Und plötzlich bist Du ein Fremder - Ingrid Beck - E-Book

Und plötzlich bist Du ein Fremder E-Book

Ingrid Beck

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Beschreibung

Kann man einen Menschen zwei Mal verlieren? Meine Welt gerät aus den Fugen, als mein Mann die Diagnose frontotemporale Demenz erhält. Nichts ist mehr wie es war, alle unsere gemeinsamen Träume sterben leise. Und plötzlich ist er ein Fremder für mich, der zwar noch so aussieht wie der Mann, den ich aus Liebe geheiratet habe, aber nichts mehr sonst an ihn erinnert. Er lebt in seiner eigenen Welt und bittet mich, ihn dort zu lassen, weil er in ihr glücklich ist. Mich zerreißt es innerlich vor Schmerz, Trauer und Wut. Nach einigen Monaten steht fest: Es gibt keinen gemeinsamen Weg mehr. Er möchte mich in seiner Welt nicht mehr haben und ich bin in dieser Stück für Stück zerbrochen. Trägt Liebe wirklich alles? Muss sie alles ertragen? Bedeutet es ein Leben gegen das andere? Aber Demenz kennt kein Happy-End.

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Seitenzahl: 124

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Gedanken zu Beginn

Es ist vorbei

„Geben Sie mir meinen Mann zurück!“

Tag 4 – Stunde um Stunde

Tanz zwischen den Welten

Ich verlerne zu reden

Brauchst Du noch etwas? – Ja, Deine Liebe

Nichts als Wut

Wie wird es weitergehen?

Igel oder Schnecke

„Passen Sie auf sich auf!“

Wenn Träume leise sterben

528 Stunden

Es wird Zeit für mich

Weinen verboten

Fliegen mit nur einem Flügel

Blackout

Weihnachten ganz anders

Zwischen den Jahren – zwischen den Stühlen 74

Meine Zeit ist gekommen

Tanz auf dem Drahtseil

Zuhause

Grenzwertig und im Stich gelassen

Dein Traum vom Motorrad

Manchmal

10 Meter über dem Wasser

Ich kann nicht mehr und Du willst mich nicht mehr

Wie ein Blatt im Wind

Zwischenmenschliches

„Wie können Sie nur?“

Auszeit

Erinnerungen

Wie spät ist es?

Verloren

Aufgeben ist (k)eine Option

Ich bin noch nicht tot

Abschied und Neubeginn

Scheidungstermin

Liebe trägt nicht alles

April 2020

Epilog

Die Welt des Vergessens

Du brauchst die Vergangenheit - ich die Zukunft

Du brauchst die Stille - ich das Leben

Du brauchst das Chaos - ich die Ordnung

Du brauchst die Distanz - ich die Nähe

Du brauchst die Kälte - ich die Wärme

Du brauchst das Innen - ich das Außen

Du brauchst das Alte - ich das Neue

Du brauchst die Isolation - ich die Freiheit

Du brauchst das Gestern – ich das Heute und das Morgen

(Ingrid Beck))

Gedanken zu Beginn

Mai 2020. Ich suche immer noch. Nicht nur nach dem Anfang, sondern auch nach dem Ende. Es fühlt sich an, als ob man einen alten Pullover auftrennt, die Wolle hektisch aufgewickelt hat und jetzt weder den Anfang noch das Ende auf Anhieb findet. Kann man einen Menschen zwei Mal innerhalb von kurzer Zeit verlieren? Denn genau so fühlt es sich an. Das erste Mal habe ich Dich an eine Welt verloren, zu der niemand mehr Zugang hatte. Wie oft habe ich mir gewünscht, Dich nur noch ein einziges Mal in Deiner Welt zu erreichen, Dir Dinge zu sagen, die uns so wichtig waren. „Ich liebe Dich!“, „Fahr vorsichtig!“ und ich hätte alles darum gegeben, Dich noch ein einziges Mal zu spüren. Deine Hände auf meinen. Deine Hände waren wunderschön. Schlank, nicht zu groß und sie waren immer warm. Und diese Wärme vermisse ich so sehr. Du hast einmal gesagt: „Ich weiß, dass ich in meiner eigenen Welt lebe, aber in ihr bin ich glücklich, also lass mich bitte in ihr.“ Ich habe Dich gelassen, mit all meiner Wut, meiner Trauer, meinem Schmerz und um den Preis unserer Liebe. Heute weiß ich, Liebe trägt nicht alles. Ich bin dafür behandelt worden wie eine Aussätzige, wurde verurteilt, angeprangert. Ich weiß, es war richtig, wie wir es gemacht haben. Verstanden hat es niemand. Seit ein paar Tagen weiß ich, dass Du gegangen bist und zum zweiten Mal wirst Du nicht mehr wiederkommen. Das erste Mal war es Dein Geist, der gegangen ist, jetzt ist es Dein Körper. Niemand sollte so gehen, wie Du es getan hast, aber vielleicht bist Du jetzt genauso gestorben, wie Du gelebt hast. Still, leise, von so vielen unbemerkt. Als wir uns damals getrennt haben, dachte ich immer, dass ich vielleicht erleichtert sein werde, wenn ich irgendwann auf welchen Wegen auch immer erfahren werde, dass es Dich nicht mehr gibt. Vielleicht werde ich dann das Gefühl der Angst verlieren, wenn es an meiner Haustür klingelt und Du stehst davor. Ich weiß, dass Du mir zu gesunden Zeiten niemals etwas getan hättest, aber Deine ständigen Besuche waren so schwer zu ertragen, weil ich Dich nicht sehen konnte, ohne dass es weh getan hat. Äußerlich warst Du noch immer der Mann, in den ich mich verliebt habe. Mit jedem Erscheinen von Dir kam das Sehnen nach demjenigen, der Du einmal warst. Rein rechtlich sind wir geschieden. Seit dem 7. Oktober 2016 um genau zu sein. Das sind jetzt dreieinhalb Jahre. Das ist das rechtliche. Gefühlt bin ich Deine Witwe und ich sitze auf einem Berg von Erinnerungen, die sich überschneiden wie Filme, die man übereinanderlegt und dann nicht mehr weiß, zu welchem Film sie ursprünglich gehören. Bis nichts als Bildfetzen bleiben, immer mehr und mehr, bis ich auf einem Riesenberg von Schnipseln sitze und versuche, das Puzzle zusammenzusetzen. Trägt Liebe alles? Muss sie alles ertragen? Bedeutet es ein Leben gegen das andere?

Es ist vorbei

26. Juni 2016: Ich möchte mich manchmal einfach zurück träumen. Zurück zu dem Moment, in dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Noch einmal zurück zu dem Augenblick, in dem ich aufgeregt vor Deiner Tür gestanden habe. Und ich war mehr als nur aufgeregt. Wir hatten miteiander geschrieben, telefoniert und dann beschlossen, dass es Zeit wird – höchste Zeit – uns in der realen Welt zu begegnen. Das war im Mai 2008. Ich könnte heute nicht mehr sagen, welche Sachen ich mir aus dem Kleiderschrank gefischt hatte für unsere erste Begegnung. Aber ich hatte rot lackierte Zehnägel, die Dir sofort aufgefallen sind und die Du toll fandest. Genau 367 km hatte ich zurückgelegt, um Dich zu sehen. Ich hatte damals noch meinen Vierbeiner mit dabei. Ich musste ihn mitnehmen, obwohl ich wusste, dass Du eigentlich keine Haustiere magst. Aber verschieben wollten wir das Treffen auch nicht. Unsere erste Begegnung war kein Paukenschlag. Oder vielleicht doch. So irgendwie. Die Begegnung hatte eher etwas von Magie. Wir waren beide vorsichtig geworden, aber welch Wunder. Wir waren beide keine 20 mehr. Aber es fühlte sich richtig an. Richtig und gut. So, als ob sich unsere Seelen gesucht und gefunden hätten. Und jetzt ist es vorbei. Ich habe seit Monaten, wenn nicht Jahren die ersten ruhigen Momente. Ich sitze an meinem alten zerkratzten Sekretär und kann noch nichts so richtig fühlen. Die gemeinsame Wohnung ist aufgelöst und mein neues zuhause ist eine Einzimmerwohnung mit stolzen 37 qm. Mein neues zuhause. Ich bin körperlich eingezogen, habe aber manchmal das Gefühl, meine Seele kommt noch nicht hinterher. Sie ist noch nicht mit eingezogen. Noch ist alles so furchtbar durcheinander in mir. Die ersten Gedanken machen sich in mir Platz, die ersten Emotionen, die Erinnerungen. All das, wovor ich all die vergangene Zeit Angst hatte. Die letzten Monate, die letzten Wochen. Angst vor den Gefühlen, den Bildern, den vielen Fragen, auf die ich keine Antworten mehr finden werde. Meine Gefühle fahren immer noch Achterbahn und ich sitze hier am Anfang meines „neuen“ Lebens. Ein Leben ohne Dich, ein Leben, in dem es ein gemeinsam nicht mehr geben wird. Ich versuche, mich an mein neues Leben zu gewöhnen, aber es fühlt sich noch alles so fremd an. In meiner neuen Wohnung erinnert nichts mehr an Dich. An das uns. Niemand würde vermuten, dass ich noch verheiratet bin, denn ich trage seit Monaten keinen Ehering mehr, es hängen hier keine Bilder von uns beiden an den Wänden oder auf einem Regal. Oder Bilder nur von Dir. So wie in der alten Wohnung. Die es seit genau 16 Tagen nicht mehr gibt. Es fällt so schwer zu begreifen, dass ich Dich in Deine eigene Welt verloren habe und nichts mehr an den Mann erinnert, den ich gerade mal vor 4 Jahren geheiratet habe. Bilder von unserer Hochzeit steigen in mir auf. Obwohl wir nur standesamtlich geheiratet haben, hatte ich ein cremefarbenes langes Brautkleid an. Welche Frau hat nicht immer noch das kleine Mädchen in sich, das von einem wunderschönen Brautkleid zu ihrer eigenen Hochzeit träumt. Ich hatte Dich damals gebeten, vor dem Standesamt zu warten, weil ich nicht wollte, dass Du mich vorher siehst. Als ich mit dem geschmückten Cabrio einer Freundin endlich das Standesamt erreicht hatte und Du mich gesehen hast, hast Du geweint und gesagt: „Du bist so schön!“. Und wieder kommen mir die Tränen, wenn ich mich daran erinnere. Es gibt Dich noch – körperlich. Aber innerlich nicht mehr. Du bist ein Fremder für mich geworden. Ich musste Dich loslassen und habe Dich verloren an eine Welt, zu der ich keinen Zutritt mehr habe.

Und es gibt Momente, in denen ich einfach nur vergessen möchte. Auslöschen, was gewesen ist. Immer dann, wenn der Schmerz zu groß wird und ich glaube, die Erinnerungen nicht mehr ertragen zu können. Ich suche manchmal immer noch den Anfang der Geschichte. Ab und an frage ich mich, ob er wirklich noch so wichtig ist. Ich weiß es nicht. Tief in mir bin ich immer noch auf der Suche, auch wenn es das Ende der Geschichte nicht mehr ändern wird. Aber vielleicht wird es dann leichter. Nur ein bisschen. Und vielleicht hilft es mir, eines Tages verstehen zu können. Wenn mir jemand gesagt hätte, wie unsere Ehe nur so kurze Zeit später enden wird, ich hätte ihn ausgelacht und denjenigen in die Kategorie „armer Irrer“ eingestuft. Niemals hätte ich mir das Ende so vorstellen können. Und niemals gedacht, wie viel ich aushalten muss. Und aushalten kann.

„Geben Sie mir meinen Mann zurück!“

10. November 2015. Tag 3. Tag 3 nach Stunde null, wie ich sie ab sofort nenne. Die Welt hat sich für mich aufgehört zu drehen. Still und leise. Seit drei Tagen weine ich, bete ich, habe Hoffnung, bin mutlos und dann wieder kampfbereit. Es ist eine Achterbahn der Gefühle. Es brennen gerade unzählige Kerzen für Dich und viele Menschen sind bei mir und Dir. Ich habe in sozialen Netzwerken gepostet, dass mir bitte alle, die mich kennen Kraft, Mut und Engel schicken sollen. Für Dich – und auch mich. Ich brauche jetzt mehr Kraft als ich selbst habe. Und die Resonanz ist unglaublich. Mir hilft es in diesem Moment, in dem ich mich selbst so schwach und hilflos fühle. Die Stunde null. Die ist am Freitag dem 7. November 2015. Du bist auf einem Seminar, ca. 30 km von hier und ich weiß, es kann spät werden. Du hast früher Feierabend gemacht und warst heute nur kurz zuhause, um Dich zu duschen, umzuziehen und die Sachen mitzunehmen, die Du für das Seminar brauchst. Ich gehe irgendwann ins Bett und warte nicht auf Dich. Irgendwann spät am Abend höre ich, wie Du leise die Schlafzimmertür aufmachst und sagst: „Ich bin wieder da. Aber ich habe einen Kratzer ins Auto gefahren. Ist aber nicht schlimm. Schlaf weiter.“ Leise gehst Du zu Deiner Bettseite und nimmst Dein Kissen und Deine Decke, um – wie schon so lange – im Wohnzimmer zu schlafen. Mein schlaftrunkenes Ich registriert nur: „O.k. Du bist zuhause, Auto hat einen Kratzer. Es gibt Schlimmeres.“ Und ich schlafe weiter. Hätte ich geahnt, was mich am nächsten Morgen erwarten würde, dann hätte ich Dich nicht noch einmal alleine schlafen lassen. Ich hätte Dein altes „Ich“ festhalten wollen, mich an Dir festgehalten.

Samstag, der 8. November. Alles ist noch so vertraut. Das Blubbern Deiner Kaffeemaschine, die ich bis ins Schlafzimmer hören kann. Der Duft von frischem Kaffee, der langsam durch die Wohnung zieht. Ich lasse mir Zeit mit dem Aufstehen, schlüpfe in meinen weißen Bademantel. Du sitzt auf dem Balkon und rauchst gerade eine Zigarette. Als ich mich neben Dich setze und Dich ansehe, steht genau ab diesem Moment die Welt still. Es sind Deine Augen, die mich ansehen und doch nicht mehr Deine. Dein Blick macht mir Angst. Große Angst. Deine Augen sind mir fremd geworden. Sie scheinen durch mich durchzuschauen. Deine Hand wippt auf dem Aschenbecher – einem alten pinkfarbenen Blumenübertopf – immer wieder auf und ab, als ob sie nicken würde. Auf und ab. Du schnippst Asche von Deiner Zigarette, obwohl sie schon längst aus ist und Du nur noch den Filter in der Hand hältst. „Hey, was ist los mit Dir?“ – Ich frage leise und vorsichtig und höre meine eigene Stimme zittern. Du lächelst nur leise. In Deinem Gesicht bleibt das Lächeln kleben, als ob es eingemeißelt wäre. Und Du nickst. Deine Hand mit der abgebrannten Zigarette immer noch in der Hand. Und sie schnippt immer noch Asche ab, wo längst keine mehr ist. Nicken, wippen, nicken, wippen...Ich habe keine Angst mehr, sondern Panik. Wieder frage ich Dich, versuche, meiner Stimme einen festeren Klang zu geben. „Ich sehe doch, dass was nicht o.k. ist. Sag mir bitte, was los ist. Kann ich Dir helfen?“ Immer noch statisches Lächeln. Immer noch Asche abschnippen. Nicken. Wippen. Nicken. Wippen. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Mein Herz schlägt so schnell, als ob es gleich zerspringen wollte. Die Panik in mir lässt mich ärgerlich werden. Und wütend: „Mensch, sprich endlich mit mir.“ Ich fange selbst an zu zittern. Und mir kommen die Tränen.

Vorsichtig löse ich den restlichen Zigarettenstummel aus Deiner Hand und nehme Dich mit ins Wohnzimmer. Deine Schritte, so lange Jahre vertraut – auch sie sind mir fremd geworden. Wir setzen uns aufs Sofa. Du sitzt wie immer auf Deinem Platz. Ich bin immer noch im Bademantel. Es ist mir gerade egal. Du lächelst immer noch. Und ich habe das Gefühl, ich kann Dich nicht mehr erreichen, mit dem, was ich sage. Nein, ich weiß, dass Dich meine Worte nicht mehr erreichen. Ich flehe Dich an, mit mir zu sprechen, bin wütend, weil ich denke, Du willst nicht mit mir reden. Du nimmst meine Hand und hältst sie so fest, als ob Du sie niemals mehr loslassen willst. Du lächelst immer noch. „Bitte, rede mit mir. Sag irgendwas. Bist Du wütend auf mich?“ Wie so oft in der letzten Zeit, denke ich traurig. Und so oft ohne – zumindest für mich – ersichtlichen Grund. Darüber kann ich jetzt gerade nicht nachdenken. Ich schiebe diesen Gedanken erst mal weit weg zur Seite. Ich flehe Dich an, mir nur ein einziges Wort zu sagen. Einen kurzen Moment denke ich, Du machst das nur, um mich zu ärgern. Das denke ich bis zu dem Moment, in dem Du versuchst, zu sprechen. Und exakt bis zu dem Augenblick, in dem ich verstehe, dass Du es nicht mehr kannst. Deine Lippen bewegen sich. Mühevoll. Und das, was Du sagst, kann ich nicht