberlegt sprechen und handeln, sind auch hier einfachste Weisungen, mit denen ein jeder gut fahren kann.

Eine den Durchschnittsmenschen schwer ankommende Hemmung stellt sich fast immer ein, wenn er als Ungeübter vor die Aufgabe gestellt wird, eine mehr oder weniger öffentliche Rede zu halten. Laut klopft das Herz, das Blut strömt heiß, alle zurechtgelegten Gedanken drohen zu verfliegen! Das Lampenfieber ist da und tobt gewaltig in der Nervenapparatur des Ärmsten.

Richtige Atemtechnik, genaue Vorstellung über die Tonhöhe, in der man beginnen will und Konzentration auf die Sache können helfen, daneben natürlich Übung.

Am schwersten wiegen Hemmungen im engsten Zusammenleben. In Ehe und Familie kann es zur Katastrophe führen, wenn die seelischen Verkrampfungen, die durch zu leichte Reizbarkeit ausgelöst werden, chronisch werden. Mitunter kommt es soweit, daß die Partner schon durch die bloße Sprechweise sich jeden normalen Verlauf des Gedankenaustausches verscherzen, weil einerseits alles mit einem gewissen Unterton gesagt wird, andererseits die Reizbarkeit des Angesprochenen jede sachliche Verständigung unmöglich macht. Oft hilft es, wenn die Partner sich in guten Stunden über den seelischen Vorgang bei Hemmungen gemeinsam klar werden. Sie werden dann die Dinge in den Zeiten der Überschattung nicht mehr so schwer nehmen. Man muß darauf bedacht sein, Krankheitserscheinungen als solche zu erkennen und entsprechend zu behandeln und zu heilen. Hemmungen sind seelische Erkrankungszustände, die gelindert oder oft auch geheilt werden können, denen gegenüber aber keineswegs Schroffheit und Gereiztheit am Platze sind.

Nervosität

Der unerhörte und in solchem Ausmaße noch nie dagewesene Nervenverschleiß der deutschen Bevölkerung seit 1914 infolge zweier Kriege und aller ihrer Begleitumstände hat wesentlich tiefer in den überkommenen Rhythmus des nahen Zusammenlebens eingegriffen, als dem Einzelmenschen zumeist klar ist. Wohl hat es zu allen Zeiten nervöse Menschen gegeben, die durch ihre Überempfindlichkeit, ihre Heftigkeit und Unberechenbarkeit den Frieden ihrer Lebensgemeinschaften störten; was aber heute allüberall in Ehen und Familien an Empfindlichkeit und Gereiztheit anzutreffen ist, übersteigt alles natürliche Maß. Das jahrelange Kriegsleben von Millionen von Männern, das Durchstehen zahlloser Bombennächte von Hunderttausenden von Frauen und Kindern, die nervenzerreißenden Begegnungen Jugendlicher und Erwachsener mit allen Formen des Todes, der Verlust von Heimat und Existenz ungezählter Menschen, das ewige Ringen um Nahrung und Bekleidung im Zeichen offenkundiger Hungersnot, dazu seelische Belastungen schwerster Art für alle geistig wach in ihrer Zeit Stehenden – dieses alles hat hundertfältig seinen Tribut an Nervenkraft gefordert. Die Überlebenden von 1945 oder 1948 sind in ihrer nervlichen Reaktionsfähigkeit in keinem Falle mehr vergleichbar den Menschen von 1913 oder 1890. Unsere Auffassungen von einer Ehe und vom Familienleben sind aber im großen und ganzen noch immer die bürgerlichen von 1900. Noch immer besteht die moralische Forderung, daß der Mann seiner Ehefrau Sorgen und Aufregungen fernhalten soll, daß er ihr im Letzten immer die Verantwortung abzunehmen hat, sie schützen und pfleglich behandeln soll. Noch immer leben Männer in der stummen Erwartung, daß ihre Frauen sie bewundern sollen, ihnen die Stirn glätten und das eigene Heim zum Paradies machen müßten. Es liegt nahe, daß Ideal und Wirklichkeit in grellen Widerspruch miteinander treten müssen, weil sich alles, aber auch alles geändert hat. Das bürgerliche Heim mit seiner behaglichen Ausstattung, seinen Dienstboten, und seinen Möglichkeiten, über alle Quellen des Lebensunterhaltes zu verfügen und sich Zerstreuungen und Amüsements jeder Art zu leisten, gehört der Vergangenheit an, wahrscheinlich in dieser Form endgültig. Geblieben sind allüberall nur die Menschen mit ihren heimlichen Wünschen, ihren großen Erwartungen und gesteigerten Empfindlichkeiten gegeneinander. Mangelhafter Ernährungszustand und erhöhte Last an Sorgen aller Art haben die Menschen in ihrem Nervenbestand so angegriffen, daß nicht selten sogar Ehen, die mehr als zwei Jahrzehnte überaus glücklich liefen, in Krisen geraten mußten. Gewöhnlich macht man sich, wenn man merkt, daß man im steten Abgleiten begriffen ist, keine Gedanken über die wahren Ursachen des Übels, sondern blickt stur nur auf seinen Partner, beißt sich fest in seine Enttäuschungen, in die Vorwürfe, die man offensichtlich dem anderen zu machen hat, man pflegt sich selbst im Flügelkleide gekränkter Liebe und knurrt nach Herzenslust gegen sein Gegenüber, von dem man verlangt, daß gerade er im Vollbesitz seiner Seelenkräfte ist und daß er handeln soll, als schriebe man 1914! Wohl dem, der in solcher Lage noch gelegentlich von sich selbst Abstand nehmen kann und zu einer sachlichen Diagnose seiner selbst und der Zweisamkeit, in der er lebt, fähig ist! Er kann immerhin feststellen, daß nicht der „andere“ schuld ist und verantwortlich gemacht werden muß, sondern daß beide ein Opfer des Zeitgeschehens sind, das es zu meistern gilt. Er kann auch erkennen, welche Erscheinungen andererseits einer ärztlichen Beratung bedürfen und dann wahrscheinlich überraschend leicht ausgetilgt oder wenigstens gelindert werden können. Solches Erkennen kann dazu führen, daß sich kein Zündstoff mehr anhäuft zwischen denen, die sich im Grunde in Liebe verbunden wissen, aber mit ihren Mißgeschicken nicht mehr fertig wurden, weit sie in ihren Auffassungen Fehlurteilen erlegen waren.

Wie oft sind Launenhaftigkeit, Neigung zu Schroffheit und Heftigkeit, andauernde Vergrämtheit, innere Unruhe oder häufig auftretender Mißmut auf rein körperliche Angegriffenheit zurückzuführen! Man lese in einem beliebigen Arztbuch unter „Neurasthenie“ nach, und man ist im Bilde, daß hier der Arzt weitgehend helfen kann. Weshalb soll man einem Menschen, den man sonst gern hat, seine Liebe gleich aufkündigen, nur weil er krank ist! Gilt eine Angegriffenheit der Nerven weniger als ein Fieberanfall oder ein gebrochenes Glied, das uns sofort zu treuer Pflege veranlassen würde? Aber ebenso wie man einen zu Bett liegenden Kranken nicht nur mit Tabletten versorgt, sondern ihm auch Ruhe und liebevolle Versorgung zuteil werden läßt, sollte es auch Brauch werden, den neurasthenisch Gewordenen in echte pflegliche Hut zu nehmen. Er bedarf fast mehr noch der inneren und äußeren Ruhe, ohne gehätschelt zu werden. Er gesundet, wenn sein Tageslauf geregelt und voller geeigneter Beschäftigung ist. Er kommt am ehesten wieder zurecht, wenn er Anregungen hat und ihnen nachkommen kann. Für ihn, den ruhelos nervös Gewordenen, ist die Ausübung einer kleinen Passion nicht Zerstreuung und Zeitvergeudung, sondern Heilmittel, mag er nun seine Abendstunden der Briefmarkensammlung widmen oder tagsüber dem Angelsport huldigen, mag er basteln oder Kaninchen züchten oder weiße Mäuse halten. Für solcherlei sollte man ihm ruhig Zeit lassen, ohne ihn heimlich zu verspotten oder ihn zur Unzeit mit im Grunde nebensächlichen Besorgungen für Haus und Familie zu unterbrechen. Er kann an seinen Liebhabereien gesund werden und dann mehr nützen, als im Augenblick mit seinen schwach gewordenen Kräften.

Nicht selten wundert man sich über seine heranwachsenden Kinder, die miß-mutig aus Schule oder Lehre kommen, daheim nicht mehr helfen wollen und sich für gar nichts mehr interessieren. Vielleicht sind auch sie im Zustande vorübergehenden Nervenverschleißes, nur übermüdet oder überfüttert mit Aufgaben und Verpflichtungen, wie sie das heutige Leben eben mit sich bringt. Geben wir ihnen Raum für die von der Natur selbst geforderte Entspannung, die allerdings besser in einem andersgearteten Tätigsein besteht, als in faulem Herumliegen. Wer einen gesunden und ausreichenden Nachtschlaf hat, braucht zu seiner Erholung keine Matratze, sondern ein Beschäftigtsein mit Dingen, die ihn erfreuen und fesseln. Solche Erholung sucht auch gesund empfindende Jugend. Sie findet sie im Kreise Gleichaltriger in Wanderung und Sport, in Diskussion und Werkschaffen. Beschneidet man ihr solche Möglichkeiten, dann verkrampft sie sich und gedeiht nicht mehr.

Seelische Krampfzustände sollten überhaupt immer beachtet und einer möglichst einfachen Entspannung zugeführt werden. Es gibt Kinder, die durch irgendwelches Erleben Komplexe bekommen gegen die Schule, gegen Gespräche mit fremden Menschen, gegen häusliche Mitarbeit oder sonst etwas. Es ist falsch und meist auch erfolglos, sie mit Gewalt zur Überwindung ihrer Hemmungen bringen zu wollen. Gegen nervöse Erscheinungen helfen nicht Befehl und Gewalt, sondern allein das Freilegen von Möglichkeiten oder die Vermittlung von Anreizen. Vor allem aber tut not, neue Impulse für Arbeits- und Lebensfreude zu geben. Auf dem Boden von Verranntheit und Verbitterung lösen sich keine Verkrampfungen.

Auch Erwachsene fahren sich fest in ihren Empfindlichkeiten. Sie geraten in einen permanenten Reizzustand gegenüber ihrem Partner, weil seine Sprache, sein Mienenspiel, sein Tun und Lassen sie bei jeder Gelegenheit ärgert und aufregt. Sie explodieren stets zu unguter Zeit und ärgern sich sofort selbst über ihr eigenes liebloses Verhalten. Sie können willensmäßig nicht an gegen ihre eigene Reizbarkeit. Und doch könnten sie sich helfen: sich gut geregelte Tagespläne setzen, sich unnötigen äußeren Aufregungen fernhalten, sich bemessene Freizeiten und Erholungsstunden gönnen und dafür sorgen, daß sie genügend Nachtschlaf