Und am Ende die Freiheit - Verena Rabe - E-Book + Hörbuch

Und am Ende die Freiheit Hörbuch

Verena Rabe

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Beschreibung

Eine Zeit des Aufruhrs – eine Zeit für starke Frauen: Der bewegende Roman »Und am Ende die Freiheit« von Erfolgsautorin Verena Rabe als eBook bei dotbooks. Eine Frau, die im falschen Leben gefangen ist – und eine Liebe, die nie sein durfte … Während Deutschland in den 50ern langsam aufblüht, fühlt sich Helene in ihrem tristen Alltag als Hamburger Vorzeige-Hausfrau wie betäubt. Erst, als sie ihrer Jugendliebe Julius wiederbegegnet, hat sie das Gefühl, endlich wieder atmen zu können. Mit ihm kehren all die Erinnerungen zurück: An eine junge Helene, die gemeinsam mit ihren Berliner Freundinnen verstaubte Konventionen aufbrach, die sich als eine der ersten Juristinnen des Landes behauptete – und die es trotz der heraufziehenden Dunkelheit wagte, den Sohn eines jüdischen Richters zu lieben. Plötzlich spürt Helene: Was damals zerbrach, kann immer noch gerettet werden. Sie muss nur mutig sein … »Geschickt verwebt Verena Rabe in ihrem neuen Roman akribische Recherche mit einer tiefgründigen und wunderbaren Geschichte, die ich nicht mehr aus der Hand legen mochte.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin »Brillant«, urteilt die ekz. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der aufwühlende Schicksalsroman »Und am Ende die Freiheit« von Verena Rabe erzählt von einer mutigen Frau in den deutschen Nachkriegsjahren wird Fans von Stephanie Schusters und Brigitte Riebes 50er-Jahre-Romane begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:9 Std. 54 min

Sprecher:Lisa Rauen

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Über dieses Buch:

Eine Frau, die im falschen Leben gefangen ist – und eine Liebe, die nie sein durfte … Während Deutschland in den 50ern langsam aufblüht, fühlt sich Helene in ihrem tristen Alltag als Hamburger Vorzeige-Hausfrau wie betäubt. Erst, als sie ihrer Jugendliebe Julius wiederbegegnet, hat sie das Gefühl, endlich wieder atmen zu können. Mit ihm kehren all die Erinnerungen zurück: An eine junge Helene, die gemeinsam mit ihren Berliner Freundinnen verstaubte Konventionen aufbrach, die sich als eine der ersten Juristinnen des Landes behauptete – und die es trotz der heraufziehenden Dunkelheit wagte, den Sohn eines jüdischen Richters zu lieben. Plötzlich spürt Helene: Was damals zerbrach, kann immer noch gerettet werden. Sie muss nur mutig sein …

Der Roman ist auch als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich.

Über die Autorin:

Verena Rabe, geboren und aufgewachsen in Hamburg, liebt es zu reisen. Besonders europäische Küsten haben es der Seglerin angetan. Für ihre Geschichten unternimmt sie lange Recherchereisen und lässt die Orte, die sie beschreibt, intensiv auf sich wirken. Sie hat Geschichte studiert und als Journalistin gearbeitet, bevor sie Schriftstellerin wurde. Bisher hat sie neun Romane veröffentlicht. Verena Rabe lebt mit ihrem Mann in Hamburg, hat zwei erwachsene Kinder und verbringt viel Zeit in Berlin, ihrer zweiten Heimat.

Bei dotbooks veröffentlichte Verena Rabe ihre Romane »Charlottes Rückkehr« und »Thereses Geheimnis« – die beide auch im Doppelband erhältlich sind – sowie »Merles Suche«, »Elisas Versprechen«, »Die Melodie eines Sommers«, »Das Glück in weißen Nächten« und »Das Leuchten bretonischer Nächte«.

Ebenfalls bei dotbooks veröffentlichte sie ihre Familiensaga »Und über uns das Blau des Himmels«, die als eBook- und Printausgabe erhältlich ist, sowie ihren Roman »Und am Ende die Freiheit«, der als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erscheint.

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Originalausgabe Oktober 2023

Copyright © der Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Sarah Schroepf

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung des Bildmotivs »Berlin: Ruine der Gedächtniskirche; von der Kanstraße« aus der Sammlung Willy Pragher I des Landesarchivs Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Freiburg, W 134 Nr. 048972a (www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=5-778050-1) sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-591-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Verena Rabe

Und am Ende die Freiheit

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Hamburg, Mai 1957

Manchmal hatte Helene Andersen das Gefühl, dass ihr Kopf mit Watte gefüllt war. Nicht mit der festen Lagenwatte von Hartmann, sondern mit vielen von den farbigen Wattebäuschchen, die sie in der Gästetoilette in dem mit Blumen geschliffenen Glas aufbewahrte. »Das braucht jede Hausfrau«, hatte ihre Freundin Marianne gesagt und ihr das aufwendig geschliffene Glas freudestrahlend vor zwei Jahren zu ihrem 50. Geburtstag überreicht. Helene hatte so getan, als ob sie sich freute, aber das Wort Hausfrau hatte ihr den Hals zugeschnürt.

Am Tag nach ihrem Geburtstag stellte sie das Glas mit den Wattebäuschchen auf die Borte über dem Porzellanwaschbecken in der Gästetoilette. Seitdem wechselte sie die farbige Watte nur, wenn sie eine Gesellschaft gaben, was nicht oft vorkam. Und sie fand nach diesen Abenden immer mit Lippenstift verschmierte Wattebäuschchen im kleinen Mülleimer unter dem Waschbecken.

Helene schminkte sich tagsüber fast nie. Wozu auch, sie war ja sowieso die meiste Zeit mit ihrem Haushalt beschäftigt. Um halb sieben Uhr abends aber, trug sie den blassrosa Lippenstift auf, denn dann kam Helmut nach Hause. Es war ein Ritual. Sie kämmte sich die Haare, wusch sich das Gesicht, tupfte etwas Kölnischwasser hinter die Ohren und hängte ihre Küchenschürze an den Haken, denn man begrüßte den hart arbeitenden Ehemann abends nicht in einer Schürze. Wenn sie ausging, tuschte sich Helene auch die Wimpern, zog einen Lidstrich und trug Puder auf.

Heute lag mal wieder ein langer Tag ohne viele Aufgaben vor ihr. Seit einigen Monaten wohnte ihr Sohn Eduard in einem möblierten Zimmer im Grindelviertel, und Uta studierte Jura in Heidelberg. Helene fand es sehr gut, dass Eddie nicht mehr bei ihnen wohnte, auch wenn er noch in der Lehre bei der Privatbank Conrad Hinrich Donner war. Seitdem war es viel friedlicher, weil sich Helmut nicht mehr über Eddie ärgerte. Bei einem der vielen Kaffeekränzchen, die sie und ihre Freundinnen Gertrud, Ella und Marianne alle zwei Wochen reihum veranstalteten, hatte sie einmal verschämt erwähnt, dass ihrem Mann bei Eddie manchmal die Hand ausgerutscht war.

»Das ist doch ganz normal. Ein Junge braucht ab und zu eine ordentliche Abreibung. Sonst spurt er nicht«, hatte Marianne damals gesagt. Aber für Helene zählte Mariannes Meinung nicht. Denn ihr Mann Gustav hielt bei der Kindererziehung Zucht und Ordnung für das Wichtigste. Und Marianne hatte noch nie erwähnt, dass ihr dieser Erziehungsstil nicht gefiel. Ella hatte hektisch an ihrer Zigarette gezogen und geschwiegen, aber man sah ihr deutlich an, wie sehr sie Mariannes Bemerkung ärgerte. Ihre liebste Freundin hatte in den zwanziger Jahren als Lehrerin in der Lichtwarkschule gearbeitet, damals sehr modern und als Reformschule bekannt.

»Prügel sind keine Lösung für ein Kind. Es muss wachsen und gedeihen. Es braucht eine klare Richtung, auch Strenge und Führung, aber die darf nicht überzogen sein. Sonst kann es sich nicht entwickeln«, hatte sie ihr mal gesagt, als sie allein waren. Helene sah das genauso, war aber bei Helmut auf taube Ohren gestoßen. Mal eine Ohrfeige schadet nicht, davon war er überzeugt. Er fühlte sich sogar fortschrittlich, weil er im Gegensatz zu seinem Vater seinen Sohn nie mit dem Stock geschlagen hatte. Gertrud hatte sich bei dem Kaffeeklatsch gar nicht an dem Gespräch beteiligt; ihre Töchter waren brav und folgsam. Sie wusste nicht, worum es ging.

Jetzt aber lagen die Sorgen um Eddie hinter Helene. Er war in seiner Bude glücklich, die Wirtin passte auf, dass alles ordentlich zuging. Ab und zu traf sich Helene mit ihrem Sohn in der Stadt zum Kaffeetrinken. Dann plauderten sie über dies und das, lachten viel und genossen die Zeit miteinander, fast so, als ob sie Freunde und nicht Mutter und Sohn wären. Helmut erzählte sie fast gar nichts von diesen Treffen. Er sprach sowieso wenig über Eddie, der Junge machte jetzt eine Banklehre, das war gut. Mehr interessierte ihn nicht. Dass Uta jetzt in Heidelberg Jura studierte, war ihm auch nicht wichtig. Und dass sie sich anscheinend mehr für die Tanzabende der Studentencorps und ihre Kleider als für ihr Studium zu begeistern schien, störte ihn nicht.

»Wenn es so sein sollte, Helene, ist es doch in Ordnung. Sie ist jung, sie ist hübsch, und die Corpsstudenten benehmen sich generell wie Gentlemen.« Nein, das taten sie nicht immer, dachte Helene, aber sie sagte nichts. Es hatte wenig Sinn, mit Helmut zu streiten. »Alles ist in Ordnung, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, versuchte er, sie lächelnd zu beruhigen.

Alles war in Ordnung, ihr Mann hatte ja recht. Aber wenn Helene an den langen Vormittagen, nachdem sie ihren nur noch kleinen Haushalt versorgt hatte, bei einem zweiten Kaffee in der Küche saß und den Vögeln auf dem Balkon zusah, die sich Körner aus der Schale holten oder im kleinen Bassin daneben badeten, bemerkte sie diese unangenehme Leere in ihrem Kopf und in ihrem Herzen. Und sie musste sich zusammenreißen, um dieses Gefühl nicht schon am Vormittag durch ein kleines Gläschen Frauengold zu dämpfen. Das war sie sich schuldig, denn sie war doch eine sehr intelligente Frau gewesen, damals in dieser längst vergangenen Zeit während ihres eigenen Studiums, an das sie wieder mehr denken musste, seitdem ihre Tochter studierte.

Helene hatte ihren Doktor in Jura mit summa cum laude gemacht, was auch sonst. Diese Zeit hatte bis vor kurzem in ihrem Gedächtnis hinter einer Nebelwand gelegen, und nur selten hatte sie die vorüberziehenden Erinnerungen festhalten können. Aber heute Vormittag hatte Helene die Neue Juristische Wochenschrift aus dem Briefkasten gefischt, die sie seit einiger Zeit heimlich abonnierte. Helmut durfte das nicht erfahren, sonst würde er schimpfen, dass sie das Geld für so etwas Unnützes hinauswarf. Also schrieb sie diese Ausgabe nicht in das Haushaltsbuch, das er am Ende des Monats durchging, sondern bezahlte sie von ihren Ersparnissen.

»Du bist seit 24 Jahren keine Juristin mehr, was willst du also damit? Du verstehst doch sicher nichts mehr von dem, worüber die schreiben. Das ist eine Fachzeitschrift«, hätte er gesagt. Aber sie verstand alle Artikel über allgemein juristische Themen und auch die redaktionell aufgearbeiteten wichtigsten Gerichtsurteile. Und sie liebte es, sich in die Lektüre zu vertiefen.

Heute würde das leider nicht gehen, weil sie ein Kaffeekränzchen vorbereiten musste. Also legte sie die Neue Juristische Wochenschrift auf ihren Nussbaumsekretär im Wohnzimmer. Darüber hing Lotte Lasersteins Mädchen mit Katze, das Helene 1942 als einziges Gemälde aus der vom Brand und Löschwasser verwüsteten Wohnung in Berlin-Steglitz hatte retten können. Sie hatte ein Geschirrtuch neben dem Herd vergessen und die Gasflamme nicht ausgemacht. Dann war sie mit den Kindern aus dem Haus gegangen. Als sie Stunden später zurückkam, hatten Feuerwehrleute den Brand in ihrer Wohnung schon längst gelöscht. Sie war aber unbewohnbar geworden. Also hatte Helene all ihre Habseligkeiten, die nicht zerstört waren, eingepackt und das Bild von der Wand genommen, das wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben war. Helmut, der gerade an der Westfront gewesen war, ordnete an, dass sie in Zukunft mit den Kindern bei seinen Eltern in Hamburg, in der Eppendorfer Isestraße leben sollte. Damit seine Mutter ihr mit dem Haushalt helfen konnte, und das tat sie dann auch. Helene konnte sich der Anordnung ihres Mannes nicht widersetzen. Bisher hatten sie und ihre Freundinnen in Steglitz die brieflichen Anordnungen ihrer Ehemänner weitestgehend ignoriert, aber bei dieser war das nicht möglich gewesen.

Helene sah sich in der Küche um. Der neue Mixer und das Rührgerät würden ihr die Arbeit heute erleichtern, aber sie musste dennoch los, weil sie sich vorgenommen hatte, einen Apfelstrudel zu backen, um ihren Freundinnen zu beweisen, dass sie doch eine gute Hausfrau war. Auf dem Isemarkt unter der Hochbahn steuerte sie ihre Lieblingsstände an.

»Hallo, Frau Dr. Andersen, schön, Sie zu sehen. Wie geht es den Kindern, Ihrem Gatten? Sind alle gesund?« Wusste die Marktfrau eigentlich, dass das ihr eigener Doktortitel war, fragte sich Helene.

»Ja, alle wohlauf. Heute Nachmittag kommen meine Damen zum Kaffee. Deshalb brauche ich besonders schöne Boskop-Äpfel. Ich möchte einen Apfelstrudel backen.«

»Ich habe da noch große, besonders Schmackhafte aus der Winterlagerung, soll ich Ihnen zwei Kilo einpacken?«

Helene nickte. Sie hatte die Mengenangaben aus dem Rezept vergessen. Aber sie war sich sicher, dass sie der Marktfrau vertrauen konnte. Anschließend kaufte sie noch zehn Eier. Es war Freitag, und das Frühstücksei war für Helmut am Wochenende obligatorisch. Außerdem hatten sich sein Schulfreund Claas und dessen Frau Sieglinde zum späten Frühstück am Sonntag angemeldet. Und die wollten immer Eier im Glas.

Ich kann gleich Schnittlauch für die Eier mitnehmen, dachte Helene, und frisches Brot. Sie fand es praktisch, dass sie den Markt dienstags und freitags direkt vor der Tür hatte. So konnte sie schnell hinunterlaufen, wenn sie mal wieder etwas vergessen hatte. Glücklicherweise aß Helmut mittags immer in der Stadt. Er kam abends oft mit Schnittchen aus, die sie mit Gewürzgurken garniert, meistens schon vorbereitet hatte, wenn er wie fast jeden Tag um Punkt sieben die Wohnung betrat. Er hatte es nicht weit, fuhr mit der U-Bahn vom Jungfernstieg zum Klosterstern und ging das kleine Stück zu Fuß. »Es tat gut, sich noch einmal die Beine zu vertreten«, sagte er fast jeden Abend zur Begrüßung. Seit einiger Zeit konnte sie ihren Verdruss über diesen langweiligen, immer wiederkehrenden Satz nur schwer unterdrücken.

An diesem späten Freitagvormittag traf sie erstaunlicherweise keine Bekannten auf dem Isemarkt wie sonst immer, die sie im Gespräch aufhielten. Das war gut so, denn sie hatte noch so viel zu tun. Den Apfelstrudel backen, einmal durchsaugen, die Gästetoilette putzen, und sich dann vielleicht doch für eine Stunde an ihren Sekretär setzen, um die Neue Juristische Wochenschrift zu lesen, bevor ihre Freundinnen kamen und sie die Zeitschrift im zugeklappten Sekretär verstecken würde, denn sie wollte keine unnötigen Gespräche darüber, dass sie sich mit Männerdingen beschäftigte.

Gertrud hatte vor ihrer Hochzeit kurz als kaufmännische Angestellte gearbeitet und Marianne als Mannequin im Alsterhaus. Und sie waren beide froh, nie mehr arbeiten zu müssen und nichts mit der harten Männerwelt da draußen zu tun zu haben. Ella war anders, und mit ihr würde sie vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt in einem vertraulichen Gespräch über ihre neue Lektüre sprechen.

Helene stieg mit ihren Einkäufen die Treppen in den dritten Stock hinauf und ärgerte sich mal wieder darüber, dass sie aus dem Wohnzimmer und der Küche auf die Gleise der Hochbahn sah. In Steglitz hatte sie auf wunderschöne grüne Baumkronen schauen können. Nach hinten raus sah sie jetzt auch in Bäume, die Kinderzimmer gingen nach vorne, aber das hatte Eddie und Uta nie gestört.

Also, wie funktionierte das jetzt mit dem Apfelstrudel? Helene holte die Küchenschürze aus der Schublade. Seit Uta auch nicht mehr zu Hause wohnte, machte sie selten so aufwendige Gerichte, dass sie ihre Schürze brauchte. Aber heute würde sie bestimmt kleckern. Ihre kinnlange Frisur hatte sie gestern schon in Wellen legen lassen. Das trug man in dieser Gegend so. Helene band sich ein Kopftuch um, denn sie würde sich sicher nach kürzester Zeit mit mehlbestäubten Fingern durchs Haar fahren. Sie schlug Mary Hahns Kochbuch für die einfache und feine Küche auf, das den Brand erstaunlicherweise überlebt hatte, und fand den Wiener Apfelstrudel unter Nummer 1704.

Also 275 Gramm Mehl, 1 Ei, Salz, Zitronen, Zucker und knapp ¼ l lauwarme Milch brauchte sie. Und in der Milch sollte sie dann einen Esslöffel Butter zergehen lassen. Sie stellte den schwarzen Stieltopf aus Emaille auf den Gasherd und löste die Butter in der Milch auf. Jetzt bloß nicht hektischwerden, dachte Helene, sondern den Topf langsam von der Flamme ziehenund sie dann ausmachen. Helene wünschte sich eigentlich schon lange einen Elektroherd, aber davon wollte Helmut nichts wissen. Sie schüttete die warme Milch in ihre pastellgelbe Schüssel aus Emaille und nahm einen Kochlöffel, um alle Zutaten schnell zu verrühren. Aber die Masse klebte am Rührlöffel fest, und sie musste wohl oder übel die Finger nehmen, um den Teig durchzukneten. Sie hasste das.

Diese Dinge hatte in den letzten Jahren ihre Mutter für sie übernommen, als sie nach dem Tod ihres Mannes zu ihnen in die Isestraße gezogen war. Vor zwei Jahren war sie verstorben, und jetzt war ihr kleines Zimmer am Ende des Flurs ein Gästezimmer und die meiste Zeit genauso leer wie Utas Zimmer. In Eddies Zimmer hatte Helene das Bügelbrett aufgestellt.

Sie versuchte, mit den Händen den Teig zu kneten, aber es gelang ihr nicht richtig. Sie schrubbte ihre Finger mit der Wurzelbürste und versuchte dann, mit dem Löffel weiter zu rühren. Nach einiger Zeit hatte sie den Dreh raus. Der Teig schlug sogar Blasen, wie es in dem Rezept vorgegeben war. Helene stellte ihn unter einen heißen Topf. Sie schälte die Äpfel, zerschnitt sie in kleine Stücke, bestreute sie mit Zimt und Zucker und träufelte Rum darüber. Äpfel schälen und entkernen hatte ihr noch nie Schwierigkeiten bereitet. Im Garten ihres Elternhauses in Steglitz standen drei Apfelbäume, und die Hausgemeinschaft hatte sich die Ernte immer aufgeteilt. Oft hatte sie stundenlang mit Mutter in der Küche Äpfel geschält und zu Apfelmus eingekocht. Ihr Bruder Hans saß in der Zeit im Wohnzimmer auf dem Teppich und las, und sie hatte ihn glühend beneidet. Aber so war das eben, Frauen und Mädchen erledigten die Hausarbeit, Männer und Jungen nicht. Punkt. Das war die Meinung ihrer Eltern gewesen, und danach hatte sie sich richten müssen.

Was kam jetzt? Sie sollte ein weißes Tischtuch auf dem Tisch ausbreiten. Tat es nicht auch ein großes Geschirrhandtuch? Ihre weißen Tischtücher waren noch in der Wäscherei. Helene nahm das größte Geschirrtuch aus der Wäscheschublade im Küchenschrank und breitete es auf der Wachsdecke des Küchentisches aus. Dann legte sie den Teig in die Mitte und suchte das Nudelholz. Sie fand es schließlich hinter den Schüsseln im Küchenschrank, es war eben schon lange nicht mehr benutzt worden. Sie bestäubte es mit Mehl und rollte den Teig aus. Es sollte ein Viereck werden, aber der Teig blieb immer wieder am Nudelholz kleben. Helene war ratlos. Dann fiel ihr ein, dass sie das Nudelholz anfeuchten musste.

Sie rollte ein Viereck aus, zwar nicht so hauchdünn, wie es in dem Rezept stand, aber es würde schon gehen. Erleichtert legte sie die Äpfel auf den Teig. Er riss, als sie versuchte, ihn umzuschlagen, aber Helene flickte ihn und schob das Blech dann in den Ofen. Geschafft, dachte sie, endlich! Wie lange musste der Strudel im Ofen bleiben? Bis er goldbraun war, stand im Rezept. Nur woher wusste man, wann es so weit war?

Helene wischte die Wachsdecke auf dem Küchentisch ab, merkte, dass Teigreste auf den Boden gefallen waren, und fegte und wischte die Küche. Dann goss sie schwarzen Tee auf und setzte sich an den Küchentisch, um darauf zu warten, bis der Apfelstrudel fertig war. Die NJW blieb an diesem Tag unberührt auf dem Sekretär liegen. Helene schob nur die Arbeitsplatte rein, und die Zeitschrift verschwand im Innern des Sekretärs.

Als der Apfelstrudel fertig war und sie während des Wartens die neuesten Schlager gehört und im Kochbuch gelesen hatte, war sie so erschöpft von den Dingen, die sie eigentlich nicht hatte tun wollen. Sie legte sich für einen Moment auf das braune Ledersofa im Wohnzimmer. Um drei Uhr würden die Damen erst kommen, da blieb ihr noch ein wenig Zeit, sich auszuruhen. Sie schloss die Augen und träumte sich weg vom Apfelstrudel, aus dieser Wohnung, aus ihrem Leben.

Um halb drei stand Helene auf und ging noch einmal durch die Räume, um zu kontrollieren, ob alles ordentlich war. Sie wollte, dass ihre Freundinnen sich bei ihr wohlfühlten. Und das bedeutete in dieser Gegend eben nicht, um den Küchentisch zu sitzen, jeder einen Pott Kaffee in der Hand, in der Mitte Kekse in einer Schale, sondern im Wohnzimmer an einem vorbildlich gedeckten Tisch mit gemangelten weißen Stoffservietten, Silberlöffeln und -gabeln und vom roten Kaffeegeschirr Thames Riverscenes Kaffee und erlesenes Gebäck zu sich zu nehmen. Eigentlich hätte Helene lieber die bunten modernen Teller und Tassen gedeckt, die sie in der Küche benutzten, aber das wäre bei Marianne und Gertrud sicher nicht gut angekommen. Man hatte sich an die Regeln zu halten, was bedeutete, das gute Geschirr aus der Anrichte zu holen, das Silber noch einmal zu putzen und eine kleine Vase mit Blumen zu bestücken.

Helene schlug Sahne und süßte sie mit Zucker. Sie entdeckte auf der Tischdecke mit dem zarten Blumenkranzmuster in der Mitte einen kleinen Fleck, dachte kurz daran, alles wieder abzudecken und eine andere Tischdecke aufzulegen, aber dafür reichte die Zeit nicht. Sie stellte die Platte mit dem Apfelstrudel, der wirklich gelungen aussah, auf den Fleck und hoffte, dass Gertrud ihr beim Anschneiden helfen würde. Das Silbertablett mit den Likörgläsern stand auf einem Beistelltisch, ein silberner Becher mit Zigaretten neben dem kristallenen Aschenbecher für Ella. Es war kurz vor drei, und alles war bereit. Helene hatte sich noch einmal das Gesicht gewaschen und dann ein wenig Puder, Rouge und Lippenstift aufgelegt, ihre Haare frisiert und die Frisur mit Haarspray fixiert.

»Jetzt kann es also losgehen«, seufzte sie und bereitete sich auf einen weiteren Nachmittag mit belanglosen Gesprächen vor. Als ihre Kinder klein waren, hatten sie und ihre Freundinnen bei den Kaffeekränzchen immer etwas zu besprechen gehabt. Es war um Kinderkrankheiten, um Schulnoten gegangen, um das schlechte Benehmen der Kinder und was man dagegen tun sollte. Jetzt hatte Helene eigentlich nichts mehr, was sie bei einem Kaffeekränzchen besprechen wollte. Die meiste Zeit langweilte sie sich zutiefst. Aber die Tradition musste weitergeführt werden.

Marianne kam als Erste, wie immer. Die etwas rundliche Frau japste vom Treppensteigen, beschwerte sich über den fehlenden Lift, fuhr sich durch ihr blondes Haar und reichte Helene huldvoll ihren neuen Burberry-Trenchcoat.

»Der ist aber schön«, sagte sie pflichtschuldig und hängte ihn auf.

»Das duftet hier aber köstlich. Du hast gebacken?«, fragte Marianne fast ungläubig.

»Ja, tatsächlich, ich habe gebacken.« Bitte, Ella und Gertrud, kommt, dachte Helene. Lange halte ich das allein mit Marianne nicht aus. Wie konnte ich sie früher mal mögen? Gut, sie hatte mir oft geholfen, Eddie war fast wie ein zweiter Sohn für sie gewesen. Aber seit dem gemeinsamen Abitur ihrer beiden Söhne hatten sich die Kinder nicht mehr gesehen. Herrmann studierte Medizin in Hamburg und hatte keine Zeit mehr. Und Eddie fand ihn auch zu langweilig, wie er Helene bei einem ihrer Treffen zum Kaffeetrinken in der Stadt verraten hatte. Mit Marianne sprach sie nicht mehr über Eddie, seit er ausgezogen war. Sie und Gertrud verstanden nicht, dass sie seinen Auszug sogar unterstützt hatte.

Jetzt hörte sie Ellas Räuspern und Gertruds Lachen im Treppenhaus. Gott sei Dank, dachte Helene. Ella war ihre engste Freundin, die immer irgendeine amüsante Geschichte auf Lager hatte. Ihr Mann Emil arbeitete als Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk. Und Ella selbst schrieb seit einiger Zeit auch, aber niemand wusste, was. Nach der Heirat ihrer Tochter Ilse waren Emil und Ella aus der Nachbarschaft in eine moderne Wohnung in die Grindelhochhäuser gezogen, und dort hatte sich Ella ein kleines Arbeitszimmer eingerichtet, mit einer riesigen dunkelgrauen Schreibmaschine von Adler auf einem modernen Schreibtisch, die einen Höllenlärm machte, einem Kanapee, einem Bücherregal und sonst nichts. Ein himmlischer Raum, fand Helene, so etwas würde sie auch gerne haben, aber sie hatte sich bisher nicht getraut, den kleinen Raum ihrer Mutter umzufunktionieren, weil sie dachte, sie würde damit ihr Andenken mit Füßen treten. Neben Ellas Schreibmaschine lagen Stapel mit beschriebenen Blättern. Selbst Helene hatte Ella noch nichts von dem gezeigt, was sie schrieb, aber sie war sich sicher, dass es brillant war. Helene bewunderte Ella sehr und war glücklich darüber, dass sie ihre Freundin gleich kennengelernt hatte, als sie nach Hamburg gekommen war. Ella war gar nicht begeistert gewesen, dass ihre Tochter schon verheiratet war und kein Studium aufgenommen hatte, und beneidete Helene darum, dass Uta studierte. Wenn sie das maltut, dachte Helene, sagte es aber nie, denn sie genoss es, von ihrer Freundin ein wenig beneidet zu werden. Was habe ich denn sonst außer die LeistungenmeinerKinder, mit denen ich angeben kann, dachte sie.

»Ich bin beeindruckt. Du kannst doch backen«, sagte Marianne, als sie einen Bissen von ihrem Apfelstrudel gegessen hatte. Dabei lachte sie. Sieist so überheblich und selbstgefällig, dachte Helene, lachte aber auch.

»Ja, das hast du wunderbar gemacht, das könnte ich nie«, kam ihr Ella zu Hilfe. Und Gertrud schnalzte anerkennend mit der Zunge. Marianne erzählte weiter von ihrem letzten Besuch bei ihrer Schneiderin. Sie hatte sich zwei Cocktailkleider machen lassen, man musste ja mehrere haben, so gefragt, wie man war.

»Ihr wisst ja, am nächsten Freitag hat Gustav Geburtstag, und ich veranstalte eine Cocktailparty. Professor Hausbruch wird dieses Mal auf jeden Fall auch kommen, hat er gestern zu Gustav gesagt. Bitte seid ein wenig früher da, dann könnt ihr mir noch zur Hand gehen«, bat Marianne.

Wenn du jemanden brauchst, der dir hilft, besorg dir doch einDienstmädchen, dachte Helene. Beinahe hätte sie es laut gesagt, aber sie sah nur kurz zu Ella und zog die Augenbrauen hoch.

»Ich kann leider nicht früher kommen, meine Enkelkinder sind bei mir«, bedauerte Gertrud.

»Natürlich, liebe Gertrud, das geht vor. Keine Sorge. Helene hilft mir bestimmt, nicht wahr, Helene?«

»Das tue ich nicht«, murmelte Helene. Alle sahen sie erschrocken an. O Gott, hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Ella fasste sich zuerst.

»Noch Portwein jemand oder einen Eierlikör? Ich nehme mir noch einen«, sagte sie.

»Wie meinst du das, dass du mir nicht hilfst?«, fragte Marianne mit dünner Stimme.

»Sie hat es sicher ganz anders gemeint, nicht wahr?«, sagte Gertrud.

»Nein, Marianne, habe ich nicht. Warum sollte ich auch. Als ob ich nichts Besseres zu tun habe, als bei dir die Häppchen zu richten. Das mach mal schön allein.«

Helene wusste nicht, was plötzlich in sie gefahren war. Sie hatte das gar nicht sagen wollen. Aber der Portwein hatte ihr die Zunge gelöst. Marianne musterte sie entgeistert.

»Was ist denn mit dir los? So kenne ich dich gar nicht«, erwiderte sie verschnupft.

»Ja, liebe Marianne, so kennst du mich nicht. Niemand von euch kennt mich wirklich.« Helene stieß einen lauten Seufzer aus.

»Ich schon, Helene«, widersprach Ella.

»Entschuldige, Ella, ja, du schon. Aber ihr anderen wollt mich gar nicht sehen. Verdammt. Mich interessieren Kaffeekränzchen nicht. Ich langweile mich jedes Mal zu Tode. Versteht ihr? Ich weiß gar nicht, warum ich sie noch veranstalte, jetzt, wo unsere Kinder alle erwachsen sind. Wisst ihr eigentlich, was da draußen los ist? Vor kurzem wurden die Römischen Verträge für die Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterschrieben und für die Euratom.«

»Ja, natürlich weiß ich das«, antwortete Ella.

»Ich auch, aber du weißt ja, wir sind nicht politisch«, sagte Marianne.

»Vielleicht, weil ihr zu politisch wart?«, platzte es aus Helene raus.

Jeder wusste doch, dass ihr Gustav ein Parteimitglied erster Stunde gewesen war und sie bis zum Schluss an die neue Weltordnung des Dritten Reiches geglaubt hatten.

»Was willst du damit sagen?«, fragte Marianne leise.

»Das weißt du genau, oder nicht?«, schnappte Helene.

»Das muss ich mir nicht bieten lassen«, sagte Marianne. »Ich gehe jetzt.« Sie warf ihre Serviette auf den Tisch. Dann stand sie auf.

Ich muss mich sofort entschuldigen, dachte Helene. Sagen, dass ich zu viel Portwein getrunken habe, dass es mir leidtut. Denn Marianne war nicht nur ihre Freundin, sondern Gustav auch Helmuts ältester Freund. Aber sie blieb stumm sitzen.

»Helene, was ist bloß los mit dir?«, fragte Gertrud, stand jetzt auch auf, verabschiedete sich kurz und ging.

Ella blieb sitzen. Die Wohnungstür öffnete sich, und dann waren beide Freundinnen weg. Ella steckte sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.

»Willst du nicht auch gehen?«, fragte Helene.

»Auf keinen Fall. Es sei denn, du willst mich loswerden. Ich möchte noch ein Stück Apfelstrudel. Erzähl mir bitte mal genau, wie du ihn gemacht hast. Ich brenne darauf, jedes Detail zu erfahren. Und heute war ich im Alsterhaus in der Modeabteilung und habe mir dieses todschicke smaragdgrüne Kostüm gekauft. Du weißt ja, Emil und ich sind so oft zu wichtigen Gesellschaften eingeladen.« Ella imitierte Mariannes Tonfall so treffend, dass Helene lächeln musste.

»So ist es besser. Und jetzt her mit dem Apfelstrudel. Er ist köstlich. Du bist eine wahre Küchenfee.«

Helene lachte laut. Ella wusste genau, wie oft sie Sachen hatte anbrennen lassen, weil sie mit ihren Gedanken eigentlich nie richtig beim Kochen war.

»Meinst du, Marianne beruhigt sich wieder? Ich kann doch behaupten, dass ich beschwipst war und es nicht so gemeint habe.«

»Klar meintest du das so. Und es stimmt ja auch. Marianne trauert den in ihren Augen großartigen Dreißigern nach. Wusstest du das?«

»Ja, es ist gruselig, oder? Ich trauere aber den wirklich Goldenen Zwanzigern hinterher. Du weißt, mein Studium, die Zeit in Berlin. Ich muss dir was zeigen.«

Sie ging zu ihrem Sekretär und holte die Neue Juristische Wochenschrift hervor.

»Die habe ich seit einiger Zeit abonniert. Und ich finde sie hochinteressant.«

»Na endlich. Da ist die Juristin wieder. Ich hatte schon gedacht, du hast dich jetzt endgültig in deiner Küche verloren, als du uns vorhin diesen Apfelstrudel aufgetischt hast«, bemerkte Ella fröhlich.

»Nein, den habe ich wohl gemacht, um mir zu beweisen, dass mich dieses Leben in Hamburg doch interessiert«, erklärte Helene.

»Tut es das nicht mehr? Jetzt bin ich beleidigt«, sagte Ella.

»Um Gottes willen, Ella, so meine ich das nicht. Wir sind Freundinnen, das interessiert mich. Aber du bist die Einzige, die mich hier nicht langweilt.«

»Das ist sehr nett von dir. Du langweilst mich auch nicht. Ich werde dir jetzt mal was erzählen, aber du darfst es niemandem sagen, auf keinen Fall Gertrud und Marianne«, beschwor Ella sie.

»Die reden doch sicher sowieso nicht mehr mit mir«, winkte Helene ab.

»Das werden sie, schon morgen. Du weißt, dass Marianne keinen Streit mag. Kauf ihr einen Blumenstrauß, klopf an ihre Tür, wenn du das möchtest, und entschuldige dich bei ihr.«

»Aber wenn ich das nicht will?«, begehrte Helene auf.

»Dann ist das auch in Ordnung. So, jetzt aber zu mir. Es ist Zeit, dass du etwas erfährst.«

»Ilse ist schwanger.«

»Nein, Gott sei Dank nicht. Ich möchte noch keine Großmutter werden.«

»Ich auch nicht«, sagte Helene.

»Ich schreibe schon länger Romane für die Silvia-Reihe.« Ella seufzte und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

»Du meinst die Heftromane, die es an allen Kiosken zu kaufen gibt und die Marianne immer liest? Warte, sie hat mir vor kurzem einen mitgebracht.«

Helene fischte ein Heft aus einem Bücherregal.

»Ja, das habe ich geschrieben. Ich erinnere mich gut. Tumult des Herzens. Hat mir viel Spaß gebracht.«

»Ich habe es noch nicht gelesen, muss ich gestehen.«

»Ich werde dir jetzt auch nichts verraten. Das musst du selbst lesen. Ja, es ist keine große Literatur, wie du sie vielleicht von mir erwartet hast. Aber sie bringt gutes Geld. Ich kann bis zu 2000 Mark verdienen, wenn ich zwei Heftromane monatlich abliefere.«

Helene wäre fast die Kaffeetasse aus der Hand gerutscht.

»2000 Mark? Das ist so viel Geld.«

»Ja, das ist es. Aber es ist auch harte Arbeit, so etwas zu schreiben. All die Irrungen und Wirrungen, Verstrickungen, es muss auch ein klein wenig verrucht sein. Der Bastei Verlag hat strenge Regeln für mich. Man darf nicht über Politik, Sex, Drogen und Mord schreiben. Es darf geküsst und vielleicht etwas mehr angedeutet werden, aber dann wird ausgeblendet. Es geht immer um Liebe und Verrat in der Glamourwelt oder der Welt der Adeligen und Reichen. Und am Ende siegt das Gute, der Held reitet mit der Heldin in den Sonnenuntergang.«

»Du verdienst dein eigenes Geld. Das ist so großartig. Was sagt Emil denn dazu? Findet er es nicht unangenehm? Dann hast du auch ein eigenes Bankkonto?«

»Ja, das habe ich, und Emil findet das wunderbar. Du weißt ja, wie sehr er die Reisen nach Italien und unseren schicken Ford Taunus mag. Und ich liebe es, essen zu gehen. Beim Norddeutschen Rundfunk verdient Emil gut, aber nicht so gut, dass es für unseren ausschweifenden Lebensstil reicht.«

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, sagte Helene.

»Lass uns jetzt noch mal anstoßen. Auf deinen Erfolg. Dass du dir endlich eingestanden hast, wie sehr dich die Kaffeekränzchen langweilen. Und darauf, dass du sie nicht mehr veranstaltest. Wir treffen uns stattdessen ab und zu bei mir im Arbeitszimmer und ich lese dir Passagen aus meinen Werken vor, und du erzählst mir, was du in deiner NJW gelesen hast, auch wenn ich das sicher nicht verstehen werde, Frau Doktor. Vielleicht bekommst du Lust, wieder zu arbeiten.«

»Allerdings habe ich das zweite Staatsexamen doch nicht«, wand Helene ein.

»Aber du warst eine hervorragende Studentin, das hast du mir ja nicht nur einmal erzählt. Und du weißt, wie wenige Frauen ihr wart und immer noch seid. Mach was draus. Auch wenn dir das Assessorexamen fehlt, es gibt genug Arbeit, da bin ich mir sicher. Emil hat vor kurzem gesagt, dass im Sender dringend jemand gebraucht wird, der Gerichtsberichterstattung macht. Die meisten, die sich damit beschäftigen, haben eigentlich keine Ahnung, was sie da tun.«

»Das kann ich sicher nicht«, sagte Helene.

»Das weißt du nicht. Und darum geht es jetzt auch nicht. So, ich helfe dir aufräumen, und dann setzt du dich an deinen Schreibtisch und liest in der NJW. Du hast so glücklich ausgesehen, als du mir davon erzählt hast.«

Sie räumten schnell alles weg, und dann ging Ella. Helene war immer noch in die Neue Juristische Wochenschrift vertieft, als Helmut nach Hause kam.

»Helene«, rief er schon im Flur. »Wo bist du? Ich habe großen Hunger. Was gibt es heute?«

Sie antwortete nicht und blieb an ihrem Schreibtisch sitzen. Helmut kam ins Wohnzimmer.

»Was machst du? Und warum ist der Abendbrottisch noch gar nicht gedeckt?«

»Du weißt, wo der Kühlschrank ist, und kannst dir selbst Abendbrot machen. Ich habe zu tun.« Helene erschrak über ihre Worte. So etwas hatte sie noch nie zu ihrem Mann gesagt.

»Dann hat Marianne also recht. Sie hat mich vorhin im Büro angerufen und mir erzählt, wie ungehörig du dich verhalten hast.«

Helene schlug die NJW zu und drehte sich zu Helmut um.

»Ach, wie kommt sie dazu, dich im Büro anzurufen?«, fragte sie empört.

»Gustav ist mein ältester Freund, wie du weißt. Du musst dich bei ihr entschuldigen, sonst glaube ich wirklich, dass du übergeschnappt bist.«

Helene stand ruhig auf. Plötzlich war ihr klar, was sie jetzt tun musste.

»Nein, das werde ich nicht. Ich mag sie nicht und möchte sie auch nicht mehr sehen.«

»Aber ich werde sie treffen. Und auch zu ihrer Cocktailparty gehen.«

»Tu das. Und jetzt entschuldige mich, ich werde noch einen Spaziergang machen.«

»Und das Abendbrot?«

»Das sagte ich doch schon. Der Kühlschrank ist in der Küche.«

Helene ging an ihm vorbei und nahm ihren Mantel vom Haken. Dann schloss sie die Wohnungstür hinter sich. Als sie unten angekommen war, wusste sie aber nicht, wohin sie eigentlich gehen wollte. Es war abends, und sie war allein unterwegs. Sie konnte doch nicht ohne Begleitung ein Restaurant oder noch schlimmer eine Kneipe betreten? Das tat man nicht in dieser Gegend. Wo sollte sie also hin?

Sie ging zum Eppendorfer Baum und setzte sich neben der U-Bahn-Station auf eine Bank. Plötzlich fühlte sie sich verloren und einsam. Wer war sie denn ohne Helmut? Niemand. Sie hatte kein eigenes Geld, keine Arbeit, keine Wohnung. Die hatte Helmut allein von seinen Eltern geerbt. Es begann zu regnen. Die wenigen Passanten, die vorbeikamen, musterten sie verwundert.

»Du musst einlenken«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter im Kopf. »So ist nun mal die Welt. Die Männer bestimmen dann doch letzten Endes, die Frauen müssen sich fügen. Also, geh und entschuldige dich bei deinem Mann. Schieb es auf Unwohlsein.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Helene und ging zurück in die Isestraße. Sie ignorierte den dicken Kloß in der Magengrube und öffnete leise ihre Wohnungstür. Helmut saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Es lief gerade die Tagesschau. Er hatte sich tatsächlich einen Teller mit Broten zurechtgemacht.

»Na, geht es dir wieder besser?«, fragte er erstaunlich sanft. Sie versuchte ein Lächeln, setzte sich in ihren Sessel und sah die Tagesschau. Aber sie hatte das Gefühl, dass alles, was sie seit langem unter den Teppich gekehrt hatte, mittlerweile einen Riesenberg bildete, den sie nicht mehr übersehen konnte.

Kapitel 2

Berlin, 1928

Auch wenn Helene jetzt schon zwei Jahre Studentin der Rechtswissenschaften war und sie den Weg zur Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden selbst mit geschlossenen Augen finden würde, denn es war ihr Lieblingsort in ganz Berlin, wachte sie jeden Morgen mit einem dankbaren und aufgeregten Gefühl auf, in das sich Angst mischte. Würde sie das Examen schaffen, würde sie ihre Anforderungen an sich selbst erfüllen können, oder würden diejenigen recht behalten, die daran zweifelten, dass sie als Frau überhaupt Jura studieren konnte?

Wie oft hatte sie schon Blicke gespürt, die ihr Gesicht und manchmal auch ihre Figur taxierten, um zu überprüfen, ob ihr Aussehen und ihre weibliche Ausstrahlung ausreichen würden, darüber hinwegzusehen, wie kratzbürstig und dickköpfig sie war. Und mittlerweile fast ein spätes Mädchen? Die Töchter vieler Familien in Steglitz, mit denen ihre Eltern verkehrten, waren natürlich bereits verheiratet und hatten mit 23 Jahren mindestens ein Kind. Helene wusste, dass selbst ihre Mutter, die wie eine Löwin darum gekämpft hatte, dass sie studieren konnte, nachdem Helenes Lehrerin Fräulein Schmidt sie darauf aufmerksam gemacht hatte, wie begabt ihre Tochter war, doch im Stillen hoffte, dass sie bald mit einem Juristen und, wenn es sein musste, auch noch mit einem Staatsexamen in den Hafen der Ehe segeln würde.

In Preußen hatten Frauen seit 1908 das Recht zu studieren, in Baden seit 1900 und in Bayern seit 1903. Faktisch waren Frauen also den Männern in diesem Punkt gleichgestellt worden, noch bevor sie 1919 das Wahlrecht bekamen. Aber Helene fühlte sich manchmal immer noch, als ob sie auf Probe in den Hörsälen oder der Bibliothek am Opernplatz war, obwohl sie dort so oft am Tisch am Fenster saß, dass sich schon niemand anderes traute, sich dorthin zu setzen, falls sie doch vorhatte, in die Bibliothek zu kommen.

Sie sah auf die Uhr. Es war mittlerweile halb sieben, sie musste jetzt schnell aufstehen, denn obwohl sie heute erst um neun Uhr Vorlesung hatte – Strafrecht bei Professor Goldschmidt –, war bis dahin noch viel zu erledigen. Ihre Mutter hatte zwar schon den Ofen in der Küche angezündet – Helene hörte sie, obwohl sie versuchte, leise zu sein, um ihren Mann nicht zu wecken –, aber gleich würde sie ohne Frühstück die Tür der Wohnung zu ziehen. Sie hatte um acht Uhr einen Termin im Sozialgericht.

Es ging um einen Fall, der leider viel zu oft vorkam, aber nur selten vor Gericht verhandelt wurde. Ein Dienstmädchen war entlassen worden, weil sie nicht rund um die Uhr für die Herrschaften da sein wollte, sondern auf ihren freien Tag bestanden hatte. Mit Hilfe der SPD und des Steglitzer Hausfrauenvereins hatte das Dienstmädchen das nicht auf sich beruhen lassen, sondern war vor Gericht gezogen. Sie forderte ihren Verdienst der letzten zwei Monate und ein positives Empfehlungsschreiben. Helenes Mutter Martha hatte über ihren Hausfrauenverein, der für die Stärkung der Rechte des Dienstpersonals kämpfte, einen exzellenten Anwalt gefunden. Dieser übernahm solche Fälle ab und zu pro bono, und wollte das Dienstmädchen im Gerichtssaal moralisch unterstützen. Es kam so selten vor, dass ein Dienstmädchen sich traute zu klagen. Es war ein riesiger Erfolg, und der Dienstherr würde vielleicht nicht dazu bewegt werden können, sie wieder einzustellen, aber ihr zumindest ihren restlichen Lohn zu zahlen. Ihre Mutter hatte auch schon einige Familien ausgesucht, die für das Dienstmädchen als neue Herrschaften in Frage kamen, wenn sie dann überhaupt noch in diesem Bereich arbeiten wollen würde. Das KaDeWe suchte nämlich momentan wieder Verkäuferinnen, und diese Arbeit war bei jungen Frauen sehr begehrt. Sie konnte sich ihren Schützling sehr gut in der Feinkostabteilung hinterm Tresen vorstellen, so viel Erfahrung, wie sie hatte, und so hübsch, wie sie war.

Das alles hatte ihre Mutter gestern Abend beim Kartoffelschälen erzählt, während ihr Vater vor dem Abendessen im Wohnzimmer die Zeitung las. Helene wollte dringend lernen, aber sie konnte das ihrer Mutter nicht antun. Sie durfte studieren, wenn sie weiter im Haushalt half, weil sie ja nichts verdiente. Das war die Vereinbarung, und sie hielt sich natürlich auch daran. Also sprang sie selbstverständlich ein, wenn sich ihre Mutter für die Rechte der Dienstmädchen engagierte. Sie war kurz nach dem Tod ihres Sohnes Hans im Hausfrauenverein aktiv geworden und setzte sich dafür ein, dass Hauswirtschafterin ein eigenständiger Beruf wurde, für den festgeschriebene Regeln galten. Ihr Mann hatte das akzeptiert, denn seitdem sah er seine Frau Martha überhaupt wieder lächeln.

Helene war stolz auf ihre fortschrittliche Mutter und auch auf ihren Vater, der seiner Frau die Erlaubnis gegeben hatte, sich im Hausfrauenverein zu engagieren, und ihr selbst, Abitur zu machen und nach zwei Jahren Arbeit als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei doch zu studieren. Zuerst war es ihm sehr peinlich gewesen, dass seine Frau manchmal erst am frühen Abend zu ihren Versammlungen ging. Denn die Frauen seiner Freunde waren natürlich zu Hause, wenn ihre Ehemänner aus dem Büro kamen. Aber als er bemerkte, mit wie viel Respekt seiner Frau jeden Sonntag nach dem Kirchgang begegnet wurde, machte er seinen Frieden damit, solange alles im Haushalt organisiert und erledigt wurde und nichts liegen blieb. Daher griff Helene ihrer Mutter unter die Arme, wenn sie etwas vorhatte und mit dem Haushalt nicht fertig geworden war.

Heute Morgen musste sie vor der Universität noch vier von Vatis Hemden bügeln. Das Bügelbrett stand schon wie erwartet in der Küche, als sie hereinkam, und ihre Mutter hatte das Bügeleisen erhitzt. Den Wäschekorb mit den Hemden hatte sie in die Mitte des Küchentisches gestellt, damit Helene ihn nicht übersehen konnte.

Sie schenkte sich einen Kaffee aus der weißen Emaillekanne ein, die auf der noch heißen Herdplatte stand, und musste aufpassen, sich nicht zu verbrennen. Dann krempelte sie die Ärmel hoch und legte los. Ihre Mutter hatte ihr das Bügeln vor Jahren beigebracht. Das muss eine Frau aus dem Effeffkönnen, hatte sie gesagt. Helene hatte sich zähneknirschend gefügt, obwohl sie viel lieber mit Hans im Baumhaus gelesen hätte, aber Vati durfte gar nicht wissen, wie oft sie da oben war, denn er meinte, es schicke sich nicht, dass ein Mädchen Bäume hochkletterte. Sie hatte es dennoch immer getan, wenn sie unbeobachtet war.

Nachdem sie stundenlang Falten in die Oberhemden ihres Vaters und die ihres Bruders gebügelt und sich etliche Brandblasen geholt hatte, begriff sie, wie es ging. Und von da an war sie fast allein fürs Bügeln der Kleidung zuständig gewesen. Die Bettwäsche und die Tischtücher wurden glücklicherweise in eine Wäscherei gebracht und kamen gemangelt zurück. Das war ein Luxus, den sich ihre Mutter leistete und den ihr Vater ihr ohne Murren zugestand. Während Helene das Bügeleisen über die weißen Hemden ihres Vaters, die er natürlich täglich in der Bank tragen musste, gleiten ließ, memorierte sie den Paragraphen 65 des Strafgesetzbuches Aufforderung zum Hochverrat.

»Wer öffentlich durch Rede oder Schrift zur Ausführung einer Handlung auffordert, welche nach § 62 als ein hochverräterisches Unternehmen zu bestrafen wäre, soll mit zwei- bis zehnjährigem Zuchthaus, oder, wenn festgestellt wird, dass mildernde Umstände vorhanden sind, mit Einschließung von zwei bis zu zehn Jahren bestraft werden.«

Natürlich wusste sie auch, was im Paragraphen 62 stand. Sie hatte noch nie lange gebraucht, um sich etwas einzuprägen, allerdings nur, wenn es nicht mit Zahlen zu tun hatte.

»Du musst die Gesetze nicht auswendig lernen«, hatte Julius schon oft gesagt, aber sie wusste, dass er eigentlich neidisch auf sie war, weil sie alles mit wenig Mühe lernte, während er manchmal in der Bibliothek mit dem Kopf auf seine Gesetzbücher sackte und einschlief. Das wäre Helene niemals in den Sinn gekommen. Sie war immer hoch konzentriert, wenn sie in der Bibliothek saß, aber sie wusste auch, wie kostbar ihr Recht war, dort überhaupt zu sitzen und nicht mehr an der Schreibmaschine in der Rechtsanwaltskanzlei Dres. Weinheim. Eines Tages hatte Dr. Weinheim sie in sein Büro gerufen und sie geradeheraus gefragt, ob sie nicht lieber Jura studieren wolle, als weiter für ihn zu arbeiten. Sie hatte ihren Ohren nicht getraut, denn genau das wollte sie schon so lange.

»Ich merke doch, dass Sie die Schriftsätze, die ich diktiere, verstehen, und ich weiß auch, dass Sie oft nach Feierabend in unserer Bibliothek sind, und nicht nur, um Dinge einzuordnen, sondern die Gesetze und Fachliteratur zu studieren.«

Helene wurde rot. Sie wusste nicht, dass Dr. Weinheim das bemerkt hatte.

»Meine Tochter studiert Germanistik, und der Sohn eines sehr guten Freundes fängt auch mit Jura an. Ich werde Sie bekannt machen. Am Anfang des Studiums ist es gut, sich nicht allein zu fühlen. Ich werde mich für Sie verwenden, damit Sie zugelassen werden.«

Immer wenn Helene daran dachte, konnte sie es nicht fassen, dass dieses kurze Gespräch ihr ganzes Leben verändert hatte. Dr. Weinheim hatte sie zu Hause aufgesucht, um mit ihrem Vater zu sprechen. Helene war damals schon 21, aber sie hätte niemals gegen den Willen ihres Vaters studieren wollen. Sie hatte Julius kennengelernt, der ihr durch die erste Zeit geholfen hatte. Und jetzt war er ein wunderbarer Kommilitone und ein guter Freund.

Ein Blick auf die Uhr zeigte Helene, dass sie sich beeilen musste, denn bevor sie das Haus verlassen konnte, musste sie noch die Küche fegen und wischen, und frisches Brot und Rosinenbrötchen einkaufen. Die Milch wurde glücklicherweise gebracht. Vati hatte gestern nach dem Abendessen gesagt, dass er am nächsten Morgen zum Frühstück gerne Rosinenbrötchen essen wolle, und ihre Mutter hatte es nicht mehr geschafft, welche einzukaufen. Warum geht Vati nicht mal selbst runter zum Bäcker, dachte Helene, aber sie verbat sich diesen Gedanken gleich wieder, weil ihn ihr Vater absurd gefunden hätte. Sie hatten kein Mädchen mehr, seit ihre Mutter keine Hilfe mehr mit den Kindern benötigte, sondern eine Zugehfrau, die zweimal in der Woche die Wohnung putzte und die wichtigsten Besorgungen erledigte. Helene kaufte im Laufschritt ein und war gerade rechtzeitig zu Hause, als ihr Vater rasiert und wie immer tadellos gekleidet in die Küche kam und sich zum Frühstück setzen wollte.

»Helene, ich habe nicht mehr so viel Zeit, und warum steht das Bügelbrett noch«, murrte er, klappte es dann aber doch zusammen und stellte das Bügeleisen zum Auskühlen auf den Spültisch. Helene deckte in Windeseile den Tisch, sie merkte, dass auch sie selbst hungrig war, und goss Kaffee ein.

»Nicht schlingen, junge Dame«, sagte ihr Vater, aber sie aß dennoch schnell. Sie wollte los, endlich in die Freiheit ihres selbstbestimmten Tages, der so lange dauerte, bis sie abends wieder in die elterliche Wohnung zurückkam. Ihr Vater musterte sie zwar missbilligend, als sie schon nach kurzer Zeit aufstand, denn er mochte es nicht, allein zu frühstücken, aber er schien ansonsten gut gelaunt zu sein. Natürlich hatte er sich nicht dafür bedankt, dass sie seine Hemden gebügelt hatte, aber das erwartete Helene auch nicht von ihm.

Endlich Luft