Lebensbilder von Dichtern I, 1 - Walther Jantzen - E-Book

Lebensbilder von Dichtern I, 1 E-Book

Walther Jantzen

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Das Buch enthält Lebensbilder von Dichtern aus dem Umkreis der Nachkriegs-Literaturszene. Nähere Informationen zum Gesamtprojekt: https://www.facebook.com/VerlagfuerBibliotheken

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

Heinz Steguweit

Will Vesper

Friedrich Schnack

Heinrich Zillich

Georg Grabenhorst

Moritz Jahn

Ludwig Finckh

Wilhelm von Scholz

HEINZ STEGUWEIT

Freundesgabe

des Arbeitskreises für deutsche Dichtung

zu seinem 60. Geburtstage

 

MCMLVII

Als Manuskript gedruckt!

Arbeitskreis für deutsche Dichtung,

Göttingen, von-Ossietzky-Straße 7

Druck: Erich Goltze KG, Göttingen

AN IHN

Amice!

Wie rasch gleiten doch unsere Jahre dahin! Sind es wirklich schon Jahrzehnte, daß wir einander auf einer Laienspieltagung begegneten, daß Sie, hochragend und schlank mit ein wenig übermütigem Lächeln von Ihrem „Iha, dem Esel" sprachen und wir beide uns aus dem größeren Kreis, in dem wir uns — heute dürfen wir es wohl eingestehen — als neugierige Fremdlinge vorkamen, zurückzogen, um uns etwas abseits weniger anstrengenden Gesprächen hinzugeben?

Damals wußten wir nicht, daß wir einander jemals wieder begegnen würden. Die Zeiten begannen ihren großen Wirbel, ließen uns einander vergessen, stürzten uns schließlich beide in ein niegeahntes Nichts und trugen uns ohne unser Zutun wieder empor in neues Leben und Schaffen.

Was einst war, ist versunken. Es gleicht einem glücklichen Spiel in einer Zeit, in der nicht Krieg war, nicht Vernichtung, nicht Auflösung.

Als wir einander wiedersahen, hatte die äußere Welt sich verändert. Vielleicht prüften wir uns heimlich gegenseitig, welcher inneren Welt wir wohl jetzt zugehörten. Sie hatten im Feuersturm des Krieges Ihr Hab und Gut verloren. In Ihrem Studierzimmer im neuen Häuschen am Walde beim dörflichen Halver aber hatten Sie jene wesentlichen Zeichen einer Welt, die uns nicht untergehen darf, geborgen: das große, festliche Ölbild, ein paar kostbare alte Möbelstücke, einen Schreibtisch, dem man ansieht, daß er Ihr getreuer Knecht sein will, und so manches andere. Ihr Haus, das Sie Ithaka nennen, schlug die erste Brücke von der jungen Freundschaft einst, zu der Verbundenheit von heute und hier.

Sie sind der Alte geblieben! Wohlan!

Und doch sind Sie, mein Freund, nicht ein Gestriger, sondern ein Heutiger. Aber wie soll die Welt draußen verstehen, daß es solches gibt: alt und neu in einem?

Darf es wohl so gesagt werden: das Herz blieb, das es war, das immer wache, einfühlende Verstehen für den Herzschlag der Dinge, die Treue auch zum Einfachen, die Liebe zum Wirklichen in der Welt, die uns umgibt und — lassen Sie es mich heute ohne Scheu sagen — das feine Lächeln, auch dann noch, wenn dem Nachbarn schon die Träne rinnt.

Das also blieb Ihnen von eh und je.

Hinzu kam Ihnen, was die großen Ungewitter uns allen, die wir überleben durften, hinterließen: der schlichte, unbeirrbare Ernst in der Betrachtung des ewigen Wandels. Sie blieben nicht im Gestern haften, weil Sie dem Leben selber gehören, das nur dann wach bleibt, wenn es sich immerwährend erneuert.

1932 erschien Ihr „Jüngling im Feuerofen“. Wir lasen ihn damals fast sorglos. Der erste Krieg lag schon so lange hinter uns. In der Erinnerung will es mir scheinen, daß wir auch damals etwas behäbig geworden waren. Wir lasen die Geschichte vom heimgekehrten Soldaten Manes Himmerod also wie etwas, das nun glücklich überwunden war, und konnten uns nicht denken, daß wir alle noch einmal Himmerods werden könnten. Damals erfreuten wir uns an Ihren hingebend schönen Schilderungen von den Ufern des Rheines, an den vielen urwüchsigen Gestalten, denen Sie das Geschehen jener Jahre auf den Leib geschrieben hatten, an der verteufelt dreisten Lebensrettungsgeschichte, die erst den fünf Poilus und dann durch diese fünf eingesperrten Deutschen Leben und Freiheit schenkte, und schließlich an der seltsam gültigen Ehegeschichte zwischen dem verträumten Idealisten Manes und der von ihm aus dem Rhein geborgenen Fabrikantentochter Maria Selbach. Wer von uns Lesern hat damals schon groß darüber nachgedacht, warum Sie, mein Freund, dem Roman den gewichtigen Titel vom Jüngling im Feuerofen gegeben hatten?

Wir sollten es alle noch verstehen lernen!

Das Bild vom Feuerofen, in dem die guten Steine hart werden, die schlechten aber zerfallen, tauchte uns in jenen furchtbaren Jahren vor und nach 1945 aus seinen längst vergessenen Zusammenhängen wieder ins Bewußtsein empor. Und dann begannen jene Jahre, in denen Millionen Himmerods über die Straßen zogen, grau und abgerissen, ohne Unterschlupf und wärmendes Herdfeuer, überzählig und im Grunde unerwünscht, wohin immer sie kamen.

Manes Himmerod wurde uns erst nach dem letzten Kriege zu dem „ewigen Heimkehrer“ von gestern, heute und morgen.

Wir lesen den Jüngling im Feuerofen heute mit anderen Augen. Es geht uns nicht mehr um das, was darin zeitgebunden war: das Florettfechten mit den damaligen französischen Besatzern oder die Episode des rheinischen Separatismus oder den politischen Selbstmord des verwichenen Fabrikantentyps! Manes Himmerod ist der überlebende aus der Erzählung jener Zeit geblieben. Er erhebt sich groß und klar über alle Wirrnis der Tage und Jahre. Er ist zur zeitlosen Gestalt des Heimkehrers schlechthin geworden.

Wir wissen es ja alle: Heimkehrer bedürfen wohl des Geldes und der Möglichkeiten zu neuer Existenz. Aber was ist das schon, wenn ihnen das andere nicht kommen will, danach ihre leergebrannte Seele verlangt. Was ist ihnen Betreuung, wenn sie nach Liebe dürsten; was Lohn, wenn sie wirken wollen, nicht nur durch Arbeit Geld verdienen; was gilt ihnen eine bürgerlichsatte Öffentlichkeit, wenn sie die innere Mitte nicht zu spüren vermögen, um die alles lohnensollende Leben kreisen muß.

Als Sie dem einsamen jungen Heimkehrer von 1918 die Seele Manes Himmerods einhauchten, mein Freund, führte Ihnen eine Kraft die Feder, die uns in jenen Dreißigerjahren noch nicht bewußt sein konnte. Ihr Herz war uns allen um ein, zwei Jahrzehnte vorausgeeilt. Es zuckte wohl schon in Vorahnung des Kommenden und gab Ihnen ein, auf seelische Bewährung bedacht zu sein. Deshalb eben mußte Manes seinen Kompanieführer erst hassen, um ihm dann wortlos und freiwillig sein Blut zu spenden und nach endlos langem Zögern sein Freund zu werden. Deshalb auch zog Manes das unbekannte Mädchen aus dem Wasser, um später mit aller Selbstverständlichkeit den im Kriege gefallenen Geliebten zu ersetzen. Deshalb auch rettete er die Besatzungssoldaten aus dem Rhein, deshalb erschoß er den Separatistenführer Anker nicht, obwohl es ihm befohlen war.

Dies ist wohl die ernsteste Lehre, die Himmerod unserem Zeitalter zu erteilen hat: Leben ohne Einsatz und Pflichttreue ist sinnlos. Leben ohne Streben und Mühen, ohne Sorge und Verzicht, ohne Hochgefühl an vollbrachter Tat und Freude am Herzen des Gefährten ist leer.

Nur, weil der Heimkehrer Manes Himmerod lachend und weinend, schaffend und hoffend das Leben im Feuerofen durchläuft, gewinnt er wieder Boden.

Wer von uns ist nicht Heimkehrer aus Katastrophen? Männer, Frauen und Kinder sind auf dem Wege zu innerem Frieden, zur Gelassenheit des Herzens. Noch immer irren wir auf den Straßen zu solcher Heimat, die nur eine neue sein kann, niemals aber ein romantisches Abbild der einstigen.

Wer recht zu lesen vermag, dem geht das Bild Ihres Manes Himmerod nicht mehr aus dem Sinn. Es mahnt ihn zum Ausschreiten, zur Abkehr von aller Lässigkeit.

Es war gut, daß Sie dieses Werk 1952 wieder neu in unsere Hände gelegt haben. Zwanzig Jahre zuvor erfreuten wir uns an ihm, heute ist es uns herzhafte Kost, deren wir bedürfen.

Genug nun des Ernstes, amice! Ich bin Ostdeutscher, Sie sind Rheinländer. Das wäre eigentlich ein Grund, daß wir einander nicht allzuviel zu sagen hätten. Wir Ostdeutschen grübeln gern, wir reiten auch gern in alle Fernen, aber wir haben nicht Eure beschwingte Leichtigkeit, Ihr gutmütigen Rheinischen! Der Karneval war immer bei Euch zuhause. Wir waren mehr für Sträußelkuchen und behagliche Gemütlichkeit. Sei's drum — die Art, wie Sie lachen können, amice, flößt uns ungemein Respekt ein. Da gibt es kein homerisches Gelächter, kein plumpes Grinsen und kein höhnisches Ulken! Wenn man Ihre lustigen Geschichten liest, ist man überzeugt, daß am Rheine das Lachen wächst wie die Rebe: das perlt und glitzert, dröhnt auch mal ein bißchen und zergeht einem sozusagen auf der Zunge! Ist es wohl so, daß man bei Euch mehr lächelt und blinzelt, den Mund vielsagend zucken und die Fältchen um die Augen spielen läßt?

Oder hat eine Muse Ihnen, gerade nur Ihnen, dies in die Wiege gelegt, als Sie Ihren Erdenweg vor 60 Jahren antraten?

Ich wünschte, ich könnte Arnöldchen herbeizaubern, um durch ihn heute die Gratulationscour eröffnen zu lassen! Arnöldchen, den mit dem Krokodil!

„Einen fröhlichen Lausbubenroman“ haben Sie 1952 Ihre schöne Geschichte „Arnold und das Krokodil“ genannt. Es will mir scheinen, amice, daß gerade diese Erzählung unter den ungezählten, die Sie geschrieben haben und bis auf den heutigen Tag über alle möglichen und unmöglichen Blätter in unsere Familien hineinwandern ließen, zu preisen ist. Wir haben während der Notjahre so viele Sorgen gehabt, daß wir nicht aus noch ein wußten, und wir haben jetzt, in den „sieben fetten Jahren“ soviel zu tun mit Geldverdienen und -wiederausgeben, daß wir wirklich glücklich sind, wenn wir einmal nicht-aufregende literarische Kost bekommen, solche, die uns glücklich werden läßt, wie den satten Säugling Morgensterns. Einmal ist ja jeder moderne Zeitgenosse doch so weit, daß er es aufgibt, sich am Abstrakten grüblerisch zu versuchen und am Zeitkritischen sich propagandistisch an die Hand nehmen zu lassen! Einmal müssen wir ja doch ausruhen vom ewigen Autofahren, Organisieren und Diktieren! Dann wollen wir allein sein, mit einer Tasse Kaffee und der Pipe, und Zwiesprache halten mit einem lustigen kleinen Buchhelden. O, über den Unglücklichen, der in solcher schwer errungenen Mußestunde nicht mit dem Knaben Arnold bekannt wird, welcher als Tertianer seinen Zeichenlehrer so porträtierte, daß er der vielgerühmten Wirklichkeit allzunahe kam und mitsamt einem präparierten Krokodile aus der Klasse hinausflog. Das gibt es weder in Ecksteins berühmten alten Schulgeschichten, noch in der noch berühmteren Feuerzangenbowle, was sich aus diesem Hinauswurf an Menschenschicksal zwischen Vater und Sohn, Sohn und Lehrerin, Lehrer und Kollegin, Hunden, Dorfjungen, Dohlen und Kurgästen alles anspinnt, bis es nach seltsamen und mitunter pikanten Irrfahrten zu einem versöhnlichen Ende kommt.

Amice, solche Einfälle allein sind schon eine tröstliche Medizin für uns gehetzte Zeitgenossen. Aber wenn diese humorvollpikant und dennoch blitzsauber dargeboten werden, dann ist das schon etwas ganz Besonderes!

Wir können uns ja, wie die Frankfurter Buchmesse zeigt, nicht über Mangel an Angebot auf dem Büchermarkt beklagen. Schon die farbigen Umschläge sollen ja wohl heutzutage den Käufer gleichsam nervlich appetitanregend unter Beschuß nehmen. Aber wie das so geht: zuviel Schlagsahne schmeckt nicht lange. Man sehnt sich nach herzhafter Hausmannskost mit gerade soviel Würze, daß es lecker bleibt und man keinen häßlichen Nachgeschmack bekommt. Über eben dieses Geheimnis scheinen Sie zu verfügen. Geben Sie es nicht weiter! Sie werden noch manches Kapital daraus schlagen können!

Unter uns gesagt: Zeitungen, Sender und Reformhäuser hämmern heute dem Menschen ein, welche Wohltat gesunde Ernährung dem Leibe bedeute. Die Bedeutung der gesunden Seelennahrung für den homo sapiens gehört heute zu den unerforschten oder wenigstens nicht gefragten Gebieten. Arnöldchen mit Felix Kniller, Rektor Materno, Vater Wackernuß und Alice Ysing samt dem Dackelhund Muff sind das prächtigste Elixier für Überanstrengte, die wieder gesund werden wollen. Sie lernen wieder das herzliche, befreiende Lachen, das so nützlich ist, weil in allen Gestalten, über die man lachen muß, ein Stück von einem selbst ist. Damit sind wir auch wirklich bei Ihrem großen Kollegen von Weimar angelangt, von dem geschrieben steht „ . . . wer sich nicht selbst zum besten haben kann, der ist gewiß nicht von den Besten!“

Ist es wohl die vorgeschriebene Bahn Ihres Erdenganges, lieber Freund, daß Sie vom Schicksalsdeuter der Heimkehr über den Schalk und Tröster der Erwachsenen-Kreatur endlich zum Herzensfreund unserer jüngeren Kinder werden mußten? Da liegt unter Dutzenden von Kinder- und Jugendbüchern heute in jeder kleinsten Buch- und Papierhandlung Ihr schmales Bändchen „Eulenspiegel darf nicht sterben“. Wer vermutet schon in dem schlichten Heft, daß darin keine der üblichen Nacherzählungen der Eulenspiegelhistorien enthalten ist, auch kein billiges Weiterspinnen der Stoffe, sondern ein gänzlich Neues, das den Schalk zum guten Geist unserer Zeit werden läßt? Wir sahen auf Ihrem Schreibtisch die vielen Kinderbriefe liegen, die Ihnen Kunde davon brachten, wie unser kleines Volk die schelmischernsten Begebenheiten, die Ihre Feder hervorzauberte, wichtig nimmt und an ihnen ihr Urteil über Gut und Böse, gerecht und ungerecht bildet. Wir sahen die bunten Zeichnungen, die Zehn- und Zwölfjährige zu Ihren kleinen Erzählungen fertigten. In Farben, Linien und Formen tat sich in den Blättern kund, zu welcher Welt von Vorstellungen das Lesen Ihrer Eulenspiegelgeschichten anregte! Wahrlich, in unserer Zeit der abgenutzten Worte, der gängigen Phrasen und der überhöhten Formulierungen tut es gut, wenn einer dem wirklich gelebten Leben Sprache und Ton entleiht! Auch Kinder haben heute ein empfindliches Gefühl dafür, wer sie billig belehren will und wer ihnen schlicht und gerad berichtet, wie das Leben wirklich ist, wenn es gut und in Ordnung ist.

Vor allem aber: wer lehrt eigentlich die Kinder, daß neben Tugend und Frömmigkeit noch ein drittes nottut, das Leben wirklich zu bestehen, nämlich jene gewisse Dosis guten Menschenverstandes, den man zu Zeiten Bauernwitz genannt hat, und der doch gewiß zur Lebenstüchtigkeit gehört? Sind wir alle miteinander schon so „tierisch-ernst“ geworden, daß es auffällt, wenn einer kommt und mit dem Finger darauf tippt?

Nicht wenige unserer Schulbuben von heute haben ihre junge Lebensweisheit aus Ihrem Eulenspiegel bezogen und sind nebenher dadurch überzeugt, daß Dichter nicht nur dazu da sind, Gedichte zu machen, die man auswendig lernen muß, wofür man gute oder schlechte Zensuren bekommt, sondern daß sie einem auch gelegentlich Dinge verraten, die man gegebenenfalls im Leben recht gut gebrauchen kann.

Derlei nehmen sie übrigens nur einem Dichter ab, den sie lieben können. Den Eulenspiegel-Steguweit aber lieben sie, weil er seinen Helden kinderfröhlich sterben läßt. Er tröstet noch auf dem Sterbelager seinen traurigen Freund Hinnerk und sagt: „Paß auf, Hinnerk, und merk Dir jedes Wort: wenn ich fort bin mit der armen Seele, und nur mein Leib liegt noch hier, dann kommst Du zu mir, ganz allein, Hinnerk, hörst Du — und schon fährst Du mir sanft mit der Hand über die Stirn und sprichst: Till, wo bist Du jetzt? — Antworten werde ich dann nicht mehr können, aber ich will mit dem rechten Augen kniepen. Hast Du nun alles begriffen?“

Hinnerk war hernach recht erstaunt, daß der tote Till doch nicht kniepte. Als er aber seine eigenen Augen zumachte, meinte er wirklich den Till blinzeln und kniepen zu sehen, als wollte er sagen: Ich lebe nicht mehr, aber ich bin allzeit da. Denke darüber nach, und sag es auch den anderen!

Amice, lassen Sie mich mit einem Gedanken schließen, der so nahe liegt und doch vielen fremdartig erscheinen mag: Die Alten setzten ihren Dichtern wohl Bildsäulen, die zu betrachten die Nachkommen genötigt waren.

Noch bis vor einhundertfünfzig Jahren krönte man gute Literaten mit Lorbeerkränzen. Solches mag ihr Ehrgefühl befriedigt haben. Was wäre unserem heutigen Zeitalter der Technik und Vollkommenheit wohl gemäß?

Nun, wie wäre es, wenn man allen Dichtern zu ihrem sechzigsten Geburtstag ihre Wohnung auf Staatskosten tapezieren ließe?

Mit handgearbeiteten Tapeten?

Mit figürlichen Mustern aus ihren Romanen, Gedichten und Erzählungen?

Sie, mein Freund, dürften gewiß in solcher Wohnung ruhig, vielleicht sogar glücklich schlafen. Denn alle Ihre Gestalten, ob arm, ob reich, fromm oder sündig — sind liebenswert und würden Ihnen jeden Abend ein dankbares Gutenacht zuwinken, von den Tapeten herab.

Aber der Plan wird nicht durchkommen.

Es werden andere Schriftsteller dagegen sein.

Weil sie schlecht schlafen würden!

Ihr

WALTHER JANTZEN

HEINZ STEGUWEIT AN UNS

Was ich vor Jahren noch als Unglück hinnahm, nämlich durch die Kriegs- und Nachkriegswirren das Heim und die Heimat verlieren zu müssen, das empfinde ich heute wie eine Beruhigung: Marodeure und Bomben haben auch mich nicht geschont, also mußte ich neu beginnen wie die Vertriebenen, und niemand hätte ein Recht, mir Neugeschaffenes zu neiden.

Als geborener Kölner bin ich ein Sohn des Rheins, heute aber wohne ich zu Halver im Sauerland, wohin mich im Frühling 1945 die harte Evakuierung trieb. Meine Nachbarn sind fleißige und wache Leute, sie arbeiten auf steinigen Äckern und in ruhelosen Schmieden, deren Hämmer tagsüber bis in mein kleines Waldhaus dröhnen. So bleibe ich, der Großstadt müde, doch dem wirklichen Leben verbunden; und wenn das Dorf ein Volksfest feiert, dann halte ich’s gern mit dem „Spaziergang vor dem Tor“: Hier bin ich Mensch hier darf ich’s sein …

Daß ich, mit den Meinigen anfangs auf zwei enge Dorfstuben gesetzt, trotz mancher Not nicht in unfruchtbarer Qual verdorrte, ist kein Verdienst meiner selbst; ich habe es als eine Gnade anzuerkennen, die mich, der ich allenfalls körperlich robust bin, in dem Augenblick überraschte, als ich viel Unentrinnbares und Tückisches hinnehmen mußte, was sich vorher weder ahnen noch berechnen ließ.

In zunächst dunkler, obwohl großherzig überlassener Herberge schrieb ich unmittelbar nach dem Zusammenbruch und ohne breitere Pausen mehr an Romanen, Erzählungen, Gedichten und Spielen, als jemals vorher in einem gleichen Zeitraum. Einige größere Städte und Orte boten mir in den letzten Jahren ein Heimrecht an: Ich blieb trotzdem auf dem Lande, weil hier ein Schauen ins Weite und ein Horchen an den Brunnen der Tiefe noch gestattet ist. So fühle ich mich denn, seit Weihnachten 1950 im eigenen neuerrichteten Landhaus wohnend, am wohlsten unter Bäumen und Tieren, ist man doch durch Erlebnisse klüger geworden, obwohl keineswegs misanthropisch.

Wer zwischen Bergen, Wäldern und Talsperren wohnt, der freut sich doppelt, wenn alte Freunde ihn aufstöbern in der scheinbaren Einsamkeit: Musikanten und Maler, Poeten und Gelehrte, vor allem aber Jugendliche aus allen Lagern trugen sich ins Gästebuch ein, und der Künstler, der mir mein Haus in seiner klaren, gesunden Form in die Landschaft setzte, hinterließ mir den bedenkenswerten Vers:

Wenn dieses Haus so lange hält

bis aller Haß und Neid zerfällt,

dann steht es bis ans End' der Welt!

So, wie meine westfälischen Nachbarn nicht von mir erwarten, daß ich selber ein Westfale werde, ebenso wenig hege ich die Absicht, jemals mein Rheinländertum zu verleugnen. So liebe ich das Fromme, wenn es sich nicht an Frömmelei verliert. So ehre ich das Fröhliche, so lange es lächelt und vom Lächerlichen sich trennt. So verachte ich das Niedrige und erkenne in jedem Ehrfurchtlosen meinen wirklichen Feind.

Das alles wolle nicht heißen, daß der Rheinländer niemals irrte. Dafür ist er zu sehr Mensch. Denn nur der Unmensch wähnt sich frei von Fehlern. — Deutschland, wie ich es immer lieben werde, bildet mit der Vielfalt seiner Stämme und Landschaften einen Organismus wie jeder lebendige Leib. Wo sorgt sich seine Seele? Wo müht sich seine Vernunft? Wo atmet die Lunge? Eins sei gewiß: Sein Herz schlägt am Rhein, und sein Fleiß fand in Westfalen eine gesegnete Stätte.

Rückschauend weiß ich, daß man mein Schaffen des öfteren mit Preisen bedachte. Dennoch meine ich, jedes neue Buch, Spiel oder Gedicht hätte es eher — wenn überhaupt — verdient. Rückschauend weiß ich aber ferner, daß nie etwas vergeblich geschah, kein Werk, kein Leid, keine Freude und kein . . . Fehler. Denn das Rechtbehalten ist menschlichermaßen nie das Wesentliche, wohl aber, daß wir uns immer wieder „ringend hingeben“, das Wahre zu suchen über den Augenblick hinaus. Jenes Wahre, ohne das nichts Neues zu gedeihen vermag; denn was von innen her unwahrhaftig wird, das kann nicht bestehen, wie es sich auch nicht halten konnte in der Vergangenheit.

Letztlich sei es zum Verzweifeln immer zu früh, zur Hoffnung und zur Güte niemals zuspät. Und Hölderlins ringende Sehnsucht bleibe in unserem unsichtbaren Gepäck auf der irdischen Reise: „Wir sind nichts, was wir suchen ist alles!“

DATEN SEINES SCHAFFENS

Heinz Steguweit, geboren am 19. März 1897 in Köln, wurde der großen Öffentlichkeit zuerst durch sein Drama „Sooneck“ bekannt, das man im Sommer 1925 als Festspiel zur Jahrtausendfeier der Rheinlande wählte. Im gleichen Jahr griff die Jugend nach seinen an Hans Sachs und Andreas Gryphius geschulten Laien- und Volksspielen, die z. T. in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Die größte Verbreitung fanden die Spiele „Die Gans“, „Iha, der Esel“ und das Krippenspiel „Die fröhlichen drei Könige“. — Als Erzähler schrieb Steguweit neben zahllosen Kurzgeschichten und Novellen den 1932 erschienenen Roman vom „Jüngling im Feuerofen“, in dem er als leidenschaftlicher Sportsmann für den Lebensrettungsgedanken warb. Die Deutsche Lebensrettungs-Gesellschaft ernannte ihn dafür zum Ehrenmitglied. — Im Jahre 1929 erhielt Steguweit den Erzählerpreis der damals von Friedrich Lienhard herausgegebenen Monatsschrift „Der Türmer“, im Jahre 1938 den Rheinischen Literaturpreis und 1939 den Erzählerpreis des Verlages Velhagen & Klasing, und zwar für die Novelle „Die Saskia mit dem leichten Glanz“.

Heinz Steguweit gehörte dem Wartburgkreis deutscher Dichter an (1931 von Börries v. Münchhausen, Agnes Miegel, Ernst Wiechert, Hermann Stehr usw. gegründet). — Steguweits meist aufgeführtes Bühnenwerk ist die Denunziantenkomödie „Glück und Glas“ (1937 in Dortmund und Karlsruhe uraufgeführt), die auch nach dem Kriege noch mehrfach gespielt wurde, da sie ihre Aktualität behalten hatte.

Steguweit siedelte sich nach seiner Evakuierung im Sauerland an; sein kleines Waldhaus, in dessen Garten morgens die Rehe äsen, steht nahe dem westfälischen Dorf Halver.

Steguweits Bücher und Erzählungen, denen das Schicksal des „Umstritten-Werdens“ keineswegs erspart blieb, liegen z. T. in schwedischen, portugiesischen, niederländischen und amerikanischen Ausgaben vor. Über sein Verhalten im Dritten Reich schrieb kürzlich der I. Vorsitzende des Westd. Autorenverbandes (W. Schäferdiek): „Ich habe immer wieder feststellen können, daß Steguweit zu den hilfreichsten Schriftsteller-Kollegen gehörte, die mir je begegneten. Ich selber bin ihm zu ganz besonderem Dank verpflichtet; ich weiß auch, daß dieser sein Einsatz nicht vereinzelt war, sondern daß St. sich auch für eine Reihe von Kollegen eingesetzt hat, die höheren Orts als höchst suspekt galten …“

Von Steguweits Nachkriegsbüchern haben die Romane „Arnold und das Krokodil“, „Jürgen kämpft um Gisela“ und „Lutz Langohr“ insgesamt eine Auflage von über 100 000 Exemplaren erreicht.

Werke von Heinz Steguweit

Der Jüngling im Feuerofen / Die Meerjungfrau Mareli

Der schwarze Mann / Arnold und das Krokodil

im Verlag P. Vink, Köln

Die Zauberin — Novelle

in Loewes Verlag Ferdinand Carl, Stuttgart

Das Stelldichein der Schelme — Erzählungen

in der Verlagsanstalt Rheinhausen zu Rheinhausen b. Duisburg

Mein Freund Methusalem,

die Memoiren eines Flausenkönigs

im Verlag Dr. Edmund Huyke zu Oldenburg i. Oldbg.

Das unvorsichtige Mädchen — ein heiterer Kleinstadtroman

im Verlag Walter Lehning, Hannover

Jürgen kämpft um Gisela — Roman für die Jugend

Eulenspiegel darf nicht sterben — ein Schelmenbuch

Frieden auf Erden — ein Advents- und Winterbuch

Lutz Langohr — ein Folge fröhlicher Verwicklungen

Der Spatz Philippi und seine Abenteuer

im W. Fischer-Verlag zu Göttingen

Es weihnachtet sehr — ein Buch vom Winter

ferner alle Laienspiele des Dichters

im Deutschen Laienspielverlag zu Weinheim a. d. Bergstraße

Geh aus, mein Herz

Erzählungen zum Lesen und Vorlesen

im Landbuch-Verlag GmbH Hannover

„Schön ist das Wahre nur“

Erzählungen

im Deutschen Heimat-Verlag Ernst und Werner Gieseking,

Bielefeld-Bethel

WILL VESPER

Freundesgabe

des Arbeitskreises für deutsche Dichtung

zu seinem 75. Geburtstag

 

MCMLVII

Zusammengestellt von

Dr. Walther Jantzen, (16) Wendershausen

Verlegt vom

Arbeitskreis für deutsche Dichtung, Göttingen, v.-Ossietzki-Straße 7

Gedruckt von

Gerhard Stalling AG, Oldenburg (Oldb)

Zweite Auflage

1958

Hermann Claudius

Will Vesper

zum 75. Geburtstage

Deine schreibende Hand

ist dem Pfluge mehr

als der Feder zugewandt.

Und Du, gebürtig aus

fälischem Bauerngeschlecht,

läßt ihr lächelnd gern

ihr derberes Recht.

Und mit Fug

grüßt Du Ackerweite

und Wolkenzug.

Denn Deine deutsche Seele

- wer sagte das Wort? -

Es hat nirgends mehr

den rechten Ort. -

Deine deutsche Seele

pulst Dir im Blut.

Und so ist auch, was Du

geschrieben: gut.

Und immer wieder ist

Deine Hand bereit,

Furchen zu ziehen durch

den Acker der Zeit

für kommende Saat.

Dazu helfe uns allen

Gottes Gnad!

Hans Brandenburg

Das Zauberwort

Lieber Will, wenn ich über Dich und Deine Lyrik schreiben soll, so kann ich das, als Dein ältester Freund, nicht wie ein Literarhistoriker tun, sondern nur im Lichte der persönlichen Erinnerungen. Es sind wahrhaftig sechzig Jahre her, daß wir auf dem Schulhof Freundschaft schlossen, Du, der fünfzehnjährige braunlockige starke Bauernjüngling, und ich, das zwölfjährige blonde und blasse Prokuristensöhnchen, Du, der beste und ich der schlechteste Schüler des humanistischen Gymnasiums — sechzig Jahre, daß Du mir auf dem Schulhof Deine ersten Verse vorlasest. Deine Stellung als Primus, der zuletzt zum Primus omnium wurde, erlaubte Dir eine solch öffentliche Schamlosigkeit. Ich selbst wagte es nur, Dir auf dem täglichen Heimweg zu Deinem elterlichen Hofe mit eigenen Versen zu respondieren — einem großen Umweg für mich, der mich jedesmal sehr verspätet nach Hause kommen ließ. Dieser Austausch wurde ein edler und nie getrübter Wettstreit, zu immer neuen Versen anfeuernd, ein Sängerkrieg wie in legendären Zeiten, nur daß hier die Dichter auch die einzigen Richter waren und jeder bereit, dem anderen den Preis zuzuerkennen.

Es war damals, um die Jahrhundertwende, eine Blütezeit der Lyrik. Der Naturalismus, so problematisch in seinen dramatischen und erzählerischen Formen und Unformen, hatte auch dem Gedicht eine frische Blutzufuhr gebracht, und hier war die neu erschaute und erfaßte Wirklichkeit weit glücklicher: sie wurde, nach einer kurzen Zeit der Manifeste und Proklamationen, zum Gesang. Da erschienen die Liliencron, Dehmel, Falke, Bierbaum fast gleichzeitig auf dem Plan, wir nahmen einen wie den anderen, werteten auch viele heute längst Vergessene ebenso freudig und machten innerhalb des Schönen überhaupt keine Rangunterschiede. Die neue Weltbejahung erweiterte sich vom Genrehaften bis zum Kosmischen in Dauthendey, Mombert, Otto zur Linde, gegen die starke Zeitbewegung und ihre Arno Holzschen Experimente traten formalistische und esoterische Gegenbewegungen auf mit Stefan George, Hofmannsthal, Rudolf Alexander Schröder, und schon wurde auch der junge Rilke genannt. Dies freilich entfaltete sich vor uns erst in unseren Münchener Jahren, aber schon im Übergang von der Heimat zur Welt erlebten wir die Berührung mit dem Kreis um den Straßburger „Stürmer“, mit René Schickele und Bernd Isemann.

Noch auf der Schulbank lasen wir heimlich die „Jugend“ und den „Simplizissimus“, Du abonniertest eine lyrische Zeitschrift „Der Spielmann“, lyrische Anthologien flogen uns zu, darunter eine, die für 10 Pfennig die neue Dichtung dem breitesten Volk erschloß, und gleichzeitig mit mancher sozialen Verspredigt erreichte uns zu Schreck und Staunen — Stimme eines, wenn auch in Umnachtung, noch Lebenden — der verstiegene aristokratische Prophetenton von „Also sprach Zarathustra“. Aber auch zwischen Alt und Neu machten wir keinen Unterschied, und die führenden Kritiker machten ihn auch nicht. Wir lasen die Klassiker; der „Kunstwart“ entdeckte mit seinen Kommentaren erst jetzt für den gebildeten Mittelstand die große Lyrik des verflossenen Halbjahrhunderts, Mörikes, Hebbels, der Droste, Storms, Kellers und Conrad Ferdinand Meyers, und fortschrittliche Schulmänner verlangten für diese schon Gestorbenen, aber auch für die Lebenden Raum im Deutschunterricht. „Vom goldenen Überfluß“ hieß die pädagogische Sammlung, sie kam uns in die Hände und vermehrte noch den goldenen Überfluß, in dem wir schon schwelgten. Fast noch höher als Goethe standen uns die Romantiker; wir begannen Hölderlin zu erahnen und Eichendorff zu lieben, ihn noch mehr als die anderen. Und bei ihm stand der Spruch, der vor all diesem Reichtum galt:

„Schläft ein Lied in allen Dingen,

die da träumen fort und fort,

und die Welt hebt an zu singen,

triffst du nur das Zauberwort.“

Ja, daß alle Dinge ringsum träumen und nur geweckt werden können durch das Lied, das in und mit ihnen schläft und mit dem sie nur zu höherem und höchstem Traum erwachen, das erlebten wir, und die Welt hub an zu singen. Wir blieben nicht narzißhaft, wir rangen auch nicht nur miteinander, sondern auch mit den Meistern, und das Zauberwort kam gleichzeitig aus ihrem begnadeten und unserem noch stammelnden Munde.

Deine ungewöhnlichen Schulleistungen, lieber Will, Deine spielende Bewältigung sämtlicher Fächer, schienen Dir alle möglichen gelehrten Laufbahnen zu eröffnen, aber Du verschmähtest sie und auch schon die bloße Beglaubigung durch akademische Grade. Du bliebst allein der Dichtung treu und tratest mit Deinem Wissen und mit Deinem Können ganz in den Dienst der Dichtung. Sie lohnte es Dir reichlich. Denn früh und glänzend war Dein doppelter, Dein gleichzeitiger Aufstieg als Dichter und Herausgeber. Beides schien untrennbar, aber es lag auf der Hand, daß Du nicht durch Herausgeber- und Kennerschaft zum Dichter wurdest, sondern umgekehrt: daß Du so viel Glück als Herausgeber hattest, weil Du auf so glückliche Weise Dichter warst. Du konntest ein Schatzheber der Vergangenheit werden, weil Du ein Lebender warst, weil Du von eigenen Schätzen herkamst, von lebendiger Gegenwart in Dir und um Dich. „Die Ernte —aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik“ ward ein beispielloser Erfolg. Aber Du schmuggeltest Dich nicht selber unter die Ausgewählten und Auserwählten, Du begnügtest Dich mit einem kleinen dichterischen Vor- und Nachspruch, die freilich genügend zeigten, wer Du warst.

Im übrigen bezeugten Dir das die anderen, sogar die Feinde, denn es blieb ein bloßes Bonmot, daß auch Deine eigene Dichtung eine Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik sei. Gewiß, Du warst ein Erntender und Erbender, aber kein Eklektiker und Epigone, und vielleicht kannst Du selber nicht sagen, ob der Spruch „Der Lebensquell, darin ich bade, ist Überlieferung, ist Gnade“ von Goethe oder von Vesper ist. Es war nicht Archaismus und Literatur, was Du dichtetest, auch standest Du nicht nur auf dem Boden und im Geschlechtergang säender und erntender Ahnen als ein echter Bauernsproß, dem die Scholle zuletzt noch wichtiger ist als das eigene Tagewerk, sondern auch mit in jener letzten Blütezeit unserer Lyrik, in der Reihe der Lebenden von der Jahrhundertwende, für die Du frühzeitig eingetreten warst, und vielleicht schlossest Du die Reihe.

Du hattest freilich als Dichter eine leichte Hand, in merkwürdigem Gegensatz zu Deiner Handschrift, die heute noch mehr vom Pflug und vom Dreschflegel als von der Feder herzustammen scheint. Aber wer Dich deswegen geringschätzte, wollte oft nur nicht wahrhaben, daß er Dich darum beneidete. Du hörtest schon als Schüler sehr bald auf zu stammeln, und mischtest Dich still und unauffällig unter die Meister. Mühelos schien dieses Gelingen, fast spielerisch diese vollkommene Beherrschung der Form. Dir stand das Wort zu Gebote, das Zauberwort, das die Welt und Dein Leben zum Singen brachte. Da ist kein Krampf, kein Bohren, keine Originalität um jeden Preis, keine Gehirnakrobatik, keine gesuchte und gequälte Verschlüsselung, und statt Zweifel und Verneinung verkünden sich bis in die kleinen goldenen Reimsprüche hinein Glaube und Bejahung und das Lob des Lebens.

Kann heute die Welt unter dem Fluche, der auf ihr lastet, noch anheben zu singen? Vermag sie sich nicht immer weniger, wie Hebbel sagt, aus dem Zauberquell zu ergänzen, der aus ihr selbst von je so überschwenglich hervorbricht? Hat sie vor lauter Worten das Zauberwort vergessen und verloren, den Lohn, der reichlich lohnet, das Lied, das aus der Kehle und nur aus einfältigem Herzen dringt und das in den Dingen schläft, die uns feindlich sind, wenn wir es nicht mehr wecken können? Nichts ist unabhängiger vom Wandel der Zeiten und ihrer wechselnden historischen Gestalt als das Gedicht, und das Lied bleibt sich im Grunde gleich, ob es Hafis und Firdusi oder die Sappho, ein Engländer oder ein Franzose, Li Tai-Pe oder Walther von der Vogelweide, Horaz oder Goethe sang. Sein Inhalt ist das unveränderliche menschliche Herz, ist Jubel und Klage, Lachen und Weinen, ist Briefe der Liebenden und Mutter und Kind. Es wird Dich, lieber Will, an Deinem fünfundsiebzigsten Geburtstag besser als mit vergänglichem Lorbeer mit einem unverwelklichen „Kranz des Lebens" schmücken.

Dein

Hans Brandenburg

Will Vesper

Das Karussell

Silbern fliegt vorbei der Tag,

wie ein eng verschlungner Kranz,

wehend Korn und Wachtelschlag.

drin das Volk der Vögel singt,

Wie wir schreiten, dringt’s heran,

der sich um die Liebe schwingt,

lichtes Feld und dunkler Tann.

immer schneller, schneller, schnell,

Was ich kaum im Weiten sah,

wie ein buntes Karussell.

ist schon greifbar nah und da.

Aus der Brust ein holder Schrei!

Morgenlicht und Abendglanz

Silbern flog der Tag vorbei.

Agnes Miegel

Damals am Abend

Lieber Will Vesper!

Wenn man auch selbst alt geworden ist, so scheint es einem doch —und fast mit jedem Jahrzehnt mehr — seltsam, daß man auch denen zu Altersgeburtstagen gratulieren muß, die man selbst schon eine Weile hinter sich gebracht hat. Was man nur zu leicht als eine Ausnahme ansieht, von der die Jüngeren nicht berührt werden. Denn sie leben in der Erinnerung in vollem Glanz der Jugend weiter, oder doch so, wie man ihnen in lächelnder Lebensmitte begegnete! So geht es mir mit Ihnen! Wenn ich auch schon mehr als ein Jahrzehnt in Ihrer niedersächsischen Heimat wohne, Ihr schönes Heim in Triangel kenne, das so ganz ist, wie ein Gutshaus sein muß: — geschmückt von der kunstfertigen Hand seiner Bewohner, junges und altes Leben beschirmend, und wohlbewahrt in dem waldartigen Garten geborgen, in dem die von Ihnen beschworenen Märchengestalten schützend leben — ja, auch wenn ich Ihre lieben Töchter kenne, Ihren Jüngsten und Sie selbst und Frau Rose öfters wiedergesehen habe — so steht bei Ihrem Namen doch immer wieder ein lange vergangener Abend vor mir, an dem ich Ihnen begegnete.

Es traf sich damals, in dem so ruhig und ohne Ahnung eines zweiten großen Krieges dahinlebenden Deutschland, wo man für alles, was Kunst, Musik und Literatur bedeutete, herzlichstes Interesse zeigte, daß auch mittelgroße, ja, sogar kleinere Städte reich genug an eifrigen Lesern waren, um zwei Kulturvereine zu besitzen. Und oft fanden dann zwei Musikabende oder zwei Dichterlesungen am gleichen Tage statt — beide meist gleich gut besucht. So sind auch wir beide mehrmals zusammengetroffen, zum erstenmal damals im Spätwinter in einer schönen, seit alters besonders betriebsamen Stadt Thüringens.

Oft traf man die literarische Konkurrenz schon bei der Ankunft im gleichen Hotel. Meist aber erst am Abend bei einer kleinen Nachfeier der Lesung, zu der einen der „Vorstand“ des Vereins einlud, dem sich ein Teil der getreuen Hörer dann anschloß.

So war es auch dort, und da die Aula, in der ich las, näher zu dem Hotel lag als der Saal Ihrer „Literarischen Gesellschaft“, traf ich mit meinen sehr jungen und ältlichen Verehrerinnen zuerst dort ein. Der gold- und stuckstarrende Prunk des großen Speisesaals mit Lüstergeflimmer und dunklen Kopien berühmter Barockbilder, der verlockende Speisedunst und das Hin- und Hergleiten der eleganten Kellner versetzte mein Häuflein-Klein schon vor dem Mosel in einen leichten Festrausch, der sich dann jäh steigerte, als Sie kamen, umgeben von einem fröhlich lärmenden Schwarm Rosensträuße tragender Verehrerinnen und übereifriger Herren, die den Kellnern winkten, daß unser Tisch wie durch Magie zur festlichsten langen Tafel wurde. Die kleine Schar meiner Verehrerinnen ging mit fliegenden Fahnen und heißen Wangen zu den Ihrigen über, mischte sich mit heiterem Gelächter mit diesem Kreis, und die noch nachklingende gehobene Stimmung der andachtvollen Versenkung in die Dichtung wich der frohen Beschwingtheit, die von Ihnen ausstrahlte. Selbst begeistert von der verehrenden Begeisterung, die Sie umgab, bestätigt und gesteigert in Ihrem Wesen und Werk, auf das heiterste Scherz und Frage beantwortend, aber immer doch mit spürbarem Ernst — schienen Sie so ganz der Dichter, wie nicht nur junge Frauen, wie auch Männer ihn sich denken, die in einem sie ganz ausfüllenden Alltagsberuf leben.

Ich genoß diese glücklichen Stunden dankbar als stiller Gast, denn ich verstand nicht nur Ihr Aufleben, ebenso auch die Freude dieser Menschen und ihr Bezaubertsein von dem erfüllten Wunschtraum, der in mir endlich ein anderes Bild verdrängte — denn seitdem ich in meiner Jugend als ersten Dichter Liliencron lesen hörte und etwas später Sudermann begegnete, glaubte ich, daß mitlebende Dichter entweder wie ältere Reserveoffiziere oder wie seriöse Bankdirektoren aussehen mußten. (Eine nicht ganz irrige Ansicht, da sich gerade die Verfasser so ganz andrer Verse und Romane immer bemühen, wie die tadellos gekleideten Chefs größerer Exportfirmen zu wirken!)

Etwas von dem Glanz jenes Abends lebt immer noch in meiner Erinnerung, verbunden mit der an ein mir liebes schönes Frauengesicht, dessen edle und von viel Schwerem verschattete Anmut ich im Glück und der Heiterkeit jener Stunden aufblühen sah zu neuer Jugend.

Vielleicht haben Sie jenen Abend über so vielen ähnlichen in Ihrem langen Leben vergessen. Aber ich bin gewiß, daß ein paar der Menschen, die damals über den rosenblätterbestreuten Tisch Ihnen zutranken, an Ihrem Festtag so dankbar jener Stunden gedenken werden wie Ihre Sie und alle die Ihrigen still grüßende

Agnes Miegel

Will Vesper

Bekenntnis

Allem Leben bin ich gut,

alles ist von meinem Stamme,

aller Freude, allen Leiden,

wie ich selber unverderblich,

bin voll Angst, voll Übermut,

göttlich alles und unsterblich.

Gut und Böse, nicht zu scheiden,

Auch das Grauen, hundertfache

alles rollt in meinem Blut,

Ungeheuer, Molch und Drache,

wie die Welt, die bunte, ganze.

Liebestrug und Lebenslist,

Gestern Trauer, heut im Tanze!

Schlange, die am Herzen frißt,

Alles ringt und windet sich

leg ich still an meine Brust,

durcheinander wunderlich,

lasse ihr mein Blut mit Lust,

und das Auge, wimpernaß

weil das Leid auch Gottes ist.

lacht schon auf im Übermaß.

Bin schon tausendmal gestorben

Bruder ist mir Mensch und Tier.

und hab immer doch zuletzt

Nichts, ach gar nichts ist gering:

weltermattet, leidzerfetzt,

Vogel, Blume, Schmetterling,

ewige Seligkeit erworben,

alles wohnt und webt in mir,

schreite, stürme weltenlang,

hoher Stern und kleine Flamme!

auf den Lippen Lobgesang!

Paul Fechter

Ernte des Lebens

Mein lieber Vesper!

Der lebensrichtigste Vers von Goethe scheint mir, je erwachsener ich werde, das Schlußwort des Parzenliedes zu sein: „Denkt Kinder und Enkel —Und schüttelt das Haupt.“ Wo man hintritt, tritt man auf Kinder und Enkel — und es ist doch noch gar nicht so lange her, da waren wir selber Kinder und Enkel, und irgendwelche Ahnherrn schüttelten mit Recht oder Unrecht mehr oder weniger kummervolle Häupter über uns. Was uns aber sehr Wurst war.

Ich gebe zu: ganz einfach haben es weder die Ahnen noch wir selber mit uns gehabt. Du und ich, wir sind jetzt seit Jahrzehnten gute Freunde — und die Grundlage dieser Freundschaft war ein so amüsantes Fundament, daß schon darüber alle möglichen Vorfahren berechtigt gewesen wären, leicht gekränkt ihre würdigen Häupter zu schütteln.

Man hat mir des öfteren in meinem Leben den sogenannten Stuhl vor die Türe gesetzt, das heißt, mir in allen möglichen Formen, wie man das im Berufsjargon nennt, gekündigt. Ich mußte eine Zeitschrift aufgeben, weil ich angeblich als Arbeitskraft zu teuer war; ich mußte aus einer anderen verschwinden, weil ich mich ebenso angeblich um die Familieninteressen des Herausgebers nicht gekümmert hatte. Die amüsanteste Kündigung aber verdanke ich Reimar Hobbing und der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“. Mein Freund und Leidensgefährte im Sitzenbleiben, schon von der Schule her, der Hofprediger Doehring, hatte mich 1918 Hobbing als Feuilletonredakteur für die von ihm neuerworbene „Norddeutsche Allgemeine“, in die Arme gelegt — und der hatte mich ahnungslos in eben diese Arme genommen. Er hatte, wie damals alle deutschen Verleger, denen eine größere Zeitung in die Hände gefallen war, den Traum, eine deutsche Times aus dem braven offiziösen Blatt zu machen. Der richtige Weg dazu schien ihm, das geistige Niveau dieser Berliner Times so zu senken, daß als Normalleser, wie er das gern ausdrückte, der Postschaffner von Stallupönen gelten konnte. Für den sollte ich das Feuilleton der DAZ herstellen: ihn sollte ich als Norm nehmen. Es gab lange Gespräche; ich bockte. Das erste Ergebnis war natürlich, daß sich keine Times-Auflage einstellte — und das zweite, daß ich nach einem Jahr den blauen Brief, die Kündigung, bekam. Ich war zuerst wütend, aber dann mußte ich lachen: als Grund der Kündigung war nämlich „Mangel an Gemüt“ angegeben. Ich sah wieder den Idealleser, räumte das Feld und war nur noch neugierig, wer mich als Gemütskrösus ersetzen würde.

Machen wir es kurz; Du saßest mir eines Tages gegenüber, der Lyriker Will Vesper, der Herausgeber der „Ernte“, Übersetzer mittelhochdeutscher Literatur von Wolfram bis zum „Armen Heinrich“, nun eben Will Vesper. Wir besahen einander mit dem Mißtrauen, mit dem Vorgänger und Nachfolger einander gewöhnlich zu besehen pflegen; wir sagten nicht viel, beschlossen beide, mal abzuwarten, und machten uns an die Arbeit. Mir hatte man mit Rücksicht auf mein mangelndes Gemüt die Theater-und die Kunstkritik in die Hände gedrückt; Du suchtest Dir, statt der gemütlosen Schreiberlinge der damaligen Gegenwart, die gemütvollen der Vergangenheit, von Wackenroder und Brentano bis zu Kant und Herder und ähnlichen trefflichen Insassen des Konversationslexikons heraus. Die kleinen Mädchen der Honorarabteilung kamen jeden Tag und wollten von Dir die Adressen von Dr. Fichte oder Professor Hebbel, um ihnen Honorar und Belege zu schicken. Reimar Hobbing fand Dein Prinzip nicht nur gemütvoller als meines, sondern auch billiger: es erschien ihm ausgezeichnet für die Senkung der Herstellungskosten des Blättchens. Ja, und ich sah mir Deinen Appell an die Reste der allgemeinen Bildung, die bei den Lesern schon damals nicht mehr groß waren, nicht ohne leise Bosheit an: ich war neugierig, wie lange eine Zeitung dieses tägliche Graben an den Wurzeln der Unsterblichkeit der Nation vertragen würde.

Immerhin: eines war beachtenswert: der Gekündigte und der Mann, der ihn ersetzt hatte, saßen nicht etwa böse, tückisch und lauernd einander gegenüber, sondern betrachteten sich sehr bald nicht ohne Wohlwollen, gingen schon nach vierzehn Tagen selbander nach Redaktionsschluß die Wilhelmstraße entlang heimwärts und fanden, je länger desto mehr, Gefallen aneinander. Du warst damals ein ausgezeichnet aussehender Mann in den dreißiger Jahren, Du sahst so gut aus, daß unser gemeinsamer Tabakhändler Belling, der vom Kriegsministerium in der Leipziger Straße her wirklich an gut aussehende Kunden gewöhnt war, mich eines Tages, als ich einmal allein seinen Laden betrat, äußerst interessiert interpellierte, wer denn der ausgezeichnet aussehende, schöne Mensch wäre, mit dem ich gewöhnlich käme. Ich mußte erst nachdenken, ehe ich ihm Bescheid sagen konnte: so schön waren wir alle beide, nicht einmal ich, mir bis dahin vorgekommen.

Aber ich kann es nicht leugnen: als ich Dich daraufhin am nächsten Tage kritisch musterte, konnte ich Herrn Belling eigentlich nicht ganz unrecht geben, und ich begriff die kleinen Mädchen der Honorarabteilung durchaus, die manchen Tag zu zweien und zu dreien mit den Anschreibnummern kamen und grundsätzlich nur mit Dir, nicht mit mir verhandelten, was mein ebenfalls liebebedürftiges Herz schwer auf Moll und Melancholie stimmte.

Dein Leben aber war schon damals bestimmt durch Dein ganzes Dasein, nicht bloß durch Deine Arbeit. Du sahst erfreulich unliterarisch aus, trugst keine Intelligenzbrille und hattest keine Füllfederfinger! Gewiß, Du schriebst, sogar Gedichte; Du warst aber zugleich so sehr richtiger Mensch, daß ich, je länger desto mehr, meinen Spaß an Dir hatte und Dir immer näherkam, obwohl Du meine Gemütlosigkeit mit Deinem (wenn auch zum großen Teil historisch fundierten) deutschen Gemüt abgelöst hattest. Wir gingen einmal selbander zu Eduard Plietzsch, Bodes ehemaligem Helfer am Kaiser-Friedrich-Museum, der damals am Lützowufer, in der früheren Wohnung von Walter Gropius hauste. Plietzsch zeigte Dir das gesellige Gemach, in dem Gropius ein langes Wandsofa mit einer winklig auf- und absteigenden, oben holzverkleideten Rücklehne um fast den ganzen Raum herumgeführt hatte. Deine erste Frage an den Hausherrn war, ob er Kinder hätte? Plietzsch verneinte. Du aber sagtest nur „Schade“ und zeigtest ihm dann, was für ein herrlicher Kletterweg für Vier- und Fünfjährige diese eckig gewordene Jugendstillehne des Gropiusmöbels sein müßte. Ich kann es nicht leugnen: Du wurdest mir dadurch noch sympathischer!

Natürlich: wir haben auch mit Literatur und mit Menschen der Literatur zu tun gehabt. Du holtest den langen Peter Rassow zu uns auf die Redaktion und den kleinen Fritz Böhme, der die Tanzkritik erfand, und wir hockten mit den Harnacksöhnen in Deiner Pension am Wittenbergplatz zusammen und retteten die leicht verwirrte Welt. Du hattest ja schon allerhand literarische Vergangenheiten hinter Dir, warst bei Beck in München im Verlag tätig gewesen, hattest ihn auf Spengler verwiesen, dessen „Untergang des Abendlandes“ mit einem ganz anderen unwirksamen Titel zuerst in einem Wiener Verlag erschienen und unbeachtet geblieben war. Du wiesest den alten Herrn Beck auf das Buch; er holte es in seinen Verlag; wenn ich mich nicht sehr irre, hast Du den jetzigen Titel vorgeschlagen — und die Sache wurde ein Erfolg, fast so groß wie der Deiner beiden Langewiesche-Bände der „Ernte“, die selbst heute immer noch die beste Anthologie unserer deutschen Lyrik sind. Vor allem sind die Gedichte, die sie enthält, noch nicht gekürzt, wie heutige Sammler von Versen das gern zu machen pflegen: damals war noch die Zeit des Respekts — den inzwischen langsam, aber sicher der Teufel geholt hat. Du hattest viele Freunde unter den damals noch unter uns wandelnden Gestalten der größeren Zeit: Frank Wedekind gehörte dazu und Richard Dehmel, René Schickele und viele andere — und schließlich fügte es das Schicksal, daß auch wir beide, abseits von Beruf und Schreibkram, durch allerhand gemeinsam Erlebtes — nicht immer ganz leichter Art — gute Freunde, und nicht bloß gute, sondern wirkliche Freunde wurden.

Diese Freundschaft hat allerhand Belastungsproben bestanden: wir haben einmal sogar gemeinsam ein Buch geschrieben, das „Lob der Armut“ — weißt Du noch? Es geschah in der Inflation, als es uns allen sehr dreckig ging: Das Buch wurde sehr schön; Peter Scher aber dichtete im „Simplizissimus“ ein herrliches Gedicht auf unser Machwerk — und da Du ein sehr geschätzter und beliebter Mitarbeiter des Simplizissimus warst, schob er das Ganze und seine Gemütlosigkeit mir allein in die Schuhe und hob also an:

Wenn Dir der Stiefel klafft, Du deutsches Wesen,

wenn Dir der Hintere durch die Hose sticht:

Verzage nicht!

Dann mußt Du Fechters Lob der Armut lesen.

Als ich mich lachend bei Scher beschwerte, daß er mir allein das Opus in die ebenfalls klaffenden Schuhe geschoben hätte, entschuldigte er sich: ich wäre ja, Gott sei Dank, nicht sein Mitarbeiter, da hätte er mich ruhig anöden dürfen: Dich aber hätte er-sich nicht zu nennen getraut. „So war das damals“ —hätte es wahrscheinlich in der Islandsaga oder mindestens bei Hamsun gehießen.

Ach, lieber Will Vesper: vieles wäre noch zu erinnern. Wie oft bin ich bei Dir in Meißen Dein Gast gewesen: wie oft sind wir abends hinausgewandert — ins Spargebirge, und haben den vorzüglichen roten Sparburgunder, Jahrgang 1921, getrunken; wir sind hinaufgestiegen nach Schloß Siebeneichen zu Frau von Miltitz und haben mit ihr das alte Schloß durchwandert, für dessen Kapelle Lucas Cranach das Altarbild gemalt hatte, das noch immer an der alten Stelle leuchtete, für die es ursprünglich bestellt war. Wir sind oben auf dem Boden herumgezogen, wo wir die Mineraliensammlung besichtigten, die einst Novalis, als er im nahen Freiberg auf der Bergakademie studierte, zusammen- und dann hierher zu Miltitzens gebracht hatte. Dort drüben in der Bibliothek hatte noch Goethe gesessen — und das alles war lebendige Gegenwart und nicht tote Literaturgeschichte, wie ja für Dich (und ebenso für mich) die ganze Landgeschichte auch niemals Historie geworden, sondern immer nur lebendige Gegenwart, nahe Wirklichkeit geblieben war. Du arbeitetest damals an Deinem Roman um den jungen Luther: Du hattest gerade „Das harte Geschlecht“ geschrieben, nach der Saga von „Ref, dem Listigen“, den wir dann in der DAZ druckten, obwohl Du die längst wieder verlassen hattest, um auf Deinem großen Gartenland an der Elbe Äpfel, Kirschen und Kartoffeln zu züchten. Es ging Dir ja im Grunde ebenso wie mir: Schreiben war ganz schön (bei Dir artete es oft sogar in Dichten aus); dahinter aber saß als das viel Wichtigere wortlos der große Respekt vor der Wirklichkeit des Lebens, d. h. des Landes, der Erde, des Volkes, die am Ende für uns beide das eigentlich Wirkliche waren. Meine Jugend hieß Holz; ich war zu Hause auf Balken und unter Zimmerleuten groß geworden: Du kamst vom Lande, vom Boden her — und warst damit dem Ganzen der deutschen Welt noch viel näher verbunden als ich.