UN-VERHÜLLT - Julia Haart - E-Book

UN-VERHÜLLT E-Book

Julia Haart

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Beschreibung

Von der verhüllten ultraorthodoxen Jüdin zur Designerin und Unternehmenschefin in New York: Eine mitreißende, wahre Geschichte aus der Welt des ultraorthodoxen Judentums – verfilmt von Netflix Geboren in eine streng religiöse jüdische Familie und mit 21 verheiratet an einen ultraorthodoxen Juden, kennt Julia Haart die ersten 42 Jahre ihres Lebens nur die Unterwerfung unter die strikten Gebote ihrer Religionsgemeinschaft: Unbedeckte Haare, kurzärmelige T-Shirts, Miniröcke, Bikinis – all dies gilt als Insignien des Teufels. Und doch ist Julia Haart von Kindesbeinen an fasziniert von der Glitzerwelt der Mode. Als ihre Kinder alt genug sind, beschließt sie, aus ihrem alten Leben auszubrechen – und ihre Leidenschaft für schöne Kleidung zu ihrem neuen Lebensinhalt zu machen. Und das vermeintlich Unmögliche gelingt. Nach der Gründung eines erfolgreichen eigenen Schuhlabels und der Arbeit als Designerin für La Perla gilt Julia Haart heute als eine der bedeutendsten Playerinnen der internationalen Modewelt. In diesem Buch erzählt sie ihre beeindruckende Geschichte.

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Seitenzahl: 801

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Julia Haart

UN-VERHÜLLT

Mein Weg von der ultraorthodoxen Jüdin zur erfolgreichen Modedesignerin

Aus dem amerikanischen Englisch von Constanze Wehnes und Anja Schünemann

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Aufgewachsen in einer streng religiösen jüdischen Familie und mit 19 verheiratet an einen ultraorthodoxen Juden, kennt Julia Haart die ersten 42 Jahre ihres Lebens nur die Unterwerfung unter die strikten Gebote ihrer Religionsgemeinschaft, den Heimishe Yeshivishe: Unbedeckte Haare, kurzärmelige T-Shirts, Miniröcke, Bikinis – all dies gilt als Insignien des Teufels. Und doch ist Julia Haart von Kindesbeinen an fasziniert von der Glitzerwelt der Mode. Als ihre Kinder alt genug sind, beschließt sie, aus ihrem alten Leben auszubrechen – und ihre Leidenschaft für schöne Kleidung zu ihrem neuen Lebensinhalt zu machen. Und das vermeintlich Unmögliche gelingt. Nach der Gründung eines erfolgreichen eigenen Schuhlabels und der Arbeit als Designerin für La Perla gilt Julia Haart heute als eine der bedeutendsten Playerinnen der internationalen Modewelt. Bekannt wurde sie zuletzt durch die Netflix-Reality-Serie My unorthodox Life.

»Durch ihre ergreifenden Erinnerungen zeigt Julia Haart ihren Leserinnen und Lesern, dass es eher die Reise als das Ziel ist, die uns Erfüllung schenkt. Geschrieben mit großer Intensität und seltener Offenheit ist UN-VERHÜLLT eine Geschichte über die Sehnsucht nach mehr und die Erfüllung dieses Traums. Zutiefst persönlich geschrieben, offenbart das Buch universelle Wahrheiten über die Menschlichkeit und das Frausein.« Tommy Hilfiger

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Bildteil

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Anmerkungen

Ich widme dieses Buch meinen Kindern

Batsheva, Shlomo, Miriam und Aron.

Ohne euch wäre ich heute nicht am Leben!

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

 

ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie ein paar Stunden mit mir verbringen und mein Buch lesen. Ich habe 2017 angefangen UN-VERHÜLLTzu schreiben, etwa vier Jahre nachdem ich alles Bekannte und jede vertraute Person zurückgelassen und praktisch eine Zeitreise ins 21. Jahrhundert unternommen hatte. Unerträgliches Elend trieb mich zu dieser Reise an, ich musste fliehen, um nicht zu sterben. Ich trat ein in eine Welt, in der mich niemand kannte. Ich hatte keine Vergangenheit, niemand wusste von meiner Geschichte. Ich war eine Null. Doch tief in meinem Herzen spürte ich, dass meine Geschichte andere inspirieren kann, ihr Leben zu ändern, nach ihren Träumen zu greifen – und nicht erst auf eine Erlaubnis zu warten.

Eines möchte ich vorweg sagen: Ich bin gern Jüdin. Ich bin stolz auf mein Erbe, und ich glaube nicht, dass meine Erziehung und das Leben, das ich führte, irgendetwas mit dem Judentum zu tun hat. Im Judentum geht es – wie bei jeder anderen Religion auf dieser Erde – um Liebe und Mitgefühl und darum, für etwas Größeres als die eigenen Bedürfnisse zu leben. Ich denke, jeder Religion und ihren moralischen Konzepten wohnt eine Schönheit inne. Doch wenn diese Konzepte von Extremisten pervertiert werden, die glauben, jede Veränderung in ihren archaischen Gesetzen verstoße gegen Gottes Willen, dann können diese Wegweiser, die der Menschheit und der Welt doch eigentlich etwas Gutes wollen, zu einem unerträglichen Gefängnis werden.

Seit meine Serie My Unorthodox Life ausgestrahlt wurde, haben mich Tausende wundervolle Nachrichten erreicht. Menschen auf der ganzen Welt haben ihre eigenen, unorthodoxen Leben mit mir geteilt, mir von ihren Schwierigkeiten und Kämpfen erzählt. Von den vielen zehn Millionen Menschen, die sich die Serie angesehen haben, berichteten mir so viele, dass sie endlich den Mut fanden, ihr Leben zu verändern, die Menschen zu verlassen, die ihnen Schmerzen zufügten, den Sprung ins Unbekannte zu wagen. Denn Tatsache ist: Wenn ich es geschafft habe, dann kann es jede und jeder schaffen. Und diese Tatsache ist wundervoll und beängstigend zugleich.

Diejenigen, die leiden und nur einen kleinen Schubs brauchen, um sich zu erheben und ihr Leben oder das ihrer Lieben zu verbessern, sollen wissen, dass große Veränderungen in jedem Alter möglich sind. Ich hoffe, meine Geschichte verleiht ihnen Kraft und Glauben an eine bessere Zukunft. Mögen sie sich mit meinen Mühen bewaffnen und ihren eigenen mit Mut und Zuversicht entgegentreten.

Für diejenigen jedoch, die Angst vor dem Unbekannten haben, bin ich gefährlich. Ich bin eine Frau, die ihren eigenen Weg gegangen ist, und ich habe nicht nur überlebt, sondern bin auf diesem Weg auch erfolgreich geworden. Meine Geschichte passt nicht in das Narrativ derjenigen, die Religionen nutzen, um Frauen den Männern unterzuordnen. Meine bloße Existenz ist eine Bedrohung dafür.

My Unorthodox Life zeigt mein heutiges Leben, das noch immer von meiner Vergangenheit gezeichnet ist. Un-Verhüllt jedoch erzählt meine ganze Geschichte, so wie ich mich an sie erinnere. Dieses Buch führt Sie durch meine gesamte Reise, und das meine ich wortwörtlich. Ich gehe hart mit mir selbst und meinen Entscheidungen ins Gericht, ich erzähle unverblümt, was passiert ist. Ich stehe nackt vor Ihnen, völlig unverhüllt. Ich entblöße mein Herz und meine Seele vor Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Dieses Buch in die Welt zu entlassen, ist eine der schwersten Entscheidungen, die ich jemals getroffen habe. Ein Teil von mir will es verstecken und es als erlösende Übung für mich selbst in der Schublade verschwinden lassen. Doch das geht nicht. Ich habe eine Verantwortung. Wenn meine Geschichte anderen Menschen auf der Welt dabei helfen kann, eine bessere Zukunft zu finden, was bedeutet dann das Unbehagen einer einzelnen Frau gegen das Glück so vieler Menschen?

Das Bestreben, veraltete Gesetze zu ändern, ist für mich der Inbegriff von Liebe, denn es entstammt dem Wunsch, zukünftigen Generationen mehr Rechte und Freiheiten zu ermöglichen, als wir heute haben. So wie meine Kinder mir damals den nötigen Mut gaben, zu gehen, so haben mir die vielen Zuschauer von My Unorthodox Life, die mir von ihren eigenen Veränderungen erzählt haben, den nötigen Mut gegeben, dieses Buch zu veröffentlichen.

Vor Ihnen steht jetzt eine lächelnde, selbstbewusste Julia. Diese Freude und Selbstsicherheit musste ich mir hart erkämpfen. Es dauerte Jahre, bis ich Frieden schließen konnte mit dem, was mir gestohlen wurde, mit der brennenden Wut in meinem Herzen. Manchmal fühle ich mich so alt wie Methusalem und manchmal wie ein achtjähriges Kind, neugierig und entzückt über jedes neue erste Mal, jedes außergewöhnliche Erlebnis. Ich lerne noch immer dazu, öffne meinen Geist, fordere veraltete Denkmuster heraus und erschaffe neue Ideen und Möglichkeiten. Ich möchte Sie dazu auffordern, dasselbe zu tun. Seien Sie nicht zu stolz auf das, was Sie schon wissen. Finden Sie das Kind in sich und werden Sie wieder stolz darauf, wie schnell Sie Neues lernen und beherrschen können. Dieser Fähigkeit (verbunden mit unglaublicher Entschlossenheit) schreibe ich meinen Erfolg zu – und Gottes Hand. Seit dem Tag, an dem ich über die Türschwelle trat, sind mir viele Wunder passiert. Für mich sind sie der Beweis, dass man nur einen starken Willen und ein reines Ziel braucht. Dann wird Gott (oder wie immer Sie eine Höhere Macht nennen wollen) Ihnen zum Erfolg verhelfen.

Die Beschreibung der Fesseln, die die Gemeinschaft, in der ich aufwuchs, meinem Leben anlegte, ist in keiner Weise übertrieben. Ich wünschte, sie wäre es! Ich wünschte, ich hätte meine ersten zweiundvierzig Jahre nicht in ständigem Kummer verleben müssen.

Ich bitte alle Leserinnen und Leser, sich meine Worte zu Herzen zu nehmen. Ich öffne Ihnen die persönlichsten Winkel meines Lebens. Ich hoffe, meine Geschichte verleiht Ihnen Kraft. Ich hoffe, meine Geschichte lässt Sie innehalten und macht Sie nachdenklich. Ich hoffe, Sie lesen das Buch mit derselben Liebe und Sorgfalt, mit der ich es geschrieben habe. Ich hoffe, es ermutigt andere Frauen und Menschen, sich zu offenbaren, ihre Wahrheit mit der Welt zu teilen und für eine bessere Zukunft zu kämpfen.

 

Mit Liebe

Julia Haart

Kapitel eins

Unsere Abstammung ist das ultimative Prequel zu unserem Leben. Um sich selbst wirklich zu verstehen, muss man seine Geschichte verstehen, das komplexe Leben und Denken anderer, durch die das eigene Leben und Denken erst entstanden sind. Meine Eltern stammten aus dem russischen »Adel«. Mein Großvater väterlicherseits, im Zweiten Weltkrieg ein hoch dekorierter General der russischen Armee, war nach dem Krieg ein sehr einflussreicher Kommunist. Als mein Vater neunzehn war, wurde er zum Leiter des Komsomol ernannt (des Jugendverbandes der Kommunistischen Partei).

Auch meine Mutter hatte ein paar ganz brauchbare Vorfahren. Ihre Mutter war Ballerina im Bolschoi-Ballett und ihr Vater ein Erfinder, der eine Chemikalie entwickelte, mit der alte Fotos restauriert werden konnten. Mutters Familie lebte in Bender in Moldawien, im größten Haus in der Stadtmitte. Moldawien gehörte zeitweise zu Rumänien, zeitweise zur Sowjetunion. Auf wundersame Weise gelang es meinem Großvater, für seine Erfindung ein Patent zu erlangen – in einem Land, in dem unternehmerische Initiativen von Privatpersonen nicht erlaubt waren und individuelle Leistungen nicht anerkannt wurden. Er schaffte es dennoch. Meine Großeltern führten ein sehr privilegiertes Leben.

Lina, meine Mutter, hatte eine Schwester. Meine Mutter galt als die »kluge Schwester«, während Elena die »schöne Schwester« war. Dabei sehen die zwei auf Fotos, die sie als junge Frauen zeigen, fast gleich aus, beide auffallend hübsch und chic. Doch die Rollen waren nun einmal verteilt. Ich habe immer wieder erlebt, wie jemand meiner Mutter ein Kompliment zu ihrem Äußeren machte und sie daraufhin nur ungläubig schaute und den Kopf schüttelte.

Meine Mutter nahm ihre Rolle als »kluge Schwester« sehr ernst. Auf ihrem gesamten Bildungsweg bekam sie nichts als Bestnoten, vom Kindergarten bis hin zu ihren zwei Doktortiteln, einem in Mathematik und einem in Philosophie. Sie wurde sogar von der sowjetischen Regierung mit einer Goldmedaille ausgezeichnet, weil sie nie auch nur eine einzige Prüfungsfrage falsch beantwortete.

Als sie neunzehn war, lernte sie einen äußerst attraktiven und charmanten jungen Mann namens Michael kennen. Mein Dad ist charismatisch und kann wunderbar mit Menschen umgehen. Alle lieben ihn. Er ist der Mittelpunkt jeder Party. Er ist nicht nur brillant und ein Ingenieur (er und meine Mom haben für IBM gearbeitet und waren an der Entwicklung des ersten PC beteiligt), sondern ist zudem noch Konzertpianist, Gitarrist und ein fantastischer Tänzer.

Meine Mom ist ruhig und nachdenklich, in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von ihm. Sie ist sehr ernst, geradezu melancholisch. Sie verliebte sich in seine Lebhaftigkeit, er sich in ihre Leidenschaftslosigkeit. Sie war die einzige Frau, die nicht auf der Stelle von ihm hingerissen war, und nicht leicht zu gewinnen, sie stellte ihn vor Herausforderungen, und gerade das liebte er.

Binnen sechs Monaten waren die beiden unzertrennlich. Er war überzeugter Kommunist, sie hingegen hegte ernsthafte Zweifel. Dabei wurde sie später sogar noch ideologischer und fundamentalistischer in ihrer Religion, als mein Vater es als Parteimitglied je war – ihre Überzeugung sollte unser aller Leben bestimmen.

 

Da mein Vater einen so hohen Rang im Komsomol innehatte, wurde ihm die ganz spezielle Aufgabe übertragen, durchs Land zu reisen und die kommunistische Lehre zu predigen – man hoffte, als scharfsinniger und leidenschaftlicher junger Mann werde er andere inspirieren und ihren Glauben an das System stärken. Zu jener Zeit war Breschnew an der Macht, und Reisen war verboten. Ausnahmen gab es nur für die ganz Linientreuen. Das Volk sollte nicht sehen, wie weit die kommunistische Realität von dem Ideal entfernt war, das Karl Marx verheißen hatte. Aber mein Vater galt als so unerschütterlich linientreu, dass nicht zu befürchten stand, er könnte desillusioniert werden, und man fand, seine positive Ausstrahlung und seine einnehmende Art würden andere bestärken. Er war natürlich völlig begeistert und lud seine Freundin ein, ihn zu begleiten. Lina, stets neugierig, wenn auch bereits skeptisch bezüglich der Wahrheit des Kommunismus, schloss sich ihm mit Freuden an.

Doch was dann kam, verlief ganz und gar nicht so wie von der Partei beabsichtigt. Lina und Michael bekamen ein Land zu sehen, das völlig aus den Fugen war. Die meisten Leute, die sie trafen, betranken sich regelmäßig, waren nicht vor Mittag wieder nüchtern und führten ein unerträgliches Leben. Meine Mutter war ohnehin schon desillusioniert, da sie ihr Leben lang mit unterschwelligem Antisemitismus zu kämpfen hatte – ihr Heimatland war nicht gerade bekannt dafür, Juden ein gutes Leben zu bieten. Nun verlor sie den letzten Rest ihres Glaubens an den Kommunismus. Und die Überzeugung meines Vaters, durch jene schicksalhafte Reise schwer erschüttert, brach unter ihren unwiderlegbaren Argumenten vollends zusammen.

Meine jungen Eltern waren von Natur aus Gläubige, und so machten sie sich auf die Suche nach etwas, das den Kommunismus ersetzen konnte. Sie entdeckten das Judentum. Ihre jüdische Abstammung war für meine Mutter von jeher eher ein Hindernis gewesen, schon von klein auf war sie immer wieder auf unangenehme Weise daran erinnert worden. Nun wollte sie mehr darüber erfahren, sie wollte verstehen, was es eigentlich heißt, jüdisch zu sein.

Natürlich war die Religionsausübung damals verboten, und die Gulags und Gefängnisse waren voll mit Leuten, die alles riskiert hatten, um ihren Glauben zu praktizieren. Selbst ein religiöses Buch zu lesen konnte einen schon hinter Gitter bringen. Dennoch beschritten die beiden den gefahrvollen Weg, um mehr über ihr Erbe zu erfahren. Treffen mit gleichgesinnten, ebenfalls wissbegierigen Juden fanden zu nächtlicher Stunde in Kellern statt. Jeder Nachbar oder Fremde, sogar jeder Freund konnte schließlich ein Spitzel sein. Wenn ein Mitglied der Gruppe gefasst wurde, bestand die Gefahr, dass derjenige unter der Folter die Namen aller anderen Mitglieder preisgab. Heimlichkeit war also oberstes Gebot, und überall lauerten Gefahren. Für zwei idealistische junge Leute in den Zwanzigern war das genau das Richtige: eine Sache, an die sie glauben und für die sie ihr Leben riskieren konnten. Von klein auf hatte man ihnen eingetrichtert, das Edelste und Höchste sei es, einen Daseinsgrund außerhalb seiner selbst zu finden, sein Leben einer Sache zu widmen, es notfalls auch dafür zu opfern. Nun hatten sie sich eben für eine andere Sache entschieden.

Den Risiken zum Trotz nahm meine Mutter sogar die Mikwe auf sich, das rituelle Bad, um sicherzustellen, dass ich rein geboren wurde. Frauen müssen sieben Tage nach dem Ende ihrer Periode dreimal in einer Mischung aus Regenwasser und normalem Wasser untertauchen, um wieder rein zu werden. Natürlich gab es in Moskau kein jüdisches Badehaus. Doch das war für meine Mutter kein Hindernis – sie fand heraus, dass man das Ritual stattdessen auch in einem offenen Gewässer vollziehen konnte. Und so vollzog sie das Tauchbad im Schutz der Nacht und unter Einsatz ihres Lebens im Schwarzen Meer. Meine Mutter fand, je schwieriger die Aufgabe, umso größer der Lohn.

Einen Monat nach ihrer Reise durchs Land, als meine Mom einundzwanzig war und mein Dad zwanzig, heirateten sie. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Mein Vater bekam einen sehr hohen Posten in der Kommunistischen Partei angeboten (und in der Sowjetunion machte die Partei »Angebote«, die man nicht ablehnen konnte), eine Position im Zentrum der sowjetischen Staatsmacht, wo er ständig unter dem wachsamen Auge des KGB gelebt hätte. Und meine Mutter wurde schwanger.

Ein Doppelleben – sich heimlich weiter mit dem Judentum zu beschäftigen, während mein Vater gleichzeitig ein führender Kommunist war – wäre unmöglich gewesen. Doch es war nun einmal ein Angebot, das er buchstäblich nicht ablehnen konnte. Also zog meine Mutter, im achten Monat schwanger, vor das Zentralkomitee. Sie erklärte, wenn mein Dad diese neue Position anträte, deshalb viel reisen müsste und kaum bei seiner Familie sein könnte, würde sie sich das Leben nehmen. Damit wäre auch der noch ungeborene zukünftige Kommunistenführer (meine Wenigkeit) in Gefahr. Meine Mutter ist eine Naturgewalt, und diese bloßen Sterblichen hatten ihr nichts entgegenzusetzen. Sie zogen ihr Angebot zurück. Mein Dad durfte weiter seiner Arbeit als Ingenieur in der Forschung nachgehen, während meine Mutter an ihrer ersten Promotion arbeitete.

Doch schließlich wurde ihnen das Leben in der Sowjetunion zu viel. Meine Geburt war der Auslöser – sie wollten ein besseres Leben für ihr Kind, und so begannen sie den strapaziösen Prozess der Auswanderung.

Sobald man einen Ausreiseantrag stellte, galt man als Staatsfeind, denn das bedeutete, dass man ein kapitalistisches Schwein war und nicht an die kommunistischen Ideale glaubte. Die Leute, die Ausreiseanträge stellten, nannte man Refuseniks, weil in den meisten Fällen die Erlaubnis nie erteilt wurde. Die Sowjets führten sogar eine Steuer ein, die jeder Emigrant mit einem Hochschulabschluss zahlen musste. Die Höhe entsprach fünf Jahresgehältern, was für die meisten Leute unbezahlbar war. Doch meine Familie zählte zu den Glücklichen. In den USA wurde das Jackson-Vanik Amendment verabschiedet, eine Regelung, die im Grunde darauf hinauslief, dass Amerika Getreide gegen Juden eintauschte. Aus Protest gegen den eklatanten Antisemitismus in Russland hatten die USA nämlich ein Getreideembargo gegen die Sowjetunion verhängt, und da in der UdSSR ohnehin gerade Getreideknappheit herrschte und das Volk hungerte, verschärfte das Embargo die Situation und führte zu einer bedrohlichen Notlage. Meine Familie wurde buchstäblich gegen Nahrung eingetauscht.

Sie nahmen mich mit, die Gitarre meines Dads und eine einzige amerikanische Dollarnote, die ein Mitglied ihres jüdischen Untergrundnetzwerks irgendwie aufgetrieben hatte. Es war 1974, ich war drei Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt hatten meine Eltern bereits seit drei Jahren heimlich Englisch und Hebräisch gelernt und beherrschten beide Sprachen fließend. Meine Mutter spricht heute noch mit britischem Akzent, weil die verbotenen Tonkassetten, die sie in Moskau gehört hatte, aus Großbritannien stammten.

 

Die gemeinnützige Organisation, die für jüdische Refuseniks zuständig war – die Hebrew Immigrant Aid Society, kurz HIAS – schickte uns von Moskau zunächst in ein Aufnahmezentrum in Wien. Ich habe keine Erinnerungen an meine Zeit in Wien, obwohl wir sechs Monate dort zubrachten, ehe geklärt war, welches Land uns aufnehmen würde. Von Wien aus wurden wir in ein anderes Aufnahmezentrum in Rom weitergeschickt, wo über unser weiteres Schicksal entschieden werden sollte.

Meine ersten glücklichen Erinnerungen stammen aus der Zeit in Rom: wie ich zum ersten Mal eine Kirsche sah und probierte, wie ich zum ersten Mal Pizza aß. Wenn ich die Augen schließe, kann ich heute noch den Käse und die Soße riechen. Ich hatte noch nie von Tomaten gehört, deshalb war Marinara-Soße für mich wie etwas von einem fremden Planeten. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Vater Rom erkundete (meine Mutter begleitete uns nie auf diesen Streifzügen, für sie war das Zeitverschwendung), wie ich auf der Straße Pizza aß und die Soße mir über die Hand lief – diese Szenen gehören zu meinen glücklichsten Kindheitserinnerungen. Ich begriff noch nicht, wie unsicher unsere Lage war und dass wir kein Zuhause hatten. Ich wusste nur, dass ich aus einer Welt voller grauer Gebäude und gekochter Kartoffeln an einen magischen Ort versetzt worden war, wo die Leute farbenfroh gekleidet waren und es Kirschen und Tomaten gab.

Der erste Streit zwischen meinen Eltern, an den ich mich erinnern kann, fand ebenfalls in Rom statt. Sie versuchten, sich zu einigen, in welchem Land sie leben sollten. Mein Vater wollte nach Israel, doch meine Mutter hielt das für zu gewagt. In ihren Augen war Israel noch immer ein Entwicklungsland. Was sollten zwei Ingenieure dort anfangen? Meine Mutter wollte nach Australien gehen, so weit wie möglich weg von der Sowjetunion. Er war für Israel, sie für Australien, und am Ende wurden es die USA.

Und damit komme ich zu meinem Namen. Meine Eltern wollten mich eigentlich Berenika nennen (so hieß dann später unser Hund), weil es in der russischen Geschichte eine jüdische Prinzessin dieses Namens gab. Doch die russischen Behörden lehnten die Namensgebung ab – der Beamte, der den Fall bearbeitete, sagte, mit einem so offensichtlich jüdischen Namen würden meine Eltern mir meine Zukunft verbauen. Ich bin diesem Beamten wirklich zu großem Dank verpflichtet. Meinen Eltern fiel jedoch nichts anderes ein, und so blieb ich monatelang namenlos. Als ich in das Alter kam, in dem die meisten Babys anfangen zu krabbeln, begann ich stattdessen zu kreiseln: Ich setzte mich aufs Hinterteil und drehte mich krähend und glucksend um mich selbst. Da nannten sie mich Yulia nach dem russischen Wort für Kreisel, jula. Später, als ich in den Zwanzigern war, änderte ich meinen Namen offiziell in Julia, auch wenn mich zu der Zeit alle meine Bekannten Talia nannten. Ich wollte einfach das letzte Überbleibsel meines schändlichen Russischseins, das mich von meinen Freundinnen unterschied, austilgen. Ich wollte nicht Yulia sein, also musste aus dem Y ein J werden.

Ich habe noch mehr Erinnerungen an Rom, zum Beispiel, wie ich einmal dem Papst begegnete und seinen Segen empfing. Dass meinen Eltern diese Ehre zuteilwurde, war dem ausgezeichneten Klavierspiel meines Vaters zu verdanken. Sein Ruf drang bis zum Heiligen Stuhl, der sich so für die jüdischen Refuseniks eingesetzt hatte. Mein Vater wurde eingeladen, vor dem Papst zu spielen, und nahm sein einziges Kind (meine Wenigkeit) mit, denn er fand, es täte einem kleinen Kind gut, einer großen Persönlichkeit gegenüberzustehen. Ich erinnere mich nur noch an all den Pomp und welches Aufhebens alle um einen gütigen Mann mit sanften Augen machten, der mir seine Hände auf den Kopf legte.

In dem Aufnahmezentrum gab es noch eine andere brillante Pianistin. Sie hatte einen Sohn, und dank ihm wurde mir klar, dass ich alles liebte, was mit Mode zu tun hat. Er war fünf Jahre alt, ein Jahr älter als ich, und verrichtete kleine Arbeiten – die Leute gaben ihm Geld dafür, weil er so niedlich war. Und von diesem Geld kaufte er mir meine allererste Handtasche (italienisches Leder!). Damals begann meine Liebesgeschichte mit der Mode.

Um die Übergangseinrichtung verlassen zu können, brauchte man eine Patengemeinde, und eine Zweigstelle der HIAS in Austin, Texas, entschied, diese Patenschaft für meine Familie zu übernehmen. Ich habe noch das Foto, das damals nach Austin geschickt wurde, und ich kann verstehen, dass ihre Wahl auf uns fiel. Meine Mutter ist auf dem Bild sechsundzwanzig Jahre jung, schlank, mit smaragdgrünen Augen und langem, pechschwarzem Haar, das ihr bis zur Taille reicht. Sie sieht bezaubernd aus und wirkt mit ihrer dicken Brille sehr ernsthaft, wie eine elegante Bibliothekarin. Mein Vater hat sich seine Gitarre umgehängt und sieht mit seinem prächtigen Schnurrbart und dem welligen Haar aus wie ein zu klein geratener Clark Gable. Ich war ein Pummelchen, und bis ich sechs wurde, nannten alle mich Blinzy, weil ich aussah wie eine gefüllte Blinze. Ich stehe auf dem Foto breitbeinig da, eine Hand in die Hüfte gestemmt. Wir sehen ganz bezaubernd aus, so, als müsse man uns unbedingt adoptieren. Und natürlich war da noch die Tatsache, dass IBM meine Eltern für das neue PC-Entwicklungsprogramm im Austin Research Laboratory rekrutieren wollte.

 

In Texas erhielten wir eine Wohnung, für deren Miete die jüdische Gemeinde von Austin aufkam, sowie Lebensmittel und etwas Geld für den Start. Meine Eltern waren beide bei IBM angestellt, während meine Mom zugleich ihre Promotion abschloss, und binnen zwei Jahren zahlten sie das Geld, das die HIAS in die Patenschaft gesteckt hatte, bis auf den letzten Dollar zurück. Danach unterstützten sie die Organisation noch jahrelang mit Spenden.

Wir begannen, den amerikanischen Traum zu leben. In der Weihnachtszeit unseres ersten Jahres in Austin drehte die NBC sogar eine Story über uns. Wir waren ein Kuriosum: eine aus Russland emigrierte jüdische Familie, die in Austin, Texas, lebte. Das war zehn Jahre vor der Perestroika, als Gorbatschow Zigtausende Russen an Amerikas Küsten trieb. Ich traf erst wieder einen anderen Russen, als ich bereits vierzehn war und in New York lebte. Binnen drei Jahren zogen wir aus unserer ersten Wohnung in ein Reihenhaus um und dann in unser ganz eigenes Haus am Rickey Drive. Es war ein wunderschönes Haus am Ende einer Sackgasse. Wie ich dieses Haus geliebt habe! Meine Eltern schenkten mir sogar eine Hündin, die wir, wie schon erwähnt, Berenika nannten (ich rief sie immer Nikka). Sie war ein Schäferhund-Collie-Mischling, und ich war ganz vernarrt in sie. Ausgewachsen war sie so groß, dass sie zur Begrüßung, wenn ich aus der Schule kam, über mich hinwegsprang, statt mich anzuspringen. In meinen Augen war sie einfach perfekt.

Ich besuchte die Grundschule. Als ich sieben war und in die zweite Klasse ging, gab es einen wichtigen Test, der darüber entschied, auf welche Schule man anschließend kam. Ich war seit nicht einmal drei Jahren im Land und hatte gerade erst Englisch gelernt, deshalb fürchtete ich, schlecht abzuschneiden und auf eine Schule für weniger Begabte geschickt zu werden. Doch meine Sorgen waren unbegründet: Ich erreichte eine der höchsten Punktzahlen im ganzen Bundesstaat Texas.

Durch dieses Testergebnis wurde ein sehr prominenter texanischer Unternehmer namens Jeremy Wilmington auf mich aufmerksam, der ein Förderer der Wilford School war, einer der angesehensten Privatschulen in Austin. Er war ein typischer WASP – ein weißer angelsächsischer Protestant – und sah aus wie ein Filmschauspieler. Er erklärte meinen Eltern, ich sei zu begabt für eine öffentliche Schule, und sie sollten versuchen, für mich einen Platz an der Wilford School zu bekommen. Meine Eltern waren begeistert. Es war eine ungeheure Ehre, von diesem großartigen und immens reichen Mann beachtet zu werden.

Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal das Haus der Wilmingtons betrat – ein wahrer Palast. Sie hatten eine Tochter in meinem Alter, Kristin, mit einem wirren, verfilzten roten Haarschopf – in all den Jahren, die ich sie kannte, hat sie sich nie gekämmt. Sie besaß einen Papagei namens Barkley, der Ausdrücke rief, die einen Seemann zum Erröten gebracht hätten. Kristin liebte Barkley, mir graute vor ihm. Sie hatte auch einen Baum in ihrem Zimmer. Einen echten Baum! Das Zimmer war riesig, und mitten darin stand ein richtiger Baum mit Stamm und Ästen, und ganz oben gab es ein Baumhaus. Dorthin zog sie sich gern zum Lesen zurück. Wir stiegen hinauf, nahmen Muffins und Kekse mit, die das Hausmädchen frisch aus dem Ofen geholt hatte, und dann saßen wir in ihrem Baumhaus mitten in ihrem Zimmer und lasen. Es wurde mein absoluter Lieblingsplatz. Kristins ganzes Leben schien sich in einer Zauberwelt abzuspielen. Es war ein warmes, glückliches, ganz und gar verrücktes Haus. Ein bisschen wie bei Alice im Wunderland, wo oben unten ist und unten oben.

Jeremy war ein Riese (okay, für mich ist jeder über eins achtundsechzig ein Riese, aber er war wirklich sehr groß, größer als eins neunzig). Er sah aus wie ein Präsident. Tadellos gekleidet, dichtes Haar, perfekte Ausdrucksweise, wie jemand aus einem Film. Und er lächelte immer. Zufrieden und selbstbewusst. Russen lächeln nicht so viel. Selbst wenn ein Russe sich betrinkt, wird er schwermütig, nicht lustig. Wenn man an all die großen russischen Schriftsteller denkt … Tolstoi, Dostojewski, Gogol. Die Figuren in ihren Romanen werden immer ermordet oder begehen Selbstmord. Fröhlichkeit ist für Dumme. Meine Eltern hatten es auch nicht so mit dem Lachen oder Lächeln, vor allem meine Mom nicht.

Bei Kristin zu Hause wurde gelacht. Ihre Familie hatte mehrere Hausmädchen, eine Kinderfrau, einen Chauffeur, einen Gärtner und eine Köchin, und trotzdem herrschte ständig Chaos. Fröhliches, absurdes Chaos. Kristins Mutter war der ruhigste Mensch, dem ich je begegnet bin. Ich konnte mir vorstellen, warum. Das Haus war immer das reinste Irrenhaus. Kristin war irgendetwas zwischen einem freien Geist und einem wirbelnden Derwisch.

Zu dem Haus gehörten vier Hektar Land, und als die Wilmingtons meine Eltern und mich in jenem ersten Jahr unserer Bekanntschaft zu Thanksgiving einluden, wurde ein Truthahn serviert, den Jeremy selbst auf der Jagd erlegt hatte. Ich hatte noch nie davon gehört, dass jemand jagen ging, für mich klang das wie aus einem Westernfilm.

Jeremy dachte, aufgrund meines unglaublichen Testergebnisses würde es ein Leichtes sein, für mich einen Platz an der Schule zu bekommen. Schließlich hatte ich alle anderen Kinder im Staat übertroffen, und meine Eltern waren zu dieser Zeit finanziell bereits gut situiert, sodass das Schulgeld kein Problem war. Es schien, als könnte es nichts Einfacheres geben. Doch das erwies sich als gewaltiger Irrtum.

Anfangs redete die Schule sich heraus, es gebe keinen Platz für mich. Schließlich erklärte die Schulleitung Jeremy in einem vertraulichen Gespräch, man wolle mich nicht aufnehmen, weil ich Jüdin sei. Zu der Zeit hatte die Schule vierhundert Schülerinnen und Schüler, und davon waren dreihundertneunundneunzig weiße Protestanten, einer ein Afroamerikaner. Es gab keinen einzigen jüdischen Schüler. Jeremy kam später zu uns und erzählte meinen Eltern die ganze Geschichte, und dank seiner dröhnenden Stimme konnte ich jedes Wort mithören.

Der Schulleiter sagte zu Jeremy, bisher sei es ihm gelungen, alle Juden abzuweisen, und er werde für mich keine Ausnahme machen, ganz gleich, wie intelligent und vielversprechend ich sei. Er dachte, Jeremy werde das verstehen, doch da täuschte er sich.

Jeremy konnte nicht glauben, dass diese Schule, von der er eine so hohe Meinung hatte, offen antisemitisch war. Er weigerte sich nachzugeben, und nach zähen Verhandlungen wurde eine Vereinbarung getroffen: Ich sollte einen Intelligenztest machen, und wenn herauskäme, dass ich ein Genie sei, würde ich einen Platz an dieser Privatschule bekommen. Sagen wir einfach, danach blieb dem Schulleiter gar nichts anderes übrig, als mich aufzunehmen.

 

Im Rückblick kommt es mir seltsam vor, dass ich mich dort nie unbehaglich fühlte. Ich war erst acht Jahre alt, hatte aber das ganze Drama mitbekommen, ich wusste, dass sie mich eigentlich nicht wollten, weil ich Jüdin war. Dennoch ging ich mit der Einstellung hin: »Denen werde ich es zeigen«, und nicht: »Was, wenn mich niemand leiden kann?«

Das Wichtigste in meiner Zeit auf der Wilford School war meine Freundschaft mit einem Mädchen namens Patricia. Ich schloss nicht leicht Freundschaften – lieber widmete ich mich der Lektüre von Lexika, und zum Zeitvertreib schrieb ich Gedichte. Nicht gerade typisch für Kinder. Aber Patricia und ich verstanden uns auf Anhieb. Ihr Vater war Künstler, deshalb fand sie es völlig normal, Gedichte zu schreiben. Ihre Familie besaß eine Wochenend-Ranch am Rand von Austin, und ich verbrachte dort so viel Zeit, dass sie mir sogar ein eigenes Pferd schenkten. Ich nannte es Windy. Patricia und ich saßen bei ihr auf der Couch und schauten Pippi Langstrumpf. Pippi war meine Heldin – ich malte mir aus, wie wunderbar es wäre, ganz allein über sein Leben zu bestimmen, immer genug Geld zu haben und mit einem Äffchen und einem Pferd um die Welt zu reisen. Außerdem war Pippi ungeheuer stark, sie konnte ein ganzes Pferd hochheben. Sie war die erste starke, tolle, eigenständige Frau, der ich in meinem Leben begegnete. Jahrelang betete ich darum, dass meine Haare rot wurden wie Pippis, weil ich rotes Haar mit Stärke und Eigenständigkeit assoziierte.

Während ich dieses wunderbare neue, amerikanische Leben führte, machte sich allmählich ein anderer Einfluss in unserem Leben bemerkbar. Mein Vater stammt aus einer tiefreligiösen chassidischen Lubawitscher Familie. Nach dem Zweiten Weltkrieg flohen viele Einwohner seiner Heimatstadt nach Israel oder Amerika, um sich ihre religiöse Identität zu bewahren, während andere, wie die Eltern meines Vaters, blieben und ungläubige Kommunisten wurden.

Ein wichtiger Unterschied zwischen den Lubawitscher Chassidim und den meisten anderen fundamentalistischen jüdischen Strömungen besteht darin, dass die Lubawitscher an die Bekehrung glauben. Nicht etwa an die Bekehrung von Nichtjuden, Gott bewahre. Konvertiten sind durchaus nicht erwünscht. Jüdisch zu sein ist so kompliziert und gilt als ein solches Privileg, dass nur Menschen mit einer jüdischen Mutter die richtige DNA haben, um dem gerecht zu werden. Leute, die konvertieren wollen, werden drei Mal abgewiesen, und nur wenn sie trotz allem nicht von ihrem Vorhaben ablassen, dürfen sie beitreten. Wenn ich sage, dass die Lubawitscher Gemeinschaft bekehrt, spreche ich also nicht von Nichtjuden. Ich spreche von verlorenen Juden. Solchen wie meinen Eltern, die aufgrund von Krieg oder der Ideologie in ihrem Land vom Weg abgekommen sind.

Die meisten religiösen Juden schauen auf nichtobservante Juden hinab und betrachten sie als unwissende Angehörige einer niederen Klasse. Wenn Ihre Vorfahren im Zweiten Weltkrieg an ihrer Religion festgehalten und ihre Jarmulkes und Tefillin nicht in die Bucht geworfen haben, sobald sie die Freiheitsstatue erblickten, dann gehören Sie zur religiösen Oberschicht. Angeblich liegen im Wasser um Ellis Island unzählige Jarmulkes und Tefillin, da Juden das Alte von sich warfen, wenn sie in die Neue Welt gingen. Auf Jiddisch nennt man Amerika die goldene Medine (das goldene Land), und viele haben das Land, in dem Milch und Honig fließen (Israel), gegen das goldene Land eingetauscht.

Wenn Ihre Familie an ihrer Religion festgehalten hat, dann ist das, als wäre sie auf der Mayflower herübergekommen. Man nennt es Jichus (vornehme Abstammung). Es ist im Prinzip dasselbe Konzept wie der Adel. Wenn Sie von einem Herzog oder einer Herzogin abstammen, wenn Ihre Vorfahren adlig sind, dann wollen die Leute in Ihre Familie einheiraten, und auch Ihre Nachkommen haben »blaues Blut«. Im Judentum ist man etwas Besseres, wenn man den einen oder anderen berühmten Rabbi unter seinen Vorfahren hat, und die Leute, die ihre Töchter oder Söhne mit einem Sohn oder einer Tochter aus dem jüdischen Adel verheiraten wollen, müssen tief in die Tasche greifen. Vornehme jüdische Ehepartner sind nicht preiswert zu haben.

Es gibt in Bezug auf nichtobservante Juden noch andere große Probleme. Der Grundsatz »Man ist, was man isst« wird im Judentum sehr wörtlich genommen. Koschere Ernährung macht einen koscheren Menschen. Nach der jüdischen Lehre ist unkoscheres Essen für die Seele, was eine Erdnuss für einen Erdnussallergiker ist: tödlich. Wenn einem das Essen im Hals stecken bleibt und man keine Luft mehr bekommt, kann man sterben. Unkoscheres Essen ist ebenso giftig, es blockiert die Seele und verhindert, dass man spirituelle Wohltaten und Tugenden empfängt. Ein nichtobservanter Jude mag aus bloßer Unwissenheit unkoscheres Essen gegessen haben, vielleicht weil seine Eltern oder Großeltern Sünder waren, die ihre Religion aufgegeben hatten, aber das spielt keine Rolle. Der Schaden ist dennoch nicht wiedergutzumachen, die unkoscheren Speisen haben die Seele beschmutzt. Und wer will schon mit so jemandem verheiratet oder befreundet sein?

Die Lubawitscher hingegen betrachten nichtobservante Juden in einem ganz anderen Licht. Für sie sind es verlorene Seelen, die ohne eigenes Verschulden dem Judentum abhandengekommen sind. Es gibt das Konzept des Tinok schehnischba: Wenn ein jüdisches Kind entführt wurde und in einer nichtjüdischen Umgebung aufwächst, kann man es nicht dafür verantwortlich machen, dass es sich nicht koscher ernährt. Dasselbe Prinzip wenden die Lubawitscher auch auf andere Menschen an, die ohne eigene Schuld nicht über die jüdische Religion Bescheid wussten. Auch sie sind demnach nicht dafür verantwortlich, dass sie Gebote nicht eingehalten haben. Man kann und sollte sie deshalb ins Judentum zurückholen und sie ebenso lieben und achten wie Juden, die von Geburt an observant waren. Jemanden, der nicht in eine streng religiöse Familie hineingeboren wurde, sondern aus eigenem Entschluss religiös wird, nennt man einen Ba’al Teschuwa, das bedeutet frei übersetzt »jemand, der zu Gott zurückgekehrt ist«. Man sagt, ein wahrer Ba’al Teschuwa stünde im Himmel sogar noch höher als ein frommer, gerechter Rabbi, der von Geburt an die Religion befolgt hat, denn der Ba’al Teschuwa hat einen viel schwereren Weg hinter sich. In der Theorie glauben das alle religiösen Juden, in der Praxis hingegen siegen meist Hochnäsigkeit und Anspruchsdenken, und so haftet den Ba’alei Teschuwa doch immer ein Makel an. Diese Denkweise spielte in meinem Leben eine entscheidende Rolle, da wir Ba’alei Teschuwa waren. Die meisten Juden, die sich dem Judentum wieder zuwenden, widmen ihr ganzes weiteres Leben dem Versuch, noch frommer und religiöser zu sein als ihre angesehenen Nachbarn, da sie etwas beweisen müssen. Es ist ähnlich wie mit den Neureichen in Philadelphia Anfang des 20. Jahrhunderts, die versuchten, ihre Nachbarn aus altem Geldadel an Hochnäsigkeit zu übertreffen.

Die Lubawitscher haben es sich daher zur Lebensaufgabe gemacht, unwissende, verlorene jüdische Seelen in die Gemeinschaft zurückzuholen. Sie nennen das Schlichut, das heißt »Mission«, und entsenden jungverheiratete Lubawitscher Paare an die entlegensten Orte auf der Welt, um Juden »heimzuholen«. Es ist ein ganz ähnliches Konzept wie bei Missionaren, nur dass es ihnen nicht um den Rest der Menschheit geht, sondern ausschließlich um verlorene jüdische Seelen.

 

Mein Vater hatte einen Großonkel, einen Rabbi namens Yisroel Leibov, der in Lubawitscher Gemeinden in aller Welt berühmt war. Er war ein Gelehrter, veröffentlichte Schriften und gründete Kfar Chabad in Paris (eine riesige Enklave und Gemeinde aus Lubawitscher Juden, die bis heute lebendig ist) sowie Kfar Chabad in Israel. Außerdem hatte er während des Krieges eine große Tat vollbracht, die ihm lebenslang Würdigung und Achtung eintrug. Es gelang ihm, die Mutter des Lubawitscher Rebbe aus Polen hinauszuschmuggeln und ihr so das Leben zu retten. Der Lubawitscher Rebbe ist beinahe das, was Jesus für die Christen ist. Viele Lubawitscher sagen, auch wenn Raw Menachem Schneerson gestorben ist und sein Körper nach jüdischem Ritus bestattet wurde, sei er doch nicht wirklich tot, er werde wiederauferstehen. (Ein Raw ist ein Rabbi, der eine spezielle Ausbildung als geistlicher Führer hat.) Das ist der Grund, weshalb andere religiöse Juden der Lubawitscher Gemeinschaft so ablehnend gegenüberstehen. Sie finden, die Lubawitscher hätten ihren Rebbe vergöttlicht und stünden daher in ihrem Glauben dem Christentum näher als dem Judentum.

Als wir nach Austin, Texas, zogen, war der Lubawitscher Rebbe noch am Leben, und wenn mein Urgroßonkel ihn besuchte, bekam er den Platz zur Rechten des Rebbe. Das war die größte Ehre, die einem frommen Lubawitscher Juden überhaupt zuteilwerden konnte. Stellen Sie sich vor, Sie säßen neben dem Papst, während Millionen Bittsteller tagelang Schlange stehen, um ihm die Hand zu küssen. Als mein Urgroßonkel erfuhr, dass wir in den USA waren, beschloss er daher, unsere Seelen zu »retten«. Im Handumdrehen hatte er meine Familie ausfindig gemacht, und sobald er wusste, wo wir wohnten, kontaktierte er den Rabbi von Chabad Lubawitsch in Austin. Dieses eine Telefonat sollte meine Welt von Grund auf verändern. Niemand hatte je so starken Einfluss auf das Leben meiner Familie wie dieser Rabbi. Er hieß Rabbi Feinstein und war ein warmherziger, freundlicher, gütiger und sanfter Mann. Es war schlicht unmöglich, ihn nicht zu mögen. Er war so unglaublich einnehmend und charismatisch, und vor allem war er aufrichtig. Man merkte ihm deutlich an, dass er wirklich glaubte, was er sagte. Er schwang nicht bloß schöne Reden, sondern sprach aus Überzeugung und praktizierte selbst, was er predigte. Er hatte acht Kinder (Lubawitscher halten nichts von Empfängnisverhütung). Sie waren fröhlich und ausgelassen, und seine Frau war auffallend elegant und gut gekleidet, wenn auch ständig müde und gestresst. Immerhin musste sie allein acht Kinder großziehen, da blieb keine Zeit für irgendetwas anderes.

Mein Urgroßonkel reiste persönlich aus Israel an, um uns mit Rabbi Feinstein bekannt zu machen und an meine Eltern zu appellieren, sich noch mehr mit ihrer jüdischen Religion zu beschäftigen. Mein Urgroßonkel hatte einen langen, grauen Bart und sehr düstere Augen. Ich weiß noch, wie er mich beobachtete – mir war, als wolle er in meine Seele blicken. Ich fühlte mich in seinem Beisein unbehaglich. Rabbi Feinstein war so warm und gütig, doch mein Urgroßonkel Yisroel Leibov war aus härterem Holz geschnitzt. Er war durch die Hölle gegangen und hatte überlebt, um überall auf der Welt jüdische Gemeinden aufzubauen und das Wort Gottes zu verbreiten. Er war ein Mann mit einer Mission. Und er fand fruchtbare Erde vor, in die er seinen Samen legen konnte.

Meine Mutter hatte schon ihr Leben für das Judentum aufs Spiel gesetzt. Sie hatte bereits als Jüdin in Russland gelitten. Sie wusste wenig über die Religion, aber sie war begierig, mehr zu erfahren. Sie saugte neues Wissen auf wie ein Schwamm.

In seiner Einleitung zur Mischna (das ist der Teil des Talmud, in dem die mündlich überlieferten Gesetze stehen, die unser ganzes Leben bestimmen) erzählt der Rambam eine Geschichte von einem König, der einen prächtigen Palast baute, umgeben von einem wunderschönen Garten. Eines Tages suchte dort ein Zaddik (ein gerechter Jude) Zuflucht bei den kühlen Steinen der Palastmauern. Ohne dass es dem König bewusst war, hatte Gott ihn diesen Palast einzig zu dem Zweck bauen lassen, dass dieser Zaddik dort Zuflucht finden konnte. Ich bin überzeugt, dass Rabbi Feinstein in diesem Moment glaubte, er sei eigens für diese Aufgabe nach Austin, Texas, entsandt worden: damit er Rabbi Yisroels verlorene Verwandte zurückholte. Wir waren von nun an sein Daseinszweck.

Wir schlossen enge Freundschaft mit Rabbi Feinsteins ganzer Familie und trafen uns immer öfter samstags mit ihnen zum traditionellen Schabbat-Mahl. Anfangs fiel mir das nicht im Mindesten schwer. Die netten Schabbat-Mahlzeiten mit Rabbi Feinstein und seiner Familie beeinträchtigten mein Leben überhaupt nicht. Sie waren einfach ein schöner Zeitvertreib am Samstag nach dem Fernsehen. Meine Lieblingsserien waren She-Ra und Wonder Woman, dicht gefolgt von He-Man und dem umwerfend komischen Get Smart. Für zwei Jahre wurde die Chabad-Bewegung auf sehr unverbindliche Art Teil meines Lebens. Meine Eltern informierten sich noch immer über unterschiedliche jüdische Strömungen. Die Gemeinde, die sie bei unserer Ankunft adoptiert hatte, bestand aus konservativen Juden. Diese legen die Gesetze weniger streng aus und grenzen sich nicht gegen die moderne Außenwelt ab. Meine Eltern besuchten auch die konservative Synagoge.

Meine einzigen glücklichen Kindheitserinnerungen stammen aus diesen ersten Jahren. Da saß ich, unwissend, nicht ahnend, dass dieser Mann, mein Urgroßonkel, mein Leben für immer verändern und mich in eine Welt der Knechtschaft und des Elends führen würde. Eine Welt der Verbote. Er traf recht bald nach unserer Ankunft ein, ich war also erst sechs, doch der Tag hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Meine Mutter nahm alles begeistert auf. Sie war ganz glücklich zu erfahren, dass sie in eine so berühmte jüdische Familie eingeheiratet hatte, und wollte immer noch mehr wissen. Zu der Zeit arbeitete sie an ihrer Promotion in Philosophie, war ständig auf der Suche nach der Wahrheit, wollte den Sinn des Daseins ergründen. Hier entdeckte sie nun ein Allheilmittel gegen den Wahnsinn der Außenwelt. Alles hatte eine Bedeutung. Alles hatte seinen Sinn und Zweck. Jeder Einzelne zählte, war Teil eines großen Plans, das Handeln und Leiden eines jeden Menschen waren wichtig. Und nicht nur das – es gab auch ein Regelwerk, der Weg zum Guten und zur Rechtschaffenheit war klar vorgezeichnet. Es gab ein Handbuch für das Leben, durch die Jahrtausende überliefert, vom Vater an den Sohn weitergegeben, von einer Generation an die nächste. Für meine kluge, logisch denkende Mutter war es eine völlig vernünftige Vorstellung, ein solches Regelwerk zu haben, vom selben Schöpfer gemacht, der auch diese Welt erschaffen hat.

 

Ich erinnere mich, wie ich mit sechzehn einmal jemanden kennenlernte, der im kommunistischen Russland aufgewachsen war. Er lebte mit seiner Familie in Brighton Beach (einem sehr russischen Viertel in Brooklyn) und haderte damit, dass er sein geliebtes Russland hatte verlassen müssen. Meine Eltern hatten die Zustände im Kommunismus immer als die Hölle auf Erden geschildert, und so war ich neugierig, was genau er wohl aus seinem früheren Leben vermisste. Er schaute mich mit seinen traurigen Augen an und sagte, in der Sowjetunion habe er zwar kein Geld und wenig zu essen gehabt, aber wenigstens habe er immer gewusst, was zu tun war, weil einem im Kommunismus alle Entscheidungen abgenommen wurden. Freiheit bringt Wahlmöglichkeiten und Verwirrung mit sich. Freiheit ist beschwerlich, und es gibt keine Richtlinien. Man ist orientierungslos auf sich allein gestellt.

Religionen lösen dieses Problem. Insbesondere das ultraorthodoxe Judentum. Darin gibt es für absolut alles Regeln. Man ist nicht allein. Man braucht nichts zu entscheiden, weil die Tora einem schon alle Entscheidungen abgenommen hat, und wenn einem etwas nicht ganz klar ist, fragt man einfach einen Rabbi, er weiß es. Man braucht sich nie zu überlegen, welche Handlungsmöglichkeit die richtige wäre, weil man ohnehin keine Wahl hat. Es gibt ein Gesetz, das vorschreibt, welchen Schuh man zuerst anzieht (den rechten). Gesetze bestimmen, was man vom Aufstehen bis zum Schlafengehen tut. Alles ist mit Sinn und Bedeutung erfüllt. Ja, man muss seine Freiheit aufgeben, die Kontrolle über das eigene Leben, aber im Gegenzug bekommt man etwas immens Großes und Mächtiges. Eine Bestimmung. Bedeutung. Gemeinschaft. Rechtschaffenheit.

Das Gefühl der Rechtschaffenheit ist die stärkste Droge der Welt. Die Macht dieses Gefühls sollte man niemals unterschätzen. Es durchströmt einen, es erfasst einen ganz und gar, wie ein mächtiger Rausch. Man fühlt sich so viel besser als alle anderen. So erhaben. Man schaut auf andere hinunter, fühlt sich ihnen weit überlegen. Die armen verlorenen Seelen wandern da in ihrer schmutzigen, unklaren, bedeutungslosen Existenz umher, und ich, ich habe die Antworten auf alle Fragen des Lebens. Ich bin eine Auserwählte. Ich bin diejenige, die den Sinn des Daseins kennt. Sich anderen überlegen zu fühlen, sich als Teil von etwas Großem und Mächtigem zu empfinden, das ist einfach unbeschreiblich. Ich erinnere mich an Tage, an denen ich besonders gut war, an denen es mir gelungen war, nicht allzu viele Sünden zu begehen – ich fühlte mich dann richtig high. Der Körper wird ganz leicht, man scheint zu schweben und fühlt sich mit dieser höheren Macht verbunden. So stark. Dieses Gefühl der Überlegenheit und Rechtschaffenheit nährt die Menschen. Ja, es hat seinen Preis – die Freiheit –, aber es ist wie bei jeder anderen Droge: Wenn man das Hochgefühl einmal kennengelernt hat, würde man alles geben, um es wieder zu erleben.

Später, als ich auf eine religiöse Schule ging, wurde mir immer gesagt, Kinder seien heilig: Seht nur, wie schön Kinder dawnen (beten), wie rein Kinder sind, bevor sie vom Leben beschmutzt werden und anfangen, Sünden zu begehen. Wenn ein Kind sich so fromm benehmen kann, sollte ein Erwachsener doch gewiss noch religiöser und frommer sein. Ich war schon fast vierzig, als ich den Fehler in dieser Denkweise erkannte. Dass Kinder so leicht glauben, liegt nicht daran, dass sie heiliger und näher bei Gott sind. Es liegt daran, dass die Welt für sie schwarz-weiß ist. Sie sind nicht einfach nur unschuldig. Sie sind auch unwissend und leicht zu indoktrinieren, weil sie die Grauschattierungen nicht sehen. Kinder brauchen Ordnung. Sie brauchen Regeln. Ohne Grenzen und feste Strukturen fühlen sie sich unwohl.

Ich ging also bereitwillig mit, wenn meine Eltern mit mir das Chabad-Haus besuchten. Ich fühlte mich dort wohl, ich liebte die Wärme und die ausgedehnten Schabbat-Mahlzeiten mit Gesang, bei denen alle gemeinsam am Tisch saßen. Sie vermittelten mir ein Gefühl von Geselligkeit und Freundschaft, und Rabbi Feinsteins Kinder waren wirklich nett zu mir. Ich war nicht gerade versessen auf all die Regeln, aber sie schleichen sich so allmählich ein, dass man es gar nicht bemerkt.

Rabbi Feinsteins erster großer Sieg war, dass er meine Eltern überzeugte, mich nicht zusammen mit Nichtjuden ins Ferienlager zu schicken. Das traf bei meinen Eltern einen Nerv, da sie gesehen hatten, wie die jüdischen Gemeinden in Russland in wenigen Jahrzehnten ausgelöscht worden waren. Sie dachten, wohin ich ins Ferienlager ging, habe etwas mit dem Fortbestand des jüdischen Volkes zu tun. Und so schickten sie mich in ein jüdisches Tagescamp.

Ich war ganz begeistert, am Camp teilzunehmen. Es klang nach einem großen Abenteuer, und ich freute mich auch darauf, aus dem Haus zu kommen. In letzter Zeit stritten meine Eltern nämlich immer häufiger über Religion und über unsere Lebensweise. Aber am ersten Tag des Camps kam ich hysterisch weinend nach Hause und teilte meinen Eltern sehr entschieden mit, dass ich dort nie wieder hingehen wollte. Diese Ungeheuer hatten uns zum Mittagessen Hunde vorgesetzt. Heiße Hunde! Was waren das für schreckliche Menschen, die Hund aßen? Meine Eltern waren sehr beunruhigt, denn ich log normalerweise nicht, und mein tränenüberströmtes Gesicht bewies, dass ich etwas wirklich Schlimmes erlebt haben musste. Sie riefen beim Camp an, und wie man sich vorstellen kann, sorgte die Aufklärung für große Heiterkeit: Ich hatte die Bezeichnung »Hotdog« wörtlich genommen. Besänftigt ging ich am nächsten Tag wieder hin und genoss den restlichen Sommer.

 

Doch von da an begannen zu Hause die Veränderungen. Zuerst entschied meine Mutter, sie wolle eine koschere Küche. Sie glaubte, man könne das Licht Gottes und Seine Botschaft nicht empfangen, wenn die Seele durch unkoscheres Essen verunreinigt ist. Mein Vater sträubte sich vehement dagegen, weil es furchtbar kostspielig ist, eine koschere Küche auszustatten. Man braucht alle Utensilien dreimal, Geschirr, Besteck, Töpfe und Pfannen, man braucht drei Öfen und drei Spülen, weil Fleisch und Milch nicht zusammen zubereitet oder verzehrt werden dürfen. Deshalb benötigt man einen Satz für Milchiges, einen Satz für Fleischiges und einen für jene Lebensmittel, die parwe sind, also weder milchig noch fleischig. Dann muss man natürlich auch koschere Lebensmittel kaufen, die dreimal so teuer sind wie normale, weil die Herstellung von einem Rabbiner überwacht werden muss – das ist nicht billig und führt zu Monopolbildung: Die Hersteller können exorbitante Preise verlangen, weil sie wissen, dass ihre Kundschaft keine Alternativen hat.

Bisher aßen wir außer Haus nicht koscher, deshalb sah mein Vater es nicht ein, dass er fünfzigtausend Dollar dafür ausgeben sollte, das Zuhause koscher zu halten. Der Streit zog sich endlos hin. Meine Mutter ist unnachgiebig wie kaum ein anderer Mensch, aber auch mein Dad kann extrem stur sein und beharrte auf seinem Standpunkt. Meine Mutter rechnete genau aus, was es kosten würde, unsere Küche koscher zu machen. Es waren 51225 Dollar.

Die beiden befanden sich mitten in ihrem privaten kalten Krieg, als etwas geschah, das mein Vater nicht ignorieren konnte. Seinem Chef fiel nämlich auf, dass mein Vater in den drei Jahren, die er nun für IBM arbeitete, nie Überstunden abgerechnet hatte. Mein Dad wusste gar nicht, dass man sich Überstunden bezahlen lassen konnte. Er erhielt also einen Scheck, und es handelte sich um exakt denselben Betrag, der laut meiner Mutter für die koschere Küche nötig war: 51225 Dollar! Damit war die Sache entschieden. Gott selbst hatte ein Zeichen gesandt, dass die Küche koscher werden sollte.

 

Ich habe Jahre gebraucht, um es zu erkennen, aber das Konzept der Kaschrut (der jüdischen Speisegesetze) ist ein mächtiges Kontrollwerkzeug. Wenn man sich nicht einfach mit jemandem an den Tisch setzen und essen kann, trennt einen das von anderen Menschen wie eine Mauer. Im Rückblick sehe ich, dass es in meiner Kindheit zwei separate Welten gab. Zu der einen gehörte alles Jüdische – das Chabad-Haus, koscheres Essen, Schabbat, die Rabbis –, und dann war da noch der andere Teil meines Lebens, die Wilford School, meine nichtjüdischen Freundinnen, die Ausritte mit Patricia. Ich habe diese Dichotomie nie infrage gestellt. Ich war noch zu klein, um bewusst zu erkennen, dass es sie überhaupt gab.

In dem Sommer, als ich meinen zehnten Geburtstag feierte, wurde meine Mutter schwanger. Bevor sie mich bekam, hatte man ihr gesagt, sie würde nie Kinder haben können, doch sie hat die Ärzte widerlegt, indem sie mit mir schwanger wurde. Zwischen mir und meinem ersten Geschwisterkind hatte sie acht Fehlgeburten, dennoch bekam sie noch sieben weitere Kinder. Meine Zeit als Einzelkind war also vorbei, ein für alle Mal. Es geschah, als wir gerade anfingen, zu Hause koscher zu halten, deshalb war die Schwangerschaft für meine Mutter ein göttlicher Fingerzeig: der Beweis dafür, dass sie auf dem richtigen Weg war.

Ich war überglücklich, als meine erste Schwester, Chana, zur Welt kam. Ich war ganz vernarrt in sie und wollte niemand anderen an sie heranlassen. Das war meiner Mutter ganz recht, denn nur sieben Wochen nach Chanas Geburt wurde sie erneut schwanger.

In jenem Jahr trat ein Wort in unser Leben, das mich über Jahrzehnte beherrschen und verfolgen sollte: Zniut. Wie meine Mutter schluckte ich es willig, sogar begierig. Es bedeutet »Bescheidenheit«, aber es bezieht sich nicht allein auf sittsame Kleidung. Es heißt, dass man sich praktisch unsichtbar macht, sich niemals irgendwie von anderen abhebt und auffällt. Eine Geschichte, die mir lebhaft in Erinnerung geblieben ist und die sich später, in der neunten Klasse der Bais Yaakov in Spring Valley, zutrug, macht das Konzept sehr deutlich. Meine Klasse saß in der Schule auf dem Boden bei einem Kumsiz – das ist eigentlich ein gemeinsames Singen am Lagerfeuer, nur dass wir kein Lagerfeuer hatten und ausschließlich religiöse Lieder sangen. Meine Freundin Malky war eine wunderbare Sängerin. Sie ließ sich ganz von der Schönheit der Melodie hinreißen, sang aus tiefster Seele, und ihre Stimme erhob sich über alle anderen. Als das Lied zu Ende war, stand die Schulleiterin auf – sie hatte etwas abseits auf einem Stuhl gesessen und das Ganze überwacht. Nun schalt sie Malky mit vor Zorn bebender Stimme, weil sie es gewagt hatte, sich so in den Vordergrund zu drängen. »Was fällt dir ein, deine Stimme über die aller anderen Mädchen zu erheben? Wenn dir eine schöne Stimme gegeben ist, so ist das Gottes Art, dich zu prüfen, um zu sehen, ob du bescheiden bleibst und niemals in der Öffentlichkeit singst. Du bist ein unbescheidenes, arrogantes Mädchen, und Gott wird dich gewiss für dieses furchtbare Verbrechen strafen.« Ich werde Malkys Gesicht nie vergessen. Sie wurde öffentlich gedemütigt, ihr wurde das Gefühl gegeben, sie müsse sich für ihre Gabe schämen. Danach hat sie nie wieder im Beisein irgendeines anderen Menschen gesungen. Das ist die wahre Bedeutung von Zniut. Sei unsichtbar. Füge dich ein. Stich nicht aus der Menge hervor.

Weil es ein Gebot der Zniut war, fing meine Mutter an, ihr Haar zu bedecken. Nach dem jüdischen Gesetz gilt das Haar einer Frau als sehr sinnlich, und niemand außer ihrem Ehemann sollte es zu sehen bekommen. Meine Mutter schnitt also ihre wunderschönen schwarzen Locken ab und begann, von früh bis spät ein Kopftuch zu tragen.

Im Herbst ging auf der Wilford School der Unterricht weiter wie gewohnt. Doch mein Leben wurde immer komplizierter, denn Rabbi Feinstein führte in unserer Familie nach und nach neue Beschränkungen ein. Ich trug zwar noch immer Shorts und Tanktops, aber wir aßen nun auch außer Haus nur noch koscher. Das war nicht einfach, wenn ich mit meinen nichtjüdischen Freundinnen zusammen war, schließlich lebten wir in Texas, wo Schweinefleisch vom Grill das wichtigste Grundnahrungsmittel ist. Außerdem konnte ich ja nicht einmal von Tellern essen, die vorher für unkoscheres Essen benutzt worden waren oder auch für koscheres Essen, das nicht von orthodoxen Juden zubereitet worden war (anderen Menschen durfte man nicht trauen, sie konnten ja heimlich irgendeine unkoschere Zutat ins Essen mischen). Damit war es für mich völlig unmöglich, bei meinen Freunden zu Hause mitzuessen. Selbst koscheres Essen gilt nicht mehr als koscher, wenn die Person, die den Herd oder Ofen eingeschaltet hat, kein observanter Jude ist.

Die Botschaft ist klar: Die Außenwelt ist der Feind, man darf ihr nicht trauen. Für nichtobservante Juden gilt dasselbe. Wenn ein Nichtjude oder ein nichtobservanter Jude (wie meine Wenigkeit) eine Flasche mit koscherem Wein auch nur berührt, wird der Wein augenblicklich unkoscher. Selbst wenn in einem Restaurant ein nichtjüdischer Kellner einen koscheren Wein öffnet, ist dieser technisch gesehen nicht mehr koscher.

In diesem Winter hörte meine Mutter auf, Hosen und kurzärmelige Oberteile zu tragen. Von nun an mussten Schlüsselbeine, Ellenbogen, Knie und Fußknöchel stets bedeckt sein. Das waren die Demarkationslinien – über diese Grenzen hinaus bloße Haut zu zeigen war eine Sünde, für die man geradewegs in der Hölle landen würde. Während der Babybauch meiner Mutter immer weiter wuchs, begann meine Welt im selben Maß zu schrumpfen. Samstags wurden keine Serien mehr geschaut. Der Samstag hieß auch nicht mehr Samstag, sondern Schabbat. An Schabbat benutzt man keine elektrischen Geräte. Man kann weder das Licht an- oder ausknipsen noch etwas an der Klimaanlage regeln, man darf nicht kochen, telefonieren oder den Fernseher einschalten. Es ist ein Tag der Besinnung, den man Gott und der Familie widmet.

 

Wir verbrachten immer mehr Zeit bei Rabbi Feinstein zu Hause. Irgendwann erklärte er meinen Eltern, dass sie vor Gott gar nicht wirklich verheiratet seien. Ihre Ehe war nur standesamtlich geschlossen worden, nicht nach jüdischem Ritus, und sie hatten auch keine Ketuba – das ist ein Ehevertrag, der von Zeugen unterzeichnet werden muss. Kein Rabbi hatte sie getraut. Meine Mutter war ganz entsetzt und machte sich sofort daran, das Versäumte nachzuholen. Und so heirateten meine Eltern noch einmal. Ich habe noch immer Fotos von jenem Tag: Meine Mutter in einem unförmigen Umstandskleid, mit meinem Bruder Yitzchok im Bauch, und meine Schwester Chana und ich stehen neben ihr. Ich weiß noch, wie glücklich ich damals war – soweit ich wusste, war ich der einzige Mensch, der bei der Hochzeit der eigenen Eltern dabei war.

Ich habe schon immer leidenschaftlich gern getanzt, und in der fünften Klasse, als ich ungefähr zehn war, hatte ich die Chance, bei den Cheerleadern aufgenommen zu werden. Ich wünschte mir nichts sehnlicher. Ich dachte mir, das sei ja eigentlich kein richtiges Tanzen, also würde Gott hoffentlich nichts dagegen haben. Ich erinnere mich noch genau an den Cheer, den ich vortanzte. Ich machte die Schritte und Moves richtig gut und wurde genommen. Zu Hause erzählte ich meinen Eltern begeistert, dass ich es ins Team geschafft hatte. Sie erklärten, das käme nicht infrage – Cheerleader-Uniformen seien nicht Zniut-konform, weil viel zu kurz, und ohnehin sei es verboten, vor Männern zu tanzen. Ich fühlte mich furchtbar schuldig, weil ich das nicht selbst erkannt hatte, weil ich überhaupt auch nur daran gedacht hatte, mich zu bewerben. Ich fand, mit mir könne etwas nicht stimmen, weil ich so gegen die Zniut verstieß. Deshalb schrieb ich es in das Buch, das ich mein »Buch der Sünden« nannte, und ich weinte stundenlang und flehte Gott an, mir zu vergeben.

Ich führte täglich schriftliche Aufzeichnungen über meine Sünden und guten Taten. Am Feiertag Jom Kippur soll man seine Sünden bereuen, seine guten Taten vorzeigen und hoffen, dass die Waage in die richtige Richtung ausschlägt. Nun bin ich einerseits ein sehr logischer Mensch, und andererseits glaubte ich felsenfest und fraglos daran, dass über mich geurteilt würde und dass Leben und Tod in der Waagschale lägen. Ich fand, dass ich unmöglich all meine Sünden des vergangenen Jahres bereuen könnte, wenn ich mich nicht an sie erinnerte. Deshalb schrieb ich ab dem Alter von zehn Jahren, bis ich vierzig wurde, jeden Abend vor dem Schlafengehen all meine Sünden und guten Taten nieder, damit ich an Jom Kippur wusste, was ich zu bereuen hatte. Die meisten Leute lesen in der Synagoge einfach das allgemeine Sündenbekenntnis ab. Ich hingegen brachte stapelweise Papier mit, all die Aufzeichnungen meiner schrecklichen Sünden, und weinte mir an jedem Jom Kippur über jede einzelne von ihnen die Seele aus dem Leib, mehr als zehn Stunden lang. Meine Tochter Miriam hat voriges Jahr ein paar dieser Notizbücher gefunden und darin gelesen. Sie hatte furchtbares Mitleid mit mir, weil meine Sünden so jämmerlich harmlos waren. Die Listen lasen sich in etwa so: »(1) Heute habe ich etwas Schlechtes über Yosef [meinen Mann] gedacht. (2) Habe vergessen, das Abendgebet zu sprechen. (3) Hatte schlechte Gedanken über meine Mutter.« Ich habe meine Gedanken nie in Taten umgesetzt. Sie blieben nebulös, ich wagte es nicht einmal, die Ungerechtigkeiten, die ich tagtäglich erduldete, klar in Worte zu fassen. Mein Sündenregister jugendfrei zu nennen, wäre noch untertrieben.

Im Sommer wurde Yitzchok geboren. Die Brit Mila, die Beschneidungszeremonie, fand bei uns zu Hause statt. Meine Mutter kochte und machte alles selbst, weil es keine koscheren Caterer gab. Erst acht Tage zuvor hatte sie Yitz zur Welt gebracht, und nun kochte sie schon wieder für fünfzig Leute.

In jenem Sommer durfte ich nicht ins Ferienlager, weil ich auf meine Geschwister aufpassen musste. Also brachte ich die Zeit damit zu, Windeln zu wechseln, aber es wäre mir nicht eingefallen, mich zu beklagen. Es war eine gute Tat, ich befolgte eine Mizwa (ein Gebot), und damit war die Sache für mich erledigt. Und dann, gerade als der Sommer zu Ende ging, ließen meine Eltern eine Bombe platzen. Ich sei zu alt, um noch länger in eine gemischte Schule mit Nichtjuden zu gehen, und es sei an der Zeit, dass ich eine religiöse Schule besuchte. Aber vor allem gebe es in Austin nicht genug observante Juden. Wir würden also nach Monsey in New York umziehen – eine Oase für ultraorthodoxe Juden.

Damals war koscheres Essen noch nicht so verbreitet wie heute, und in Austin, Texas, gab es keines zu kaufen. Meine Mutter musste alles selbst zu Hause kochen, weil es keine koscheren Restaurants gab, keine koscheren Bäckereien, keine koscheren Geschäfte.

Koscheres Fleisch und Huhn musste tiefgefroren aus New York geliefert werden. Ich hörte auf, Milch zu trinken, weil meine Eltern sich eine sogenannte Chumra auferlegt hatten. Chumrot sind Verbote oder Verpflichtungen, die über die Anforderungen des jüdischen Gesetzes hinausgehen, oder auch strengere Auslegungen des Gesetzes. Sie werden von den Rabbis beschlossen, um uns davor zu bewahren, die eigentliche Sünde zu begehen. Beispielsweise schreibt das Gesetz vor, dass man an Schabbat – genauer gesagt, von Freitagabend bis Samstagabend, jeweils bei Sonnenuntergang – nicht schreiben darf. Die Chumra – die strengere Auslegung – besagt, dass man nicht einmal einen Stift in die Hand nehmen darf. Der Gedanke dahinter ist: Wenn man keinen Stift anfasst, kann es gar nicht erst dazu kommen, dass man die Sünde des Schreibens begeht. Das ist die eine Art von Chumra. Die andere ist als zusätzliche Beschränkung gemeint, um einen noch heiliger zu machen. Ein Beispiel dafür ist Chalaw Jisrael: Um rein zu sein, muss man koschere Milch trinken. Um reiner als rein zu sein, muss man Chalaw Jisrael trinken, Milch, die unter der Aufsicht eines Rabbi erzeugt wurde, damit ganz sicher ist, dass alle Gesetze eingehalten werden und nicht etwa ein Nichtjude die Milch unkoscherer Tiere für Kuhmilch ausgibt. Ein Rabbi muss den gesamten Prozess überwachen, von der Erzeugung bis zur Abfüllung. Wie man sich denken kann, wurde Chalaw Jisrael