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Jörg Diehl

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Beschreibung

Ein Leben unter Dealern, Mördern, Islamisten: Deutschlands bester V-Mann packt aus

Er nannte sich Murat Cem. Doch in den Akten heißt er nur VP01. Unter welchem Namen er heute lebt, ist ebenso geheim wie sein Aufenthaltsort. Der Mann, der lange Zeit der wohl beste und wichtigste V-Mann Deutschlands war, blieb stets ein Phantom. Bis es den SPIEGEL-Reportern Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid gelungen ist, ihn zu treffen, fast ein Jahr lang zu begleiten und seine unfassbare Lebensgeschichte aufzuschreiben. Im verdeckten Einsatz für die Polizei überführte Murat Cem nicht nur Drogen- und Waffenhändler. Er klärte Morde auf und wurde zur wichtigsten Polizei-Quelle in der deutschen Islamistenszene. Seine Warnungen vor Anis Amri jedoch verhallten ungehört: Dessen Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz konnte er nicht verhindern. Die Polizei wollte ihren Zuträger kaltstellen, doch jetzt packt Murat Cem aus. Die Welt soll endlich erfahren, was er wirklich gesehen hat.

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Seitenzahl: 435

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Zum Buch

Er nannte sich Murat Cem. Doch in den Akten heißt er nur VP01. Unter welchem Namen er heute lebt, ist ebenso geheim wie sein Aufenthaltsort. Der Mann, der lange Zeit der wohl beste und wichtigste V-Mann Deutschlands war, blieb stets ein Phantom. Bis es den SPIEGEL-Reportern Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid gelang, ihn zu treffen, fast ein Jahr lang zu begleiten und seine unfassbare Lebensgeschichte aufzuschreiben. Im verdeckten Einsatz für die Polizei überführte Murat Cem nicht nur Drogen- und Waffenhändler. Er klärte Morde auf und wurde zur wichtigsten Polizeiquelle in der deutschen Islamistenszene. Seine Warnungen vor Anis Amri jedoch verhallten ungehört: Dessen Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz konnte er nicht verhindern. Die Polizei wollte ihren Zuträger kaltstellen, doch jetzt packt Murat Cem aus.

Zu den Autoren

Jörg Diehl, geboren 1977, studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft. Nach Stationen bei der »Rheinischen Post«, der Deutschen Presse-Agentur, dem Westdeutschen Rundfunk, Norddeutschen Rundfunk, »Bild« und »Bild am Sonntag« arbeitet er seit 2007 für den SPIEGEL, unter anderem als NRW-Korrespondent, Chefreporter und Leiter eines Investigativ-Teams. Seit Juni 2019 leitet er das Ressort Deutschland/Panorama. Diehl ist Autor des 2013 erschienenen Bestsellers »Rockerkrieg. Warum Hells Angels und Bandidos immer gefährlicher werden«. Roman Lehberger, geboren 1984, studierte Medienwissenschaft, Politik und Anglistik in Trier und Cleveland, Ohio. Nach Stationen bei Focus TV und CNN war er von 2011 bis 2018 Reporter beim SPIEGELTV Magazin. Nach einem Jahr als Reporter im Investigativ-Team von SPIEGELONLINE wechselte er im Oktober 2019 ins Ressort Deutschland/Panorama des SPIEGEL. Lehberger schreibt vor allem zu den Themen Kriminalität, Extremismus und Geheimdienste. Fidelius Schmid, geboren 1975, studierte Volks- und Betriebswirtschaft in Hamburg, Sydney und Paris. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Von 2003 bis 2010 war er bei der »Financial Times Deutschland«, zunächst in Frankfurt, dann als Korrespondent für Außen- und Sicherheitspolitik in Brüssel. Nach einer Zwischenstation beim »Handelsblatt« wechselte er 2012 zum SPIEGEL. Er schreibt dort vorrangig über Spione und Terroristen. Schmid ist Autor des Buchs »Gottes schwarze Kasse. Der Papst und die zwielichtigen Geschäfte der Vatikanbank« (2013).

Jörg Diehl / Roman Lehberger / Fidelius Schmid

UNDERCOVER

Ein V-Mann packt aus

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2020 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Covermotiv: Marcus Simaitis/DER SPIEGEL Gestaltung: DVA/Andrea Mogwitz Gesetzt aus der Minion Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-641-26290-7

Inhalt

PROLOG

VORWORT

Teil I DER DEALER

1 DAS TAL DER LANGEN MESSER

2 DROGENRAUSCH

3 IN DER FALLE

4 AM BODEN

5 VOM GEJAGTEN ZUM JÄGER

6 WENN DER RICHTER DICH NICHT MAG

7 DIE FEUERTAUFE

Teil II UNTER VERBRECHERN

1 REBECCA

2 EINE, DIE DICH VERSTEHT

3 ANFÄNGERFEHLER

4 JUNGES GLÜCK

5 WIE FALSCHGELD

6 ZUKUNFTSMUSIK

7 FRAGEN DER EHRE

8 SEX, DROGEN, EIN VERDACHT

9 AUFGEFLOGEN

10 DER PROFI

11 CARSTEN

12 KAMIL UND DAS KONSULAT

Teil III UNTER TERRORISTEN

1 BETROGEN

2 EIN NEUES ZIEL

3 WER SUCHET, DER FINDET

4 ERFOLGSMELDUNG

5 UNTER BRÜDERN

6 IM HERZEN DER FINSTERNIS

7 IMMER WIEDER DROGEN

8 DAS NETZWERK

9 IN DEUTSCHLAND WAS MACHEN

10 ANIS AMRI

11 VERRAT UND TREUE

12 DER TERRORIST

13 DIE BOMBE

14 DER ABSCHIED

Teil IV DAS ENDE

1 IM ZEUGENSCHUTZ

2 ZUGRIFF

3 DER ANSCHLAG

4 VERFLUCHT SEI DER TAG

EPILOG

NACHWORT

DANKSAGUNG

REGISTER

BILDTEIL

PROLOG

Ich bin Murat. Wenn alles gut gegangen wäre, wären nicht so viele Menschen gestorben. Wenn alles gut gegangen wäre, hätte ich mein altes Leben noch. Und den Job, den ich so sehr liebe. Und es gäbe dieses Buch nicht.

Aber es ist nicht alles gut gegangen. Am Ende ging alles schief.

Verstanden habe ich das am 21. Dezember 2016. Zwei Tage vorher war ein Terrorist mit einem Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz gerast. Es hatte Tote und Verletzte gegeben.

Mein Telefon klingelte. Mein V-Mann-Führer war dran. »Es war Anis Amri«, sagte er. Als ich den Fernseher einschaltete, sah ich Amris Bild. Ich hatte vor ihm gewarnt. Nun hatte er es doch getan. Ich weinte.

Mein Name ist Murat Cem. Das ist nicht mein richtiger Name. Es ist der Name, den ich als Polizeispitzel wählte. Ich war V-Mann, angesetzt auf Drogendealer und Waffenhändler, auf Mörder und Räuber, auf Terroristen. Fast 20 Jahre lang. Ich habe nicht mitgezählt, wie viele Menschen ich ins Gefängnis gebracht habe. Ich weiß nur, dass ich gut war in dem, was ich tat.

Ich komme aus einem Problemviertel in Nordrhein-Westfalen. Bis ich als Dealer geschnappt wurde, hatte ich schon einen Haufen Vorstrafen gesammelt, Körperverletzung, Bedrohung, Beleidigung. Mit 21 Jahren hatte ich mehr Drogen verkauft, als ihr euch vorstellen könnt. Doch weil ich meinen besten Freund verpfiff, musste ich nicht ins Gefängnis. Stattdessen wurde ich V-Mann.

Meine Aufgabe war es, mich mit Verdächtigen anzufreunden und sie zum Reden zu bringen. Ich kaufte Dealern zum Schein Drogen ab, beschaffte Informationen. Ich tat, was nötig war.

Irgendwann wurde ich auf Islamisten angesetzt. Ich lernte Hassprediger kennen, Sven Lau und Pierre Vogel. Andere Zielpersonen standen später als »Osama Bin Ladens Ex-Leibwächter« und »die Nummer 1 des IS in Deutschland« in der Zeitung.

Damals traf ich auch Anis Amri. Ich hielt ihn sofort für gefährlich. Ich wollte ihm nach Berlin folgen, ihn ausspionieren. Doch ich durfte nicht. Bis heute mache ich mir Vorwürfe. Hätte ich Amris Anschlag verhindern können? Es gab Tage, an denen brachte ich Amri abends ins Bett und holte ihn morgens wieder ab. Hätte ich Anweisungen und Regeln missachten sollen? Hätte ich mit ihm Waffen kaufen sollen, damit er ins Gefängnis gekommen wäre?

Ich hätte das gekonnt. Es war ja mein Job. Ich habe einen Terroranschlag auf ein Einkaufszentrum verhindert. Warum also nicht auch seinen Anschlag?

Viele Menschen verwünschen den Tag, an dem sie mich trafen. Ich verfluche den Tag, an dem ich Anis Amri begegnet bin.

Nach seinem Anschlag wurde bekannt, dass es mich gab. Die Presse schrieb über mich als »VP01«. Die Anwälte meiner Zielpersonen sagten, ich hätte ihre Mandanten angestiftet. Bald war ich für die Polizei verbrannt.

Heute bin ich in einem Zeugenschutzprogramm. Ich wohne in einem kleinen Ort, unter einem anderen Namen. Ich habe keine Arbeit und lebe von Hartz IV.

Schon viele wollten mit mir reden. Doch man sagte mir, ich dürfte nicht. Dabei wollte ich reden. Über das, was schiefgelaufen ist bei Amri, aber auch über die Arbeit von uns V-Leuten.

Ich bin schon oft mit dem Tod bedroht worden. Vielleicht kommt es nach diesem Buch wieder so. Aber das ist mir egal.

Dieses Buch ist mein Vermächtnis. Ich bin Murat. Ich habe keine Angst mehr.

Murat Cem, im Februar 2020

VORWORT

»Hallo ich bin die vp01 Murat.«

So beginnt es. Mit einer Mail, die keinen Text hat, sondern nur aus einer Betreffzeile besteht.

Es ist der 22. Januar 2018, es ist Mittag, genau 12.10 Uhr – und SPIEGEL-Redakteur Jörg Diehl steht in einem Café in der Friedrichstraße in Berlin und starrt auf sein Handy.

Die Mail wurde von einem merkwürdig klingenden Gmail-Account verschickt. Ist er das wirklich?

»VP01« ist der Codename eines Phantoms. Der Mann, der sich in seinen Einsätzen »Murat Cem« nannte, ist der wohl wichtigste Polizeispitzel der deutschen Kriminalgeschichte.

Murat Cem war eine sogenannte Vertrauensperson (VP) der Polizei, dessen Arbeit fast zwei Jahrzehnte lang im Verborgenen stattfand. Er hat in Dutzenden Einsätzen unzählige Verbrecher hinter Gitter gebracht. Und: Er ist der Undercover-Ermittler, der Anis Amri, dem mörderischsten Islamisten Deutschlands, nähergekommen ist als jeder andere Informant.

VP01 ist ein Politikum. Weil er schon früh vor Amri warnte und man ihm nicht glaubte. Weil er Wege ersann, wie Amri aus dem Verkehr hätte gezogen werden können. Und weil die Behörden ihn am Ende fallen ließen.

VP01 alias Murat Cem ist ein Vertreter jener schlecht beleumundeten Kaste von Informanten, auf die Polizei und Geheimdienste gerne als Quellen zurückgreifen. Oft sind es Kriminelle oder Mitglieder extremistischer Zirkel. Viele von ihnen sind unzuverlässig.

Die Bundesrepublik hat schon so manches Debakel mit ihren V-Männern erlebt: Der erste Verbotsantrag gegen die NPD scheiterte etwa, weil die Partei von Informanten durchsetzt war. Auch im Umfeld der rechtsterroristischen Mörderbande »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) trieben unzählige V-Leute ihr Unwesen – und keiner von ihnen wollte etwas bemerkt haben.

VP01 dagegen war schon damals, zum Zeitpunkt der ersten E-Mail im Januar 2018, eine Legende. Zahllose Artikel versuchten aus der Distanz sein Verhältnis zu Amri zu beschreiben – und fielen mehr oder minder gelungen aus. Viele Journalisten wollten den V-Mann aufspüren. Gerichte und parlamentarische Untersuchungsausschüsse drängten darauf, ihn vernehmen zu dürfen. Doch das nordrhein-westfälische Innenministerium blockte alle Anfragen ab. Öffentliche Auftritte seien für VP01 zu gefährlich, hieß es. Er befinde sich in einem Zeugenschutzprogramm und lebe an einem geheim gehaltenen Ort.

Und jetzt, an diesem Montagmittag, tippt VP01 eine Mail in sein Handy, in seiner Küche stehend, in einem rot geklinkerten Mehrfamilienhaus, in einem kleinen Ort irgendwo in Deutschland.

Aber das weiß von uns drei Autoren in diesem Augenblick noch niemand. Diehl ist misstrauisch, muss misstrauisch sein. Ist die Mail echt? Oder stammt sie von einem Spinner?

Wir beraten uns: Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid. Seit Jahren befassen wir uns mit innerer Sicherheit, wir arbeiten lange und eng zusammen. Häufig melden sich Menschen bei uns, die vorgeben, sie hätten tolle Informationen. Am Ende kosten viele von ihnen Zeit und Nerven, ohne dass etwas dabei herauskommt. Wir müssen ständig entscheiden, ob es sich überhaupt lohnen könnte, eine Story weiterzuverfolgen.

Im Fall von VP01 sind wir uns sofort einig, dass es sich lohnt. Wir müssen allerdings sichergehen, dass wir es wirklich mit dem legendären V-Mann zu tun haben.

Diehl antwortet auf die erste Mail mit einer Frage, die außer VP01 nur sehr wenige Menschen beantworten können. Wir kennen die Antwort aus vertraulichen Ermittlungsakten. Ein x-beliebiger Hochstapler dürfte darauf keinen Zugriff haben und würde die Frage nicht beantworten können.

Der Hinweisgeber ziert sich. Man solle ihn etwas anderes fragen, er habe Bauchschmerzen dabei, so etwas zu verraten. Diehl gibt einen Teil der Antwort vor, um zu zeigen, dass er sie schon kennt. Der zweite Teil der Antwort kommt prompt per Mail.

Die Antwort stimmt.

Es ist VP01 – und VP01 will reden.

Zwei Tage später. Das erste Telefonat: »Ja, hallo, hier Murat. Ich hatte Sie kontaktiert. Ich würde gerne Ihre Hilfe in Anspruch nehmen wollen.« Er denke darüber nach, alles zu erzählen, sein ganzes irres Leben, er habe fast 20 Jahre lang undercover für die Polizei gearbeitet und wisse so viel über Anis Amri, über Hassprediger wie Hasan C. und Abu Walaa, über Mörder, Dealer, Waffenhändler.

Er denke an ein Buch. Ob man sich einmal treffen könne? Nur eines sei absolute Bedingung: Sein Gesicht dürfe niemals fotografiert werden! Wirklich niemals. Diehl sagt zu.

Doch einen Tag vor dem vereinbarten Treffen ruft VP01 erneut an: Die Sache sei ihm doch zu heiß, er brauche Zeit, er werde sich wieder melden.

Es vergeht mehr als ein Jahr – und nichts passiert. VP01 schweigt.

Dann kommt wieder eine Mail. Nur Text in der Betreffzeile, abgeschickt von einer anderen E-Mail-Adresse: »Hallo Herr Diehl haben Sie Interesse an einem Interview mit vp01 Murat?« Wieder ruft er an und kommt schnell zur Sache: »Was wir besprochen haben vor längerer Zeit. Können wir das machen?« Es sei jetzt an der Zeit. VP01 will reden, zum allerersten Mal. Aber er müsse eine Warnung aussprechen. »Das ist ein bisschen aufwändig, ganz ehrlich.«

Ein »bisschen aufwändig« wird für uns die Untertreibung des Jahres werden. Gemeinsam werden wir über Monate mit Murat reden, Dutzende Tage, Hunderte Stunden, in angemieteten Wohnungen, in Hotels, Cafés, auf Raststätten, in Autos, tagsüber und manchmal auch nachts. Wir werden Weggefährten von Murat treffen, seine Familie kennenlernen, Kriminelle und Polizisten, Verteidiger, Staatsanwälte und Ministerialbeamte befragen. Wir wühlen uns durch Zehntausende Seiten Akten, vor allem aus den Fällen gegen prominente Islamisten, aber auch aus älteren Kriminalfällen, in denen Murat Cem eingesetzt war. Und wir werden gemeinsam mit ihm die Orte seiner wichtigsten Einsätze besuchen.

Schließlich tauchen wir in ein Leben ein, das so voller »Action« ist, wie Murat selbst sagt, dass man zehn Leben damit füllen könnte und immer noch keine Langeweile aufkäme.

Murat Cem wurde geboren als Sohn türkischer Gastarbeiter, wuchs in einem Problemviertel auf, rutschte in die Kriminalität hinein, wurde von der Polizei erwischt, packte aus und stieg auf zum besten V-Mann, den die Ermittler in Nordrhein-Westfalen nach eigenem Bekunden je hatten. Er kaufte Drogen und Waffen, er überführte Mörder, er infiltrierte die Islamistenszene und schlief Kopf an Kopf mit Anis Amri in einer Moschee.

Einmal wäre er beinahe aufgeflogen und umgebracht worden, einmal wurde er ausgetrickst und um viel Geld betrogen, ständig wurde er mit dem Tod bedroht. Einmal raste er mit einer Handgranate im Kofferraum über die Autobahn, einmal verlor er seine falschen Ausweise, einmal brannte seine Wohnung aus, einmal … Aus Murats Erinnerungen könnte man eine Fernsehserie machen.

Als V-Mann war Murat Cem alias VP01 ein Star, ein Vollprofi in einem Beruf, den es eigentlich gar nicht gibt. Etwa 60 Einsätze, so sagte ein Beamter später, absolvierte Murat in all den Jahren für die Polizei. Er sei der Allerbeste in der ganzen Republik gewesen, priesen ihn Staatsschützer. Und dann, auf dem Zenit seines Schaffens, traf VP01 auf Anis Amri. Murat freundete sich vorgeblich mit ihm an und erkannte die Gefahr, die von dem Tunesier ausging. Er warnte die Polizei vor Amri, doch die zog ihn schließlich trotzdem von ihm ab.

Schlimmer noch: Das BKA glaubte, Murat sei ein Märchenerzähler, ein Wichtigtuer und Lügner. Den Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz sah Murat im Fernsehen, weinend. Das Attentat ist auch die große Tragödie seines Lebens. Die Frage, ob er die Tat hätte verhindern können, quält ihn bis heute. Amri ist sein Verhängnis geworden, so sieht Murat das.

Seit dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz ermittelt Murat Cem nicht mehr. Er weiß nicht, was aus ihm werden soll. Irgendein Job in einer Fabrik, schlecht bezahlt und tödlich langweilig, muss das sein? Wahrscheinlich weiß Murat, der heute Anfang 40 ist und sich knapp 20 Jahre lang verstellen musste, nicht einmal genau, wer er überhaupt ist. Dieses Buch sei für ihn auch eine Form der Therapie, sagt er.

Sein Leben ist eine Geschichte, in der Täuschung und Verrat alltäglich sind. In der es darum geht, das Vertrauen von Menschen zu gewinnen, ihnen nahezukommen, sich mit ihnen anzufreunden, um sie auszuhorchen und hinter Gitter zu bringen. Das ist Murats Job gewesen, seine Berufung – ein Mann in streng geheimer Mission. Über viele Jahre erzählte er nicht einmal seiner Ehefrau, was er genau mit der Polizei zu tun hatte.

»Ich habe es geliebt«, sagt Murat. Der Moment, wenn das SEK bei der Festnahme alle Beteiligten umgebrettert habe, sei das Beste gewesen. »Ein Rausch, einfach geil.«

Auch deswegen machte Murat weiter, immer weiter, bis sein Kopf glühte. Trotz zu vieler Aufträge und zu wenig Fürsorge. Murats Geschichte beleuchtet deswegen auch die dunklen Ecken der Strafverfolgung in Deutschland. Sein Fall offenbart Mängel im System und gesetzliche Lücken. An seinem Beispiel wird deutlich, wie V-Personen der Polizei in den toten Winkeln der Strafprozessordnung agieren – kaum kontrolliert und dadurch hocheffektiv. Fast zwei Jahrzehnte lang riskierte Murat sein Leben für den Staat. Und zahlte am Ende einen hohen Preis dafür.

Im Frühjahr 2019 – das erste Treffen mit Murat in einem Café einer Großstadt im Westen der Republik. Es dauert drei Stunden. Diesmal stürmt kein SEK heran. Murat trinkt Kaffee, schwarz, und Coca-Cola. Er redet gerne, schnell und viel. Er braucht eigentlich keinen Gesprächspartner, er ist sich selbst der beste Stichwortgeber.

Murat ist ein durchschnittlich großer Mann, der mehr wiegt, als er sollte. Er raucht viel und bewegt sich wenig. Seine Frau sagt, er sei faul. Murat hält sich für gemütlich.

Er hat dunkle Haare, in die sich langsam graue Strähnen ziehen, warme Augen, er lacht häufig, manchmal trägt er einen Bart. Äußerlich erinnert er ein bisschen an George Clooney in dem Film »Syriana«, in dem Clooney den CIA-Agenten Bob Barnes spielt.

Die meisten Menschen fühlen sich wohl in Murats Gesellschaft. Murat mag Menschen, die Menschen mögen Murat. Auch deshalb war er so gut in seinem Job.

Murat Cem war der Name, den VP01 im Einsatz führte, auf den falsche Papiere ausgestellt waren. Der Name wurde Teil seiner Legende. Eigentlich hieß der Mann, der sich »Murat Cem« nannte, früher anders. Und auch heute trägt er wieder einen anderen Namen. Und morgen? Wer weiß das schon. Es ist ihm nicht wichtig. Er sagt: »Namen sind Schall und Rauch.«

Das mag für ihn so sein, doch aus Sicherheitsgründen haben wir die Namen derer verändert, die Murat nahekamen. Seine Angehörigen und Weggefährten, die Polizisten, die bislang nicht öffentlich in Erscheinung getreten sind – sie alle sollen weiterhin anonym bleiben. Wir haben ihre Identitäten jedoch überprüft. Jede Figur in diesem Buch existiert oder existierte.

Murat ist ein »Papierchaot«, das gibt er gerne zu. Er legt keinen Wert darauf, Zeugnisse zu horten, Fotos zu sammeln, Abrechnungen aufzubewahren. Murat könnte gut aus einer Sporttasche leben, heute hier, morgen dort, leichtes Gepäck, kleine Scheine. Murat braucht nicht viel – und er hätte nie gedacht, sein Leben einmal Reportern schildern zu wollen. Er hat wenig, worauf er seine Erinnerungen stützen kann. Vielleicht ist sein Gedächtnis auch deshalb so phänomenal?

Vieles von dem, was Murat uns erzählt hat, konnten wir anhand anderer Quellen überprüfen, etwa mit Hilfe von Akten oder in Gesprächen mit Weggefährten. Wir haben enormen Aufwand getrieben, seine Schilderungen nachzuvollziehen. Dennoch gibt es Passagen in diesem Buch, vor allem jene, die Murats Jugend betreffen, die sich nicht anderweitig belegen ließen. Oder es gab Situationen, die unsere Gesprächspartner anders erinnerten als er. An den Stellen, an denen das Fehlen einer zweiten Quelle problematisch sein könnte, werden wir das deutlich machen. Dort, wo Widersprüche oder Ungereimtheiten bestehen, werden sie benannt.

Grundsätzlich aber gilt: Dies ist Murat Cems Geschichte. Es ist sein Leben.

Düsseldorf, im Februar 2020

Jörg Diehl, Roman Lehberger, Fidelius Schmid

Teil IDER DEALER

1 DAS TAL DER LANGEN MESSER

Der weiße Zwölftonner rumpelte die Hauptstraße entlang, wendete und parkte vor dem Hochhaus. Die Menge wartete schon. Frauen aus den oberen Stockwerken warfen ihren Kindern noch Geld für die Einkäufe in den Hof. Es war mittags, gegen 12.30 Uhr – und der fahrende türkische Supermarkt war da. Die Gegend hier nannten sie »das Tal der langen Messer« oder auch »Klein-Istanbul«.

Einer der Hochhausbewohner hatte den Lastwagen gekauft und holte damit jeden Morgen Lebensmittel vom Großmarkt. Drinnen lagen Tomaten und Auberginen, Käse und Olivenöl, Bulgur und Reis.

Eine Kundin nach der anderen stieg die Stufen hinauf ins Innere, suchte aus, was sie brauchte. Wer Geld hatte, zahlte am Kassentisch am Ausgang. Wer nicht bezahlen konnte, ließ anschreiben. Der Gemüsemann kannte seine Kundinnen.

Obwohl der Wagen häufig kam, war seine Ankunft jedes Mal ein Ereignis. Es gab Geschrei und Gedrängel. Mütter riefen nach ihren Kindern. Kinder liefen ihren Müttern hinterher. In den sechsstöckigen Häusern wohnten 63 türkische Familien.

An diesem Tag im Jahr 1993 stieß Mevlüde Cem auf ihrem Weg zum Einkauf mit dem halbwüchsigen Haluk zusammen. Haluk brüllte und schimpfte.

»Hure«, schrie er.

Innerhalb weniger Sekunden erreichte die Beleidigung, die Haluk Mevlüde Cem entgegengeschleudert hatte, den damals 16-jährigen Murat. Er lief in den Hof hinunter und griff sich Haluk. »Du bist ein Hurensohn«, rief Haluk.

Geschult im rauen Alltag des Problemviertels und ausgebildet in Taekwondo verprügelte Murat den unverschämten Haluk. Jeder verstand das. Haluk hatte Murats Mutter beleidigt. Damit hätte es gut sein können. Doch das war es nicht.

Haluks und Murats Familien beharkten und beleidigten sich seit Monaten. Die Feindschaft ging so weit, dass Murat mit seinen Verwandten bereits diskutiert hatte, Haluks Vater in den Keller zu locken, ihn dort mit Benzin zu übergießen und anzuzünden.

Vielleicht war der weitere Verlauf des Tages vorherbestimmt.

Am Nachmittag verprügelte Murats Onkel Haluks Vater.

Am Abend dann saß Murats Onkel mit Verwandten in einem türkischen Café in der Nähe des Bahnhofs. Jemand aus Haluks Clan ohrfeigte den Onkel.

Als Murats Onkel in der Nacht nach Hause ging, wartete Haluks Sippe im Schatten einer Treppe im Hof. Sie hatten Messer dabei und einen Spitzhammer. Auch Murats Onkel trug ein Messer.

Ein Kampf entbrannte. Das Gebrüll schallte durch den Innenhof, Dutzende Männer und Frauen rannten nach unten. Es wurde eine Massenschlägerei. Vielleicht waren 100 Personen beteiligt, vielleicht auch mehr. Schmerzensschreie gellten, Fäuste flogen, Blut floss. Auch Murat prügelte mit, natürlich.

Am Rand des Hofs lag sehr bald, mit dem Oberkörper gegen die Wand gelehnt, ein Freund von Haluks Vater. Er blutete stark aus dem Oberschenkel. Murats Onkel hatte ihm ein Messer ins Bein gerammt.

Als Streifenwagen heranbrausten, warfen alle ihre Waffen in die Mülltonnen, Messer und Stöcke und Hämmer. Eiligst verzogen sich Kämpfer und Zuschauer in ihre Wohnungen.

Oben, im sechsten Stock, versammelte sich Murats Familie im Wohnzimmer. Der Onkel hatte gerade einen Asylantrag gestellt, ein anderer musste die Schuld für die Messerattacke auf sich nehmen. Denn eines stand fest: Wenn einer aus der Familie sich zu der Tat bekannte, würden die anderen Familien im Haus den wahren Täter nicht anzeigen. So war das im »Tal der langen Messer«. Man regelte die Dinge untereinander, unter Türken, zwischen den Familien. Die deutsche Polizei brauchte man dazu nicht.

Die Wahl der Familie fiel auf Murat. Er war noch nicht volljährig, hatte keine Vorstrafen. Er hatte wenig zu befürchten. Dass der Jüngste eine Straftat auf sich nahm, war normal in »Klein-Istanbul«, das war seine Pflicht als Sohn, Bruder, Neffe.

Als die Polizisten die sechste Etage erreichten, hatte Murat schon zugestimmt. Zwei Beamte betraten die Wohnung, die Familie saß auf den Sofas. »Wer war es?«, fragte einer der Uniformierten. Mevlüde schaute ihren Sohn an. »Sag, dass du es warst«, sagte sie auf Türkisch.

Murat stand auf. »Ich war es«, sagte er. Auf seinem T-Shirt war noch Blut von der Schlägerei.

Die Beamten legten ihm Handschellen an und nahmen ihn mit. Im Auto, auf dem Weg zur Wache sagten ihm die Polizisten, er habe seine Zukunft verbaut. Morgen werde er dem Haftrichter vorgeführt und befragt. »Ich sage dazu nichts«, sagte Murat.

In der Zelle legte Murat sich auf eine Holzpritsche und wartete. Am Morgen musste er zur Toilette. Ein Polizist sagte ihm, er müsse jetzt durchhalten, er werde sowieso gleich abgeholt. Zum Frühstück brachte der Polizist Murat ein Schinkenbrot. Obwohl er hungrig war, ließ Murat das Brot liegen. Er war nicht strenggläubig, aber Schweinefleisch aß er nicht.

Irgendwann brachten sie ihn in ein Büro. Ein Polizist wollte wissen, wie genau er dem Mann das Messer in den Oberschenkel gerammt hatte und warum er das getan hatte.

»Ich sage nichts«, sagte Murat.

Was für ein Messer er denn benutzt habe, fragte der Polizist.

»Weiß ich nicht mehr«, blaffte Murat.

Der Polizist legte ihm die Messer aus den Mülltonnen vor. Es war ein gutes Dutzend. Welches es gewesen sei. Er wisse es nicht, gab Murat zurück, es könne jedes gewesen sein.

Der Beamte wurde erst ungeduldig, dann ärgerlich. Vor ihm saß ein junger Türke, der einen Mann schwer verletzt haben wollte und weder zum Tathergang noch zur Tatwaffe etwas sagen konnte. Er besprach sich vor der Tür mit einem Kollegen. Murat hörte, wie er raunte, sie würden die Sache nicht klären können. Als sie zurückkamen, sagten sie Murat, er könne gehen.

Draußen rief Murat aus einer Telefonzelle seine ältere Schwester an. Sein Bruder holte ihn ab. Als sie zu Hause ankamen, wartete die ganze Familie auf Murat. Sie klatschten und klopften ihm auf die Schulter. »Gut gemacht!«, riefen sie.

Murat fühlte sich, als sei er gewachsen, als sei er mit der Nacht im Knast ein paar Jahre älter geworden. Er fühlte sich wie ein Mann, wie ein Held.

Er war angekommen in einem Umfeld, das seine eigenen Regeln machte, unabhängig von deutschen Gesetzen. Familie und Landsleute waren wichtiger als der Rechtsstaat. Es war in Ordnung, sich zu prügeln, mit einem Messer auf andere einzustechen und die Polizei zu belügen. Es war etwas, auf das man stolz sein konnte.

Über 25 Jahre später steht Murat in dem Hof, in dem einst die Massenschlägerei tobte. Er duckt sich, schmiegt sich an die Wand unter der Treppe. »So haben die damals gewartet«, sagt er. »Hier unten war kein Licht, man musste das auf dem Balkon anmachen.«

Er reckt den Kopf und schaut nach oben. Über dem Hof sind sechs Stockwerke mit offenen Fluren. Davon gehen die Wohnungstüren ab. »Früher waren die Türen immer offen. Man ging einfach rüber zu den Leuten«, sagt Murat.

Heute sind die Türen zu. Es ist später Vormittag, die meisten Bewohner des Hochhauses dürften bei der Arbeit sein. Wenn Murat von seiner Jugend in diesem Stadtteil erzählt, dann entsteht das Bild eines Problemviertels, Gewalt und Drogen, gescheiterte Integration, Unordnung und Dreck.

Noch heute sind fast alle Klingelschilder mit türkischen Namen beschriftet. Doch heute ist die Straße sauber. Am Rand parken Autos, Mittelklassewagen, unbeschädigt. Hinweisschilder auf Deutsch und Türkisch erklären, dass das Ballspielen im Hof und auf der Wiese vor dem Haus verboten ist. Murat lacht. »Das war früher auch verboten. Wir haben es trotzdem gemacht.«

Er fährt mit dem Aufzug nach oben. Oben, vor der Tür der elterlichen Wohnung, steht ein Sofa, Schuhe neben der Tür. Seine Schwester hat die Wohnung kürzlich verkauft. Sie wohnte als Letzte aus der Familie noch im »Tal der langen Messer«. Die anderen sind schon vorher weggegangen. Dann zog auch Murats älteste Schwester eine Straßenecke weiter.

Murat war seit Jahren nicht mehr hier. Es ist der Stadtteil seiner Kindheit und Jugend. Das Viertel hat ihn geformt und beinahe ins Verderben geführt. Und zugleich hat es ihn mit jenen Talenten gesegnet, die ihn zum legendären Spitzel werden ließen. Murat wurde ein Straßenjunge im Dienst des Rechtsstaats, ausgestattet mit einer eigenen Mischung aus Gerechtigkeitssinn, Anstand und krimineller Energie. Es war eine einzigartige Kombination.

Es gibt den Abenteuerspielplatz noch, auf dem Murat und seine Freunde einst ihre eigenen Hütten zusammenzimmerten. Der Sozialarbeiter, der über den Spielplatz wachte, war für viele eine Art Ersatzvater. Er war streng, und sie mochten ihn.

Es gibt die Holzbrücke über den Bach noch, auf der sie einst heimlich rauchten, später mit Mädchen rummachten und noch später Drogen verkauften.

Hinter dem Haus, links von der Brücke, ist heute eine Betonfläche. Murat läuft hinüber, er sucht etwas. Zwei Jugendliche stehen zusammen. Schon aus ein paar Metern riecht man es. Sie kiffen. Die beiden werfen etwas auf den Boden und gehen weg. »Siehst du?«, sagt Murat triumphierend. »Es ist immer noch so.«

Murat hat ein neues T-Shirt in Tarnfarbe an und trägt ausgesprochen saubere Turnschuhe. Die Frisur sitzt, heute mehr als sonst. Er streicht sich eine Strähne aus der Stirn. Murat lächelt. Es ist ein Siegerlächeln, aus dem das Selbstbewusstsein eines Mannes spricht, der es geschafft hat.

Murat hat über die Jahre zwölf Vorstrafen gesammelt, unter anderem für Körperverletzung, Diebstahl, Drogenhandel, illegalen Waffenbesitz. »Wenn man sieht, wo ich herkomme, ist das eigentlich wenig«, findet er. Manche Polizisten, die ihn lange kennen, sehen das ähnlich.

Es ist ein milder Tag im Frühsommer, Murat blinzelt zufrieden in die Sonne. Er schwelgt in Erinnerungen. Wenn er hier ist, fühlt er sich gut. Er glaubt, er sei dem Viertel endgültig entkommen. Doch die Wahrheit ist: Der Fluch seiner Kindheit verfolgt ihn immer noch. Seiner eigenen Geschichte kann niemand entkommen.

Murats Eltern stammten aus Elbistan in der Provinz Kahramanmaraş im Osten der Türkei. Kurden und Türken und Araber lebten dort miteinander.

Mevlüde, Murats Mutter, ging in ihrem ganzen Leben nur einen einzigen Tag zur Schule. Weil sie als Mädchen nicht lernen durfte, schlich sie sich heimlich in die Klasse, für einen Tag. Als sie aufflog, schimpften die Eltern mit ihr. Lesen und Schreiben lernte sie nie.

Mit 14 Jahren heiratete sie den 15-jährigen Muhammed. Sie war Türkin, er Kurde. Sie wohnten bei ihren Schwiegereltern in einem Dorf aus Lehmhütten. Die meisten Menschen dort waren Selbstversorger.

Nach der Schule musste Muhammed zum Militärdienst. Mevlüde blieb bei seinen Eltern, bis er Jahre später zurückkam. Ihr erster Sohn war schon auf der Welt, als sie 1969 als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Es zog sie nach Nordrhein-Westfalen, wo Muhammed Arbeit in einer Gießerei fand. Mevlüde sortierte dort Waren. Murat war das fünfte von insgesamt sechs Kindern, die sie bekamen, drei Mädchen und drei Jungs.

Als Murat sieben Jahre alt war, kam er von der Schule nach Hause. Seine älteste Schwester öffnete ihm die Tür. »Vater ist gestorben«, sagte sie. Murat brach in Tränen aus. Mit einem Bild, das er in der Schule für den Vater gemalt hatte, schloss er sich im Badezimmer ein.

Der Vater habe während der Nachtschicht unter seinem blauen Ford Transit etwas schweißen wollen, erzählte man Murat später. Das Kabel des Schweißgeräts sei defekt gewesen. Die Frühschicht fand ihn tot unter dem Wagen.

Fortan schlug die Familie sich ohne Vater durch. Die Mutter und die älteste Tochter übernahmen das Kommando. Finanziell kamen sie über die Runden: Jedes Kind bekam eine Halbwaisenrente von der Berufsgenossenschaft, die Mutter eine Witwenrente. Und Murats ältester Bruder arbeitete auch schon in der Gießerei.

Seine Freizeit verbrachte Murat mit den anderen Kindern draußen, auf dem Spielplatz. Im Sommer flutete die Stadt ein flaches Betonbecken mit Wasser. Es war ihr Freibadersatz. »Kommt nach Hause, bevor es dunkel wird«, sagte die Mutter. Mit den deutschen Kindern aus den Einfamilienhäusern der Gegend hatten sie nichts zu tun.

Nach und nach heirateten alle drei Schwestern. Ihre Männer zogen auch in die Wohnung. Der Stiefbruder der Mutter floh aus der Türkei nach Deutschland. Auch er lebte nun bei ihnen. Irgendwann waren sie zu elft in vier Zimmern.

Seiner älteren Schwester war Murat immer der Liebling. Er war klug, freundlich. Wenn er sie mit leuchtenden Augen anschaute, konnte sie ihm wenig abschlagen.

In der Schule hänselten sie ihn wegen seiner sauberen Handschrift. Er schreibe wie ein Mädchen, sagten seine Klassenkameraden. Als einer der wenigen aus dem Viertel schaffte es Murat auf die Realschule. Zwar blieb er in der achten Klasse sitzen – eine Fünf in Englisch war eine zu viel –, doch seine mittlere Reife bestand Murat mit einem Notendurchschnitt von 2,1. Vielleicht hätte er aufs Gymnasium gehen können.

Das Abitur zu machen kam Murat allerdings nicht in den Sinn. Ein junger Mann aus dem Hochhaus war Geselle bei einem Elektriker. Er riet Murat zum Handwerk. »Mit einem Ausbildungsberuf hast du schon einen goldenen Armreif«, sagte er.

Der Mann sprach für Murat bei seinem Chef vor. Und der bot an, Murat nach einem einjährigen Praktikum, natürlich unbezahlt, als Azubi einzustellen. Mit 17 Jahren begann Murat seine Ausbildung.

Während seiner Zeit auf der Realschule hatte Murat begonnen, Drogen zu nehmen und Alkohol zu trinken. Bülent, ein Junge aus dem dritten Stock des Hochhauses, hatte eine gute Quelle für Haschisch. Er verkaufte es im Freundeskreis weiter. Die Einnahmen versteckte er unter seiner Matratze.

Als Bülents Eltern auf Pilgerfahrt nach Mekka gingen, füllten Bülent und Murat die Badewanne in deren Wohnung mit Wasser. Sie legten einen Haschischkopf auf eine abgeschnittene Plastikflasche und zündeten ihn an. Sie hoben die Flasche an, um durch Unterdruck den Rauch in die Flasche zu ziehen, dann drückten sie die Flasche wieder ins Wasser, sodass der Rauch in ihre Lungen gepresst wurde. Murat war zum ersten Mal high. Es gefiel ihm.

Bülent zeigte Murat auch, wie man »Dose raucht«. Dafür zerdrückte man eine Getränkedose, stach an der flachen Seite kleine Löcher hinein und ein großes an der Seite für den Kick. Auf die kleinen Löcher legte man Tabak und Haschisch und zündete es an. Man zog den Rauch durch die Trinköffnung der Dose ein. Es gab viel zu lernen. Und zwar weit Interessanteres als die Dinge, die er in der Lehre machen sollte.

Murat interessierte sich nicht dafür, die Elektrik in Liegenschaften der städtischen Wohnungsbaugesellschaft – dem Hauptkunden seines Arbeitgebers – zu reparieren. Wände aufstemmen, den Schutt wegkarren, das machte keinen Spaß. Überstunden bezahlte ihm der Chef nicht, schwere Kabel zu schleppen, war Murat zu anstrengend. Und Lob gab es nie.

Ein Gramm Haschisch kostete zwischen fünf und zehn Mark. »Öliger Afghane« war gut, je dunkler, desto besser. Das brachte Spaß.

Immer wieder musste der Geselle aus dem Hochhaus den Meister besänftigen, weil Murat zu spät gekommen war oder etwas vergessen hatte. Immer wieder deckte er ihn, wenn Murat gar nicht auftauchte. Die Menschen aus »Klein-Istanbul« hielten zusammen.

Unter den Jungs mit den Drogen war Murat zunächst der Außenseiter, der zur Realschule ging und eine Ausbildung machte. Er war ein Streber. Dann wurde Murat zum Mitläufer und irgendwann ein Anführer.

Für Murat zählte nur noch dieses Leben, die Arbeit spielte keine Rolle mehr. Am Wochenende ging er mit seinen Kumpels ins »Kontakt«. Dort gab es Bier, Mädchen und Drogen.

Den Soundtrack zu diesem Leben schrieben türkische Hip-Hop-Musiker und der US-Gangsta-Rapper Tupac Shakur. Der sang vom Leben in Amerikas Ghettos, von Verbrechen, Waffen, Gewalt und Drogen, den bösen Polizisten, die den Gangs auf den Fersen waren. Murat und seine Freunde konnten nicht besonders gut Englisch, aber die Musik gefiel ihnen. War ihr Leben in einem nordrhein-westfälischen Problemviertel nicht ganz ähnlich?

Im »Tal der langen Messer« musste man ein Mann sein. Man musste schlau sein, mutig und stark, man durfte nie kneifen und musste immer als Erster zuschlagen. Murat machte Kampfsport. Mit seinen Freunden übte er auf der Straße. Sie kifften und sie dealten.

Die erste Verurteilung wegen Körperverletzung kassierte Murat 1996 – in den folgenden Jahren sollten noch weitere folgen. Jedes Mal kam er mit einer Geldstrafe davon, auch als er ohne Führerschein Auto fuhr und einen Unfall baute. Fahren ohne Fahrerlaubnis, Unfallflucht – für brave Bürger waren das keine Kleinigkeiten. In Murats Welt waren es Kavaliersdelikte.

Als seine Lehre sich dem Ende näherte, fragte er den Chef, ob er bei ihm weiterarbeiten könnte. Ja, sagte der. 1800 Mark brutto bekäme er.

Der Chef stand ein paar Meter entfernt an einem Schaltkasten. »1800 Mark?«, rief Murat. Mehr nicht, sagte der Chef.

Murat warf einen Schraubenzieher nach ihm.

Der Chef feuerte ihn.

Seine Ausbildung schloss Murat an der Industrie- und Handelskammer ab. Er war nun 20 Jahre alt und arbeitslos.

Murats Lieblingslied von Tupac war »My Life«. Es handelt von perspektivlosen Jugendlichen, von Kriminellen und der Polizei. Es gibt in dem Song eine Zeile, die für Murat Bedeutung bekommen sollte: »Wenn der Richter dich nicht mag, kriegst du 25 Jahre.«

2 DROGENRAUSCH

Wenn Murats Mutter länger in die Türkei fuhr, ließ sie ihrem Sohn Taschengeld da. Dieses Mal, es muss 1997 gewesen sein, wollte sie für sechs Monate in der alten Heimat bleiben. Mevlüde gab Murat 1000 Mark für die Zeit, in etwa so viel, wie Murat als Azubi in zwei Monaten verdient hatte.

Inzwischen lebte er nur noch mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder in der Wohnung. Nun würde er das Reich ganz für sich und viel Geld zur Verfügung haben. Es war perfekt. Er musste nur noch entscheiden, was er damit anfangen wollte.

Murat und sein Freund Erkan aus dem ersten Stock entschieden sich für Haschisch. Sie wollten aber nicht solches, wie man es für ein paar Mark auf der Straße bekam. Die beiden dachten in ganz anderen Dimensionen.

Erkans Vater plagten Schulden. Seine Töchter hatten geheiratet, dafür hatte er viel Geld ausgeben müssen, glaubte Murat. Mit 100 000 Mark stand Erkans Vater womöglich in den Miesen.

Wenn sie nun eine größere Menge Hasch kauften, könnten sie selbst viel rauchen, den Stoff auf der Straße teurer als im Einkauf verticken und mit dem so erzielten Gewinn Erkans Vater unterstützen. Es war ein wunderbarer Plan.

Erkan lieh sich einen zum Behinderten-Fahrzeug umgebauten Subaru Kombi, die perfekte Tarnung, dachten sie. Damit fuhren sie in die Niederlande.

Murat und Erkan hatten Angst, dass sie dort betrogen werden könnten. Einem Bekannten hatte ein Marokkaner in Holland angeblich in Alufolie eingewickelten Stoff verkauft. Erst in Deutschland merkte er, dass er sehr teuren Tee gekauft hatte. So etwas durfte ihnen nicht passieren.

Sie steuerten einen Lagerraum an einem Kreisverkehr außerhalb Venlos an. Hier standen Dutzende Säcke mit Haschplatten in unterschiedlicher Qualität, auch Gras gab es.

Sie entschieden sich für mittelguten Stoff. Kein Afghane, nichts Öliges. Für ihre 1000 Mark bekamen sie ein paar Hundert Gramm, gepresst in Platten.

Die Verkäufer wickelten ihnen die Platten in Plastiktüten mit Kaffeepulver ein. So glaubten sie, den Drogenhunden des Zolls entgehen zu können. Und sie gaben ihnen gleich kleine Tütchen mit, für den Weiterverkauf.

Direkt vor dem Lagerraum bauten sie das Handschuhfach des Subaru aus und legten die Platten in den Hohlraum unter dem Armaturenbrett. Sie schwitzten und zitterten vor Nervosität. Dann fuhren sie los.

Der Zoll parkte meistens an der Tankstelle vor der Grenze und wartete auf Leute wie sie, hatte man ihnen gesagt. Aber nicht an diesem Tag. Trotzdem beäugten Murat und Erkan misstrauisch jeden Wagen, bis sie zu Hause angekommen waren.

Im Doppelhochhaus packten sie das Haschisch auf den Wohnzimmertisch. Sie liehen sich von einem Kumpel eine Feinwaage. Sie waren zu geizig, sich selbst eine zu kaufen.

Über einer Kerze erhitzten sie ein Messer und schnitten kleine Stücke von den Platten. Alles sollte zehn Mark kosten, aber sie trafen das Gramm nie ganz genau. Also sortierten sie ihre Stücke: 1,1 Gramm und 1,2 Gramm wollten sie jenen geben, die sie mochten, oder jenen, die wichtig waren im Viertel, damit sie gut über ihren Stoff sprachen. Am Ende machten sie noch größere Stücke, zu 20 und zu 50 Mark. Sie verpackten alles in Tütchen.

Als sie fertig waren, zogen Murat und Erkan herum. »Wir haben Haschisch, gute Qualität, wollt ihr was?« Sie redeten mit den anderen türkischen Jugendlichen. Sie fuhren zu den Kindern der russischen Aussiedler.

Eigentlich blieben die Russen, die Türken und die Deutschen unter sich. Aber Murat verstand sich mit allen. Er war ein junger Mann, der mit jedem klarkam. Diese Eigenschaft sollte er behalten. Sie würde ihm über viele Jahre ein Auskommen sichern.

»Kauft nicht bei anderen, kauft bei uns«, sagten Murat und Erkan den Leuten im Hochhaus. Sie streckten ihren Stoff nicht. Sie betrogen niemanden. Sie waren nett zu ihren Kunden – das war ihr Geschäftsprinzip.

Sie dealten auf der Holzbrücke hinter dem Hochhaus. Von dort konnte man sehen, wenn die Polizei kam. Und die Holzbrücke war schmal. Kein Auto konnte darüber fahren. Hinter der Brücke war ein Wald, in den sie notfalls flüchten konnten. Ein Radweg führte in den nächsten Stadtteil. Sie fühlten sich sicher.

Als sie das gesamte Haschisch verkauft hatten, blieb ein Gewinn von ein paar Tausend Mark. Sie gaben Erkans Vater davon, Murat erledigte einen Großeinkauf für seine Schwester bei Aldi, und sie tankten den Subaru wieder voll. Das Auto hatte eine Zwei-Liter-Maschine und verbrauchte viel Sprit.

Dann fuhren sie wieder los. Dieses Mal kauften sie ein Kilo.

Wieder ging alles gut, sie machten noch mehr Profit.

Zwei Wochen später – die nächste Tour.

Über die Monate wurde ihr Geschäft immer größer. Sie verkauften nun auch Gras aus Holland. Und sie erfuhren immer mehr über die Drogenszene in ihrer Stadt. Sie wussten, wer kokste, und sie kannten die anderen Dealer. Wenn ein Kunde ihnen erzählte, Thomas verkaufe diesen oder jenen Stoff, besuchten sie Thomas, um mit ihm über sein Geschäft zu sprechen.

Ein Freund von Erkan stieg mit ein. Sie zogen in ihrem kleinen Stadtteil einen richtigen Drogenring auf. Murats Mutter war zwar häufig in der Türkei – aber eben nicht immer. Also organisierten sie sich Wohnungen, in denen sie ihre Drogen lagerten. Sie rekrutierten andere junge Türken, die den Stoff auf der Straße verkauften und die sich benahmen, als wären sie eine Gang in der Bronx.

Und sie heuerten Monika an, eine stark übergewichtige, arbeitslose, alleinerziehende Frau. Sie lebte mit ihrem siebenjährigen Sohn in anderthalb Zimmern und kiffte pausenlos. Ihr sagten sie, sie müsse für ihren Stoff nur 70 Prozent des normalen Preises zahlen. Dafür sollte sie das Zeug verkaufen. Sie schickten die meisten Haschisch-Kunden zu Monika.

Ihr Geschäft organisierten sie über Pager, die sie am Gürtel trugen, und schon damals mit Handys. 800 Mark bezahlte Murat für sein erstes Mobiltelefon. Es klingelte oft. Sie waren dick im Business.

Wer nicht bezahlte, den setzten Murat und Erkan auf ihre rote Liste. Der bekam nichts mehr. Das disziplinierte.

Wenn es Streit gab, weil jemand zu viel wollte, wenn einer drohte, sie zu verraten, wenn es um Konkurrenten ging, dann verprügelten sie ihn. Das gehörte dazu.

Alle paar Wochen gab es Ärger mit den Russen, die sich unter der Autobahnbrücke betranken. Einige spritzten auch Heroin. Sie wollten weniger bezahlen, sie waren aggressiv. Murat und Erkan freundeten sich mit einigen Russen an. Nicht aus Sympathie, sondern aus Kalkül: Sie waren Geschäftsleute und wollten verkaufen. Aber immer wieder kam es zu Schlägereien.

Ihre Einnahmen legten sie abends auf den Küchentisch von Murats Mutter. Jeder nahm, was er brauchte. Der Rest – glaubt Murat – ging an Erkans Vater.

Mit seinem Geld tat Murat, was Menschen, die zuvor sehr wenig hatten, oft tun. Er gab es mit vollen Händen aus. Er fuhr mit seinen Freunden nach Düsseldorf und spendierte allen Jeans, natürlich Levi’s 501. Sie kauften Uhren und Gaswaffen und feierten in Clubs. Sie fuhren ins »Pascha«, ein Großbordell, nach Köln. Die Drogen, die sie verkauften, konsumierten sie auch.

Irgendwann begnügten Murat und Erkan sich nicht mehr mit Hasch oder Gras. Sie stiegen in ein neues Geschäftsfeld ein: Pep, eine synthetische Droge, die auch als Speed bekannt ist. Man kann es als bröseliges, manchmal feuchtes Pulver bekommen oder als Tabletten. Es ist eine Partydroge, die den Konsumenten das Gefühl grenzenloser Leistungsfähigkeit und Stärke gibt. Auch Murat selbst nahm Pep. Und Kokain – eine Droge für Leute mit Geld.

Zu dieser Zeit lernte Murat Anna kennen. Sie war schlank, ihr Haar lang und blond. Sie besuchte die Realschule im nächsten Stadtteil. Ihre Eltern kamen aus Oberschlesien in Polen. Anna rauchte gerne Gras.

Anna kam immer wieder zur Brücke hinter dem Hochhaus. Nicht nur wegen des Stoffs, auch um zu flirten. Irgendwann küsste sie Murat. Sie wurden ein Paar. Es war so ernst, dass Murat sie seiner Mutter vorstellte. Und Anna machte Murat mit ihren Eltern bekannt.

Murats Mutter war nicht begeistert. »Such dir lieber eine, die dich versteht«, sagte sie. Nimm eine Türkin, meinte sie damit.

Annas Vater mochte Murat auch nicht. Er wollte keinen Türken, keinen Muslim zum Schwiegersohn.

Die beiden kümmerte das nicht. Sie war 16, er war 20 Jahre alt. Sie im letzten Schuljahr, er hauptberuflich Drogenhändler. Beide wohnten noch bei ihren Eltern.

Murat schenkte Anna einen Terrierwelpen zum Geburtstag. »Juanito« war ein Kampfhund, aber für den Moment war er nur ein kleines niedliches Wesen. Sie mieteten sich ein paar Kilometer weiter eine Wohnung, in der sie sich treffen konnten.

Ein Jahr später wurde Anna schwanger.

Murat stellte Koks und Kiffen ein. Er fing sogar an, normale Jobs zu suchen. Eine Zeit lang arbeitete er als Hausmeister und in einer Reinigungsfirma. Er säuberte die Duschkabinen im Werk einer Tochterfirma des Waschpulver-Giganten Henkel. Den Drogenhandel überließ er nun weitestgehend seinem Kompagnon Erkan.

Dessen Vater, so befürchtete Murat inzwischen, habe all das Geld nicht zur Tilgung seiner Schulden verwendet, sondern verzockt.

Die Geschichte hätte hier ihr Happy End nehmen können. Murat hätte sich mit einer ganz normalen Arbeit abgefunden und sich über die Geburt seines Kindes gefreut. Irgendwann hätten Anna und er eine rauschende Hochzeit gefeiert, sie in einem Brautkleid ganz in Weiß.

Aber diese Geschichte spielte im »Tal der langen Messer«. Hier gibt es kein Happy End.

3 IN DER FALLE

Eddie fuhr einen silbernen Mercedes S 500. Murat und Erkan waren vernarrt in den Wagen. Eddie brachte Pep aus Aachen. Er hatte Kunden in der ganzen Stadt. Auch Murat und Erkan kauften ihr Speed bei ihm. Auch an dem Tag, an dem plötzlich ein Wohnwagen vor dem Hochhaus am Ende der Straße stand. Ein Wohnwagen im »Tal der langen Messer«? Murat und seine Dealerfreunde bemerkten ihn. Aber sie dachten sich nichts dabei.

Eddie parkte seinen silbernen Mercedes auf der Hauptstraße. Er öffnete den Kofferraum. Murat sah Pep, kiloweise. Drei oder vier Kilogramm davon waren für Erkan und ihn. Es roch nach toter Katze, fand Murat. Sie packten ihre Ware in Rucksäcke und gingen wieder.

Wochen später schlief Murat auf einer Matratze in der Wohnung seiner Mutter. Es war der frühe Morgen des 1. Oktober 1999.

Plötzlich, ein lauter Knall. Gebrüll. »Polizei, Polizei, Polizei!« Männer stürmten herein, sie gaben Murat eine Ohrfeige, rissen ihn hoch und fesselten ihn an Armen und Beinen. Dann setzten sie ihn auf das Sofa. Ihm wurde eine Kapuze über den Kopf gezogen. Er wollte etwas sagen. »Halt’s Maul«, fuhr ihn ein Polizist an, wie sich Murat erinnert.

Er konnte hören, dass die Beamten die Wohnung durchsuchten. Sie würden nicht viel finden, das war ihm klar. Der Stoff lagerte in den Bunkerwohnungen, die sie im Umkreis angelegt hatten. Was die Polizisten entdeckten, waren eine Feinwaage und ein paar Tausend Euro in bar. Nicht viel, aber ihm war klar, dass er trotzdem in Schwierigkeiten steckte.

Sie nahmen ihm die Kapuze ab und brachten ihn auf die Wache. Zum zweiten Mal in seinem Leben kam Murat in eine Arrestzelle. Er setzte sich auf die Pritsche und wartete für Stunden. Dann tauchte ein großer, dicker Polizist mit tiefer Stimme auf. Er trug keine Uniform. »Komm mit«, sagte er.

Oben im Büro gab der Polizist Murat einen Kaffee. Er öffnete das Fenster, Murat durfte rauchen. Murat freute sich, dass dieser Polizist nett zu ihm war.

Thomas Ostermann war Ermittler im Rauschgiftdezernat der örtlichen Polizei. Seinen Kollegen galt er als geschickter Vernehmer. Unter den Beamten machte eine Geschichte die Runde, wie er einmal eine Flasche Schnaps gewonnen hatte. Zwei mordverdächtige Russen, so hatte er seinem damaligen Chef vollmundig gesagt, werde er innerhalb einer halben Stunde zum Reden bringen. Sein Chef hatte ihm nicht geglaubt und mit ihm gewettet. Ostermann sollte nur 25 Minuten brauchen.

Doch auch Ostermann dürfte nicht erwartet haben, was ihm mit Murat passierte. »So«, sagte der Beamte zu ihm, »entweder du redest und kommst nicht ins Gefängnis. Oder du redest nicht und dann kommst du entweder lange ins Gefängnis oder bist irgendwann tot.« Darüber sollte Murat nachdenken. Es war die Standarderöffnung jedes Kriminalisten.

Auf dem Tisch lagen Observationsfotos, wie Murat sich erinnert. Die Polizei hatte die Drogenübergabe mit Eddie beobachtet. Murat sah Dokumente, von denen er annahm, es könnten die Aussagen von Erkan und anderen Beteiligten sein. Er fragte sich, ob Erkan wirklich schwiege und lange für ihn ins Gefängnis ginge. Die beiden hatten sich entfremdet. Und das meiste Geld hatte sowieso Erkans Vater bekommen.

Noch bevor er die Zigarette ausdrückte, war Murat klar, dass er einen »31-er machen« würde. So nannte man es in der Szene, wenn jemand auspackte. Der Begriff geht auf den Paragrafen 31 des Betäubungsmittelgesetzes zurück. Er sichert jenen, die gestehen und andere belasten, eine mildere Strafe oder gar Straffreiheit zu.

Murat begann zu reden. Der Ermittler hörte zu. Murat erzählte alles. Die erste Fahrt nach Venlo, die nächste Fahrt, das Speed, die Wohnungen mit dem gelagerten Stoff, die Schlägereien, die Süchtigen, die sie als Verkäufer rekrutiert hatten. Er belastete seinen besten Freund Erkan, er schwärzte alle an, die mit den Drogengeschäften zu tun hatten. Er machte genaueste Angaben zu den Fahrten, den Mengen, den Preisen, den Zeitpunkten.

»Stopp!«, rief Ostermann irgendwann. Er schaute auf den Kalender und machte eine Hochrechnung: 85 Wochen lang jede Woche ein Kilogramm Haschisch, das machte einen geschätzten Umsatz von 850 000 Mark. Den Gewinn pro Kilo taxierte er auf 7000 Mark.

Murat wollte noch mehr erzählen. Doch Ostermann hob die Hände in die Höhe. »Es reicht«, rief er. Der Beamte verließ das Zimmer und rief die Staatsanwaltschaft an. »Du musst nicht ins Gefängnis«, sagte er, als er zurückkam. Dann fuhr er Murat ohne Handschellen zum Ermittlungsrichter. Murat wiederholte seine Geschichte bis zur 85-Kilo-Marke.

Ostermann brachte Murat nach Hause. Sein Freund Erkan landete in Untersuchungshaft.

4 AM BODEN

Nach dem Schock der Verhaftung versuchte Murat, ein neues Leben anzufangen. Mit Anna zog er zusammen. Von dem Drogengeld, das er noch hatte, kaufte er eine Küche.

Die Firma, für die er vorher Duschkabinen geputzt hatte, bot ihm eine Stelle an, sogar unbefristet. Murat arbeitete jetzt als Maschinenführer im Drei-Schicht-Betrieb. Er bekam ein regelmäßiges Gehalt, es gab Urlaub und Weihnachtsgeld.

Doch so etwas wie Glück oder Zuversicht, gar Vorfreude auf ein künftiges Familienleben kam nicht auf. Das lag nicht an einem drohenden Prozess wegen banden- und gewerbsmäßigen Drogenhandels. Das Ermittlungsverfahren gegen Murat hatte die Staatsanwaltschaft versehentlich vorläufig eingestellt.

Die Situation blieb schwierig, weil Annas Eltern Murat nicht mochten und Murats Familie die Beziehung zu Anna nicht gefiel. Murats Mutter stichelte, Anna passe »kulturell« nicht zu ihm. Annas Eltern missfiel, dass Murat Türke war, dass er lange keiner geregelten Arbeit nachgegangen war. Wahrscheinlich wussten sie – oder ahnten zumindest –, dass er gedealt hatte.

Als Anna ihre Tochter Claire gebar, war Murat im Krankenhaus, aber nicht im Kreißsaal. Annas Eltern kamen in die Klinik, Murats Schwester und Mutter auch. Doch sie sprachen kaum miteinander.

Wie in so vielen Beziehungen heilte das Kind nicht alle Wunden. Wie in so vielen Beziehungen brachen die Konflikte jetzt offen aus.

Manchmal kam Murat samstagmorgens von der Nachtschicht nach Hause. Er wollte dann schlafen und Zeit mit seiner kleinen Familie verbringen. Es ärgerte ihn, wenn die Schwiegereltern zu Besuch kamen, um ihre Tochter und Enkelin abzuholen. Anna und Murat stritten viel. Murat glaubte, Annas Eltern hätten sie gegen ihn aufgehetzt. Es wurde lauter und heftiger.

Claire war drei Monate alt, als eines Tages Annas Vater vor der Tür stand. Anna hatte die Koffer schon gepackt, als Murat von der Arbeit nach Hause kam. Sie schrien sich ein letztes Mal an. »Dann verpiss dich halt!«, brüllte Murat. Das tat sie.

Murat zog wieder bei seiner Mutter ein. Allerdings wechselte er über Monate kein Wort mit ihr. Wenn er nach Hause kam, verschwand er im Kinderzimmer. Wenn er ging, ging er grußlos. Er wollte sich nicht eingestehen, dass Mevlüde recht gehabt hatte. Er gab ihr teilweise die Schuld dafür, dass seine Beziehung gescheitert war.

Er war nun 22 Jahre alt. Bei der Arbeit drückte er einen Knopf, dann füllte die Maschine ein weißes Pulver in einen Plastiksack. Ein Roboterarm legte den Plastiksack auf eine Palette, die vom Rollband kam. Ab und zu musste man die vollen Paletten etikettieren und mit dem Gabelstapler wegfahren, dann war wieder mindestens eine Stunde lang nichts zu tun. Wenn das Pulver zur Neige ging, musste man die Maschine säubern. Murat wusste noch nicht einmal, wozu das Produkt, dessen Verpackung er überwachte, überhaupt diente. Er hatte viel Zeit nachzudenken.

Seine Freundin hatte ihn verlassen und das Kind mitgenommen. Er hatte viel weniger Geld als in den Zeiten als Dealer. Und er hatte weniger Freunde.

Dass er seinen besten Kumpel verraten hatte, machte Murat zu schaffen. Zunächst hatte ihm Erkans Familie 50 000 Mark angeboten, damit er seine Aussage zurücknähme. Dann bedrohten sie ihn. Im Viertel galt er nun als Denunziant. Er hatte mit der Polizei gesprochen. Das tat man nicht im »Tal der langen Messer«.

Murat konnte und wollte Anna nicht einfach ziehen lassen. Er legte vor ihrer Tür Blumen ab. Manchmal klingelte er und verlangte, seine Tochter zu sehen. Manchmal schlug er auch mit der Faust gegen die Tür. Bald war das Jugendamt eingeschaltet. Wenn Murat kam, rief Anna die Polizei.

Murat suchte in dieser Zeit immer wieder die Nähe des Drogenfahnders Ostermann. Er gab dem Polizisten Tipps, machte ihn auf Dealer aus der Gegend aufmerksam. Murat sprach mit ihm über die Arbeit und sein Privatleben. Er fragte den Älteren um Rat.

Und Ostermann nahm die Rolle an, ungewöhnlich für einen Polizisten, der einen Dealer erwischt hatte. Die beiden wurden so etwas wie Freunde. Ostermanns strenger Ton erinnerte Murat an seinen Vater.

Einmal fuhr der Beamte sogar zu Anna und sprach mit ihr. Vielleicht war an der Beziehung zu Murat noch etwas zu retten? Doch vergebens. »Lass gut sein, Junge«, riet Ostermann Murat nach seinem Besuch. »Was vorbei ist, ist vorbei.«

Anna begann eine Ausbildung bei Aldi und heiratete bald einen jungen Mann mit polnischen Wurzeln. Murat sah seine Tochter nie wieder.

Umso wichtiger wurde für ihn die Beziehung zu Ostermann. Murat entwickelte sich zu einem verlässlichen Informanten. Vielleicht wollte er etwas wiedergutmachen, seine Gesetzesverstöße aufwiegen. Vielleicht wollte er dem 20 Jahre älteren Polizisten einfach nur gefallen.