Ungebrochen - Zuhal Soyhan - E-Book

Ungebrochen E-Book

Zuhal Soyhan

4,9

Beschreibung

Als Dreijährige wird Zuhal Soyhan in ihrer türkischen Heimat bei einem Erdbeben verschüttet und erst sieben Stunden später mit zerschmetterten Knochen gefunden. Diagnose: Osteogenesis Imperfecta, die sogenannte Glasknochenkrankheit. Drei Jahre in einem Münchner Krankenhaus, zehn Jahre Verwahrung in einem Heim für Körperbehinderte, an die hundert Knochenbrüche und unzählige Operationen schließen sich an. Doch jammern oder resignieren - das kommt für die nur ein Meter dreißig große Zuhal nicht infrage. Heute ist sie eine beliebte Fernsehjournalistin. "Ich bin ein Glückspilz", sagt sie von sich. Ein Buch über das abenteuerliche Leben einer starken Frau, die allen Widrigkeiten und Vorurteilen zum Trotz ihr Leben selbst in die Hand nimmt und ihre Träume verwirklicht.

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Cover

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Inhalt

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Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Zuhal Soyhan

Ungebrochen

Mein abenteuerliches Leben mit der Glasknochenkrankheit

Patmos Verlag

Für meinen Bruder Yalcin

INHALT

Ein Erdbeben mit Folgen

Meine krummen Knochen sorgen für Aufsehen

Königliche Landesanstalt für krüppelhafte Kinder

Wider der Willkür

Im dritten Stock ohne Lift

Mit ausgestopften Tieren unter einem Dach

Tiefpunkte und Lichtblicke

Unter ›normalen‹ Menschen

Berna

Türkeireise

Führerschein in Gefahr

Ausgerechnet Journalismus

Mein erster Einsatz

Der Promifaktor

Das zweite Beben

Abschied von Berna

Die Bestellung

Dank

Ein Erdbeben mit Folgen

Das Erdbeben ereignete sich am späten Nachmittag und dauerte nur wenige Sekunden. Die meisten Menschen hielten sich im Freien auf, und so war die Zahl der Getöteten und Verletzten verhältnismäßig niedrig. Für eine Familie allerdings, die sieben Stunden unter den Trümmern nach ihrem Kind suchte und es schließlich nur leblos bergen konnte, war das natürlich kein Trost. Nachbarn und Familienangehörige waren herbeigeeilt, um der jungen Mutter, die allem Anschein nach gerade eines ihrer Kinder verloren hatte, beizustehen. Weinend standen die Frauen um das Kind herum: »Wir sollten sie wenigstens noch waschen, bevor wir sie beerdigen«, sagte eine der Frauen.

Der Islam gebietet es, dass ein Leichnam so bald wie möglich nach dem Tod, spätestens jedoch am nächsten Tag beerdigt sein muss. Behutsam säuberten sie das kleine Gesicht von Ruß und Staub mit Wasser, als das Mädchen plötzlich die Augen aufschlug und wie am Spieß zu brüllen begann. »Emel, dein Kind lebt«, riefen die Frauen, dankten Allah für dieses Wunder und vergossen Tränen der Freude.

Die Frau, die ihr Glück kaum fassen konnte, weil sie Minuten vorher noch um ihr Kind getrauert hatte, war meine Mutter, und das kleine Mädchen, das sich ins Leben zurückbrüllte, war ich. Ich hatte offensichtlich noch nicht vor, mit gerade einmal drei Jahren schon zu sterben. Und das war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.

Es war ein heißer Tag. Meine Mutter war mit den beiden Zwillingen, meiner großer Schwester und mir alleine zu Hause. Mein großer Bruder Yalcin war bei Nachbarsjungen spielen. Ich erinnere mich daran, wie mich meine Mutter aus dem Fenster hob und auf den Balkon setzte, den man nur erreichte, wenn man durch ein Fenster kletterte. Seltsamer Bau, aber so war das. Meine Mutter wollte die Zwillinge Aykut und Baykut ebenfalls auf den Balkon holen, um dann mit uns zu spielen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

»Von einer Sekunde zur nächsten wackelte das ganze Haus, und ich dachte, wir alle würden das nicht überleben«, erinnert sich meine Mutter noch heute. Damals gelang es ihr trotz großer Panik, die Zwillinge und meine Schwester Yücel, die wie angewurzelt stehen blieb, aus dem Haus zu bringen. Schließlich wollte sie mich holen, doch in der Zwischenzeit hatten mich Teile des Daches und der Kamin bereits unter sich begraben. Ich hatte Glück: Durch herabstürzende Steine entstand ein Hohlraum, der mich einschloss. So wurde ich von den Trümmern nicht erschlagen. Die herbeigeeilte Familie war einen Moment erleichtert, als sie meine Mutter und meine Geschwister vor dem Haus sitzen sah. Bis meinem Onkel Yüksel auffiel, dass ich fehlte. Meine Mutter stand noch unter Schock und konnte nicht genau sagen, wo ich war. Die beiden Onkel liefen in den ersten Stock und fingen an, mich zu suchen. Mit bloßen Händen gruben sie nach mir, bis sie mich schließlich unter den Ziegelsteinen fanden und nach draußen brachten.

Als klar war, dass ich am Leben, aber schwer verletzt war, brachten sie mich ins Krankenhaus. Ich hatte mir ›nur‹ sämtliche Knochen gebrochen, lebensbedrohlich verletzt, glaubte der Arzt, sei ich nicht. Arme und Beine wurden notdürftig verbunden und meine Mutter mit mir wieder nach Hause geschickt.

Mein Vater war an diesem Tag nicht anwesend. Er saß im Gefängnis. Nicht weil er ein Verbrechen begangen hatte, sondern wegen ungeklärter Streitereien, die sich im Nachbardorf ereignet hatten, wo er, gemeinsam mit seinem Cousin, für ordentlich Krawall gesorgt hatte. Der ›Sheriff‹ vor Ort machte mit den Raufbolden stets kurzen Prozess und sperrte sie einfach über Nacht ein, bis sich die erhitzten Gemüter wieder beruhigten. Mein Vater hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und war sofort zur Stelle, wenn irgendjemandem Unrecht geschah. War die Gegenseite nicht einsichtig, konnte es durchaus zu handfesten Auseinandersetzungen kommen, da war mein Vater nicht gerade zimperlich. Und diesen Streit konnte man ganz offensichtlich nicht mit Worten schlichten. Er war von der Statur her ein eher kleiner Mann und musste, wollte er seinen Kinnhaken gezielt setzen, schon mal dabei hochspringen. Diese Geschichte erzählt mein Onkel, wann immer es sich ergibt, noch heute so vergnügt, dass ihm die Tränen vor Lachen herunterrollen.

Als mein Vater schließlich am nächsten Tag nach Hause zurückkehrte, hatte sich die Aufregung um mich bereits gelegt, von den dramatischen Minuten, die meine Mutter durchgemacht hatte, hatte er nichts mitbekommen. Natürlich machte er sich große Vorwürfe, dass er während des Erdbebens nicht bei uns war.

In den folgenden Tagen brachten mich meine Eltern zu einem sogenannten Knochenexperten – das waren meist ältere Herren, die sich auf das Schienen von gebrochenen Beinen und Armen spezialisiert hatten. Welchen beruflichen Hintergrund sie letztendlich hatten, wusste niemand so genau und niemand fragte danach. Man war froh, dass sich überhaupt jemand mit Knochenbrüchen auskannte und man sich so die weite Reise – die allerwenigsten besaßen ein Auto – in die Stadt zum Arzt sparen konnte. Außerdem fühlten sich Ärzte ohnehin nicht zuständig für gebrochene Arme und Beine. Uns wurde also ein sehr kompetenter Knochenexperte empfohlen, der ziemlich brutal zu Werke ging. Weil meine Arme und Beine völlig deformiert waren, musste er mir die Knochen erneut brechen – so war sein Plan –, um sie ›richtig‹ zu schienen, damit sie gerade zusammenwachsen konnten. Was aber in meinem Fall absolut nicht funktionierte. Denn auch nach seiner ›Behandlung‹ sahen die Knochen nicht besser aus. Meine Arme und Beine hatten sich verformt wie Wachs.

Nach ein paar Wochen brachten sie mich zu einem ›richtigen‹ Arzt, der mehr als überfordert mit mir war. Er wusste nicht, wie er mich behandeln sollte, denn so verbogene Knochen hätte er überhaupt noch nie gesehen. Seiner Meinung nach könne man da nichts machen. Auch eine Operation sei zwecklos, denn das, was ich da hatte, waren keine normalen Knochenbrüche und noch weniger normale Knochen, und für unnormale Knochen fühle er sich nicht zuständig. Er riet dazu, einfach alles so zu lassen, wie es war, das würde schon irgendwie verheilen. Allah hätte sich schon etwas dabei gedacht, als er mich so erschaffen hatte. Schließlich überließ man mich meinem Schicksal und den Launen meiner Knochen, die zusammenwuchsen – irgendwie.

Bis zu diesem Erdbeben (1969) war ich ein ganz normales Kind. Zwar war ich schon immer kleiner und zarter als meine Geschwister und die Kinder aus der Nachbarschaft, aber Knochenbrüche hatte ich bis dahin nicht, und ich konnte ganz normal laufen, wie jedes andere Kind auch. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte.

Nach dem Erdbeben war alles anders: Meine Beine waren so krumm, dass ich nicht mehr darauf stehen, geschweige denn laufen konnte. Ich bewegte mich fortan nur noch robbend, auf dem Hosenboden sitzend fort.

Meine vier Geschwister und ich lebten mit meinen Eltern in einem kleinen Haus in Adapazarı, einer damals noch sehr kleinen Stadt im Norden der Türkei. Wir wuchsen mit Tanten und Onkel in einer sehr großen Familie auf. Erzogen und umsorgt wurden wir Kinder von der ganzen Straße, auf der sich das Leben aller abspielte. Verschlossene Türen gab es nicht. Abends mussten die Frauen ihre Kinder bei Nachbarn oder Tanten wieder einsammeln, um sie ins Bett zu bringen.

Ich war meistens bei einer Nachbarin anzutreffen, die selbst keine Kinder hatte und mich entsprechend verwöhnte. Dieser Frau soll ich einmal die Frage gestellt haben, warum sie denn keine eigenen Kinder habe. Daraufhin fing sie vor Rührung zu weinen an, ich heulte gleich mit und versprach, dass ich immer auch ein bisschen ihr Kind bleiben werde, vorausgesetzt natürlich, meine Mutter wäre damit einverstanden. Sie solle nicht mehr traurig sein, denn jetzt hätte sie ja mich – ein bisschen wenigstens. Von da an sei ich dieser Frau nicht mehr von der Seite gewichen.

Ich hatte eine sehr glückliche und behütete Kindheit – uns fehlte es an nichts. Bis zu jenem Tag, als sich die Erde auftat und sich unser aller Leben von einer Sekunde auf die andere veränderte. Ich frage mich oft, was aus mir, aus uns geworden wäre, hätte es dieses Beben nicht gegeben. Für mich war das Erdbeben, so brutal sich das auch anhören mag, ein echter Glücksfall, denn mit einer so schweren Behinderung, wie ich sie habe, hätte ich in der Türkei ein sehr armseliges und beschwerliches Leben geführt. Meine Eltern waren zwar für türkische Verhältnisse offene und moderne Menschen, die sich für die Familie engagierten und sehr gut für uns sorgten. Meine Behinderung hätten sie aber durch nichts kompensieren können, damit hätte man sie alleingelassen. Es gab keine Förderung oder Integrationskampagnen für behinderte Kinder. Fraglich, ob ich je in die Schule hätte gehen können – wohl kaum.

Anfang bis Mitte der 1960er Jahre kam auch bei uns in Adapazarı die Nachricht an, dass Deutschland seine Tore weit für die Gastarbeiter aus der Türkei geöffnet habe und jeder dort gutes Geld verdienen könne und herzlich willkommen sei. Von da an gab es kein anderes Thema mehr. Jeder überlegte, ob er diese Chance nicht für sich nutzen sollte.

»Es war eine seltsame Aufbruchstimmung. Jeden Tag verkündete ein anderer Freund, Nachbar, Bekannter, dass er in die Fremde gehen würde«, erzählt meine Mutter heute. Menschen ohne Arbeit freuten sich über diese Perspektive und auf die Aussicht auf ein bisschen Wohlstand. Andere – zumeist die Frauen – nahmen diese Nachricht nicht nur positiv auf. Die wenigsten wollten, dass ihre Männer nach Europa gingen, aus Angst, sie würden nicht mehr zurückkehren.

Meine Mutter sah dem Treiben gelassen zu. Sie hatte keine Sorge, dass auch sie dieses ›Schicksal‹ ereilen könnte, denn die Notwendigkeit, aus wirtschaftlicher Not heraus auszuwandern, bestand ganz und gar nicht. Wir waren gut situiert, gemeinsam mit seinen Brüdern betrieb mein Vater eine kleine Schneiderei, in der sie Hemden, Schlafanzüge und Sonstiges für den gutgekleideten Mann entwarfen und herstellten. Der kleine Betrieb lief gut und ernährte die Familien.

Trotzdem galt es als ›in‹, wenn man die Heimat verließ, um irgendwo in Deutschland Fuß zu fassen. Für viele junge Männer war das eine willkommene Gelegenheit und oftmals ihre Hauptmotivation – raus, etwas Neues sehen und vor allem aller Welt und sich selbst beweisen, dass man es schaffen kann.

Mein Vater hatte zwei Schwestern und fünf Brüder. Einer davon war mein gutaussehender und reisefreudiger Onkel Yüksel. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder bereiste er bereits Ende der 1950er Jahre Deutschland und lernte auf dem berühmten Oktoberfest in München seine Sybille, eine blonde Frau aus Wuppertal, kennen und verliebte sich in sie. Kurze Zeit später brachte Onkel Yüksel seine neue Perle mit in die Heimat, um der Familie seine künftige Frau vorzustellen. Für Onkel Yüksel war die Frage, ob er endgültig nach Deutschland umsiedelt, damit schon beantwortet. Für ihn stand fest: Er und Sybille werden künftig in München leben. Die Familie war zwar begeistert von Sybille, sie schlossen die fremde Frau, die durch ihre offene und quirlige Art einen neuen, einen europäischen Wind in die Familie brachte, schnell in ihre Herzen, aber dass sie unseren Onkel mit nach Deutschland nehmen würde, das passte einigen nicht. Zum Beispiel meiner Großmutter, die ein ›anständiges‹ türkisches Mädchen für ihren Sohn wollte. Natürlich nahm Onkel Yüksel darauf keine Rücksicht und heiratete seine Sybille schließlich – am Tag meiner Geburt.

Das Thema Deutschland war für unsere Familie also nichts Abstraktes mehr. Deutschland war bei uns längst angekommen, und zwar in Form von Sybille. Deshalb trauten sich der jüngste Bruder meines Vaters, Onkel Metin, und ein paar andere Männer aus der Großfamilie nach Europa zu gehen und ihr Glück in München zu suchen. Da Onkel Metin noch nicht verheiratet war, hatte die Familie auch nichts dagegen und ließ ihn ziehen. In einer Münchener Fabrik fand er einen Job, verdiente gutes Geld, und trotzdem: Dieses Europa war nichts für ihn, und so kehrte er nach ein paar Jahren wieder in seine Heimat zurück. Für die anderen Geschwister meines Vaters war Deutschland nie eine Option. Sie waren zufrieden mit ihrem Leben und hatten ihr Auskommen. Der Großteil der Familie blieb also in der Türkei. Nach Deutschland zogen nur ein paar Bekannte und Cousins meines Vaters und sehr viel später auch meine Tante Fatma, die kleine Schwester meiner Mutter.

Nach dem Erdbeben war Deutschland plötzlich auch für meinen Vater interessant geworden. Da man in der Türkei medizinisch nichts für mich tun konnte, hatte er die Hoffnung, dass die Ärzte in Deutschland mich wieder herstellen könnten. Alle Probleme wurden mit der Familie besprochen, und meistens traf mein Opa als Familienoberhaupt eine Entscheidung. Diese allerdings war so schwierig, dass er selbst keinen Rat wusste und die Entscheidung meinen Eltern überließ. Tante Sybille überzeugte meine Eltern davon, dass es für mich nur eine Lösung gab: München. Nach langen Diskussionen war klar: Dieses Kind muss nach Deutschland, und Tante Sybille hatte den Schlüssel dafür.

Für meine Mutter war dieser Entschluss eine Katastrophe, einzig die Aussicht auf Hilfe für mich tröstete sie. München, das war so unvorstellbar weit weg. Wie sollte sie sich in der anderen Kultur, der anderen Sprache nur zurechtfinden?

Nach langen Diskussionen und Gesprächen vertraute mein Vater schließlich seiner Schwägerin, und sie wagten ihn, diesen großen Schritt in eine fremde Welt. Damit die große Reise vorbereitet werden konnte, wurde ich zu meiner Großmutter nach Beldibe, einem winzigen Dorf unweit von Adapazarı, gebracht. Während der Fahrt zu meinen Großeltern saß ich auf dem Schoß meiner Mutter, hatte einen nigelnagelneuen rosafarbenen Mantel an und eine rote Mütze auf dem Kopf. Dass mich meine Eltern dort zurücklassen würden, wusste ich nicht, und entsprechend unglücklich war ich, als sie kurze Zeit später ohne mich wieder wegfuhren. Sie wollten dieses ›München‹ auskundschaften und sehen, ob man mir da wirklich helfen konnte, erklärten sie mir. Mein Vater flog mit Tante Sybille und Onkel Yüksel voraus. Ein paar Wochen später folgten ihnen mein Onkel Metin, meine Mutter und meine beiden Brüder Aykut und Baykut nach Deutschland. Yalcin und Yücel blieben bei meinen Tanten in Adapazarı.

Meine Großeltern waren sehr arm. Ihr Haus war klein und es hatte nicht einmal eine Haustür, die man abschließen konnte. Die Toilette war ein Plumpsklo, vor dem ich eine höllische Angst hatte. Es roch dort fürchterlich und es war gefährlich, alleine dorthin zu gehen. Wenn man so klein war wie ich, konnte man, wenn man nicht aufpasste, durch das riesige Loch direkt in die stinkende Kloake fallen. Ich verrichtete meine Geschäfte lieber außerhalb des Hauses – irgendwo, wo mich keiner sah und ich mir sicher sein konnte, nicht im Dreck zu versinken.

Meine Tante Fatma, die jüngere Schwester meiner Mutter, hatte nun die ehrenvolle Aufgabe, sich um mich zu kümmern. Meine Tante hatte wahrlich genug am Hals, und sie ließ mich deutlich spüren, dass es ihr gar nicht passte, jetzt auch noch auf mich aufpassen zu müssen. Sie war streng und fuhr leicht aus der Haut. Heute wundert mich das nicht, denn meine Tante musste hart arbeiten, ob im Haushalt, auf dem Feld, bei den Tieren – sie war den ganzen Tag auf den Beinen, es war ihr einfach zu viel, auch noch mich am Hals zu haben. Meine Großeltern unterhielten eine kleine Landwirtschaft, die aber mehr die eigene Familie ernährte, als dass sie noch zusätzlich etwas abwarf. Wenn von der Ernte doch etwas übrig blieb, verkauften sie es, ansonsten mussten meine Onkel, die ebenfalls bei meinen Großeltern lebten, dazuverdienen, um die Familie zu ernähren. Auf dem kleinen Hof gab es Schafe, einen Esel und einen wunderbaren Hund, der auf den Namen »Karabas«, schwarzer Kopf, hörte. Karabas und ich wurden dicke Freunde. Auch der Hund gehörte nicht wirklich zur Familie, er durfte nicht ins Haus und war halt einfach da. Genauso empfand ich meine Anwesenheit bei den Großeltern: Ich war halt einfach da.

Ich versuchte mich immer möglichst in der Nähe meiner Großmutter aufzuhalten und meine Bedürfnisse bei ihr anzumelden. Leider schickte sie mich oft zu Fatma. Und um bloß ihren Launen nicht ausgeliefert zu sein, hielt ich besser die Klappe. In meiner Erinnerung war das eine traurige Zeit für mich. Ich vermisste meine Eltern und Geschwister. Ich war viel alleine. Melek, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, kam ab und zu, und wir bauten aus den abgenagten Maiskolben, die genau für diese Zwecke getrocknet wurden, allerlei Gebilde. Manchmal brachte sie ihre selbstgenähte Puppe mit.

Allmählich gewöhnte ich mich an das Leben auf dem kleinen Bauernhof. Und ich gewöhnte mich an meine Großeltern, an meine Tante Fatma, mit der ich mich heute sehr gut verstehe, und an ihre Brüder, die gar nicht mehr so streng mit mir waren und sich liebevoll um mich kümmerten. Besonders toll fand ich das gemeinsame Essen. Meistens gab es Grünkohl. Oma stellte einen riesigen Topf auf den Boden. In der Ecke knisterte das Holz im Ofen. Elektrischen Strom gab es nicht, und eine Öllampe erhellte, wenn auch nur sehr spärlich, den Raum. Die Männer kamen vom Feld, waren abgearbeitet und müde. Wir alle setzten uns um den Topf herum, bekamen einen Holzlöffel und ein Stück Maisbrot. Ich bekam als Einzige einen Teller aus Holz, den ich aber nicht wollte. Ich wollte wie die Erwachsenen auch direkt aus dem Topf essen und fischte mit meinen kurzen Armen mühsam nach dem Kohl.

Das Leben spielte sich viel am Boden ab – Möbel gab es kaum. Nur ein Bett, und in dem schlief mein Opa. Jeden Abend richtete meine Oma aus den vielen Decken ein gemütliches Bett her, in das ich gerne schlüpfte und in dem ich mich sehr geborgen fühlte. Ich liebte es, auf dem Boden zu liegen, in den Kamin zu starren und dem Knistern des Ofens zu lauschen, in dem das Holz langsam verbrannte. Ich durfte neben meiner Oma schlafen, die auf vielen Kissen lag beziehungsweise saß. Das beeindruckte mich sehr und ich wollte wie sie im Sitzen schlafen, hielt das aber nicht lange durch. Wenn ich morgens aufwachte, lag ich auf einem kleinen Kissen – die anderen waren unter dem Kopf meiner Oma gelandet.

Die reinste Tortur war es, wenn ich gebadet wurde. Das Wasser wurde auf dem Holzofen gekocht, ich kam in einen großen Schober, der mitten im Zimmer stand, und los ging das Wienern meines kleinen Körpers. Entweder war das Wasser zu heiß oder zu kalt – ich schrie nach Leibeskräften, und die Oma schrie gegen mein Geschrei an – in jedem Fall war es ein riesiges Drama, sowohl für die Oma als auch für mich.

Am liebsten war ich bei den Tieren, vor denen ich überhaupt keine Angst hatte. Meistens wurde ich auf eine Decke gesetzt, die meine Oma vor dem Haus ausgebreitet hatte. Manchmal kam es vor, dass ich von Schafen umzingelt war und glückselig mittendrin saß. Besonders angetan hatten es mir allerdings die kleinen Küken. Eines Tages beschloss ich, die Fütterung der kleinen, gelben, flauschigen Tierchen selbst zu übernehmen. Ich hatte meiner Oma ja schon oft genug dabei zugesehen. Also schnappte ich mir eines der kleinen Töpfchen, die auf dem Boden standen, und robbte auf dem Hosenboden sitzend ins Freie. Gehen konnte ich mit diesen krummen Beinen ja nicht mehr und krabbeln auch nicht, denn dazu waren auch meine Arme viel zu krumm. Großzügig streute ich das weiße Pulver um mich herum aus, und zu meiner großen Freude kamen die gelben Knäuel sogleich angerannt und pickten nach den Körnern. Ich, zufrieden mit meinem Werk, robbte zurück ins Haus.

Stunden später dann ein herzzerreißender Schrei. Meine Oma fand die verendeten Küken und tobte vor Wut. Ich war mir sicher, die Küken hielten nur ein Mittagsschläfchen. Als Täterin war ich natürlich schnell überführt. Man hielt mir das Salzfass unter die Nase und fragte mich streng: »Warst du das?« Ich hatte meinen ersten Massenmord begangen, und entsprechend waren die Reaktionen darauf. Meine Oma tratschte dieses abscheuliche Verbrechen überall herum und erzählte jedem, dass es bei uns in nächster Zeit erst einmal keine Hühnchen mehr zu essen geben wird. Ich schämte mich so fürchterlich und hatte Angst, dass wir nun hungern mussten. Ich wollte die kleinen Küken natürlich niemals umbringen, sondern nur füttern.

Diese Geschichte wird mich wohl mein Leben lang begleiten, denn wann immer ich meine Tante Fatma sehe, erzählt sie davon und lacht sich halb tot. Und mir gefällt es, wie sie lacht, und dann sehe ich mich wieder vor dem Haus meiner Großmutter sitzen, umgeben von den Küken, und kann es kaum glauben, dass es meine Geschichte ist. Meine Tante ist jedes Mal verblüfft, dass ich mich noch an so viele Details aus dieser Zeit erinnern kann.

Ich fürchtete mich sehr vor dem Tag, an dem meine Eltern kommen und mich abholen würden, hatte ich mich doch an mein bäuerliches Leben gewöhnt. Ein Onkel holte mich schließlich ab, und alles Heulen, weil ich bei den Großeltern bleiben wollte, half nichts. Wir fuhren zurück nach Adapazarı. Erst als mich mein Onkel an meine Eltern, Geschwister und die vielen Tanten und netten Nachbarn erinnerte, hörte ich auf zu weinen und freute mich darauf, sie endlich wiederzusehen. Diese Freude währte aber nicht lange. Denn meine Eltern, Aykut und Baykut waren ja nicht mehr da. Sie waren ja schon nach München geflogen.

Ich wurde zum Fotografen geschleppt. Wieder zog man mir die rote Mütze und den rosafarbenen Mantel an, setzte mich auf einen Stuhl und forderte mich auf, in die Kamera zu schauen. Ich sollte einen Pass bekommen, mit dem ich dann auch nach Deutschland fliegen würde. Etwas Besonderes lag in der Luft. Und weil meine Tanten eher bedrückt als glücklich wirkten, konnte das, was vor mir lag, nichts Heilbringendes sein.

Als es dann so weit war, wurde ich einem mir völlig unbekannten ›Onkel‹ – in der Türkei ist jeder Freund der Familie gleich ein Onkel – in den Arm gedrückt. Er hatte einen riesigen Schnurrbart und stechend blaue Augen. Er war gekommen, um mich nach Europa zu bringen, weil auch er dort ein neues Leben beginnen wollte. Er trug mich und meinen kleinen Koffer aus dem Haus, und die Tanten winkten mir mit Tränen in den Augen hinterher. Vielleicht ahnten sie ja, dass sie mich für eine sehr lange Zeit nicht wiedersehen würden. Onkel Adnan und ich fuhren mit dem Bus nach Istanbul und wenig später saßen wir im Flugzeug. Ich war sehr aufgeregt, wusste mit all dem zwar nichts anzufangen, fand es aber höchst spannend. Mein Onkel sagte ständig: »Ja, kleine Zuhal, jetzt fliegen wir nach Europa.« Europa, keine Ahnung, was er damit meinte, und es war mir auch egal. Ich saß in einem Flugzeug, und nur das zählte. Ein paar Stunden später landeten wir und mein Onkel sagte hocherfreut: »So, jetzt bist du in Europa und jetzt wird alles gut. Hier machen sie dich gesund.« Er trug mich aus dem Flugzeug und durch die Passkontrolle in die Halle, wo wir auf unser Gepäck warteten. Durch die Glasscheibe konnte ich schon meine Mutter und Tante Sybille sehen, die uns ganz aufgeregt winkten und mit einem Kinderwagen bereits auf mich warteten. Endlich hatte ich sie wieder, meine Mama und meine Brüder.

Meine Schwester Yücel sollte auch in paar Wochen nachkommen. Nie nach Deutschland gekommen ist mein großer Bruder Yalcin. Meine Tanten behielten ihn quasi als Pfand in der Türkei und hofften wohl, dass wir alle bald wieder zurückkehren würden, wenn mein Bruder bei ihnen bliebe. Dass mein Vater sich nicht gegen seine Schwestern durchgesetzt und ihn nach Deutschland geholt hat, war die größte Fehlentscheidung, die mein Vater und die Familie je getroffen haben. Denn Yalcin hat, wenn auch in sehr abgeschwächter Form, dieselbe Erkrankung wie ich. Mein Bruder ist hochintelligent und witzig – ein toller Mensch. Sein Leben wäre ganz sicher anders verlaufen, wenn auch er nach Deutschland gebracht worden wäre.

Das Schicksal meines Bruders geht mir sehr nahe. Und ich habe ihm gegenüber oft ein sehr schlechtes Gewissen, weil man mir geholfen hat und ihn zurückließ. Er wurde von uns allen verlassen und bekam seine Eltern und Geschwister nur noch einmal im Jahr zu Gesicht. Yalcin und ich sahen uns viele Jahre nicht, denn mein Vater nahm mich nie mit in die Türkei, wenn die Familie in den Sommerferien für sechs Wochen in die Heimat aufbrach. Ich wurde in der Zeit bei Bekannten oder Verwandten geparkt, bei jenen, die sich eine Reise in die Heimat nicht leisten konnten oder wollten.

Dass ich allerdings meine Lieben in der Türkei erst zwanzig Jahre später wiedersehen würde, ahnte ich in den Stunden meiner Abreise nicht. Ich glaube, dass niemand ahnte, was die große Entscheidung für ›Europa‹ wirklich bedeutete. Für mich war es das Beste, was mir passieren konnte – aber wie kam der Rest meiner Familie damit klar? Schließlich waren sie nur wegen mir nach Deutschland gezogen, was mir sehr zu schaffen machte. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Eltern hier glücklich waren. Mein Vater und meine Mutter mussten in einer Fabrik arbeiten und sie schufteten weiß Gott wirklich sehr, sehr hart. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater oder meine Mutter auch nur einen Tag arbeitslos gewesen waren. Dieses Erdbeben und meine Behinderung hatten ihr Lebenskonzept gewaltig verändert. Ihre Zukunftspläne wurden durchkreuzt. Die meisten meiner Cousins und Cousinen haben in der Türkei studiert – wer weiß, vielleicht hätten auch meine Brüder dort eine akademische Laufbahn eingeschlagen? In Deutschland wurden sie Schlosser. Ob das wohl ihr Traumjob war?

Meine krummen Knochen sorgen für Aufsehen

Zwischen dem Erdbeben und meiner Reise nach Deutschland lagen acht Monate. Ein paar Tage nach meiner Ankunft in ›Europa‹ wurde ich in die Orthopädische Klinik in München gebracht, die für die nächsten drei Jahre mein Zuhause sein sollte.

Die Krankenschwester brachte mich in einen riesigen Schlafsaal mit vierzehn Krankenbetten. Trotz der vielen Kinder herrschte eine unglaubliche Stille im Raum. Die Betten waren nicht alle belegt, manche Kinder weinten, andere schliefen oder spielten mit ihren Puppen und sahen neugierig auf, als ich in mein Bett gelegt wurde. Meine Eltern verabschiedeten sich sehr schnell von mir. Ich fühlte mich einsam und verlassen. Ich verstand die Schwestern nicht. Sie redeten zwar mit mir, nur wusste ich nicht, was sie sagten. Ebenso die Mädchen im Zimmer. Sie stellten mir Fragen in einer Sprache, die ich nicht verstand. Das war also Europa, von dem mein Onkel so geschwärmt hatte und das mich wieder ganz gesund machen würde. Prima, dieses Europa! Ich vermisste meine Eltern und Geschwister. Ich vermisste meine Sprache, die plötzlich verschwunden war.

Da lag ich nun und wusste nicht, wo ich mich befand und was das für Menschen um mich herum waren und was ich hier sollte. Am nächsten Tag wurde ich in einen großen Saal gefahren. Ich saß in Unterhemd und Unterhose auf einem Untersuchungstisch, und um mich herum standen lauter Männer in weißen Kitteln. Sie hoben meine Arme hoch, versuchten mich auf die Beine zu stellen, legten mich hin. Drehten mich auf den Bauch, drehten mich auf den Rücken, beugten die Arme und Beine, begutachteten meine krummen Knochen, fotografierten und sprachen in einem fort. Und ich, ich sah sie mit meinen großen Augen an, hatte Angst vor ihnen, weinte, fror und verstand nicht, was sie mit mir machten. Mein kleiner Körper musste etwas schier Außergewöhnliches sein, denn warum interessierten sich so viele fremde Menschen dafür? Ich weiß nicht, wie lange diese Fleischbeschau dauerte. Erleichtert war ich erst, als ich die Schwester sah. Sie streichelte mir über den Kopf und sagte wohl irgendetwas Tröstliches, zog mich wieder an und brachte mich in den Schlafsaal zurück. Von da an hatte ich eine riesige Panik, wenn ich wieder einmal mitsamt meinem Bett aus dem Raum geschoben wurde.

Instinktiv musste ich wohl beschlossen haben, dass ich die Menschen um mich herum verstehen wollte. Anders lässt es sich nämlich nicht erklären, warum ich quasi über Nacht deutsch sprach. Eines Morgens, als die Schwester Frühstück verteilte, sagte ich: »Ich möchte bitte einen Tee.« Mein erster deutscher Satz. Die Schwester drehte sich überrascht zu mir um und bat mich diesen Satz zu wiederholen, und ich wiederholte – »ich möchte bitte einen Tee«. An diese Szene erinnere ich mich nur schemenhaft, sie wurde mir später aber sehr oft erzählt, weil die Schwester so begeistert davon war und sofort eine andere Schwester holte und mich diesen Satz wiederholen ließ. Immer und immer wieder erzählten sie, dass ich ganz plötzlich deutsch sprechen konnte. »Ich möchte bitte einen Tee« war nämlich nicht das Einzige, was ich sagen konnte. Nur dummerweise – und das ist wirklich wahr – konnte ich im selben Augenblick kaum noch türkisch sprechen. Verstehen ging noch einigermaßen, aber mir fehlten schlagartig die Worte. Sehr zum Kummer meiner Eltern, die ich nur noch mit Mühe verstand und mit denen ich kaum noch sprechen konnte.

In den drei Jahren, die ich in der Orthopädischen Klinik in München Harlaching verbrachte, musste ich jede Menge Operationen über mich ergehen lassen. Die Ärzte versuchten, die völlig schief und krumm verwachsenen Knochen, so gut es ging, wieder zu begradigen, was mit sehr großen Schmerzen verbunden war. Operationen, Schmerzen, eingegipste Arme und Beine und im Bett liegen, ohne aufstehen zu können, das war mein Alltag und wurde immer normaler für mich. Vor jeder Operation hoffte ich, Schwester Mechthild würde nachher da sein und mich sanft, wie sie war, aus der Narkose wecken. Doch meistens erwarteten mich leichte Schläge ins Gesicht, und die kamen von Schwester Euphrosyne. Sicher schlug sie nicht fest zu, aber für mich fühlten sich diese Schläge wie Fausthiebe an. Mühsam öffnete ich meine Augen und sah direkt in ihr kugelrundes Gesicht. Sie beugte sich über mich und brüllte meinen Namen, bis ich die Augen öffnete. Ihre Stimme bohrte sich unangenehm in meinen Kopf, und ihr Kinn, das mit Barthaaren übersät war, kam dabei meinem Gesicht gefährlich nahe. Schwester Euphrosyne war genau das Gegenteil von Schwester Mechthild: groß, dick, laut, grob und unglaublich streng. Sie konnte andererseits aber auch wieder sehr liebevoll sein und drückte mich manchmal so fest an ihren großen Busen, dass mir beinahe die Luft wegblieb. Aber nach einer Operation war diese Klosterschwester definitiv nicht zu ertragen. Weinte ich vor Schmerzen, tröstete sie mich nicht etwa, sondern ermahnte mich, nicht so wehleidig zu sein und mit dem Rumjammern aufzuhören, schließlich würde ich die anderen Kinder damit nur stören.

Ganz besonders wütend wurde sie, wenn ich mich nach der Narkose übergeben musste, was eigentlich immer der Fall war. Ich vertrug das Zeug einfach nicht. Früher wurde einem eine schwarze Maske ins Gesicht gedrückt, aus der dieses grässliche Gas – oder was auch immer für eine Substanz das war – in den Körper strömte und einen in den Tiefschlaf versetzte. Doch bis dahin versuchte ich verzweifelt, die Hand des Arztes oder der Schwester wegzuziehen, um diese Maske loszuwerden. Jedes Mal wurde ich panisch und wehrte mich nach Leibeskräften gegen die Narkose, bis ich endlich einschlief. Operationen waren für mich der reinste Horror. Schon Tage vorher weinte ich, bis die Ärzte die OP nicht mehr erwähnten. Aber ich merkte natürlich trotzdem, wenn mal wieder ein Termin anstand. Denn schon am Abend vorher kamen die Schwestern mit der OP-Kleidung, ich durfte nichts mehr essen und trinken. Und dann versuchten sie mir noch weiszumachen, das geschehe alles nur, weil ich morgen eine große Untersuchung vor mir hätte.

Zum Glück hat sich diesbezüglich eine Menge getan, und die Narkosen heute sind weitaus angenehmer als damals. Heute spürt man nur einen kleinen Pieks und wird sanft auf die Reise geschickt. Damals hatte ich den Geruch und den Geschmack des Narkosemittels tagelang in der Nase – wirklich widerlich. Und mir wurde regelmäßig schlecht davon. Wenn diese Übelkeit zu lange andauerte, rückte die Schwester mit einer Flasche Bier an. Sie war überzeugt, dass dieses Getränk am besten gegen meine Übelkeit hilft, und füllte mich damit regelrecht ab. Ich weiß nicht, was schlimmer war: die Übelkeit oder das Bier. Ich hatte sowieso keine Wahl, ich musste trinken, ob ich wollte oder nicht. Welches Kind kann schon von sich sagen, dass es mit fünf Jahren regelmäßig Bier getrunken hat? Bloß gut, dass ich nie suchtgefährdet war, denn sonst wäre aus mir ganz gewiss auch noch eine Alkoholikerin geworden. Das hätte gerade noch gefehlt. Mir reichten schon meine Herkunft, meine Behinderung und mein Geschlecht – ich hatte wahrlich alles, was eine Außenseiterin ausmachte.

Drei Jahre lang lag ich in der Orthopädischen Klinik in München. Bis heute weiß ich nicht, ob es medizinisch notwendig war oder man schlicht nicht wusste, wo man mich sonst unterbringen sollte. In den drei Jahren wurde ich unzählige Male operiert. Es kam gelegentlich vor, dass ich am Morgen mit einem gebrochenen Arm oder Bein aufwachte, weil ich mich im Schlaf entweder irgendwo gestoßen, mich erschreckt oder zu schnell bewegt hatte. Es reichte schon eine bloße Anstrengung oder ein etwas festerer Stoß, und schon war wieder ein Knochen gebrochen. Folglich hatte ich die meiste Zeit einen eingegipsten Arm oder ein eingegipstes Bein oder auch mal zwei eingegipste Gliedmaßen gleichzeitig. An die hundert Knochenbrüche hatte ich im Laufe meines Lebens – keinen Gips zu haben, war ungewöhnlich für mich.

Die Operationen schienen den gewünschten Erfolg gebracht zu haben, denn die Ärzte ließen eine Gehschiene für mich anfertigen, mit der ich wieder laufen lernen sollte. Ich erinnere mich an die Werkstätte im Keller der Klinik. Es roch herrlich nach Leder. Überall lagen Prothesen und Gehschienen herum. Ich musste ein paar Mal zur Anprobe dorthin, bis die Schiene fertig war und der nette Techniker begeistert sagte: »Ab heute kannst du wieder gehen.« Ich freute mich auf diese Aussicht, doch als er meine krummen Beine in die Schiene legte und sie darin festband, bekam ich große Angst, dass er vielleicht zu unvorsichtig sein könnte. Ich wusste ja, wie schnell meine Knochen brachen. Jedes Mal, wenn er mich fragte, ob es mir wehtat, sagte ich vorsichtshalber »ja«. Ich war also in die Schiene gepackt, die bis zur Hüfte reichte und am Becken mit dicken Gurten zusammengebunden wurde. Stehen konnte man mit diesem starren Ding, aber konnte man damit auch sitzen? Ich fand das Gerüst um mich herum mehr als bescheiden.